Sebastian Lehmann ist ein paar Jahrzehnte zu spät ins wilde SO 36 geschleudert worden. Dieser nach dem Postleitsystem benannte ungezähmte Teil von Berlin-Kreuzberg hat sich mit dem Mauerfall 1989 von einem Lebensraum der Berliner Subkultur zu einem hippen Partybezirk verändert. Daher war er nicht dabei, als am 1. Mai Steine flogen, Sven Regener Schweinebraten in der Markthalle speiste und die »Einstürzenden Neubauten« live auf Mülltonnen trommelten. Lehmann mag sein Kreuzberg trotzdem und gewinnt dem legendären Szenebezirk neue Themen für lustige Kolumnen ab.
Er beschreibt den Trend, jeden freien Winkel an Touristen zu vermieten, um möglichst hohen Profit aus der eigenen Wohnstätte zu ziehen. Die vollkommen vom Partysound genervten Hauptmieter der Wohnungen treffen sich später in Hotels wieder, um wenigstens ruhig schlafen zu können. Vor allem Partys stehen im Mittelpunkt seiner Texte, wobei er mit gewisser Wehmut die Unterschiede zwischen 2005, wo es noch relativ wild zuging, und 2015 beschreibt, wo man bei Betreten der ökologisch-einwandfreien Wohnzellen unaufgefordert die Schuhe auszieht. Nur auf den Boden gekotzt wird offensichtlich auch noch Jahrzehnte danach.
Großen Respekt hat Lehmann vor seinem Mitstreiter Marc-Uwe Kling; so klingt mehrfach in den Texten ein klein wenig Neid für dessen Erfolge als Rampensau auf dem gemeinsamen Veranstaltungsformat »Die Lesedüne« durch. Klings Texte sind wesentlich geschliffene Dialoge mit seinem Herzensmenschen, den er »Känguru« nennt.
Neben den beiden Autoren treten ein Herr Julius Fischer und ein Maik Martschinkowsky auf. Letzter entspross den Texten zufolge der Punkszene; Herr Fischer sieht sich von immer älter werdenden Freunden und Bekannten umgegeben, er scheint damit Probleme zu haben.
Der Band sammelt durchaus lesenswerte Texte des literarischen Quartetts. Er sind Texte, die auf der Lesebühne geboren wurden und vermutlich ihre volle Wirkung erst dort auch entfalten. Gemessen am hohen Anspruch des Werkes, »das unvollendete Standardwerk des real existierenden Humors« sein zu wollen, erhält der Leser Texte, die Witz und Esprit haben und über dem Durchschnitt dessen liegen, was dem Zuhörer auf vielen Slam-Bühnen geboten wird. Das Buch hat indes die klassische Schwäche einer Anthologie, indem Texte unterschiedlich starker Verfasser hintereinander aufgereiht werden; sie bietet dafür einen Überblick über die Arbeit der »Lesedüne« und wird dort sicherlich von den Fans der Shows, die jeden zweiten und vierten Montag im »SO 36« stattfinden, begeistert aufgenommen werden.
Klingt gut, das werde ich mir mal reinziehen. 🙂