Underground Railroad

Magisch-realistischer Sklavenroman

Mit seinem Roman «Underground Railroad» hat der farbige US-amerikanische Schriftsteller Colson Whitehead 2017 den Pulitzerpreis gewonnen und einen riesigen medialen Wirbel ausgelöst. «Ich mag es, mir seltsame Dinge auszudenken» hat er im FAZ-Interview erklärt, und dazu gehörte für ihn dann auch die Frage: «Was, wenn es die Underground Railroad wirklich gegeben hätte»? Er habe dann fünfzehn Jahre gebraucht, um endlich dieses Buch zu schreiben. Der Titel steht metaphorisch für die Bewegung des Abolitionismus, einem Netzwerk zur Abschaffung der Sklaverei mit schwarzen und weißen Aktivisten, die im frühen 19ten Jahrhundert unter Lebensgefahr als Fluchhelfer und Schleuser entlaufenen Sklaven zur Freiheit verholfen haben. Ähnlich wie die Ausrottung der indigenen Bevölkerung ist auch der Begriff «Underground Railroad» eine jedem Schulkind geläufige ‹Great American Story› des Unrechts.

Protagonistin dieses Romans ist die junge Sklavin Cora, die auf einer Baumwoll-Plantage in Georgia arbeitet, deren sadistischer Eigentümer seine Sklaven wie Tiere behandelt. Als ein Mann ihr anbietet, mit ihm zusammen zu fliehen, zögert sie zunächst, weil bisher alle Fluchtversuche gescheitert sind. Die aufgegriffenen Sklaven werden zu Abschreckung in einer Zeremonie vor den versammelten Arbeitern unsäglich grausam bestraft und halbtot dann an einem Baum erhängt. Zum Anfang des Romans wird ausführlich von all der Pein berichtet, denen die afrikanischen Sklaven ausgesetzt sind. Sie werden völlig hilflos als vom Staat sanktionierter, rechtloser Besitz behandelt, als Arbeitstiere gehalten, nach Belieben weiterverkauft und eben auch willkürlich getötet, wenn der Plantagen-Besitzer es als Strafe anordnet. Cora wagt das Undenkbare, sie entschließt sich doch, trotz der drohenden fürchterlichen Strafe, zur Flucht.

Die anfangs realistische Erzählung dreht sich nach einem Viertel des Romans mit Coras Flucht ins Fantastische, indem der Autor die nur als Metapher gedachte «Underground Railroad» als tatsächlich existierende Untergrund-Eisenbahn in seine Geschichte einfügt. Und so steigt Cora in einem geheimen, unter einer Scheune versteckten Bahnhof dann auch in den offenen Wagon eines Zugs mit einer Dampflock, der sie eine Etappe weit in Sicherheit bringen soll. Ihre Flucht erweist sich als wahrer Albtraum, immer wieder steht sie vor gefährlichen Situationen und neuen Hindernissen. In South Carolina ist sie vermeintlich frei, doch sie erkennt, dass Schwarze anders behandelt werden und man Frauen dazu bringen will, sich sterilisieren zu lassen. In North Carolina, ihrer nächsten Etappe, gibt es keine Sklaverei mehr, aber es soll dort auch keine Schwarzen mehr geben. Man macht Jagd auf sie und erhängt sie jeden Freitag vor Publikum auf dem Marktplatz, was Cora aus ihren Versteck auf einem Dachboden beobachten kann. Ein Sklavenjäger ist ihr hartnäckig auf den Fersen, sie ist nirgendwo sicher und ständig auf der Flucht. Als er sie schließlich entdeckt, wird das Ehepaar, das ihr Unterschlupf gewährt hat, sofort gehängt. Die realistische, aktionsreiche Geschichte von Coras Flucht mit den immer wieder überraschenden Wendungen wird durch die fantastischen Momente konterkariert, historisch Verbürgtes wird unbekümmert mit imaginierten Albträumen vermischt.

Gleichwohl ermöglicht der magische Realismus dieses Romans mit seiner Schonungslosigkeit, die Unbesaitete ziemlich verschrecken dürfte, tiefe Einblicke in historische Strömungen und hilft, die politische Gemengelage in jenen turbulenten Zeiten der Vereinigten Staaten von Amerika zu begreifen. Colson Whitehead hat sich wohlweislich aller Anspielungen auf Gegenwart und jüngste Vergangenheit enthalten. Obwohl ja, wie er in dem zitierten Interview gesagt hat, «Diskriminierung gegenwärtig» sei in den USA und «ihr Wesen heimtückisch». Ein magisch angereicherter Sklavenroman also, dessen Lektüre niemanden unverändert lassen dürfte.

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
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Die Nickel Boys

Unbegrenzte Gewalttätigkeit

Pulitzer-Preisträger Colson Whitehead hat mit «Die Nickelboys» zum zweiten Mal diesen begehrten Literaturpreis verliehen bekommen, was in der mehr als hundertjährigen Geschichte dieses Preises vor ihm erst dreimal geschehen ist. Er gehört damit zu den wichtigsten Schriftstellern der US-amerikanischen Literatur. Das große Vorbild ist für ihn Martin Luther King, den er in seinem Roman häufig zitiert mit seinen Schriften für den gewaltfreien Kampf gegen die Rassentrennung. Inspiriert sei der fiktive Roman mit seinen frei erfundenen Charakteren «durch die Geschichte der Dozier School for Boys in Marianna, Florida», wie er im Nachwort schreibt, er habe davon 2014 zum ersten Mal in der «Tampa Bay Times» gelesen. Es gäbe inzwischen sogar eine «Website der Überlebenden» und viele weitere Publikationen, auf die er bei seinen Recherchen gestoßen sei.

«Sogar als Tote machen die Jungs noch Ärger», lautet der erste Satz im Prolog, der davon berichtet, wie eine Gruppe von Archäologinnen bei Untersuchungen auf dem für einen Bürokomplex vorgesehenen Gelände der längst verschwundenen, ehemaligen Besserungsanstalt etliche Tote finden. Elwood, der fünfzehnjährige, farbige Protagonist des Romans, lebt bei seiner Großmutter, die als Putzfrau arbeitet. Der in sich gekehrte Junge liest gerne Bücher, sein wertvollster Besitz ist eine Langspielplatte mit der Rede Martin Luther Kings auf dem Zion Hill. Elwood wird von seinem Lehrer gefördert und bekommt durch dessen Protektion sogar einen Studienplatz am College. Auf dem Weg zur Einschulung nimmt ihn ein farbiger Mann in einem schicken Auto mit. Sie werden von der Polizei gestoppt, das tolle Auto ist gestohlen, und Elwood wird völlig willkürlich als Mittäter in die Besserungs-Anstalt eingewiesen, – schließlich ist er ja  auch ein Farbiger, ergo muss er ebenfalls ein Autodieb sein! Und damit beginnt für ihn eine lange Leidensgeschichte.

Unermüdlich spürt der Autor den Demütigungen nach, denen die Insassen dieser Hölle namens «Besserungsanstalt» ausgesetzt sind. Die ist geradezu eine Garantie dafür, dass die weißen und farbigen Delinquenten ebenfalls zu Monstern werden, ganz so wie ihre sadistischen Aufseher und Betreuer in dieser vermeintlichen «School for Boys.» Die Teenager werden zu allerlei Arbeiten in der Anstalt herangezogen. Die Sadisten kommen meist aus prekären Verhältnissen und haben oft ihrerseits Schlimmes hinter sich, sie fühlen sich quasi im Besitz eines Freibriefs zur Quälerei. Selbst bei den geringsten Vergehen der Zöglinge werden drakonische Strafen verhängt und auch gnadenlos exekutiert. Dabei geht es so grausam zu, dass manche der Opfer die Torturen nicht überleben. Korrupte Ärzte sorgen dann dafür, dass eine unverdächtige Todesursache angegeben wird, es gibt aber auch Fälle, in denen die Jungs einfach spurlos verschwinden und heimlich irgendwo auf dem weitläufigen Areal verscharrt werden. Die bis hoch zum Direktor durchgängig korrupte Belegschaft dieser Stätte des Grauens verleiht die Jungen für die verschiedensten Arbeiten an Geschäftsleute oder auch Privatpersonen, wobei die Erlöse untereinander aufgeteilt werden und nicht etwa der «School for Boys» zugute kommen. Das Gleiche passiert mit den Lebensmitteln oder mit Kleidung, die in dunkle Kanäle verschwinden. Leidtragenden sind die inhaftierten Teenager, die einen immergleichen, ekligen Fraß vorgesetzt bekommen oder in längst verschlissener Kleidung herumlaufen müssen.

Colson Whitehead erweist sich als unermüdlicher Chronist dieser dunklen Geschichte der USA, die Anfang der sechziger Jahre noch ebenso real war wie die Skandale in Internaten und kirchlichen Einrichtungen in Deutschland, die bis heute ebenfalls nicht gesühnt sind. In einer unprätentiösen Sprache erzählt, ist dieser Roman eine flammende Anklage gegen den auch heute noch vorhandenen Rassismus im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, zu denen traditionell auch unbegrenzte Gewalttätigkeit gehört.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
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