Wo geht’s denn hier zum Aufschwung?

Es geht mitunter deftig zu, wenn der Ossi über den Wessi und bisweilen auch über sich selbst lacht, weiß der Verlag des schon in der verflossenen DDR höchst beliebten Satiremagazins »Eulenspiegel«. Geschäftstüchtig, und wahrscheinlich von einem Wessi gut beraten, legten die Verlagsobristen deshalb ein schmales Büchlein auf, das einige der durchaus derben Scherze sammelt. Das fragt dann beispielsweise: »Was ist der Unterschied zwischen dem Schlips eines Wessis und einem Kuhschwanz?« und antwortet frech: »Der Kuhschwanz bedeckt das Arschloch ganz«.

Über einen derartigen Witz können Ossis, wie der Rezensent aus eigenen Testreihen bestätigen kann, herzhaft lachen. Aber auch Wessis heben ihre Mundwinkel sichtbar, werden derartige Schoten zum Besten gegeben. »Es gibt drei Arten, eine Firma in den Bankrott zu wirtschaften: Durch Frauen – das macht am meisten Spaß. Durch Sauferei – das klappt hundertprozentig. Durch einen Westler als Geschäftsführer – das geht am schnellsten«. Hier schwingen Erfahrungen mit den nach der Wende von West nach Ost schwärmenden Glücksrittern durch, die für zehntausende heute arbeitsloser Ostdeutscher bitter waren. Deshalb heißt auch der kürzeste Ossi-Witz: »Treffen sich zwei Ossis auf Arbeit …«.

Im Witz eines Volkes spiegelt sich sein Verhältnis zur Obrigkeit, zum Machtapparat und zu seiner Umwelt. Witze, über die der Osten lacht, zeigen, wie tief der Graben zwischen den Staatsvölkern der ehemaligen BRD und DDR immer noch ist. »Ossi und Wessi am Ostseestrand. Wessi: „Sehen Sie mal, da vorn geht der Rettungsschwimmer, der mir heute Vormittag das Leben gerettet hat.“ – „Ich weiß“, sagt der Ossi, „er hat sich schon bei mir entschuldigt.“«.

Wessis sind in den Scherzen, über die Ossis laut lachen, dumm, hohl, hinterhältig, geldgierig und im weitesten Sinne asozial. Dabei wird unterstellt, dass viele von ihnen gern die Mauer wieder hochziehen würden, um die Subvention des »Beitrittsgebietes« endlich beenden zu können. »Warum lächeln die Chinesen so hintergründig, wenn sie einem Westdeutschen begegnen? – Weil die Chinesen ihre Mauer noch haben«.

Soll also die im Titel des Buches gestellte Frage »Wo geht’s denn hier zum Aufschwung«, beantwortet werden, dann antwortet der gewitzte Ossi darauf: »Da entlang! Immer den Bach runter!«. Wer dieses Büchlein als Spiegel des Zeitgeistes liest, der sieht tatsächlich kohlrabenschwarz.

Bitte kommentiere diese Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Eulenspiegel Berlin

Der Stimmenimitator

Ursprünglich nannte Thomas Bernhard seine Sammlung kurzer Prosatexte, die heute den Titel »Der Stimmenimitator« trägt, »Wahrscheinliches – Unwahrscheinliches«. Der Originaltitel beschreibt ziemlich genau das, was das Wesen der Veröffentlichung kennzeichnet: Es handelt sich um rund einhundert Texte im Stil lokaler Pressenachrichten, die ebenso wahrscheinlich wie unwahrscheinlich klingen.

Sachlich wird berichtet von denkbaren und undenkbaren, von möglichen und unmöglichen Ereignissen, die der Autor blitzlichtartig aufnimmt und wiedergibt. Fast immer münden die Kurzberichte im Unglück, und die Trennwand zwischen Komödie und Tragödie ist hauchdünn.

Bernhards Hauptfiguren sind Höhlenforscher, Professoren, Bürgermeister, Feuerwehrleute, Dompteure, Schauspieler, Wahrsager, Postboten, Chorknaben, Bankangestellte und Präsidenten. Es sind recht unterschiedliche Gestalten. Manche Berichte lesen sich wie Anekdoten, manche werden zur Parabel für die Zeit, in der wir leben. Immer aber scheinen die Ereignisse eindringlich und unausweichlich auf ein Ende zuzustreben, das zufällige Unglück wird notwendig, der Tod unumgänglich.

Ein Schauspieler verkörpert die Rolle des bösen Zauberers in einem Kinderstück so überzeugend, dass die kleinen Zuschauer die Bühne stürmen und ihn zu Tode trampeln. Zwei Herren füttern im Tierpark Schönbrunn die Affen, bis die Tiere die Futterreste sammeln und es den Zoobesuchern durch das Gitter hinaus reichen, die darauf entsetzt dem Tiergarten entfliehen. Höhlenforscher kehren aus einer unerschlossenen Höhle nicht zurück, Rettungsmannschaften werden ausgeschickt, bleiben aber ebenfalls verschollen, worauf die Behörde den Höhleneingang zumauern lässt.

Ein Denker tauscht mit dem Wirt eines vorzüglichen Gasthauses die Rollen, worauf naturgemäß weder Wirt noch Denker in ihren neuen Rollen funktionieren. Die Bürgermeister von Pisa und Venedig landen in ihren jeweiligen städtischen Irrenhäusern, weil sie, um die Touristen vor den Kopf zu stoßen, heimlich den schiefen Turm von Pisa mit dem Campanile von Venedig tauschen wollen.

Zum engen Wechselspiel von Tragödie und Komödie sagt Bernhard selbst: »Man kann in Verzweiflung, sage ich, gleich, wo man ist, gleich, wo man sich aufhalten muss in dieser Welt, von einem Augenblick auf den anderen aus der Tragödie (in der man ist) in das Lustspiel eintreten (in dem man ist), umgekehrt jederzeit aus dem Lustspiel (in dem man ist) in die Tragödie (in der man ist).«

Die feine Textsammlung eignet sich vorzüglich, um in die Gedankenwelt Bernhards einzusteigen.


Genre: Kurzprosa
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Weltende

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut
In allen Lüften hallt es wie Geschrei
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Dieses Gedicht des genialen Jacob van Hoddis leitete im Januar 1911 die AKTIONSLYRIK ein, die heute als »expressionistische« Lyrik bezeichnet nennt. Ohne van Hoddis wären die meisten »fortschrittlichen« Lyriker unserer Tage undenkbar, meint der Expressionismus-Forscher Paul Raabe, der die wichtigsten Texte des Dichters in einem schmalen Band zusammengestellt hat.

Zwischen 1911 und 1918 wurden die Texte van Hoddis in verschiedenen zeit- und kulturkritischen Zeitschriften wie »Die Aktion«, »Der Sturm«, »Die Fackel«, »Revolution« und »Dada« publiziert. Dabei erschien das Titelgedicht »Weltende« erstmals am 11. Januar 1911 in der Zeitschrift für freiheitliche Politik und Literatur, »Der Demokrat«. Das Gedicht ist in Inhalt und Stil das berühmteste des Dichters geblieben. In seiner ahnungsvollen Schilderung des Untergangs des Welt nimmt es den Ausbruch des Ersten Weltkrieges vorweg und symbolisiert den Aufbruch der expressionistischen Lyrik seit 1910.

Der expressionistische Lyriker und spätere DDR-Kulturminister Johannes R. Becher schrieb 1957 dazu: »Diese zwei Strophen, o diese acht Zeilen schienen uns in andere Menschen verwandelt zu haben, emporgehoben zu haben aus einer Welt stumpfer Bürgerlichkeit, die wir verachteten und von der wir nicht wussten, wie wir sie verlassen sollten. Diese acht Zeilen entführten uns. Immer neue Schönheiten entdeckten wir in diesen acht Zeilen, wie sangen sie, wir summten sie, wir murmelten sie, wir pfiffen sie vor uns hin, wir gingen mit diesen acht Zeilen auf den Lippen in die Kirchen, und wir saßen, sie vor uns hin flüsternd, mit ihnen beim Radrennen. Wir riefen sie uns gegenseitig über die Strasse hinweg zu wie Losungen, wir saßen mit diesen acht Zeilen beieinander, frierend und hungernd, und sprachen sie gegenseitig vor uns hin, und Hunger und Kälte waren nicht mehr …«

Jakob van Hoddis wurde am 16. Mai 1887 als Hans Davidsohn in Berlin geboren. Nach einem abgebrochenen Architekturstudium an der TU Berlin studierte er Klassische Philologie in Jena und Altphilologie in Berlin. 1908 hielt er seine erste öffentliche Lesung und nahm dazu sein Pseudonym an. Aufgrund seines unsteten Gemütszustandes wurde er am 31.10.1912 zwangsweise in eine Nervenheilanstalt eingewiesen, aus der er kurz darauf nach Paris entflieht. Wieder zurück in Deutschland, wo er am 25. April 1914 letztmalig öffentlich las, wurde der Kranke privat gepflegt und wanderte durch verschiedene Kliniken und Heilstätten.

Am 30. April 1942 wurde der Dichter von den Nazis deportiert und in einem Massenvernichtungslager in Polen ermordet. Sein genaues Todesdatum ist unbekannt.

Bitte kommentiere diese Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Lyrik
Illustrated by Arche Zürich

QQ

»Quiet quality«, abgekürzt »QQ«, ist ein amerikanischer Modebegriff und bedeutet so etwas wie »stille Güte«. Es will all das klammern, was nicht schreit und spritzt. Da Max Goldt das Ende seiner Tage in einem gepflegten Altenheim für betuchte Senioren verleben möchte, sieht er sich gezwungen, noch ein paar Jährchen zu schreien und zu spritzen. Dieser Tätigkeit geht der Autor bevorzugt im Satiremagazin »Titanic« nach. 21 seiner doppelseitigen stilbildenden Aufsätze sind in diesem Bändchen still und gut zusammen gefasst.

Goldts Sätze sind Sprachkunstwerke. Der Autor erzählt in locker-legerem Stil und mit einem satyrischen Funkeln in den Augenwinkeln kleine Geschichten aus dem Hier und Jetzt. Was assoziativ aneinander gereiht scheint, ist tatsächlich elegant konstruiert und bis in die letzte sprachliche Wendung ausgefeilt.

Ein fulminantes Feuerwerk ist sein Essay »Über Fernsehmusik«, mit dem der Sammelband eröffnet. Goldt beginnt mit der Rezension eines softlesbischen Mystery-Thrillers über zwei in lodernder Hassliebe verhedderten Frauen aus grauer Vorzeit, die sich in weiblicher Dramatik schlussendlich in einem keltischen Burgfried gegenseitig einmauern. Über diesen Einstieg schwenkt Goldt zur Autorin dieses historischen 800-Seiten-Schinkens, einer gewissen Heidi Würsel. Diese Dame steckt sämtliche Tantiemen aus ihrer literarischen Tätigkeit, die sie im vertrauten Kreis auch schon mal »Leseschrott für fette Frauen zusammenkloppen« nennt, in ihre heimliche Sehnsucht: das Restaurant »Schinkenkeller« auf der Insel Sylt.

In diesem Tempel des erlesenen Geschmacks trifft der Leser auch ihre Halbschwester, eine anerkannte Steingartenexpertin aus dem Hausfrauenfernsehen, die ihre Kohle in das Aufmöbeln alter Lamborghinis steckt und darin Erfüllung sucht. Auch sie steht kurz davor, als Buchautorin zu brillieren.

Gemeinsam ist den Damen ein Freund: der Fernsehkomponist Henner Larsfeld, ebenfalls Stammgast im »Schinkenkeller«. Dieser arbeitet, würde er danach gefragt – aber er wird es nicht – ausschließlich in seiner Küche und mixt dort Klangcocktails für unterschiedlichste Fernsehproduktionen. In dieser Kreativküche schrieb Larsfeld auch die Musik für die TV-Adaption des Würselschen Stoffes der eingemauert Schmachtenden. Wobei »schreiben« so verstanden sein will, dass er aus einer Sammlung von CDs mit Mönchschören und extrem verhallten Wummersounds einen Soundteppich knüpft, über den – unabhängig vom Genre – sämtliche der von ihm beschallten Fernsehfilme und Dokumentationen spazieren.

Auch Larsfeld versuchte einst, sich künstlerisch freizuschwimmen und verzichtete in einem ihm besonders geeigneten Fall auf die Chöre der Kuttenträger. Doch die zuständige TV-Redakteurin machte ihm schnell deutlich, dass dies doch gar nicht passe, und so griff der Meister, von einem »Warum nicht gleich so!« seiner Auftraggeberin angefeuert, wieder ins Mönchsarchiv.

Insofern lässt sich schon jetzt prophezeien, welche Fernsehmusik ertönen wird, wenn er den nächsten Würsel-Erfolg unterlegt, der bald über den Bildschirm flimmert und im übrigen erzählt, wie die beiden eingemauerten Frauen fünfhundert Jahre später aus ihrem Kokon ins Mittelalter entschlüpfen und sich dort wieder ihren heimlichen Leidenschaften widmen.


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Rowohlt

Interview mit einem Kannibalen

»Hi, ich bin Franky aus Deutschland. Ich suche nach jungen Männern zwischen achtzehn und dreißig Jahren zum Schlachten. Hast Du einen normal gebauten Körper, dann komme zu mir, ich schlachte dich und esse dein köstliches Fleisch«, schreibt »antrophagus« (das ist lateinisch und heißt »Menschenesser«) auf einer Kannibalen-Kontaktseite im Internet. Mehr als vierhundert Interessenten melden sich. Sechzig davon bieten sich als »Schlachtopfer« an. Weiterlesen


Genre: Dokumentation
Illustrated by Seeliger Wolfenbüttel

Riesenmaschine

»Das Neue Universum« war die literarische Leibspeise meiner Kindheit. Jeweils zum Jahresausklang erschien unter diesem Titel ein inhaltsschwerer Band mit Berichten aus Wissenschaft, Forschung und Abenteuer. Meine Augen leuchteten, wenn der Schinken unter dem Weihnachtsbaum prangte. Pfeilschnell zog ich mich in einen stillen Winkel zurück und verschlang atemlos, was die Autoren Faszinierendes aus Zeit und Raum berichteten.

Ende 2002 erschien mit Band 119 der letzte der 1880 begründeten Jugendbuchreihe. Die Lesegewohnheiten der Kids waren mittlerweile inkompatibel mit populärwissenschaftlichen Darstellungen in Enzyklopädien. Der Buchmarkt befand sich im Umbruch, das digitale Zeitalter fraß das gedruckte Wort, wirtschaftlicher Niedergang drohte den alt eingesessenen Buchverlegern.

Geschickt und clever sprang jedoch ein neues Medium in die frisch aufgerissene Lücke und füllte die Vakanz. »Das Beste aus dem brandneuen Universum« sollte geboten werden, und das neue Angebot nannte sich schlicht und bescheiden »Riesenmaschine«.

Riesenmaschine.de nutzt das Internet als Plattform und ist ein Gemeinschaftsprojekt. Seit Juni 2005 schreiben rund dreißig Autoren über das Thema Fortschritt in allen möglichen und unmöglichen Schattierungen. Alles, was sich in unserer Welt verändert, wird möglichst witzig und unterhaltsam thematisiert. Die Einträge drehen sich um Brotrand-Randgruppen, familientaugliche Entenmunition und nachts umherziehende Putzguerilla.

Mit vielen tausend Zugriffen pro Monat zählt die virtuelle Riesenmaschine mittlerweile zu den meistgelesenen deutschen Blogs. Die Texte gehören, so die Jury des Grimme Online Award, die 2006 zugunsten der digitalen Blog-Kommune zuschlug, »zum Formidabelsten und Unterhaltsamsten, das im deutschsprachigen Netz zu finden ist«. Seien es stapelbare Kinder, Wurst mit Wellnesskräutern und automatische Fische – die Riesenmaschinisten erklären innere Zusammenhänge unserer sich rasant wandelnden Welt.

Hundert der besten Einträge wurden nun in einem Taschenbuch versammelt und knüpfen damit zumindest der gedruckten Form nach an »Das Neue Universum« an. Dies geschieht auch optisch. Denn die Wort-Bild-Marke, unter der die Riesenmaschine hausiert, ist der auskopierte Teil einer Überschrift aus »Das Neue Universum« aus den späten 1950ern. Damals ging es um Grossgeneratoren, und die Überschrift lautete: »Riesenmaschinen stillen Stromhunger«.

In Buchform gibt es die Riesenmaschine damit auch als Vademecum für stromlose Zeiten, Ausflüge oder zum Studium des Blogosphäre. Mit seinem redaktionellen Motto »Keine Sozialgeräusche – Keine Befindlichkeiten – Kein Erlebnisschrott« kann das Werk durchaus Vorbild sein für jeden, der gern bloggt. Es bietet demjenigen Information und Lesevergnügen, der die Weiten der die Riesenmaschine im Überblick kennen lernen möchte. Kurzum, es ist seine 8,95 Euronen wirklich wert.

Bitte kommentieren Sie diese Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Illustrated by Heyne München

Vincent

Mit »Vincent« seziert Joey Goebel die Popindustrie und zeigt auf, wie Stars und Sternchen in den Himmel geschossen werden und dort rasch verglühen: Harlan Eiffler bekommt den Job seines Leben: Ein millionenschwerer Medienunternehmer will als Krönung seines Lebens eine Nachwuchsakademie ins Leben rufen, um künstlerische Genies zu fördern. In deren Auftrag soll Harlan lediglich ein einziges Talent betreuen. Geld spielt dabei keine Rolle.
Weiterlesen


Genre: Romane
Illustrated by Diogenes Zürich

Otherland 4 • Meer des silbernen Lichts

Der vierte und letzte Band der »Otherland«-Reihe reißt die auf der Suche nach den verlorenen Kindern befindlichen Gefährten vollständig auseinander und lässt sie in verschiedenen Simwelten wieder auftauchen. Sie erleben dort atemberaubende Verfolgungsjagden und hasten von einem lebensbedrohenden Abenteuer in Märchen- und Mythenwelten in die nächste Umgebung. Weiterlesen


Genre: Cyberspace-Saga, Fantasy, Science-fiction
Illustrated by Heyne München

Thomas Bernhard

Hoell beschreibt die schwierige Kindheit Bernhards als Initialzündung für dessen literarische Arbeit. Bernhards Mutter Herta floh aus dem erzkatholischen, intoleranten Österreich, um ihr unehelich geborenes Kind zur Welt zu bringen und ging dazu nach Holland. Geburtsort Bernhards war insofern Heerlen/NL. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, gab die Mutter den Sohn weg. Thomas verlebte die frühe Kindheit bei seinem Großvater, dem Heimatschriftsteller Johannes Freumbichler (1881-1949) und gewann diesen als Vorbild. Ab 1936 nahm ihn seine Mutter, die inzwischen Emil Fabjan geheiratet hatte, wieder auf.

1948 erkältet sich Bernhard, der inzwischen eine Lehre angetreten hat, beim Abladen einer Lastwagenfuhre Kartoffeln. Ein mehrjähriger Aufenthalt in Krankenhäusern und Sanatorien ist die Folge dieser unausgeheilten Lungeneerkrankung. Diese wächst sich schließlich zu einer TBC aus und erzwingt im Verbund mit anderen Erkrankungen schlussendlich auch das Ende des Dichters, dessen Werk entsprechend von Krise und Krankheit bestimmt ist.

Durch Vermittlung Carl Zuckmayers wird Bernhard ab Januar 1952 beim »Demokratischen Volksblatt« in Salzburg als freier Mitarbeiter beschäftigt. Dort erlernt er das Handwerk des Schreibens. Er versteht sich in seinem journalistischen Schaffen als »Übertreibungskünstler«. »Wenn drei Tote waren, warn´s bei mir immer sieben, dass war eine Berichtigung am dritten Tag … aber es hat die Auflage gehoben, war sehr günstig.« Im Dezember 1954 endet seine Tätigkeit bei dem Blatt, da er sich weigert, in die Sozialistische Partei Österreichs einzutreten, der die Zeitung gehört. Aber er hat in der redaktionellen Zeit »Blut geleckt am Schreiben«.

Bald folgen erste Veröffentlichungen von Erzählungen, und auch einige Gedichtbände, die er später als »Schmarrn« bezeichnet, werden gedruckt. Bernhard hofft noch auf eine Solokarriere als Sänger, fällt jedoch wegen seiner unausgebildeten Stimme durch, er studiert neben Musik auch Schauspiel und wirkt in Theaterstücken mit. Der spätere Autor von 18 abendfüllenden Stücken, die an allen großen Bühnen Europas aufgeführt werden, erhält dadurch intime Einsichten und Kenntnisse in Dramaturgie und Regie.

Durchschlagener Erfolg ist Bernhard erstmals für seinen 1963 erschienen Roman »Frost« beschieden. Wieder ist es Zuckmayer, der ihm mit einer enthusiastischen Rezension in »Die Zeit« den Weg ebnet. In »Frost« erhält ein junger Medizinstudent von einem Assistenzarzt einen ungewöhnlichen Auftrag: Er soll von dessen Bruder, dem in einem österreichischen Gebirgsdorf lebenden Maler Strauch, ein exaktes Beobachtungsprotokoll erstellen. Die Reise führt ihn in ein verkommenes Dorf und in die abgründige Existenz des wahnsinnig gewordenen Malers. Der Roman besteht neben Wahrnehmungen des Studenten und gemeinsamen Gesprächen größtenteils aus Strauchs Monologen. Für dieses Werk erhält Bernhard den Julius-Campe-Literaturpreis. Von einem weiteren Preisgeld erwirbt er einen Vierkanthof im oberösterreichischen Ohlsdorf nahe Gmunden am Traunsee, in dem er sich als Gesamtkunstwerk inszeniert.

»Frost« ist ein Stück Anti-Heimatliteratur, in welchem der Alpentraum zum Albtraum wird: Die Provinz ist kein Idyll mehr, ihre Bewohner sind keine harmlosen Ländler, die Berge kein Postkartenmotiv; es entsteht ein Szenario aus unbarmherziger Kälte, stinkenden Jauchegruben, feisten Wirtinnen und brutalen Verbrechern. Es ist kein Wunder, dass das offizielle Österreich unfreundlich auf seinen erfolgreich schreibenden Staatsbürger reagiert und Bürgermeister über die angebliche Schädigung des Fremdenverkehrs durch die Veröffentlichung lamentieren.

Zum Eklat kommt es anlässlich der Verleihung des österreichischen Staatspreises an Bernhard, als der Autor formuliert: »Wir sind Österreicher, wir sind apathisch; wir sind das Leben als das gemeine Desinteresse am Leben«. Minister, Funktionäre und Würdenträger verlassen empört den Saal und demütigen den Autor, der nicht die übliche Schönrednerei bei einer solchen Veranstaltung pflegt. Einige Preise wird Bernhard noch annehmen, dann verweigert er selbst den Vorschlag zum Literaturnobelpreis.

Die begeisterte Kritik etikettiert Bernhard dagegen frühzeitig als »Alpen-Beckett«, und er selbst bestätigt den Einfluss von Genets »Zofen« auf sein erstes Theaterstück, »Ein Fest für Boris«, das 1967 entstand. Diese rabenschwarze Komödie schrieb er für Salzburg als »eine Art Anti-Jedermann, eine Tafel mit Leuten, ein Fest, aber Verkrüppelte«. Wegen der Vieldeutigkeit des Werkes prägte Umberto Eco den Begriff des »offenen Kunstwerks«, der fortan für Bernhards Gesamtwerk stehen sollte.

In seinem Porträt versteht es der Biograph, die Facetten der Persönlichkeit Bernhards heraus zu arbeiten. Auf der einen Seite war der Erfolgsautor innerlich unsicher und schwankend, gehemmt und oft schroff im Umgang mit seiner Umwelt. Auf der anderen Seite spielte und pokerte er um seinen eigenen Marktwert und nahm dazu ein divenartiges Gehabe an, um die Besonderheit seiner künstlerischen Persönlichkeit zu unterstreichen und bezeichnete sich selbst als »geldgierig«. Seine Verletzlichkeit mündet aufgrund der erlittenen Kränkungen in einer krassen Haltung gegen sein Heimatland. Zwei Tage vor seinem Tod verfügt er, dass seine Werke in Österreich weder aufgeführt noch dargeboten werden dürfen.

Durch die schon in der Kindheit erlittenen Verletzungen verbirgt sich Bernhard hinter Masken und richtet einen Schutzwall um sich auf. Der hoch sensible Autor hegt tiefes Misstrauen gegenüber anderen Menschen. Er geht nie eine feste Beziehung ein und hält sich in jeder Freundschaft Rückzugsmöglichkeiten offen. Lediglich mit seinem »Lebensmenschen«, der 37 Jahre älteren Hedwig Stavianicek, die seine Künstlerkarriere auch finanziell fördert, verbindet ihn eine lebenslange Freundschaft.

Als Bernhard im Alter von 58 Jahren am 12. Februar 1989 an seiner schweren Krankheit stirbt, hinterlässt er ein gewaltiges Werk. Theaterstücke wie »Kalkwerk«, »Ritter, Dene, Voss«, »Minetti«, »Alte Meister«, »Auslöschung«, »Über allen Gipfeln ist Ruh« und »Heldenplatz« stehen neben brillanten Prosawerken wie »Wittgensteins Neffe«, »Der Untergeher«, »Auslöschung«, »Beton«.


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by dtv München

Die Berühmten

Bernhards aus zwei Vorspielen und drei Szenen bestehende Komödie beleuchtet das Musiktheater und seine Protagonisten und nimmt den Festivalbetrieb zwischen Bayreuth und Salzburg kritisch aufs Korn. Der Text entstand 1975 und wurde am Theater an der Wien unter der Regie von Peter Lotschak am 8. Juni 1976 uraufgeführt.

Anlässlich seiner 200. Vorstellung als Baron Ochs von Lerchenau im »Rosenkavalier« von Richard Strauss lädt ein Bassist berühmte Künstler seiner Zeit ein, die ihm zu Freunden und Verbündeten geworden sind. Für sie stellvertretend stehen »Vorbilder« als Avatare bereit, zu denen sich die Anwesenden gesellen. Vertreten sind Richard Mayr (1877-1935), ein als »Ochs« berühmt gewordener österreichischer Bassist sowie der als »König des Belcanto« in die Musikgeschichte eingegangene österreichische Tenor Richard Tauber (1891-1948). Alexander Moissi (1879-1935) und Helene Thimig (1889-1974) repräsentieren die Zunft der Schauspieler. Der Regisseur und Intendant Max Reinhardt (1873-1943), der italienische Stardirigent Arturo Toscanini (1867-1957), die Pianistin Elly Ney (1882-1968) sowie Verleger Samuel Fischer (1859-1934) sind ebenfalls mit von der Partie. Lediglich die Sopranistin Lotte Lehmann (1888-1976) lässt auf sich warten und stößt erst im zweiten Vorspiel zu der Gruppe.

Im Mittelpunkt des Stückes steht der Bassist, der von den anderen in einem gewaltigen, selbstgefälligen Monolog über seine Karriere und seine Kunst unterstützt wird. Während er schlemmt, erzählt er die Geschichte eines Dirigenten, der bei seinem Auftritt kopfüber in den Orchestergraben gestürzt sei und sich dabei schwer verletzte. Damals sei noch echte Kunst auf der Bühne gezeigt worden. »Heute wird vom Fließband gesungen, alle singen und schauspielern vom Fließband, eine einzige riesige Massenfabrikation, pseudomusikalisch«, kritisiert er den Opernbetrieb. Es handele sich dabei um eine »perverse Vermögensbildung auf dem Konzertpodium und auf dem Theater«.

Der Verleger meint dazu, »das Genie soll sich hüten, der Mittelmäßigkeit etwas beibringen zu wollen«, und der Regisseur sieht die größte Leistung der Kunst nicht im absolut Schönen sondern im Verkrüppelten: »Von dem Verkrüppelten geht immer eine Faszination aus. In jeder Kunstgattung, ist es die Malerei, ist es die Literatur, ja selbst in der Musik fasziniert uns das Verkrüppelte.« Alle Großen und alles Große sei verkrüppelt. Die Großen, die Bedeutenden, die Berühmten seien verkrüppelt, sei dies nun sichtbar oder nicht. Bereits Theodor Adorno habe nachgewiesen, das Genie sei schon immer verkrüppelt gewesen, in körperlicher oder geistiger Hinsicht.

Im zweiten Vorspiel greift der Bassist diesen Gedanken auf: »Jeder hat seine Verkrüppelung. Nur wird sie nicht zugegeben. Der Künstler gibt seine Verkrüppelung nicht zu, aber er schlägt Kapital aus seiner Verkrüppelung.« Der Regisseur unterstützt ihn lautstark: »Das Genie ist ein durch und durch krankhafter und verkrüppelter Mensch und ein durch und durch krankhafter und verkrüppelter Charakter.«

In der ersten Szene geht es dann um das »Volksmärchen« von der Bescheidenheit der Künstler. »Der große Künstler fordert, und er kann nicht genug fordern, denn seine Kunst ist unbezahlbar. Es ist keine Summe zu hoch, um einen bedeutenden Künstler zu honorieren, ganz zu schweigen von den größten, von den bedeutendsten, von den außerordentlichsten, von den berühmtesten …«, so der Regisseur. Im Gegensatz dazu stehe der jammernde Staat und die »Mördergrube der Politik«, die »eine lebenslängliche Feindschaft von innen heraus« mit den Künstlern verbinde, analysiert der Kapellmeister, denn «die Künstler durchschauen die Politiker und durchschauen nichts als Dummköpfe, aufgeblähte Dummköpfe«. Die Künstler erschüfen jeden Tag die Welt, und die Politiker ruinierten sie.

Auf Anregung des Verlegers, der sich für Charakterforschung interessiert, treffen sich in der zweiten Szene die Figuren mit jeweils zu ihnen passenden Tierköpfen. Der Bassist wird zum Ochsen, der Kapellmeister zum Hahn, der Verleger zum Fuchs, die Schauspielerin zur Kuh, die Pianistin zur Ziege, die Sopranistin zur Katze. Sie gehen zum opulenten Nachtisch über und kommen gedanklich zum Schluss, dass Sänger und Schauspieler »Stimmbandkünstler« seien. Sie berichten von der enormen Abhängigkeit, die der gesamte Betrieb der Musiktheaters von ihren Stimmen und deren Anfälligkeiten habe: »Eine kleine Halsentzündung wirft eine ganze Opernsaison über den Haufen«.

Als Ratten gezeichnete Diener fahren schließlich Champagner auf, und die Berühmten steigern sich immer mehr in Selbstgefälligkeit und Eigenlob. Der Regisseur fasst es zusammen: »Von der Berühmtheit geht die größte Faszination aus. Man kann sagen, von diesem Tisch hier: Der Opernkünstler ist der eigentliche Herrscher der Kunstgesellschaft, und der Bassist an sich ist ihr König.« Die Stimmen der Akteure steigern sich immer weiter, bis sie in der Schlussszene nur noch Tierlaute von sich geben, die vom dreifachen Kikeriki des Hahnes übertönt werden.


Genre: Theater
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Ein Fest für Boris

Thomas Bernhards erstes Theaterstück, »Ein Fest für Boris«, entstand 1967. Diese rabenschwarze Komödie schrieb der österreichische Autor für die Salzburger Festspiele als »eine Art Anti-Jedermann, eine Tafel mit Leuten, ein Fest, aber Verkrüppelte«.

Zentrale Figur im Stück mit zwei Vorspielen und einer Festmahl-Szene ist die reiche »Gute«. Bei einem Unfall hat sie ihre Beine und den Ehemann verloren und lässt seither ihre Dienerin Johanna, die einzige Akteurin, die noch auf eigenen Beinen stehen kann, erbarmungslos nach ihrer Pfeife tanzen. Ihren zweiten Mann, den ebenfalls beinlosen Boris, hat sich aus dem benachbarten »Krüppel-Asyl« heraus geheiratet, wo sie durch reichliche Spenden auch ihre Titulierung als «Die Gute« erworben hat.

Bis zum Ende des Vorspiels probiert die Gute rote, grüne, gelbe, aber vor allem weiße und schwarze Handschuhe und große Hüte in denselben Farben. Johanna ist ihr dabei behilflich. Die Gute hält während der Anprobe einen langen Monolog. Sie bemitleidet sich selbst in ihrem beinlosen Zustand.

Das zweite Vorspiel handelt nach dem Maskenball, auf dem die Gute zusammen mit Johanna gewesen war, die Gute im Kostüm einer Königin, Johanna als Schwein. Als die Gute bemerkt, dass Johanna ihre Schweinemaske nicht mehr trägt, zwingt sie diese dazu, die Maske wieder aufzusetzen. Die Gute lässt sich gerade über den besuchten Maskenball aus und kommt dann auf Boris zu sprechen. Boris, ebenfalls beinlos, ist ihr Mann, den sie sich neulich aus dem »Krüppelasyl« ausgesucht und geheiratet hat, um nicht mehr allein zu sein. Doch Boris spricht kein Wort mit der Guten und ruft ständig nach Johanna.

Das Fest für den Geburtstag von Boris beinhaltet den Hauptteil des Stückes. Zum Geburtstagsmahl für Boris sind seine beinlosen Genossen aus dem Asyl geladen. Selbst Johanna muss an diesem Abend ihre Beine versteckt halten. Die zunehmend aufgeregten Gespräche über zu kurze Schlafkisten, schlechtes Essen und andere Miseren im Heim der Beinlosen untermalt Boris mit immer heftigeren Trommelschlägen, bis er – unbemerkt – tot nach vorne sinkt.

Als alle müde werden und sich für das Essen bedanken, bemerkt Johanna plötzlich, dass Boris tot ist. Alle mit Ausnahme der Guten entfernen sich aus dem Raum. Kaum ist die Gute mit dem toten Boris allein, bricht sie in ein fürchterliches Gelächter aus.

Die Kritik etikettierte Bernhard für diesen Text als »Alpen-Beckett«, und er selbst bestätigte den Einfluss von Genets »Zofen« auf sein Werk, das 1972 in der Hamburger Inszenierung von Claus Peymann als absurdes Theater uraufgeführt wurde. 2007 wurde es erstmals in Salzburg im Rahmen der Festwochen aufgeführt.


Genre: Theater
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Ortstermine

Er ist das genaue Gegenteil des schillernden »Richter Gnadenlos«. Seine Urteile offenbaren Feingefühl, Takt, Menschlichkeit und eine bei deutschen Juristen unerwartet große Portion Humor. Die Urteile des in Berlin aufgrund seiner amtskritischen Haltung »Das Phantom des Kriminalgerichts« genannten Strafrichters Rüdiger Warnstädt, lesen sich vergnüglich und bieten bisweilen sprachliche Bonbons. Jetzt legt Berlins originellster Richter sein drittes Buch vor.

»Recht so« und »Herr Richter, was spricht er«, die Titel seiner ersten beiden Bücher, waren schnell ausverkauft. In seinem dritten Werk, »Ortstermine« genannt, berichtet der inzwischen im Ruhestand befindliche Jurist nicht von Besichtigungen blutiger Tatorte. Warnstädt erzählt von seinen Reisen, genauer: von seinen Lesereisen, die ihn quer durch die Republik führen.

Die Lesungen des kauzigen Richters sind ebenso vergnüglich und erbaulich wie seine Texte selbst. Der Zuhörer spürt, dass der Mann gewohnt ist, vor Publikum vorzutragen und sich dabei selbst inszeniert. Er ist pointiert, spitzzüngig, antibürokratisch und dabei immer aufklärend und erzieherisch tätig. »Wann ist ein Richter subversiv«, »Wie viele Justizminister braucht die Bundesrepublik« sind typische Fragen, die der spätbürgerlich wirkende Humanist aufwirft und zum Vergnügen seiner Leser beantwortet.

Ein intelligentes Buch eines charmanten Autors!

Bitte kommentieren Sie diese Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Das Neue Berlin Berlin