Die Verdächtige

Ein Krimi-Märchen

Der durch seinen Titel «Die Verdächtige» vordergründig als Krimi erscheinende Roman von Judith Kuckart versucht, den Spagat zwischen Spannung und menschlicher Selbstverlorenheit in seinem Plot zu realisieren. Ein Genre-Mix also, der nüchterne Polizeiarbeit mit der psychischen Unbehausheit seiner Figuren verbinden will, Rationales mit Mentalem. Eine ebenso kühne wie schwierige Gradwanderung, bei der die Gefahr besteht, dass Beides sich gegenseitig eher behindert.

«Sie saß mit dem Rücken zur Tür. Der Kragen eines altmodischen Mantels fiel ihr wie ein riesiges Rhabarberblatt über die Schultern». Die da im Polizeirevier sitzt heißt Marga Burg, eine hübsche Frau Ende dreißig, die eine Vermisstenanzeige aufgeben will. Ihr Freund sei vor zwei Wochen mit ihr auf der Kirmes gewesen und allein in die Geisterbahn gestiegen, dann aber nicht mehr herausgekommen. Es fehle seither jedes Lebenszeichen von ihm. Fälle wie dieser erweisen sich in Wahrheit allerdings gar nicht so selten als ein eleganter Abgang in ein komplett neues Leben. Der Fall wird Robert, dem Kommissar, der aussieht wie George Clooney, und seiner Kollegin Nico vom Morddezernat übertragen. Die üblichen Nachforschungen beginnen, Nachbarn, Kollegen, die Ex-Frau werden befragt, Telefon und Bankkonto überprüft. Es gibt keinerlei Hinweise, ob er noch lebt, aber auch keine Anhaltspunkte für ein Gewaltverbrechen oder für Suizid. Insoweit ist der Plot genretypisch mit dem üblichen Spannungsbogen aufgebaut, das Besondere hier aber sind die handelnden Personen.

Marga ist eine eher seltsame Frau vom Typus Traumtänzerin, die mit ihrer Psyche im Verlauf der Geschichte sehr viele Rätsel aufgibt. Der melancholische Schönling Robert ist kürzlich erst von seiner Frau verlassen worden und stimmungsmäßig in ein tiefes Loch gefallen. Er weiß nichts anzufangen mit seinem Leben und meldet sich freiwillig zu den sonst eher unbeliebten Sonntagsdiensten, weil er nicht einsam zuhause herumsitzen will. Wie zu erwarten landet der Frauenversteher mit seiner Zeugin, die dann allmählich zur «Verdächtigen» wird, schon bald im Bett. In das Personen-Karussell um das Verschwinden einbezogen ist auch Roberts Ex-Frau, die ihn plötzlich sogar wieder anmacht, ferner eine hilfsbereite Nachbarin, die sich überraschend als Margas Arbeitskollegin entpuppt, und schließlich Margas adipöser, geistig zurückgebliebener Bruder, mit dem sie zusammenlebt. Zusätzlich bindet die Autorin auch die Geisterbahn mit ein, denn Marga ist auf einmal ihrerseits abgetaucht, sie hat ihren Job beim Straßenverkehrsamt einfach hingeschmissen. Robert findet sie dann nach einem Hinweis beim Betreiber der Geisterbahn, der inzwischen in eine andere Stadt weitergezogen ist. In dem gruseligen Fahrgeschäft hat sie die Rolle der ‹kalten Hand› übernommen, erschreckt also die Leute während der Fahrt mit ihrer auf einem Kühlakku temperierten, eisigen Hand.

Mit dem besonderen Augenmerk auf die ewig rätselhafte Anziehungskraft der Geschlechter wird hier, durch märchenhafte Einblendungen ergänzt, eine elegische Geschichte über Wünsche und Ängste erzählt, über Glückssuche und Verlassenheit, letztendlich aber auch über den Sinn all dessen. Verzauberung und brutale Ernüchterung wechseln sich dabei ständig ab, mit der Geisterbahn hat Judith Kuckart dafür ein stimmiges Sinnbild gefunden. Ihre Stärke ist der scharfe Blick, mit dem sie selbst kleinste Details in Mimik und Gestik ihrer Figuren beschreibt. Ihr narrativer Stil ist durch eine starke poetische Suggestivkraft geprägt, die den Leser in Bann zu ziehen vermag. Die Metapher vom Verschwinden und Neuanfang mündet hier in die Erkenntnis, dass man seiner Veranlagung nicht entkommen kann. Sogar das Paradoxon der Kälte-Idiotie ist in Form einer kurzen Vortragsreise von Robert in die Geschichte eingebaut, es dient der Verdeutlichung des schicksalhaft Vorgegebenen. All diese psychologischen Tiefen-Schürfungen jedoch mindern den Roman leider zu einem eher misslungenen Krimi-Märchen herab.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by DuMont

Die Gestirne

Sterndeuter dürfen sich freuen

Der Roman «Die Gestirne» der neuseeländischen Schriftstellerin Eleanor Catton wurde 2013 mit dem britischen Booker Prize ausgezeichnet. Deutet bereits der Buchtitel auf die Astronomie hin, so outet sich die Autorin dann auch im Vorwort als astrologiegläubig, weshalb der Aufbau ihres Romans den zwölf Sternzeichen folgt als Ausdruck ihres Vertrauens «in den unendlichen und wissenden Einfluss des endlosen Himmels». Die einen zentralen Personenkreis bildenden zwölf Männer ihres Romans sind dementsprechend jeweils mit Planeten und Sternen assoziiert, denen verwandte ‹Häuser› und ‹Einflüsse› gegenüber stehen, ein astrologischer Hokuspokus also bildet hier das narrative Konstrukt.

Der Roman beginnt am 27. Januar 1866 mit der Ankunft eines Schotten in der neuseeländischen Hafenstadt Hokitika. Im Raucherzimmer seines Hotels platzt der 27jährige Walter Moody in ein geheimes Treffen von zwölf sehr unterschiedlichen Männern hinein. Nach anfänglich betretenem Schweigen beginnt einer der Männer ein Gespräch mit ihm. Auf dessen neugierige Fragen erklärt Moody, dass er sich hier in dieser neuen Boom-Region als Goldgräber versuchen wolle. Und ehe er sich versieht ist er auch schon tief hineingezogen in ein rätselhaftes Gefecht von gegenseitigen Verstrickungen, von Verrat, dreisten Lügen und hinterlistigen Intrigen. In deren Kern geht es letztendlich um eine veritable Serie schlimmer Verbrechen. Insoweit ist dieser Roman eine vielschichtige Kriminalgeschichte mit oft schwer durchschaubaren Handlungs-Strängen, die in zwölf Kapiteln jeweils aus der Perspektive eines der Männer erzählt werden. Gleichzeitig sind hier aber auch Elemente des Abenteuerromans enthalten, der Goldrausch lockt viele bunte Gestalten an, die alle ihr Glück machen wollen. Dazu gehören auch Geschäftsleute, Spediteure, Politiker und Glücksritter verschiedenster Art, und natürlich ist auch das horizontale Gewerbe vertreten. Gleich zu Beginn findet denn auch ein Politiker auf Wahlkampf-Reise nicht nur einen Toten, sondern auch eine bewusstlos auf der Straße liegende Hure.

Der ungewöhnlich vielseitige, knifflige Plot baut systematisch eine zunehmende Spannung auf. Es ist allerdings oft schwer, dem verwickelten Geschehen zu folgen und die komplexen Zusammenhänge zu durchschauen. Erst nach einer längeren Lesestrecke beginnt man allmählich, das individuelle Geheimnis hinter jeder einzelnen der zwölf Figuren zu erkennen, ihre spezielle Rolle in dem kriminellen Sumpf auch wirklich zu verstehen. Die jüngste Booker-Preisträgerin aller Zeiten mit dem dicksten dort je prämierten Buch aller Zeiten hat die Fäden ihrer auktorial erzählten Handlung virtuos im Griff. Vieles vermittelt sie über ausgedehnte Dialoge, denen sie allerdings leider keine eigenständige Sprechweise zugeordnet hat, die Charaktere unterscheiden sich also sprachlich nicht, ein erhebliches Manko. Zudem ist ihre ansonsten ungewöhnlich detaillierte Figurenzeichnung oft viel zu langatmig, man wird weit weggeführt vom eigentlichen Handlungs-Geschehen und hat dann erhebliche Probleme, den Faden wieder aufzunehmen.

Insoweit bleibt ihr sperriger Roman eine mühsame Lektüre, und mehr als tausend Seiten wollen schließlich auch bewältig sein. Die ersten paar hundert sind eine einzige Geduldsprobe, ehe man sich dann endlich irgendwie doch eingelesen hat. Bei alledem wird man aber das ungute Gefühl nicht los, dass die Autorin jede Chance nutzt, um intellektuell zu glänzen. Besonders die vielen astrologischen Bezüge und Andeutungen dürften aber nur einer verschwindend kleinen Minderheit von Lesern wirklich verständlich sein, und damit eventuell von Nutzen. Der mit dem Hineinplatzen des Helden in den konspirativen Männertreff sofort erzeugte Spannungsbogen wird, mit weiteren Überraschungen, bis ganz zum Schluss durchgehalten, auch wenn nicht alles aufgelöst wird. Die Leser werden also zumindest in dieser Hinsicht belohnt fürs Durchhalten, und die Sterndeuter unter ihnen dürften sich sogar freuen.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by btb München

Der schmale Pfad durchs Hinterland

Beklemmende Lektüre

Für den Roman «Der schmale Pfad durchs Hinterland» erhielt der tasmanische Schriftsteller Richard Flanagan 2014 den britischen Booker Prize. Inhaltlich stützt sich die Geschichte auf Erlebnisse seines Vaters, der im Zweiten Weltkrieg als Kriegsgefangener in einem japanischen Arbeitslager beim Bau der ‹Todeseisenbahn› quer durch den Dschungel von Thailand und Burma eingesetzt war. Damit greift er eine Thematik auf, die weltweit durch die Verfilmung von Pierre Boulles Roman «Die Brücke am Kwai» bekannt geworden ist.

Held des Romans ist Dorrigo Evans, ein vielversprechender junger Chirurg, der sich zum Militär gemeldet hatte und von den Japanern nun als Lagerarzt an der Bahnstrecke einsetzt wird. Unter unmenschlichen Bedingungen schuften dort mehr als tausend Gefangene an einem Teilstück der vom Kaiser höchstpersönlich angeordneten, militärisch wichtigen Nachschublinie, die in ihrer Dimension einem ‹Pharaonenprojekt› gleicht. Die Soldaten der Alliierten stoßen dabei auf einen japanischen Patriotismus, bei dem Gefangenschaft als schändliche Schwäche gilt. Eine fanatische Denkweise, denn ein Soldat ergibt sich nicht, er kämpft für seinen Kaiser bis zum ehrenvollen Tod. Was da im Urwald passiert, verhöhnt die Genfer Konvention, die Gefangenen werden wie Vieh behandelt. Sie sind in einem erbärmlichen Zustand, die Cholera bricht aus, sie sterben wie die Fliegen. Ihr baldiger Tod ist absehbar für den Lagerarzt, mangels Medikamenten und medizinischen Instrumenten kann er ihnen aber auch kaum helfen. Gleichwohl muss er sie als arbeitsfähig einteilen, um die vom Kommandanten jeweils geforderte Zahl von Arbeitskräften bereitzustellen, auch Schwerkranke sind dabei. Jeder tote Gefangene ist nämlich ein guter Toter für die Japaner, sein Leben ist rein gar nichts wert, sein Tod erlöst ihn vielmehr von seiner Schmach.

Eingebettet in diese später als Kriegsverbrechen geahndeten Gräuel ist eine tragische Liebesgeschichte, die sich wie ein roter Faden durch das Leben von Dorrigo zieht. Obwohl er verlobt war, hatte er sich kurz vor seinem Kriegseinsatz unsterblich in Amy, die junge Frau seines Onkels verliebt, für Beide die Liebe ihres Lebens. Während der Gefangenschaft erhält er einen Brief von seiner Verlobten Ella, die ihm einen Zeitungsausschnitt mitschickt, aus dem hervorgeht, dass Amy bei einer Gasexplosion im Hotel seines Onkels ums Leben kam, man hatte sie anhand des Gebisses identifiziert. Am Ende kommt es zu einer Katharsis, die in ihrer berührenden Tragik an große antiken Dramen erinnert. Weite Teile des auktorial erzählten Romans widmen sich jedoch den unsäglichen Verhältnissen, unter denen der Arzt und die Gefangenen dahinvegetieren. Angesichts der ausufernd und detailliert geschilderten, sadistischen Gräueltaten und der jede Vorstellungskraft sprengenden, unbehandelt bleibenden Verletzungen sind starke Nerven erforderlich beim Leser, wenn er nicht gerade zu den abgehärteten Fans von Horrorgeschichten gehört.

Nach dem Krieg macht der als Held verehrte Dorrigo eine glänzende medizinische Karriere, der Roman beginnt mit den Erinnerungen des nunmehr 77jährigen Witwers. Die erweisen sich jedoch oft als lückenhaft und unsicher. Voller Empathie und weit ausgreifend werden in diversen Episoden menschliche Schicksale aus dem Gefangenenlager geschildert. Aber auch über das weitere Leben des sadistischen Kommandanten und seiner brutalen Mittäter nach Kriegsende wird berichtet. Die Schlüsselfrage, die dieser Roman stellt, richtet sich auf den Sinn des Überlebens in Anbetracht der Schuld, die man dabei auf sich geladen hat. Im Interview betonte Flanagan, «dass Hoffnung der Antrieb des Lebens ist», und fügte hinzu, «für einen Geschichtenerzähler ist die größte Hoffnung die Liebe». Er interpretiert sein Buch als Liebesroman, für den er leitsymbolisch eine rote Blume einsetzt. Wie auch immer, diese beklemmende Lektüre dürfte als virtuos erzähltes Wechselbad zwischen schlimmstem Gräuel und ewiger Liebe lange nachwirken.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Hard Land

Bittersüßer Roman

In seinem fünften Roman «Hard Land» erzählt Benedict Wells eine Coming-of-Age-Geschichte, die er in einer fiktiven Kleinstadt in den USA angesiedelt hat. Sein 15jähriger Protagonist und Ich-Erzähler durchlebt dort im Jahre 1985 die schwierige Phase der Mannwerdung und muss sich als überängstlicher Außenseiter mühsam einen Platz unter seinen Mitschülern erkämpfen. Auch die erste Liebe erweist sich als schwierig, vor allem aber muss er mit dem frühen Tod seiner Mutter fertig werden.

Sam Turner lebt in einer dem Niedergang geweihten 20tausend-Einwohner-Stadt in Missouri, deren einziger großer Arbeitgeber in Konkurs gegangen ist. Auch sein Vater ist arbeitslos, seine seit fünf Jahren krebskranke Mutter betreibt einen kleinen Buchladen. Er erzählt seine Geschichte im Rückblick ein Jahr später. Der erste Satz lautet: «In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb». Die Ferien stehen an, seine Eltern wollen ihn zur Tante schicken, die zwei Jungen in seinem Alter hat. Sein erster Besuch dort war aber ein Horror für ihn, und so nimmt er kurz entschlossen einen Ferienjob im örtlichen Kino an, um dem zu entgehen. Dort trifft er auf Cameron, den schwulen Sohn eines erfolgreichen Fabrikanten, und auf den farbigen Hünen Brandon, den sie nur Hightower nennen und dessen Vater eine Farm betreibt. Dritte im Bunde dieser Clique, die sich um das Kino kümmert, ist Kristie, die Tochter des Kinobetreibers. Alle sind zwei Jahre älter als Sam, haben die Schule abgeschlossen und werden das öde Kaff verlassen, um weit weg in New York, Chicago und Los Angeles ihr Studium zu beginnen. Kaum hat er glücklich Anschluss an diese Clique gefunden, steht also in elf Wochen auch schon wieder der Abschied bevor. Und das schmerzt insbesondere wegen der Beziehung zu Kristie, die sich als zarte Bande entwickelt, obwohl sie längst einen festen Freund hat, während er, als männliche Jungfrau, noch nicht mal bis zum Händchenhalten, Küssen oder gar noch mehr gekommen ist.

Benedict Wells hat in seinen Roman eine Fülle von kreativen Ideen eingebaut, zu denen auch der Buchtitel gehört. Der führt nämlich auf einen fiktiven Schriftsteller des Ortes zurück, der unter «Hard Land» 1893 einen Gedichtzyklus veröffentlich hat, an dem sich die Schüler bei der Prüfung in Literatur heute noch die Zähne ausbeißen. Und so glänzt denn dieser Roman mit der Mutter als Buchhändlerin durch eine reiche Intertextualität, zu der auch Kristies Faible für erste Sätze in Romanen zählt, welches der Rezensent, soviel Persönliches sei hier mal erlaubt, mit dem überaus smarten Mädchen teilt. Ergänzt werden diese literarischen Bezüge noch durch diverse popkulturelle, denn Sam ist als Gitarist sehr musikbegeistert, und seit er den Kinojob macht, entwickelt er sich auch noch zum Cineasten. Das besonders innige Verhältnis zwischen Sam und seiner Mutter symbolisiert ein kleiner blauer Holzlöwe, Lieblingsfigur ihrer Sammlung. Den deponieren Vater und Sohn nach ihrem Tod immer wieder heimlich irgendwo, damit ihn der jeweils andere überrascht finde, – eine berührende Geste ihrer ganz persönlichen Erinnerungskultur.

In 49 Kapiteln begleitet man den Heranwachsenden durch die entscheidende Phase seiner Adoleszenz, wobei es dem Autor gelingt, auch eine Menge Lokalkolorit einzubringen in seine Geschichte. Eine schöne Parabel für Sams Hoffnungslosigkeit handelt von einem magischen Ring mit einer auf jede Lebenslage passenden Gravur: «Auch das geht vorbei». Im letzten Teil des Romans bleibt er allein zurück, alle Freunde sind fort, die Briefe werden kürzer, seltener und bleiben irgendwann ganz aus. Aber nach dem einsam verbrachten Winter kommen schließlich auch wieder die Sommerferien, und die drei Freunde kehren ernüchtert zurück. Ihr Kaff ist doch nicht so schlecht, wie sie gedacht haben, es hat ihnen sogar gefehlt in der Ferne. Und das Ende mit Sam und Kristie lässt dann wunderbar leicht alles offen, ein bittersüßer Roman also, und das absolut kitschfrei, – Chapeau!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Eine kurze Geschichte von sieben Morden

Blutrünstiger Karibik-Thriller

Der jamaikanische Schriftsteller Marlon James hat mit «Eine kurze Geschichte von sieben Morden» einen Roman um den Mordanschlag von 1976 auf Bob Marley geschrieben, den bekanntesten Vertreter des Reggae auf der karibischen Insel. Für dieses bisher erfolgreichste Werk des Autors erhielt er den hoch angesehenen britischen Booker-Prize. Der dickleibige Roman wurde hierzulande jedoch nicht annähernd so euphorisch aufgenommen wie im englischsprachigen Raum. Zu Recht?

Das Buch ist in fünf Teile gegliedert, die jeweils mit dem Datum des Tages überschrieben sind, von dem da erzählt wird, was zeitlich eine Spanne von 1976 bis 1991 umfasst. Die einzelnen Kapitel wiederum sind mit den Namen derjenigen Romanfigur überschrieben, aus deren Perspektive über das Geschehen berichtet wird. Mit 76 Figuren, die anfangs als handelnde Personen übersichtlich nach Ort, Zeit und Funktion aufgelistet sind, entsteht so ein polyphoner Chor unterschiedlichster Stimmen. Da finden sich Politiker, unter ihnen sogar ein toter, der gleich zu Beginn spricht und dann immer wieder mal auftaucht, ferner Journalisten, CIA-Leute, Polizisten, Gang-Mitglieder und ihre Dons, Dealer und Junkies, Gangster aller Couleur. Auffällig ist der bescheidene Anteil von nur zehn Frauen, unter ihnen eine Drogenbaronin des Medellin-Kartells, Filiale Miami. Hier wird also aus Macho-Perspektive erzählt, die Frauen fungieren nur als Beiwerk im Roman dieses offen homosexuell lebenden Autors. Im Mittelpunkt stehen die sieben auf den «Sänger», wie Marley im Roman genannt wird, angesetzten Auftragskiller. Deren fiktive Schicksale bilden, über mehr als fünfzehn Jahre hinweg, den narrativen Hintergrund für ein breit angelegtes Panorama der jamaikanischen Gesellschaft jener Zeit. Ort der Handlung sind die Slums der Hauptstadt Kingston, ein Milieu unglaublich roher Gewalt, in dem sich alles um Drogen dreht. In diesen kriminellen Sumpf sind die korrupten Politiker wie selbstverständlich ebenfalls tief mit eingebunden. Damit schildert Marlon James die Schattenseite einer lebensfrohen, karibischen Idylle, für die Bob Marley als Reggae-Lichtgestalt die passende Begleitmusik geliefert hat.

«Wenn es nicht so war, dann war es ähnlich» lautet ein jamaikanisches Sprichwort, das der Autor seinem Roman vorangestellt hat. Und so schildert er denn auch in einer Episode, die den Buchtitel geliefert hat, die Nöte eines Journalisten, der für den «New Yorker» eine Artikelserie unter dem Titel «Eine kurze Geschichte von sieben Morden» schreibt. Dabei geht es um ein Massaker im Drogenmilieu, dessen Auslöser die grobe Beleidigung eines Gangsterbosses war. Der rächt sich auf seine Art, und dabei gerät der Journalist nun selbst auch in Visier von dessen Killern. Der historische Teil dieses Mix aus Realem und Fiktion basiert auf der Marley-Biographie von Timothy White, die frei erfundenen Ergänzungen der Fakten zeugen von einer ungebremsten Fabulierlust des Autors. Der lässt sein Figuren-Ensemble, unter ihnen ein Dutzend Ich-Erzähler, munter drauf los palavern vom ewigen Kampf rivalisierender Drogensyndikate.

Und das geschieht in einem wahrhaft babylonischen Sprachgewirr aus breitestem Slang, dem inseltypischen Patois, ferner Ganovensprache, mundartliche Einschübe, Versform, salbungsvolle Pastorensprache sowie als Bewusstseins-Strom angelegte, alle Schreib-Konventionen missachtende Phantastereien. Triebfeder des Plots sind die pausenlosen Gewaltexzesse, welche hier geradezu sadistisch in einer Intensität und Unmittelbarkeit vor dem Leser ausgebreitet werden, die starke Nerven voraussetzt. Von Leuten, die das Original gelesen haben, wird übereinstimmend beanstandet, dass die sprachliche Geschmeidigkeit in der von nicht weniger als fünf Übersetzern übertragenen deutschen Version verloren gegangen sei. Größtes Manko aber ist die grotesk ausufernde Geschichte selbst, die sich dann auch rasch abnutzt, so dass dieser blutrünstige Karibik-Thriller schon bald nur noch langweilig ist.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Heyne München

Wetter

Ebenso scharfsinnig wie amüsant

Der neue Roman der im eigenen Land hoch gelobten amerikanischen Schriftstellerin Jenny Offill, an dem sie sieben Jahre lang geschrieben hat, deutet mit seinem Titel «Wetter» schon seine Thematik an. Denn Wetter ist die gegenwärtige Form des langfristigen Phänomens Klima, ein Reizthema also, hinter dem ein Schreckens-Szenario lauert. Analog dazu behandelt die Autorin in ihrem Buch die nicht weniger bedrohliche soziale Wetterlage in den USA. Und so ist denn dieser Roman eine breit angelegte Gegenwarts-Analyse der amerikanischen Gesellschaft unter Trump, mit all ihren Psychosen und apokalyptischen Ängsten, die Phänomene wie die Prepper-Bewegung erzeugen oder den vielen obskuren Sekten immer neue Mitglieder zutreiben.

Als Ich-Erzählerin lässt sich die Studien-Abbrecherin und als Universitäts-Bibliothekarin arbeitende Lizzie von ihrer langjährigen Mentorin engagieren, die tägliche Flut von Fanpost zum erfolgreichen Podcast der prominenten Umweltaktivistin zu bearbeiten und sie als Assistentin zu Vorträgen zu begleiten. Unter dem Titel «Hölle und Hochwasser» werden von ihr Themen wie der offensichtlich unabwendbare Klimawandel, die ständig wachsende soziale Schieflage, die zunehmend bedrohlicher empfundene Überfremdung, aber auch der ganz alltägliche Wahnsinn behandelt. Neben diesem aufreibenden Job wird Lizzie in der Bibliothek gemobbt und muss sich mit den wunderlichsten Besuchern herumschlagen. Sie ist aber auch als Mutter eines aufmüpfigen Sohnes, als vernachlässigte Ehefrau eines erfolglosen, promovierten Philosophen und als besorgte Schwester eines ehemaligen Junkies voll gefordert. Als ihr Mann mit dem Sohn zu einem dreiwöchigen Urlaub nach Kalifornien fährt, lernt Lizzie einen Kriegsreporter kennen, von dem sie sich in ihren diffusen Ängsten erhofft, er könne ihr helfen, sich auf den ‹Ernstfall› vorzubereiten. «Er sagt, es fühle sich so an wie kurz bevor es losgeht», bemerkt die von der apokalyptischen Stimmung infizierte Frau dazu. «Das ist abartig, aber man lernt, darauf zu reagieren», ergänzt sie. Äußerst sensibel reagiert sie auf ihre Umgebung, registriert verborgene Signale, versucht sogar, mit ihrem Hund telepathische Verbindung aufzunehmen. Ihr eher burschikoses Auftreten verdeckt ihre innere Zerrissenheit, kaschiert ihre ständige Angst vor dem, was da kommen mag.

Dabei benutzt Jenny Offill verschiedenste Formen, von prägnant formulierten, analytisch klugen Kurztexten aus Erinnerungen, Aktuellem und Beobachtungen über typografisch als Kasten abgesetzte Frage/Antwort-Einblendungen bis hin zu profanen Witzen. Durch diese Kürze wolle sie Schweres und Leichtes gleichwertig neben einander stellen, hat die New Yorker Autorin dazu angemerkt. Sie verwendet stimmige Metaphern, beispielsweise wenn sie das zeitlich limitierte Leben als zunehmend auswegloser beschreibt, «so wie der Fluss auf die Niagarafälle zuschießt». An anderer Stelle zitiert sie die Bedenken eines Psychologen bei der Einführung der Elektrizität dahingehend, «junge Leute könnten ihr Verhältnis zur Abenddämmerung und deren kontemplativen Eigenschaften verlieren». Die paranoiden Gegenwarts-Konflikte ihrer polarisierten Nation bringt sie zum Ausdruck, wenn sie über den nationalen Waffenwahn schreibt: «Man kommt nicht mal in die Nachrichten, wenn man weniger als drei Leute erschießt».

Betont lässig erzählt, unverkennbar lakonisch, zudem schonungslos offen, aber auch warmherzig und oft witzig wird hier ein kollektives nationales Unterbewusstsein scharfsinnig entlarvt. Der stilistische Mix aus Bitter-Ernstem und Locker-Amüsantem lässt diese Analyse US-amerikanischer Befindlichkeit ziemlich uneindeutig erscheinen. Es ist jedoch die absolute Gegenwärtigkeit dieses Romans, die ihn gleichwohl so authentisch erscheinen lässt. Die sogar einiges an Identifikations-Potential für den Leser bietet, der hier durch die permanente Aneinanderreihung von unterschiedlichsten Denkmustern zu eigenem Weiterdenken angeregt wird.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Kaltenburg

Nur für Ornithologen

Der Büchner-Preisträger Marcel Beyer hat in seinem Roman «Kaltenburg» eine Romanfigur erschaffen, die entlang seinem realen Vorbild Konrad Lorenz das Leben eines fanatischen Ornithologen und Verhaltensforschers namens Ludwig Kaltenburg abbildet. Mit wenigen Figuren in Szene gesetzt, wird dessen Werdegang vor dem erzählerisch hier eher unbedeutenden, historischen Hintergrund von Nazi-Diktatur und DDR-Regime geschildert. Die Vogelwelt allein bildet nämlich den Lebens-Sinn dieses geradezu besessenen Wissenschaftlers, ein Privatleben kennt er nicht. Weiterlesen


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Der Verräter

Literarischer Gangsta-Rap

Der US-amerikanische Schriftsteller Paul Beatty hat für seinen Roman die Satire gewählt als probaten Stil, den nach wie vor latenten Rassismus in seinem Land anzuprangern. Der farbige Autor wurde dafür als erster Schriftsteller seiner Nation 1916 mit dem britischen Booker-Price ausgezeichnet. Dieser Roman «macht jedes soziale Tabu bedeutungslos», erklärte die Jury, er zeichne «ein schockierendes und unerwartet lustiges» Bild von Los Angeles. Den problem-beladenen Handlungsort bildet ein am südlichen Stadtrand dieser Metropole gelegenes, fiktives Farbigen-Ghetto namens ‹Dickens›. Ein agrarisch geprägter Schandfleck für die ganze Region, dessen reale Vorlage der für seine hohe Kriminalitätsrate berüchtigte Vorort Compton ist, einer der Geburtsorte des Gangsta-Rap.

«Aus dem Mund eines Schwarzen klingt das sicher unglaublich, aber ich habe nie geklaut. Habe nie Steuern hinterzogen oder beim Kartenspiel betrogen», heißt es zu Beginn. In einem 26 Seiten langen Prolog berichtet der Ich-Erzähler, der seinen Spitznamen «Verräter» seiner Fähigkeit zur Deeskalation verdankt, in Handschellen in den Katakomben des Supreme Court im Washington sitzend und auf seinen Prozess wartend, wie er dorthin kam. Der durch seinen Vater massiv traumatisierte junge Farmer ist angeklagt, weil er als Anführer einer Bürgerrechts-Bewegung in Dickens die Sklaverei wieder einführen will, sie schaffe ehrliche, der Realität entsprechende Verhältnisse und verhelfe den Schwarzen wieder zu ihrer wahren Identität. Außerdem hat er an der örtlichen Schule die Rassentrennung durchgesetzt, was von der farbigen Bevölkerung ebenfalls einhellig begrüßt wird, man will keine weißen Kinder an der Schule. In den örtlichen Bussen hat der traumatisierte Sohn eines von der Polizei erschossenen Psychologen neue Schilder «Ggf. für Senioren, Behinderte und Weiße freigeben» angebracht. Als identitätsstiftende Maßnahme hat er außerdem, zusammen mit seinem Freund Hominy, den durch eine Gebietsreform verschwundenen Stadtteil Dickens wieder hergestellt. Die Beiden haben nämlich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die alte Grenze als durchgehenden, breiten Farbstreifen auf den Boden gemalt und auch wieder Ortsschilder aufgestellt, die Einwohner sind begeistert! Als alternder, ehemaliger Star der erfolgreichen Kurzfilm-Serie «Die kleinen Strolche» ist Hominy hoch angesehen, der berühmteste Bewohner des Viertels, sein Wort gilt was in Dickens. Und prompt wird durch all das die permanente Gentrifizierung gestoppt, man fühlt sich wieder wohl in diesem Bollwerk der Farbigen gegen die Vorherrschaft der Weißen.

Mit diesem Roman hält Paul Beatty seiner Nation gnadenlos den Spiegel vor. Er verweist durch eine Fülle bewusst eingesetzter Klischees auf die Vergeblichkeit aller Bemühungen um Gleichberechtigung, sie ist nichts weiter als eine Schimäre. Dieser Roman ist eine einzige, bissig vorgebrachte Dauer-Provokation, die ethnische Spaltung scheint unüberwindbar. Gelassen auf seinen Prozess wartend raucht der durchgeknallte Held erst mal sein selbst angebautes Marihuana. Er hält sich für unschuldig, schließlich sei die Abschaffung der Rassentrennung nie verwirklicht worden. «Ich finde, ein bisschen Sklaverei und Rassentrennung haben noch niemandem geschadet», erklärt er seelenruhig, beides existiere ja noch. Es sind derartige Überspitzungen, die seiner bissigen Gesellschafts-Satire eine geradezu zersetzende Wirkung verleihen.

Der Autor arbeitet aber auch mit manchmal ohne fundiertes Hintergrund-Wissen unverständlichen Witzen, die der bitteren Thematik des sozialen Wahnsinns zusätzlich eine komische Note geben sollen. Durch seine grotesken Einfälle erzielt der ehemalige Poetry-Slamer eine lang anhaltende Wirkung. Mancher Leser dürfte allerdings Schwierigkeiten haben, dem oft mit wüsten Kraftausdrücken durchsetzten Slang der Figuren zu folgen und all die popkulturellen Anspielungen auf eine Welt von – mit Gangsta-Rap sozialisierten – Underdogs wirklich zu verstehen.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Lincoln im Bardo

Nicht einfach zu lesen, aber lohnend

Der für seine Kurzgeschichten gerühmte US-amerikanische Schriftsteller George Saunders hat mit «Lincoln im Bardo» erstmals einen Roman vorgelegt. Der Debütroman des in Deutschland weitgehend unbekannten Autors wurde 2017 mit dem britischen Booker-Preis geehrt. Die Jury lobte ihn als «in Form und Stil äußerst originellen Roman, der eine geistreiche, intelligente und zutiefst bewegende Erzählung zutage fördert». Erzählt wird eine auf Zeitungsberichten fußende Begebenheit um den amerikanischen Präsidenten Lincoln, der nach der Grablegung seines kleinen Sohnes in tiefster Nacht noch einmal die Gruft aufsuchte, um ihn ein letztes Mal in den Armen zu halten. Insoweit also ein Roman nach einer wahren Begebenheit. Spätestens mit dem titelgebenden Begriff «Bardo» aber wird deutlich, dass es hier um Überirdisches geht, um einen im tibetanischen Buddhismus beschriebenen Zwischenzustand nach dem Tode und vor dem endgültigen Eingehen ins Jenseits.

Während der Wirren des amerikanischen Bürgerkriegs erleidet Präsident Lincoln einen schlimmen persönlichen Verlust, als im Februar 1862 sein über alles geliebter, elfjähriger Sohn Willie während eines großen Staatsempfangs an Typhus stirbt. Nach dem feierlichen Begräbnis sucht er noch in der gleichen Nacht ganz allein das Grab auf. Aber Willie bekommt nicht nur Besuch von seinem trauenden Vater, auch andere gerade erst Verstorbene leisten ihm dort Gesellschaft. Zwei von ihnen sind sogar überzeugt, dies wäre nur ein temporärer Aufenthaltsort für sie, bald könnten sie wieder ins Leben zurückkehren. Ihre Särge bezeichnen sie als Kranken-Kisten, der Friedhof ist für sie nur der Kranken-Hof. Einer der Beiden ist Roger Bevins III, der ständig in Erinnerungen schwelgt und körperlich nur noch aus Augen, Ohren, Nase und Händen in einer undefinierbaren Fleischmasse besteht. Hans Vollman wurde von einem Balken erschlagen und hat ein riesiges Loch im Kopf. Der junge Mann träumt von nichts anderem, als ein erstes Mal mit einer Frau zu schlafen, sein Penis ist ständig erigiert. Viele der Figuren im Zwischenreich sind dem Leben scheinbar näher als dem Tod, aber sie empfinden intensiver. Alle sind sich ihrer Unvollkommenheit im Leben äußerst schmerzlich bewusst, eine seelische Diskrepanz, die als verspätete Erkenntnis manchmal durchaus komisch wirkt.

Willie wird von Dämonen bedrängt, die ihn endgültig ins Jenseits befördern wollen, böse Mächte locken ihn, Lianen fesseln ihn an seine Gruft, eine an die Plazenta erinnernde Haut überwuchert ihn. Neben solchen, an eine ‹Gothic Novel› erinnernden Schauerelementen handelt es sich hier aber vor allem um einen historischen Roman. Seine vielen Figuren aus allen Gesellschafts-Schichten erzählen in Ich-Form aus ihrem Leben, Soldaten natürlich, diverse enttäuschte Ehefrauen, dieser und jener Reverend, am Suff Gestorbene, Ganoven und andere mehr. Der gefürchtete Eisenzaun trennt diesen Teil des Friedhofs von den Armengräbern «ohne Krankenkiste» ab und vom Massengrab der Sklaven.

Diese Geschichte aus dem Geisterreich zur Zeit des Sessionskrieges wird ähnlich einer antiken Tragödie von einem vielstimmigen Chor aus Toten in 108 kurzen Kapiteln erzählt. Wobei die einzelnen der mehr als hundertfünfzig Stimmen oft nur sequenziell sich ergänzende Worte, Satzteile oder Kurzsätze beisteuern, und zwar in ihrer ureigenen Diktion. Diese munter palavernden Geisterstimmen werden häufig noch ergänzt um historisch verbürgte oder fiktive Zitate aus Briefen, Zeitungsausschnitten, Dokumenten und anderem mehr. Gleichwohl aber ist die Bezeichnung Roman hier ziemlich irreführend, eine derart eigenwillige Erzählweise konterkariert gnadenlos alle gängigen Erwartungen an diese literarische Gattung. Und so unterhält das Buch den Leser als eine mit ironischer Distanz angelegte historische Meditation über das Jenseits, über das nachzudenken man ja erst wirklich beginnt, wenn es gar nicht mehr anders geht. Nicht einfach zu lesen, aber lohnend!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Milchmann

Surreale Parabel

Mit ihrem dritten Roman hat die irische Schriftstellerin Anna Burns 2018 den Durchbruch geschafft, das Buch erhielt den Booker Price. Die in Belfast geborene Autorin thematisiert darin den Nordirland-Konflikt in Form einer surrealen Parabel, in der eine junge Frau ihren Weg sucht in der schwierigen politisch-religiösen Gemenge-Lage. Während in Deutschland das Feuilleton den Roman überwiegend positiv beurteilt, sind hierzulande die Leser-Kritiken auffallend verhalten. Zu Recht?

«An dem Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb.» Wer das Buch liest, ohne sich vorab über seine Thematik oder die Autorin informiert zu haben, wird nur den Kopf schütteln über das, was er da liest. Eine namenlose 18Jährige erzählt aus der Ich-Perspektive, oft in Form des inneren Monologs, wie sie von einem älteren Mann gestalkt wird. Der Stalker nähert sich der jungen Frau, die ältere und jüngere Schwestern hat und im Roman nur ‹Mittlere Schwester› genannt wird, ohne sie jedoch körperlich zu bedrängen. Sie hat seit einem Jahr eine eher zerbrechliche Beziehung mit ‹Vielleicht-Freund›, einem autobesessenen Messi. Der will unbedingt mit ihr zusammenziehen, sie aber ist sich ihrer Beziehung nicht sicher. Um den lästigen ‹Milchmann› zu vergraulen, der sich ständig beim täglichen Jogging an sie ranhängt, überredet sie den sportbesessenen ‹Schwager 3›, mit ihr zusammen zu trainieren. Das Versteckspiel der Autorin treibt seltsame Blüten, weder benennt sie den Ort ihrer Handlung noch die feindlichen Parteien, die sich hier unversöhnlich gegenüber stehen, es wird nur von Wir und Die gesprochen. ‹Wir› sind dabei die Staatsverweigerer, die als Paramilitärs den Stadtteil beherrschen, ‹Die› sind die ‹Feinde aus dem Land auf der anderen Seite der See›. Es geht um Nordirland, wird dem unvorbereiteten Leser irgendwann klar, ohne dass es explizit benannt wird, auch der Klappentext schweigt sich dazu aus. Damit soll mutmaßlich der bürgerkriegsartigen Situation eine exemplarische Bedeutung zugewiesen werden.

Aberwitzig in dieser kafkaesken Gesellschaft ist auch das Verhältnis der Geschlechter zueinander, ‹Ich Mann, Du Frau› sind klar definierte Rollenbilder, denen zu folgen hat, wer sich viel Ärger ersparen will. Die Mutter von ‹Mittlere Schwester› redet deshalb auf sie ein, doch endlich zu heiraten, das sei schließlich ja der Lebenszweck einer jeden Frau, sie sei kein gutes Vorbild für ihre drei jüngeren Schwestern. Es gibt viele Tote in dieser Geschichte, ‹Älteste Freundin› gehört ebenso dazu wie ‹Tablettenmädchen›, auch ‹Chefkoch› muss sterben und am Ende dann ‹Milchmann›, der Terroristen-Anführer.

Die nur rudimentär vorhandene Handlung wird in einer seltsam codierten, monotonen Sprache mit häufig mäandernden Satzkonstruktionen erzählt. Deren Umschreibungen wirken ebenso verstörend wie die unbeholfenen Bezeichnungen der namenlosen Figuren, die hier als Namens-Ersatz dienen. Wie in dieser verfremdeten Schilderung die Verhältnisse im Nordirland-Konflikt geschildert werden, das erfordert beim Lesen schon einige Phantasie, zumal Zeit- und Lokalkolorit weitgehend fehlen. In einem proletarischen Milieu, das sich im permanenten Ausnahme-Zustand befindet und anscheinend auch unregierbar geworden ist, wird hier die Angst thematisiert, was doch ziemlich irreal wirkt in seiner Parabelartigkeit. Zur Paranoia zählt dann auch ein spektakuläres Massaker unter den Hunden des Stadtviertels, die in einer barbarischen Aktion restlos alle umgebracht werden, indem man ihnen den Hals durchschneidet. Durch ihr Gebell, heißt es, würden heimlich anschleichende Kämpfer zu früh entdeckt werden. Bei all der Symbolik und Geheimnistuerei wird die durch stilistisch ständig wiederholte, hölzern formulierte Phrasen allmählich nervende Geschichte vom Psycho-Terror dann auch noch zunehmend langweilig. Wofür eigentlich der Preis, fragt man sich!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Die wandernden Schatten

Unentschuldbare Ignoranz

Der in Frankreich hoch angesehene Schriftsteller Pascal Quignard hat für sein 2002 erschienenes Werk «Les Ombres errantes» den Prix Goncourt erhalten. Eine deutsche Übersetzung erschien erst 13 Jahre später unter dem Titel «Die wandernden Schatten». Als Verfasser eines umfangreichen, bedeutenden und in diverse Sprachen übersetzten, vielschichtigen Werkes aus Romanen, Erzählungen und Essays ist er jedoch nach wie vor in Deutschland weitgehend unbekannt. Der vorliegende Band ist der erste Teil eines Schreibprojekts unter dem Titel «Letztes Königreich», welches einer Wanderung durch die Biografie des Autors in permanentem Wechsel mit einer Tour d’Horizon durch die Geschichte der Menschheit gleicht. Dabei stehen die titelgebenden wandernden Schatten für das Verborgene in der Welt, für das mit Worten kaum Fassbare.

In 55 Kapiteln sehr unterschiedlicher Länge entwickelt Quignard ein grandioses Gedankengebäude, das er in Form von Notizen, literarischen Skizzen, Gedankensplittern, Aphorismen, rätselhaft Magischem, Naturbeobachtungen, exotischen Fremdzitaten, historischen Kurzgeschichten oder Auszügen aus Erzählungen vor dem Leser ausbreitet. Aus dieser Vielfalt heraus entwickelt sich beim Lesen ein dichtes Geflecht verschiedenartigster Assoziationen, das nicht immer leicht zu durchdringen ist. Ein thematischer Schwerpunkt dieser Prosa ist das Schreiben selbst, wobei der Autor beispielsweise solche Einsichten äußert: «Der Romanschriftsteller ist der einzige Lügner, der die Tatsache nicht verschweigt, dass er lügt». An anderer Stelle widmet er sich dem Lesen, mit sechs Kisten Wein aus Épineuil und zwei mit Büchern gefüllten Postsäcken zieht er sich in sein ländliches Refugium am Ufer der Yonne zurück, «Blieb nur zu hoffen, dass niemand zu Besuch kommen würde». Die Ruhe, die ihn umgab, war vollkommen. «Das Glück wurde immer größer. Ich las». Und er stellt fest: «Wenn man ein Buch öffnet, weiß man nicht, wohin man geht. Man lässt sich führen in Zeiten, an Orte, zu Gefühlen, mit denen man sich sonst nicht ohne weiteres eingelassen hätte».

Besonders die Werke der Alten sind für Quignard Inspirationsquelle, der Römer Lukrez zum Beispiel, die Chinesen Han Yu und Laotse, der Japaner Tanizaki. Aber auch Descartes und Walter Benjamin geben ihm Anregungen zum Denken, und sogar die Weisheiten der Eskimos. Ihn interessieren «nur Gedanken, die zittern», erklärt er dazu, keine feststehenden Erkenntnisse mithin, sondern dynamische Denkprozesse. Seine historischen Erzählschnipsel beginnen zeitlich beim letzten römischen Kaiser Syagrius, dessen Schattenanrufung bei der Hinrichtung er zitiert, ferner schreibt er über den Theologen Jean Duvergier de Hauranne, als Abt Saint Cyran genannt, der sich dem Jansemismus gewidmet hat. Der historische Erzählbogen reicht außerdem über die Mission des US-Seeoffiziers Matthew Perry von 1853 über den japanischen Überraschungs-Angriff auf Pearl Harbor bis zum nationalen Trauma 9/11 in New York. Die Kunst ist ein weiteres Thema für den Autor, mit dem er sich äußerst kritisch auseinandersetzt. Er zitiert in diesem Zusammenhang sogar Herman Göring mit dem Ausspruch: «Wenn ich das Wort Kultur nur höre, entsichere ich meine Browning». Sein philosophisches Credo ist die Unabgeschlossenheit, die Vergangenheit sei nichts weiter als eine einzige Verfallsgeschichte.

In all diesen Meditationen ist deutlich eine permanente Verweigerungs-Haltung von Pascal Quignard erkennbar, die zuweilen sogar in Defätismus ausartet. Als radikaler Aussteiger aus dem Literaturbetrieb hat er in der Normandie Zuflucht gefunden für sein konsequent dem Denken gewidmetes Lebenswerk. Seine hier als Buch vorliegende, fragmentarische Sammlung von Skizzen aus seiner Gedankenwelt sprengt den Rahmen sämtlicher literarischen Gattungen. Genau darin aber liegt der Reiz dieser außergewöhnlichen Lektüre. Unentschuldbar angesichts dessen, was hierzulande mit Buchpreisen geehrt wird, ist die dem Autor zuteil werdende Ignoranz!

Fazit: erstklassig

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Genre: Kurzprosa
Illustrated by Diaphanes Verlag

Eurotrash

Kracht lässt es wieder krachen

Mit seinem neuen Roman «Eurotrash» hat Christian Kracht eine Fortsetzung seines Debüts «‹Faserland» von 1995 vorgelegt. Darin setzt sich der umstrittene Schweizer Schriftsteller als Ich-Erzähler autofiktional mit der eigenen Familien-Geschichte auseinander. Als Plot dient ihm ein Besuch bei seiner hochbetagten, zeitweise dementen und alkoholkranken Mutter in Zürich, dem sich dann eine gemeinsam unternommene, spontane Reise durch die Schweiz anschließt. «Ich begreife meine Werke humoristisch» hat er mal erklärt, und so ist wohl auch dieser sechste Roman mit dem abfälligen Titel alles andere als ernst zu nehmen.

Die Hauptfigur ist die Mutter jenes Christian Kracht, der «vor einem Vierteljahrhundert» als seinen ersten Roman «Faserland» geschrieben hatte und gar nicht mehr weiß, warum der so heißt. So selbstbezüglich geht es hier zu, der Autor ist ein Meister der Selbstinszenierung. In dieser grotesken Roadnovel finden sich viele literarische Ingredienzien wieder, die man als typisch für ihn kennt. «Also, ich musste wieder auf ein paar Tage nach Zürich» lautet der erste Satz, auch hier wieder das anbiedernde Füllwort ‹Also› wie schon im Debüt, das den Leser ganz unmittelbar ansprechen soll. Weitere Motive sind das reichlich vorhandene und mit vollen Händen hinausgeworfene Geld, ferner Medikamenten-Missbrauch und Alkohol im großen Stil. Typisch, wenn auch weniger aufdringlich als im Debüt sind die immer wieder genannten Nobelmarken der Upperclass, zu der dieser hedonistische Ich-Erzähler sich zählt. Was man wohlwollend als Kapitalismus-Kritik auslegen kann, aber auch als Kennzeichen einer latenten Wohlstands-Verwahrlosung. In dieses Spiel mit dem Überfluss sind auch all die Luxus-Behausungen der Familie in Gstaad, Kampen auf Sylt, Cap Ferrat oder Myfair mit einbezogen, in denen der schnöselige Ich-Erzähler zu Hause war, alle mit wertvoller Kunst ausstaffiert. Und man verkehrte auch mit der Prominenz aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Als Leser tut man gut daran, all das nicht ernst zu nehmen, dem Autor nicht auf den Leim zu gehen in diesem virtuosen Verwirrspiel zwischen Fakten und Fiktionen, das sich hinter dem Label ‹Roman› versteckt.

Mit dem Taxi starten Mutter und Sohn nach einen Besuch bei ihrer Bank zu ihrem Roadtrip, bei sich haben sie 600.000 Franken in einer prall gefüllten Plastiktüte, das Bargeld soll großzügig unter die Leute gebracht werden. Mit gegenseitigen Vorwürfen bieten die Beiden in ihren Gesprächen ein erschreckendes Bild ihres konfliktreichen Verhältnisses, er würde sie sträflich vernachlässigen, lautet der Vorwurf der Mutter. Den Sohn hingegen beschäftigt die Nazi-Vergangenheit des Großvaters, der auf Sylt Treffen der ehemaligen SS-Kameraden organisiert hat. Es sind funkelnde Dialoge, die da im Taxi oder Hotel geführt werden, wobei die erstaunliche Schlagfertigkeit und scheinbare Bildung der nur ‹Bunte› lesenden Mutter zu kuriosen Situationen führt, in denen sie den Sohn verblüfft und die oft einer Posse gleichen. Ihn aber kotzt alles an, er stört sich an der Verlogenheit bei seinem Blick in menschliche Abgründe.

«Christian Kracht ist ein ganz schlauer Bursche», wird Peter Handke zitiert, was zweifellos stimmt, Kracht lässt es wieder krachen! Allerdings war das doch wohl eher abwertend gemeint in jenem Zitat, mit dem auf dem Umschlag geworben wird. Was ein ausgewiesener Medienprofi dann, wie man sieht, mühelos ins Gegenteil drehen kann. Seine mit intertextuellen Bezügen gespickte, intellektuell anspruchsvolle Geschichte erweist sich im Endeffekt als ein selbstbezogenes Spiel um die eigene Person. Vieles dabei ist reine Pose, eine Attitüde, die auch auf den sprachlichen Stil zutrifft, der mit Attributen überladen eher altväterlich wirkt. Und wo führt das nun hin? Das Ende lässt alles offen, was noch unterstrichen wird durch sage und schreibe 14 leere Seiten am Ende, die bei der Seitenzahl aber ungeniert mitgezählt sind! Ist diese Leere in Wahrheit der Schluss?

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Die Zeuginnen

Es passiert nicht oft, dass ein Fortsetzungs-Roman erst 34 Jahre nach dem ersten Band erscheint, die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood hat nun nach dieser langen Zeitspanne mit «Die Zeuginnen» einen an ‹Der Report der Magd› anschließenden Roman veröffentlicht. Mancher heutige Leser war damals noch gar nicht auf der Welt, andere hatten wahrscheinlich auch Wichtigeres zu tun, als Bestseller-Romane zu lesen. Was insoweit aber kein Manko ist, denn das neue Buch ist völlig eigenständig zu lesen, seine Handlung beginnt erst 15 Jahre nach dem Ende des erfolgreichen Vorgängers. Die Inspiration zu diesem Roman habe sie aus den Fragen der Leser des ersten Bandes erhalten, hat die Autorin erklärt, «die andere Inspirationsquelle ist die Welt, in der wir leben». Damit spielt sie auf Trump an, auf die Klimakrise, auf den islamistischen Terror und anderes mehr.

Dieser dystopische Roman handelt vom Niedergang des fiktiven Staates Gilead, der als misogyne Theokratie aus den ehemaligen USA hervorgegangen ist. Atwood treibt mit diesem extrem frauenfeindlichen Staat als zentraler Thematik ihren Feminismus auf die Spitze. Sie erzählt ihre Geschichte abwechselnd aus der Perspektive dreier Frauen, die als Ich-Erzählerinnen zunächst nur lose miteinander verbunden sind, ehe sich die Handlungs-Stränge am Ende des Buches in einem spannenden Finale vereinen. Mächtigste Figur ist ‹Tante› Lydia, die als ehemalige Richterin dazu gezwungen wird, in Gilead ein klosterartig organisiertes System aufzubauen, in dem Sitten-Wächterinnen mit äußerster Härte die Frauen unterdrücken. Dabei stehen Ehefrauen hierarchisch höher als die unverheirateten ‹Mägde›, die als haremsartige Nebenfrauen für Kindersegen zu sorgen haben und zur Hausarbeit verpflichtet sind. Da Scheidungen verboten sind, muss ein Mann, will er seine Frau loswerden, auf die Praktiken von Heinrich VIII zurückgreifen. Überhaupt geht das System brutal mit Menschen um, Verurteilte werden öffentlich hingerichtet, in besonderen Fällen wie in einer römischen Arena von ‹Mägden› in Stücke zerrissen. Lydia, die eng mit der Führungselite verbunden ist, macht heimlich Aufzeichnungen und sammelt Dokumente über den verbrecherischen Unrechtsstaat, sie will mithelfen, ihn eines Tages zu stürzen.

Die junge Agnes, deren Bericht als ‹Zeugenaussage 369A› betitelt ist, will einer drohenden Zwangsheirat entgehen und lässt sich als ‹Tante› ausbilden, sie reflektiert diesen Staat aus einer system-konformen Innensicht. Unter ‹Zeugenaussage 369B› berichtet Nicole, die als Baby von der Widerstands-Bewegung MayDay nach Kanada entführt wurde, aus einer system-kritischen Außenperspektive. Als ‹Die kleine Nicole› nimmt sie einen fast jesusartigen Status im Propagandakrieg der beiden verfeindeten Nachbarstaaten ein, ihr Konterfei hängt in allen öffentlichen Gebäuden Kanadas. Aus Angst vor einem Anschlag muss sie, vom Geheimdienst beschützt, unter falschem Namen leben.

Dieser kunstvoll konstruierte Roman ist reichlich mit Spannungs-Elementen aufgeladen, die das Buch zu einem Pageturner machen und ihm wohl auch den Booker-Price 2019 eingebracht haben. Männer spielen darin kaum eine Rolle, sie sind nur negatives Beiwerk, quasi der Grund allen Übels. Zu den Leerstellen dieser Geschichte gehört die Frage, warum die Frauen sich dem allen klaglos unterwerfen, Hinweise dazu gibt es keine. Der kreative Plot wird flüssig lesbar erzählt und ist, besonders im Bericht von Lydia, stilistisch mit schwarzem Humor angereichert. Sie ist denn auch die markanteste Roman-Figur, bei der oft die Fäden zusammenlaufen. Auffallend ist der völlige Verzicht auf psychologische Deutung der Figuren, Margaret Atwood berichtet distanziert, fast lakonisch, so als ob sie von historisch Verbürgtem spricht. Sie fügt als Epilog sogar «Historische Anmerkungen» hinzu und nennt in ihrer Danksagung auch die vielen Leserbriefe als Ideengeber für das neue Buch. Dessen literarischer Wert ist allerdings ziemlich umstritten!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Berlin Verlag Berlin

Die Sonne der Scorta

High Noon

Für seinen dritten Roman «Die Sonne der Scorta» erhielt Laurent Gaudé 2004 den Prix Goncour. In dem wie ein Prolog vorangestellten Gedicht von Cesare Pavese klingen bereits die Themen Schweigen, Einsamkeit, Wahnsinn und Sonne an, die diesen fünf Generationen umfassenden Roman über eine italienische Familie ebenfalls prägen. Und auch hier steht das Motiv der Heimat als ‹angeborene› Identität des Menschen im Zentrum eines Geschehens, das insbesondere durch die archaische Lebensweise seiner Figuren bestimmt wird.

Es beginnt mit einem Paukenschlag. Im Jahre 1875 kehrt der nach 15 Jahren aus dem Gefängnis entlassene Verbrecher Luciano in sein Heimatdorf auf dem Gargano in Apulien zurück. In einer an den Western «High Noon» erinnernden, vor Spannung knisternden Szene reitet er in glühender Mittagssonne durch das während der Siesta menschenleere Dorf, um das zu tun, wovon der Halunke sein Leben lang geträumt hat: Er will unbedingt einmal Sex mit Filomena haben, der Frau seiner Träume. Danach werden ihn die Leute töten, das weiß er, aber es ist ihm völlig egal, er hat mit dem Leben abgeschlossen. Sie öffnet ihm die Tür und gibt sich ihm widerstandslos hin. Demonstrativ knöpft er seine Hose erst zu, als er nach der Siesta aus ihrem Haus tritt, so dass alle es sehen können. Er wird von den erbosten Männern gesteinigt, aber bevor er das Bewusstsein verliert, hört er eine Frau schreien: «Immacolata ist die letzte Frau, der du Gewalt angetan hast». Es war die Schwester, mit der er geschlafen hat, Filomena ist schon lange tot!

Immacolata wird schwanger, bringt Rocco zu Welt und stirbt im Kindbett. Der Pfarrer rettet das Neugeborene vor den erzürnten Dorfbewohnern, die es als Frucht des Bösen gleich der Mutter mit in den Sarg legen wollen. Rocco wird in einem Nachbardorf aufgezogen und entwickelt sich zu einem Schwerverbrecher, der aber, anders als sein Vater, zu großem Wohlstand kommt und, deshalb allseits geachtet, eine Familie gründet. Als er stirbt, hinterlässt er sein gesamtes Vermögen der Kirche und stürzt Frau und Kinder damit in bitterste Armut. Über fünf Generationen hinweg erlebt dieser Familienclan einen Rückschlag nach dem anderen. Sei es die erst auf Ellis Island scheiternde Auswanderung der Kinder oder der in einem irren Akt der Verzweifelung eigenhändig niedergebrannte Zigarettenladen, das Schicksal meint es nicht gut mit ihnen, sie scheinen mit einem Fluch beladen zu sein. Aber ihr Lebenswille lässt sie unbeirrt voranschreiten, allen Widrigkeiten zum Trotz. Der Autor entwickelt in den zehn Kapiteln seiner wechselvollen Geschichte ein archaisches Bild vom armseligen Leben auf dem Lande, das einen harten Menschenschlag hervorbringt. Seine lebensprallen Figuren sind anschaulich beschrieben und wirken selbst als Ganoven sympathisch. Und dies vor allem in den Dialogen, die in ihrer Gedankenfülle und Lebensweisheit einen deutlichen Kontrast bilden zu den Brutalitäten des entbehrungsreichen Daseins.

Als zweite Erzählebene bindet der Autor immer wieder Gespräche mit dem Dorfpfarrer in seine Geschichte ein, die das Geschehen aus einer persönlichen Perspektive kurzgefasst wiederholen und in unterschiedlichen Aspekten tiefer gehend deuten. Die Sinnfrage steht im Zentrum aller Gespräche, in dieser Familie ist eine latente Todes-Sehnsucht spürbar. Der Urahn lässt sich widerstandslos steinigen, einer seiner Enkel lässt sich als Schmuggler aufs Meer hinaus treiben und wird nie wieder gesehen. In der bitteren Armut scheint Geld der Heilsbringer zu sein, aber es erweist sich als ebenso trügerisch wie das Schicksal selbst. In diesem Roman fungiert eine ganze Familie als Protagonist, ihr Weiterleben von Generation zu Generation folgt dem Lauf der Natur, was der Pfarrer am Beispiel der Oliven verdeutlich, von denen das Dorf lebt und die, alljährlich wiederkehrend, ewig existieren. Dieser neorealistisch erzählte Roman stellt mit seiner gedanklichen Tiefe eine gleichermaßen bereichernde wie unterhaltende Lektüre dar.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Picknick im Dunkeln

Ein disparater Stoff

Nicht erst seit Kehlmanns Geschichte über Humboldt und Gauß ist das fiktive Zusammentreffen zweier grundverschiedener historischer Gestalten ein literarisch reizvolles Genre geworden, und so lässt auch Markus Orths in seinem neuen Roman «Picknick im Dunkeln» Stan Laurel und Thomas von Aquin aufeinander treffen. Und dass, obwohl zwischen dem Tod des Filmkomikers und dem des Heiligen mehr als siebenhundert Jahre liegen. Eine Begegnung der besonderen Art also, die nur in jenem zeitlosen Zwischenreich stattfinden kann, welches Tod und Ewigkeit voneinander trennt.

«Diese Dunkelheit, diese alles verschlingende, vollkommene Dunkelheit: Wohin er sich wandte, Stanley sah nichts» heißt es zu Beginn. Er sieht nichts, auf sein Rufen meldet sich niemand, und so beginnt er seine Umgebung abzutasten Aber er findet nur glatte Wände, scheinbar ist er in einem Tunnel, der ja irgendwo einen Ausgang haben müsste, wie er glaubt. Also beginnt er, langsam in eine Richtung loszulaufen. Und trifft nach einer Weile überraschend auf einen anderen Menschen, der da am Boden hockt und ihm zunächst nicht antwortet, als er ihn anspricht. Nach und nach stellt sich heraus, dass er auf Thomas von Aquin gestoßen ist, einer der einflussreichsten Philosophen des Mittelalters und der bedeutendste katholische Theologe überhaupt. Was folgt ist eine zuweilen amüsante, zuweilen aber auch philosophisch anspruchsvolle Unterhaltung der beiden Männer, die ungleicher kaum sein könnten. Hier der Spaßmacher des Films, zu seiner Zeit  weltberühmt für seine wenig geistreiche, slapstickartige Komik, mit der er seinen Zuschauern im Dunkel des Kinos eine sorgenfreie Stunde beschert, um sie, wenigstens für kurze Zeit, den schnöden Alltag und ihre Sorgen vergessen zu lassen. Und auf der anderen Seite der strenge Theologe, dessen Denken sich auf Aristoteles stützte, ein Scholastiker, der ein umfangreiches Werk hinterlassen hat, ein reiner Geistesmensch, der allem Weltlichen entsagt hatte als Dominikaner.

In fünfzig Kapiteln entwickelt Markus Orths in seiner Jenseitsreise den Gedanken-Austausch der ungleichen Männer, die sich zunächst schwer tun, sich in das Leben des jeweils anderen hineinzufinden, was allein schon der riesige Zeitunterschied mit sich bringt. Abwechselnd wird in Rückblenden aus dem Leben der Beiden berichtet, die sich allmählich näher kommen, die sich im Gespräch, so gut es geht, mit der Vita des jeweils anderen vertraut machen. Natürlich kommt es zu Disputen, die auf größtmöglichen Spaß ausgerichtete Lebensweise von Stan Laurel, seine nur auf das Lachen abzielenden Bemühungen stehen der mönchischen Glaubens-Strenge des Heiligen diametral entgegen. Gleichwohl versuchen beide, einander zu verstehen. Es geht letztendlich um Sinnfragen, die von ihnen ganz unterschiedlich beantwortet werden, und um den Tod natürlich, den beide, sie ahnen das allmählich, ja bereits hinter sich haben. Und so bemühen sie sich, einander Halt zu geben in dieser mysteriösen Umgebung physischen und meta-physischen Dunkels, und eine Bande zu knüpfen über die trennenden Jahrhunderte hinweg, – sie kommen sich tatsächlich immer näher.

Markus Orths breitet sein philosophisches Gedanken-Experiment in einer angenehm lesbaren Sprache ohne Fachchinesisch vor den Lesern aus, seine gedanklichen Expeditionen in die Welt der großen Denker sind leicht nachvollziehbar. Er legt damit auch so manche Fährte für eigene Reflektionen über letzte Wahrheiten, die man ja so gern verdrängt, was die Lektüre über das rein Unterhaltende hinaus bereichernd macht. Über alldem liegt aber störend der Eindruck, dass hier ein disparater Stoff gewaltsam in ein literarisches Korsett gezwungen wurde, was besonders bei den oft holprigen Dialogen ziemlich deutlich wird. Wenig überzeugend sind zudem die artistischen Übungen der beiden Figuren im völligen Dunkel, die in einem ebenso misslungenen Finale münden. Diese Ambivalenz zwischen Erzählstoff und literarischer Umsetzung schmälert den Lesegenuss!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München