Woher ich kam

Woher ich kam. Ausgehend von ihrer Urururururgroßmutter Elizabeth Scott, die 1766 geboren wurde, rollt die Schriftstellerin Joan Didion (1934-2021) die Geschichte ihrer Familie – vor allem aber die Kaliforniens – neu auf. Zumeist ging der vielgerühmte “Pioniergeist” der Erschließung des amerikanischen Kontinents bis in den äußersten Westen allerdings auf Kosten der amerikanischen Regierung, wie Didion ernüchternd feststellt.

The West is the Best

Der amerikanische Westen, Kalifornien, gehört zum Mythos der ganzen Nation USA. “The Last Frontier” wurde bis an den Pazifik ausgedehnt und galt geradezu als zivilisatorisches Projekt. “Man suchte ein romantisches und entlegenes Land der Verheißung und wurde in der Wildnis der hiesigen Welt oft nur von Zeichen des Himmels geführt”, zitiert Didion Josiah Royce, der um die Jahrhundertwende lebte. Was für die Trecks nach Westen am wichtigsten war, lernte die junge Didion auch von ihrer Familie. “Nimm niemals eine Abkürzung und eile, so schnell du kannst, weiter”, so die Erzieherin Virginia Reed, eine Überlebende des legendären Donner-Trecks. “Sentiment wie Trauer und Unstimmigkeit, kostete Zeit. Ein Zögern, ein Moment des Zurückschauens, und der Gral war verwirkt”, so könnte man das Credo der Siedler in den Worten Didions umschreiben. Die sog. “erlösende Kraft der Überquerung” wurde aber nicht durch Liebe gestaltet, denn sie liebten ihr Land nicht, diese Pioniere. Sie bedienten sich eines eisernen Ungetüms, eines Leviathans, eingedenk, dass der eigentliche Octopus nicht die Eisenbahn, sondern die unbarmherzige und gleichgültige Natur selbst war. Wollten sie deswegen alles aus dem Boden rausholen, was rauszuholen war? Didion zeigt, dass sich schon früh Spekulanten bereicherten, etwa wenn sie staatliche Subventionen abgriffen, um ihren Reichtum zu vermehren. Die “subventionierte Monopolisierung Kaliforniens” geschah genauso, wie sich Chrysopylae (Golden Gate) sich ein Vorbild an der Chrysosokeras (Goldenes Horn) von Byzantium ein Vorbild genommen hatte: durch Raub.

Die Kehrseite des verheißenen Paradieses

Der kalifornische Wohlstand baute vor allem auf Flugzeugherstellern wie Hughes, Douglas, Rockwell auf. Aber “Mongolen, Indianern und Negern” war 1860 vom kalifornischen Landtag der Zugang zu öffentlichen Schulen untersagt. Der kalifornische Land Act von 1913 verbot sogar ausdrücklich allen Asiaten und auch ihren in den USA geborenen Kindern (!) Landbesitz. Im zweiten Teil ihrer Rückschau nimmt sich Didion Lakewood vor, eine aus dem Boden gestampfte Gemeinde, die vor allem von Beschäftigten dieses Wirtschaftssektors, der Rüstungsindustrie, bewohnt wurde. Didion stellt sich die Frage, was aus den Kindern dieser Bewohner wird. Antwort: Spur Posse. Schon ihre Mutter hatte Didion darauf aufmerksam gemacht, dass “dieses Wort” hier nicht gebraucht wird. “So denken wir nicht.” Die Rede ist von “Klasse”. Die Ausschreitungen von 1991 (die sog. “L.A. Riots”) bringt Didion in einen Zusammenhang, den andere nicht zu denken wagten. Denn die Auftragslage in der Rüstungsindustrie (sprich: Flugzeuge) war 1989 eingebrochen und Arbeitslosigkeit weit verbreitet. Zwischen 1988 und 1993 waren 800.000 Arbeitsplätze verloren gehangen, so Didion. Aus dem verheißenen Land wurde Ende des 20. Jahrhunderts ein Eldorado der Sozialhilfeempfänger, das 1998 Menschen, die aussiedeln wollten, sogar Prämien für Umzug etc. zahlte. Arbeitsplätze gab es nur mehr in der California Correctional Peace Officers Association, aber selbst die brachten ihr Personal größtenteils selbst mit. Im Jahr 2000 war das kalifornische Strafvollzugssystem mit 33 Zuchthäusern zum größten in der westlichen Hemisphäre geworden. 1995 gab Kalifornien mehr für seine Gefängnisse als für seine zwei großen Universitätssysteme, die UCLA und die California State, aus.

Joan Didion zeigt die Kehrseite der Medaille und verwebt das Schicksal ihres Bundesstaates und Geburtslandes mit dem ihrer eigenen Familie. Sie schreibt über den Tod: “Als mein Vater starb, machte ich weiter. Als meine Mutter starb, konnte ich das nicht.” Der Traum Amerikas, “die ganze Verzauberung”, schreibt sie, “unter der ich mein Leben zugebracht hatte”, fing an, “abwegig” auszusehen. Ein nachdenkliches Werk der 2021 leider verstorbenen Schriftstellerin und Intellektuellen, das zeigt, dass nicht alles gülden ist, was glänzt.

Joan Didion
Woher ich kam. Roman
(Originaltitel ‏ : ‎ Where I Was From)
Aus dem Amerikanischen von Antje Rávik Strubel
2019, Hardcover, 272 Seiten
ISBN: 978-3550050213
Ullstein Verlag
20.-€


Genre: Roman
Illustrated by Ullstein

Joan Didion’s Verlust und Trauer

Joan Didion’s Verlust und Trauer. Die amerikanische Journalistin, Schriftstellerin und Drehbuchautorin widmet sich in zwei Romanen ihres Spätwerks den Themen Verlust und Trauer auf eine unnachahmliche, ganz feinsinnige Art und Weise. Während ihre Tochter Quintana auf der Intensivstation liegt, verstirbt ihr Ehemann, der Schriftsteller John Gregory Dunne, an einer Herzerkrankung. Ein doppelter Verlust, der von Normalsterblichen nicht zu bewältigen ist. Von Schriftstellern vielleicht durch das Schreiben.

Das Jahr magischen Denkens

Das Jahr magischen Denkens” legt seinen Schwerpunkt auf den überraschenden und abrupten Verlust ihres Ehemannes. Auch wenn 16 Jahre zuvor eine Herzerkrankung festgestellt wurde, kommt der Tod mit 71 irgendwie doch ohne Vorankündigung, bei Tisch, in der gemeinsamen Wohnung, beim Abendbrot. Ein Kappa 900 SR Herzschrittmacher befand sich in seiner Brust als er starb. 1987 beim Kardiologen sagte er, jetzt wüßte er wenigstens, woran er einmal sterben würde. Die linke Herzkranzarterie wird von Ärzten auch als “Witwenmacher“, wie Didion erwähnt. Den beiden fehlten gerade noch einunddreißig Tage bis zum vierzigsten Hochzeitstag. Zeit ihres Lebens waren sie füreinander der Mensch, dem man vertraute. Das, was sie erlebte, wollte sie immer sogleich mit ihm besprechen und alles mit ihm teilen. Auch die gemeinsame Tochter Quintana. Für andere Schriftstellerehepaare waren die beiden fast ein Vorbild, so gut funktionierte die Beziehung und die Zusammenarbeit. Als er stirbt, gab es eine Weile lange eine Ebene, bei der sie glaubte, es rückgängig machen zu können. Deswegen musste und wollte sie zuerst unbedingt allein sein. “Ich musste allein sein, damit er zurückkommen konnte. So begann mein Jahr magischen Denkens.

Die Ra(s)tlosigkeit der Hinterbliebenen

Da die Wirklichkeit des Todes noch nicht ins Bewusstsein vorgedrungen ist, erscheinen Hinterbliebene oft so, als könnten sie die Verlust relativ gut akzeptieren“, spricht Didion wohl allen Hinterbliebenen der Welt, die einen ähnlichen Verlust zu beklagen haben, aus dem Herzen. Sie unterscheidet zwischen Trauer und Leid: letztere sei vor allem passiv, Leid geschah, aber trauern, die Auseinandersetzung mit Leid, verlange Aufmerksamkeit. Hinterbliebene sehen, wenn sie zurückblicken, Omen, Botschaften, die ihnen entgingen, erklärt sie. Strudel tun sich auf und der Betroffene vermeidet Orte, die ihn an die verlorene Person erinnern könnten, zunächst zumindest. “Jetzt versuchte ich nur noch, den Aufprall zu rekonstruieren, den Sturz des erloschenen Sterns.” Man wisse noch nicht, dass die Beerdigung schmerzstillend sei, eine Art narkotischer Regression, “wo wir in der Fürsorge anderer und in der Schwere und Bedeutung des Anlasses aufgehoben sind“, schreibt sie.

Halluzinatorische Wunschpsychosen

Später dann wird einem sichtbare Trauer quasi vorgeworfen, sie erinnere an den Tod, es werde als unnatürlich empfunden, als “Unvermögen, die Situation zu meistern“. Ein einziger Mensch fehle dir und man habe nicht einmal mehr das Recht, das auch laut zu sagen, wie sie Philippe Ariès paraphrasiert. Auffallend sei auch das Festhalten an Objekten (des Verstorbenen) Festhalten durch eine “halluzinatorische Wunschpsychose“. In Blaue Stunde schreibt sie über denselben Aspekt und fügt hinzu: “Eine Zeit in der ich glaubte, Menschen lebendig und bei mir halten zu können, indem ich ihre Andenken aufbewahrte, ihre `Sachen´, ihre Totems.” (..) Theoretisch dienen diese Andenken dazu, den Augenblick zurückzurufen. Tatsächlichen dienen sie nur das, mir zu verdeutlichen, wie wenig ich den Augenblick genoss, als er da war.”

Blaue Stunden und eine neuer Morgen

In manchen Breitengraden gibt es vor der Sommersonnenwende und danach eine Zeitspanne, nur wenige Wochen, in der die Dämmerungen lang und blau werden. Während der blauen Stunden glaubt man, der Tag wird nie enden. Wenn die Zeit der blauen Stunden sich dem Ende nähert (und das wird sie, sie endet), erlebt man ein Frösteln, eine Vorahnung der Krankheit: das blaue Licht verschwindet, die Tage werden schon kürzer, der Sommer ist vorbei.“ Das Ende des Versprechens, das Joan Didion hier so poetisch anspricht, bezieht sich auf die kürzer werdenden Tage, aber natürlich auch das kürzer werdende Leben, das allzu schnell an einem vorbeifliegt wie ein nichts. Erst erzählt sie von ihrem Haus in Brentwood Park, Kalifornien, wo die geborene New Yorkerin mit ihrem Mann und ihrer Tochter wohnte, bevor sie nach rund 20 Jahren (1988) nach New York rückübersiedelte.

Das Unsagbare aufschreiben

Es ist grausam, sich sterben zu sehen ohne Kinder“, zitiert sie Napoleon Bonaparte, aber noch grausamer ist es wohl, wenn die Kinder vor einem sterben. Damals glaubte sie noch die Zeit würde nie vergehen, ebenso wenig wie die blauen Stunden. Damals, glaubten wir das alle. Auch die Buschfeuer standen damals schon an der Tagesordnung und es war nicht die Frage, ob sie ausbrachen, sondern wann. “Relaxin’ in Camarillo” wie es in dem Eagles Song Hotel California heißt, bekommt eine andere Bedeutung, wenn man diese Zeilen von Joan Didion liest, denn Camarillo war eine Klapse. Und der härteste Satz in “Blaue Stunden” trifft exakt wie ein Torpedo: “Erinnerungen sind das, woran man sich nicht länger erinnern möchte.

Notes to John

Joan Didion ist es in ihren beiden Werken, “Blaue Stunden” und “Das Jahr magischen Denkens”, gelungen, das Persönliche exemplarisch zu machen und es so auch anderen Menschen zugänglich zu machen. In ihrer bewundernswerten Resilienz zeigt sie, dass Aufgeben keine Option ist und das Leben wert ist, jeden Atemzug gelebt zu werden. Joan Didion überlebte die beiden größten Katastrophen ihres Lebens, den Verlust von Geliebtem und Tochter, um beinahe 20 Jahre. Sie starb im Dezember 2021. Demnächst – 2025 – erscheint auch ein Buch aus dem Nachlass mit dem Titel “Notes to John“.

Joan Didion
Das Jahr magischen Denkens
(Originaltitel: The Year of Magical Thinking)
Aus dem Amerikanischen von Antje Rávik Strubel
2021, Broschur, 256 Seiten,
ISBN: 9783548065588
Verlag Ullstein Taschenbuch
14,99 €


Genre: Autobiografie, Roman, Trauer
Illustrated by Ullstein