Das Frausein in den Sechzigern

ferrante3Sich zu entscheiden, heißt jemandem wehtun“. Lena befindet sich in einem außergewöhnlichen Transformationsprozess, ganz so wie die bewegten Siebziger Jahre um sie herum. Es wird viel demonstriert und diskutiert und die Frauen werden sich ihrer unterdrückten Rolle im Patriarchat bewusst. Aber nicht nur die Arbeiter befinden sich im Ausstand, auch Studenten kommen zu ihren Prüfungen mit einer geladenen Pistole, um ein besseres Prüfungsergebnis zu erzielen. So ergeht es zumindest Pietro, dem Ehemann Lenas, der an der Hochschule in Florenz als Professor arbeitet. Der dritte Teil der Neapolitanischen Saga hat es in sich: privat und politisch.

Frausein unter Freundinnen

Mit dem Vorwurf konfrontiert „Liebesgeschichtchen“ zu schreiben räumt Lena in „Die Geschichte der getrennten Wege“ endgültig auf, denn sie zeigt sich zunehmend politisiert und wird sich ihrer Rolle als Frau in der Gesellschaft bewusst. Ihr zweiter Roman, den Lena während ihrer Ehe und zwei Schwangerschaften zu schreiben versucht, entpuppt sich zwar als Flopp, dafür thematisiert sie im dritten Buch ihr Frausein und die Rolle der Frauen in der (italienischen) Nachkriegsgesellschaft und davor: „Die Reduzierung meiner Person auf eine gedeckte Tafel für den sexuellen Appetit des Mannes, auf ein gut gekochtes Gericht, damit ihm das Wasser im Mund zusammenläuft.“ Und dennoch unterwirft sie sich der klassischen Stutenbissigkeit als sie ihrer Konkurrentin, Eleonara, der Frau ihrer Jugendliebe Nino, begegnet und misst sich mit ihr, um nicht gerade schöne Worte über sie finden. Aber das beruht bekanntlich auf Gegenseitigkeit.

Sprache der Klasse

Schöne sprachliche Bilder wie „Ich legte den Hörer auf, als hätte ich mich an ihm verbrannt“ oder „Mein Kopf war ein Tränenquell wie der des rasenden Rolands“ wechseln sich mit Überlegungen zur eigenen Sprachfindung ab. Denn der „Rione“ – das Viertel Neapels in dem Lena geboren wurde – nötigte ihr immer wieder dann seine Sprache auf, wenn sie nervös und unzufrieden war und das beeinflusste auch ihr Denken, obwohl sie längt in die höheren Sphären der Gesellschaft aufgestiegen ist und in Florenz lebt, mit einem hochangesehenen Ehemann, zwei Kindern und den Ariostas, einer einflussreichen Familie, im Hintergrund. Reife bestehe darin, denkt sich Lena, sich nicht zu sehr aufzuregen und die Wende zu akzeptieren, die das Leben nehme, „einen Weg zwischen der Praxis des Alltags und theoretischem Erkenntnissen einzuschlagen, zu lernen, sich anzusehen, sich zu erkennen, während man auf große Veränderungen wartete“. Mit einem gekonnt arrangierten Cliffhanger leitet Elena Ferrante zum vierten Teil der Neapolitanischen Erfolgssaga über, der aber auf Deutsch bei Suhrkamp erst am 5. Februar 2018 – mit dem Titel „Die Geschichte des verlorenen Kindes“ – erscheinen wird. Man(n) kann es gar nicht mehr erwarten.

Elena Ferrante
Die Geschichte der getrennten Wege – Band 3 der Neapolitanischen Saga (Erwachsenenjahre)
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
D: 24,00 € /A: 24,70 € /CH: 34,50 sFr
2017, gebunden, 540 Seiten
ISBN: 978-3-518-42575-6


Genre: Belletristik, Biographien, Briefe, Emanzipation, Erfahrungen, Erinnerungen, Feminismus, Frauenliteratur, Gesellschaftsroman, Memoiren
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Was für ein schöner Sonntag

semprun-1Was für ein schöner Kommunismus!

Das Werk des spanischen Schriftstellers Jorge Semprún ist geprägt durch seine bewegte Jugend, 13-jährig ging er mit seiner Familie wegen des Bürgerkriegs ins holländische Exil, nach dem Sieg Francos dann nach Paris. Er studierte dort Philosophie und trat 1941 der kommunistischen Résistance bei, wurde 1943 von der Gestapo verhaftet und 1944 ins KZ Buchenwald deportiert. Sein 1980 erschienener Roman «Was für ein schöner Sonntag» ist der Versuch einer späten, nachträglichen Aufarbeitung dieser für den damals jungen Mann prägenden Erlebnisse, sie stellt eine berührende Mahnung zur Humanität dar. Wie auch in vielen anderen seiner Werke geht es ihm hier besonders um das Vergessen, dem beschönigenden Verblassen historischer Schreckensbilder, dem er literarisch entgegen wirken will.

Die eigentliche Handlung betrifft einen einzigen Tag, einen Sonntag im Dezember 1944. Der Autor ist als Häftling 44904 in der Arbeitsstatistik des Konzentrationslagers Buchenwald eingesetzt, in dem viele politische Gefangene interniert sind. Ein privilegierter Schreibtischjob, der ihn vor den gefürchteten Außeneinsätzen bewahrt. In einer Art Vorspiel im Kapitel Null der in sieben Kapitel gegliederten Geschichte erzählt Semprún von einem Freigang, bei dem er die auf einer Wiese stehende, vermeintliche Goethe-Buche auf dem Hügel von Ettersberg bewundert. Was ihn fast das Leben gekostet hätte, denn ein SS-Mann entdeckt ich dort abseits des Weges. In diesem Vorspann bereits lässt der Autor Léon Blum, den ehemaligen französischen Ministerpräsidenten, und Goethe mit Eckermann auftreten, man ahnt da schon, dass wohl recht unkonventionell erzählt werden wird im Weiteren.

Und so ist es denn auch, die Erzählung folgt keinem planvoll angelegten Handlungsfaden, sie ist in keiner Weise chronologisch aufgebaut. Vielmehr folgt sie den Assoziationen des Ich-Erzählers, seinen zeitlich wilden Gedankensprüngen, die irgendein geschildertes Detail, eine bestimmte Erinnerung bei ihm auslösen, ihn damit allerdings auch permanent vom Thema ablenken. Und so findet man massenhaft Sätze wie «Aber wir wollen nicht abschweifen» oder, noch besser: «Aber wo bin ich stehen geblieben»? Oder Sätze wie: «Aber wir sind zwanzig Jahre früher an einem Sonntag in Buchenwald». Ein weiteres Stilmittel ist der häufige Wechsel der Erzählperspektive, der personale Ich-Erzähler wird unvermittelt zum Er-Erzähler, der von Gérard berichtet, den Decknamen aus dem kommunistischen Untergrund benutzend, und plötzlich wird dann auch noch suggestiv in der Du-Form erzählt, alle drei Formen finden sich zuweilen auf einer einzigen Seite.

Semprún stellt dem KZ-System der Nazis den stalinistischen GULAG gegenüber, manche seiner russischen Mitgefangenen landen nach der Befreiung gleich wieder in einem sowjetischen Straflager, man hält sie für Kollaborateure. Als Philosoph ergeht sich der Autor in schier endlosen Erörterungen des Kommunismus, redet von Dialektik, von Treffen der Komintern, vom Untergrundkampf in einer Detailfülle, die den Normalleser nicht nur überfordert, sondern verschreckt. In nicht nachvollziehbaren politischen Diskussionen und Winkelzügen einer endlos erscheinenden Reihe von Figuren, deren Namen allenfalls Insidern bekannt sein dürften, mit seinen ständigen Reisen kreuz und quer durch Europa verwirrt uns der Autor, der oft selbst nicht mehr weiß, wann, wo und warum. So ist dieser zwiespältige Roman einerseits eine fiktional angereicherte, interessante Autobiografie, andererseits die selbstgerechte Nabelschau eines kommunistischen Intellektuellen, der erst spät begreift, welcher menschenverachtenden Ideologie er gefolgt ist, wessen Sache er in Wahrheit gefördert hat. Den wenigen erfreulich zu lesenden Passagen dieses Romans steht eine nur Insider interessierende Textmasse gegenüber, die ungeordnete Gedankenflut eines spät geläuterten kommunistischen Aktivisten. Dem aber konnte ich, bei allem Respekt, partout nichts abgewinnen!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Die Angst des Tormanns beim Elfmeter

handke-1Eine literarische Anamnese

Auffallend oft werden Schriftsteller aus Österreich der Kategorie «Enfant terrible» zugerechnet, man denke nur an Elfriede Jelinek oder Thomas Bernhard, und auch Peter Handke gehört zu dieser aufmüpfigen Spezies. Wusste doch der noch nicht Dreißigjährige mit seinem deutlich auf Konfrontation weisenden Sprechstück «Publikumbeschimpfung», 1966 unter Claus Peymann erstmals aufgeführt, früh zu schockieren, und auch seine Erzählung «Die Angst der Tormanns beim Elfmeter» von 1970, bereits ein Jahr später von Wim Wenders verfilmt, machte ihn plötzlich einem breiten Publikum bekannt, – woran die beiden ungewöhnlichen Titel einen nicht zu unterschätzenden Anteil haben dürften. Lohnt es sich also, diese frühe Erzählung des Avantgardisten zu lesen, auch wenn sie, das sei hier gleich vorweggeschickt, mit so eindeutig Realem wie Fußball herzlich wenig zu tun hat?

Zwar ist Handkes Held ein ehemaliger Torwart, in dieser Eigenschaft allerdings tritt er nicht auf, nur sein entsprechendes Insiderwissen wird auf der letzten Seite des Buches thematisiert. Denn da erklärt Josef Bloch als Zuschauer einem anderen Mann die Finten, mit denen Tormann und Elfmeterschütze sich gegenseitig auszutricksen versuchen, um die richtige Schussrichtung vorauszuahnen. Wir lernen Bloch kennen als Monteur, der eine Geste seines Poliers bei der Jause in der Bauhütte als Entlassung missdeutet. Er streift rastlos durch Wien, besucht Restaurants und Cafés, mietet sich in einem Hotel ein, geht öfter ins Kino, sucht Kontakt zu Frauen und landet schließlich ganz unvermutet mit der Kassiererin eines Kinos im Bett. Am Morgen sieht er statt der Teeblätter Ameisen in der Teekanne. «Ich heiße Gerda, sagte sie. Bloch hatte es gar nicht wissen wollen.» Das stockende Gespräch zwischen ihnen irritiert ihn zunehmend. «Aber dann störte ihn alles immer mehr. Er wollte ihr antworten, brach aber ab, weil er das, was er vorhatte zu sagen, als bekannt annahm». Plötzlich, ganz unvermittelt, erwürgt er die Frau. Von der ersten Zeile an deutet Handke durch seine lakonisch knappe Erzählweise in einfach strukturierten Sätzen auf die Schizophrenie seiner Figur hin.

Blochs Wahrnehmung ist sichtlich gestört, Gegenstände und deren Bezeichnungen scheinen ihm nicht mehr zusammenzupassen, er kann Wesentliches nicht mehr von Unwichtigem trennen, sucht Streit, kann kaum noch eine sinnvolle Unterhaltung führen, ist getrieben von seinem haltlosen Bewegungsdrang. Handke schildert strikt aus der Sicht seines Helden, was dazu führt, dass der Leser gefordert ist, aus dem Erzählten jeweils das herauszudestillieren, was signifikant ist für die Geschichte. Und andererseits zu erkennen, was überhaupt nicht relevant ist, was nur die psychotisch bedingten Wahrnehmungen des Protagonisten verdeutlichen soll. Ein solcher Text ist natürlich nicht gerade leicht zu lesen, will man seinen Hintersinn erfassen, auch wenn die anspruchslos klare Sprache, ein Stilmittel, mit dem der Autor die Wirklichkeit zu reflektieren sucht, dies dem Leser suggerieren könnte. Allerdings wäre das Ganze dann völlig sinnfrei, es ist nämlich kein Krimi, was wir da lesen trotz des Mordes, es gleicht eher einer Anamnese.

In seiner verstörenden Erzählung beschreibt Peter Handke den Wirklichkeitszerfall seines Protagonisten Josef Bloch, ein ambitionierter Versuch, sich in den Kopf eines Geisteskranken hinein zu versetzen, strikt aus der verqueren Perspektive seiner von der Realität überforderten Figur zu berichten, auch wenn das Geschilderte vordergründig keinen Sinn macht. Oder doch? Nicht immer ist ja die Wirklichkeit genau das, was wir glauben, in ihr zu sehen. Die Erzählung endet jedenfalls mit den Sätzen: «Der Schütze lief plötzlich an. Der Tormann, der einen grellgelben Pullover anhatte, blieb völlig unbeweglich stehen, und der Elfmeterschütze schoss ihm den Ball in die Hände». Ob da der Schlüssel für das Verständnis dieses Buches liegt, muss jeder Leser für sich selbst entscheiden.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Der Verfolger

cortazar-1Phantasmagorien eines Jazz-Idols

Drei Jahre nach dem Tode von Charly Parker erschien die Erzählung «Der Verfolger» von Julio Cortázar, dem argentinischen Schriftsteller, der die zweite Hälfte seines Lebens in Frankreich gelebt hat. Er war als Meister der kleinen epischen Form vor allem bekannt für seine Kurzgeschichten und Erzählungen. In seiner Prosa treibt er die Fiktion bis an den Rand des Phantastischen, ohne je vollends ins Surreale abzugleiten. Auch für «Der Verfolger» gilt, was er ganz allgemein dazu geäußert hat: «…meine Erzählungen sind niemals fröhlich. Sie sind eher tragisch oder dramatisch. Sie sind der Nacht näher als dem Tag».

Gleichwohl schimmert da zuweilen auch Humor durch, dem Lächeln ähnlich, das selbst auf einer Beerdigung manchmal unvermeidlich ist. Womit das Ende vorab schon angesprochen ist. Denn der Held der Erzählung, der begnadete Saxophonist Jonny Carter, für dessen Figur bereits durch die Widmung «In memoriam Ch. P.» deutlich auf die Jazzlegende Charly Parker als Vorlage hingewiesen wird, stirbt zum Schluss. Wir erleben den Niedergang des großen Musikers aus der Sicht des Ich-Erzählers Bruno, eines Jazzkritikers, der zu seinen glühenden Bewunderern gehört, eng mit ihm befreundet ist und eine Biografie über ihn geschrieben hat, die «sich verkauft wie Coca Cola». Die handlungsarme Geschichte kommt einem bekannt vor, vom Absturz berühmter Musiker hat man so oder ähnlich schon dutzend Male gehört, und die Ingredienzien sind auch immer die selben, Alkohol und Rauschgift. Cortázar aber unternimmt hier den Versuch, hinter das Geheimnis einer solch tragischen Entwicklung zu kommen, die Ursachen der nicht kurierbaren Schizophrenie seines Helden herauszuarbeiten.

Dem Besessenen, der Figur seines Saxophonisten auf der Suche nach dem Absoluten in seiner Musik – und nach einem Sinn darüber hinaus -, stellt er den Getreuen gegenüber, den besten Freund, «sei getreu bis in den Tod» lautet das entsprechende Bibelzitat im Buchvorspann. Bruno, Freund und Helfer, aber auch Journalist und Buchautor, lebt in bürgerlichen Verhältnissen, hat Frau und Kinder und repräsentiert damit die Normalität der Außenwelt. In den Dialogen zwischen diesen ungleichen Freunden, die einen großen Teil des Textes ausmachen, offenbart sich das Wirre in den Gedankengängen des Jazz-Idols, verblüfft er seinen Biografen durch eine nur ihm eigene Sicht auf die Welt, die für ihn fast ausschließlich aus Musik besteht. In den Gesprächen ist Bruno überwiegend Zuhörer, ihm fehlt jegliches Verständnis für Jonnys geistige Eskapaden, und er ist auch entsetzt über dessen erschreckende Lebensuntüchtigkeit, aber er profitiert auch nicht gerade wenig von seiner intimen Nähe zu der Musikerlegende. Resignierend merkt er an: «Ich weiß wirklich nicht, wie all das schreiben, auch wenn es mir Frieden bringt, mir die Professur einbringt, diese Autorität, die einem die unangefochtenen Thesen und die gut organisierten Begräbnisse verschaffen».

Letztendlich sind es zwei, die da scheitern, der Musiker an seinen Idealen, der Sucht nach höchster Vollendung, die ihn in den Wahnsinn treibt, und der ihn bewundernde Biograf, der außen vor bleibt bei Jonnys Phantasmagorien, sie weder begreifen kann noch gar nachvollziehen, und der auch keine Worte findet, sie treffend zu beschreiben. In einer präzisen Sprache entwirft Cortázar das Psychogramm eines Getriebenen, den er «Der Verfolger» nennt in Hinblick auf dessen Jagd nach dem Absoluten in seiner Musik. Dem, was der Autor sich vorgenommen hat, die Innenwelt eines künstlerisch Besessenen in Worte zu fassen nämlich, ist er erstaunlich nahe bekommen mit seiner ambitionierten Erzählung. Niemand kann ja berichten, was dem Tode folgt, und auch beim Wahn gibt es keine Berichterstatter mehr, ist die Schwelle erst mal überschritten. Diese ungemein schwierige Thematik glaubwürdig umzusetzen in einen angenehm zu lesenden Plot, das scheint mir hier gelungen, ich empfand die Lektüre genau deshalb als bereichernd.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Niemand, der mit mir geht

gordimer-1Nichts Halbes und nichts Ganzes

Der Grande Dame der südafrikanischen Literatur wurde 1991 der Nobelpreis verliehen, «für ihre epische Dichtung, die der Menschheit einen großen Nutzen erwiesen hat und durch die tiefen Einblicke in das historische Geschehen dazu beiträgt, dieses Geschehen zu formen.» Nadine Gordimer und ihr umfangreiches Œuvre sind geradezu ein Synonym für den Kampf gegen die Apartheid, als liberale Weiße hat sie ihr Leben lang gegen die Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung angeschrieben, ohne sich jedoch als Propagandistin politisch vereinnahmen zu lassen. Insoweit ist auch der Roman «Niemand, der mit mir geht» für ihre Art zu schreiben typisch, wobei sich mir nach der Lektüre die Frage aufdrängt, ob hier Gordimers spezielle Thematik – ihre Heimat und deren politisches Unrechtssystem – geehrt wurde oder ihre literarische Kunst. Letztere nämlich fand ich vor Jahren schon, in dem Erzählband «Clowns im Glück», bereits wenig überzeugend, und daran hat dieser Roman leider auch nichts ändern können.

Vera Stark, nomen est omen, ist die toughe Protagonistin in diesem Plot, der in den privaten Konflikten seiner Figuren die brutale Rassentrennung Südafrikas und ihre verheerenden Folgen spiegelt. Sie ist als weiße Juristin erfolgreich in einer Stiftung tätig, wo sie im Streit zwischen den besitzlosen Schwarzen und den burischen Farmern engagiert vermittelt und dabei ihr Privatleben völlig hintanstellt. Ihr Mann Ben scheitert beruflich, sie trennt sich am Ende von ihm. Eine weitere starke Frau ist die Schwarze Sibongile, deren Mann als Held des Widerstands im neuen System nicht mehr gebraucht wird, während seine Frau politisch schnell aufsteigt. Beide Frauen erleben den allgegenwärtigen Terror dieser politischen Übergangszeit hautnah, Vera wird bei einem Überfall angeschossen, Sibongile steht auf einer Todesliste und fühlt sich ihres Lebens nicht mehr sicher. Veras private Probleme, die Scheidung ihres Sohnes, das Coming-out ihrer lesbischen Tochter, die Entfremdung von ihrem einstigen Liebhaber und zweiten Mann münden in einer Einsamkeit, die sie letztendlich als Preis für ihr unbeirrtes Engagement akzeptiert, das ihr andererseits aber auch zur ersehnten persönlichen Freiheit verhilft. Gleichwohl ist dies ein Roman des Scheiterns, beide Paare kommen mit den weitreichenden politischen Umbrüchen nicht zurecht.

Ihrer selbst gewählten Rolle als Seismograph der Apartheid kommt die Autorin im vorliegenden Roman also dadurch nach, dass sie aufmerksam deren Erschütterungen registriert und literarisch weiterverarbeitet im Schicksal ihrer diversen Figuren. Der handlungsarmen Geschichte jedoch, die da erzählt wird, mangelt es an Spannung selbst in den wenigen dramatischeren Szenen. Einen weiten Raum nehmen demgegenüber endlos scheinende, langweilige Schilderungen der diversen Komitees, Ausschüsse und Kongresse ein. Die allesamt auch noch sehr oberflächlich bleiben, uns Leser also nicht wirklich hinter die Kulissen der Macht blicken lassen, – immerhin rangieren ja beide Heldinnen weit oben in der politischen Hierarchie, Vera am Ende sogar im verfassungsgebenden Komitee. Ich vermute hier mal, dafür fehlte der Autorin ganz einfach das nötige Insiderwissen.

Der komplexe Roman ist im Stil des psychologischen Realismus geschrieben, seine in verschiedenen Zeitebenen erzählte Geschichte eines politischen Umbruchs ist flüssig zu lesen und gewährt Einblicke nicht nur in die Lebenswirklichkeit der Weißen, sondern – in bescheidenerem Maße – auch die der farbigen Bevölkerung. Empathie zu ihren Figuren vermag die Autorin mit ihrem nüchternen und zuweilen leicht ironischen Schreibstil allerdings kaum zu wecken, was nicht zuletzt wohl auch auf deren zauderndes Verhalten zurückzuführen ist, man bleibt jedenfalls auf Distanz als Leser. Und die sprachliche Realisierung vermag fürwahr nicht auszugleichen, was dem Plot substantiell fehlt und die Lektüre über das rein Informative hinaus auch erfreulich machen könnte.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Marbot

hildesheimer-1Die Fiktion als Wahrheit

Jene Figur, die Wolfgang Hildesheimer in seinem 1981 erschienenen Band «Marbot. Eine Biographie» erschaffen hat, könnte man als einen literarischen Homunkulus bezeichnen, so lebensecht erscheint uns sein Held, quasi als reale historische Persönlichkeit. Der Autor führt seine Leser gekonnt an der Nase herum, versteckt die Fiktion trickreich unter einer Fülle historischer und wissenschaftlicher Fakten, deklariert seinen Text als Biografie, nicht als Roman, obwohl Letzteres weit eher zutreffend wäre. Es ist der originelle Versuch, eine Lebensgeschichte zu erfinden, die als Wirklichkeit wahrgenommen wird, wobei den Leser hier nicht das amüsante Spiel eines ironischen Erzählers mit der Realität erwartet, der Biograf vermittelt uns vielmehr bis zur letzten Zeile durchaus überzeugend historische Fakten, eine Wahrheit also, in die er seine Figur nahtlos integriert hat.

«Für mich ist nur das Wahre wahr, das Wahrscheinliche dagegen Schein» sagte der 24jährige Sir Andrew Marbot am 4. Juli 1825 bei einem Besuch in Weimar zu Goethe. Wir Leser, damit auf das Folgende eingestimmt, erfahren davon gleich auf der ersten Seite. Der umfassend gebildete junge Mann, privilegierter Sohn eines reichen englischen Gutsherrn, von einem Jesuitenpater erzogen, widmet sich, nachdem er sein eigenes Unvermögen als Künstler erkannt und akzeptiert hat, mit ganzer Leidenschaft der Malerei, entwickelt sich zum scharfsinnigen Kritiker und Experten dieser Kunstgattung. Er hat Talent, ist aber kein Genie. Auf seinen Studienreisen durch halb Europa trifft er viele Geistesgrößen jener Zeit, verkehrt in kunstsinnigen Salons und besichtigt immer wieder öffentliche Gemäldegalerien und private Sammlungen. Bei seinen Theorien über Ästhetik und Interpretationen berühmter Gemälde bezieht Marbot erstmals Aspekte der Psychoanalyse mit ein, interessiert sich vor allem für die Bedingtheit von Werk und Maler und die kathartische Wirkung von Kunst.

Schon als Kind hatte Andrew eine tiefe Abneigung gegen seinen bodenständigen, sich fast ausschließlich der Jagd und Fischerei widmenden Vater, dafür aber eine umso innigere Beziehung zu seiner schönen Mutter. Es kommt zum Inzest, den beide unbeirrt ausleben, ein Tabu, dessen skandalträchtige Problematik sie in ein unlösbares Dilemma stürzt, sodass sie ihrer verzehrenden, fast grenzenlosen Liebe nach zwei Jahren notgedrungen endgültig abschwören. Andrew verlässt England für immer, nach mehreren Zwischenstationen lässt er sich schließlich im italienischen Urbino nieder, im Gebiet des Montefeltro. Wo er schließlich, inzwischen 29jährig, eines Morgens das Haus verlässt und für immer spurlos verschwindet, nur sein Pferd steht am nächsten Morgen wieder auf dem Hof. Da eine seiner beiden Pistolen fehlt, geht man von Selbstmord aus, ein zweiter Tabubruch also, eine weitere Todsünde nach dem Dogma der katholischen Kirche.

Dieser Plot jedoch ist beinahe nebensächlich in einer Biografie, die sich in epischer Breite, bis ins kleinste Detail, mit Kunst beschäftigt. Der Autor treibt seine Camouflage so weit, dass er zur Vorspiegelung von Authentizität eine Fülle englischer Zitate einstreut, für die er dann hilfreich gleich noch die Übersetzung mitliefert. Zu diesem Spiel mit der Fiktion gehört ferner der Hinweis, dass 1888 eine erste Biografie über Marbot erschienen sei, außerdem wird an vielen Stellen die mangelhafte Quellenlage beklagt. Vor allem aber soll uns das sachbuchartige Register berühmter Geistesgrößen, die mit Marbot in Verbindung standen, in die Irre führen. Mit alldem ist Hildesheimer ein überzeugendes Bild des exzentrischen britischen Kunstkritikers gelungen. Gleichzeitig aber nutzt er, der ja selbst Malerei studiert hat, sein Buch als Forum für ausufernde kunsttheoretische Betrachtungen. Damit jedoch überfrachtet er den Stoff gewaltig, nur wenige Leser dürften das erforderliche Fachwissen besitzen, um diesen geistigen Höhenflügen im Detail folgen zu können, das Buch also mit Gewinn zu lesen.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Mutmaßungen über Jakob

johnson-1Ambitioniertes Zeitzeugnis

In Peter Suhrkamps Sterbezimmer, so die Anekdote, fand Siegfried Unseld 1959 ein ungelesenes Manuskript, das noch im selben Jahr veröffentlicht wurde, der Roman «Mutmassungen über Jakob» von Uwe Johnson. Schon der Titel dieser ersten Veröffentlichung des Autors ist beredt: Hatte Johnson, wie spekuliert wird, kein ß auf seiner Schreibmaschine? War die falsche Orthografie Schlamperei oder ein Marketing-Gag des Verlages? Wie auch immer, das Wort Mutmaßungen deutet bereits auf das sprachliche Konstrukt dieses heute als kanonisch eingestuften Romans hin, an dem viele Leser scheitern, der nicht zuletzt sogar professionelle Kritiker und Schriftstellerkollegen polarisiert. Wer die Literatur nicht nur als angenehmen Zeitvertreib ansieht, sondern vielmehr als großartige Kunstgattung, die ihn insgesamt interessiert, in allen ihren Ausformungen also, der sollte sich der Mühe unterziehen, diesen Roman zu lesen – und seinen literarischen Horizont zu weiten damit.

«Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen» lautet bezeichnenderweise schon der erste Satz, denn Jakob Abs, Dispatcher bei der Reichsbahn der DDR, sparte sich durch diese Abkürzung eine halbe Stunde Fußweg um das Bahngelände herum, – diesmal aber kostete es ihn sein Leben, er wurde von einer Rangierlok erfasst. Unfall, Selbstmord oder Mordanschlag, alles ist möglich, es darf gemutmaßt werden! Ausschließlich in Rückblenden schildert dieser Roman die Vorgeschichte dieses tragischen Todes, eine Klärung bietet er nicht. Enzensberger soll (ironisch?) von einer aktiven Rolle des Lesers gesprochen haben, die dieser Roman ihm anbietet als detektivische Aufgabe über das reine Lesen hinaus.

Auf der Flucht vor der Roten Armee am Ende des Zweiten Weltkrieges war Jakob mit seiner Mutter beim Kunsttischler Cresspahl und dessen Tochter Gesine in Jerichow untergekommen, ein fiktiver Ort an der Ostsee in Mecklenburg. Zwischen den Vieren bildete sich ein familiäres Verhältnis heraus. Als Gesine nach Frankfurt am Main übersiedelt, dort eine Stelle als Dolmetscherin bei der Nato findet und später auch Jakobs Mutter in den Westen geht, ruft das natürlich die Stasi auf den Plan: ein DDR-Agent versucht, den regimetreuen Jakob dafür zu gewinnen, Gesine als Spionin anzuwerben. Sie hat inzwischen den Anglisten Dr. Jonas Blach kennengelernt und mit ihm eine Affäre begonnen, nach einem wissenschaftlichen Vortrag ist er als Logiergast in Cresspahls Haus, um dort in Ruhe eine Abhandlung über notwendige Reformen in der DDR zu schreiben. Als Jakob von einem Westbesuch bei Gesine zurückkommt, wird er von der Lok überrollt.

Zeitlicher Hintergrund dieser Geschichte sind der Ungarnaufstand und die Suezkrise im Jahre 1956. In Johnsons Hauptwerk, dem vierteiligen Romanzyklus «Jahreszeiten», taucht Gesine später als Hauptfigur erneut auf. Die beiden deutschen Staaten sind ein zentrales Thema in Johnsons Werk, wobei ihm die historische Situation als Basis dient bei der Ausformung seiner Figuren, nicht die Grenze als solche. Die ja damals so scharf noch gar nicht gezogen war, die Mauer kam später, man vergisst das heute leicht. Sprachlich ist Johnsons Roman eine radikale Abkehr von konventionellen Erzählweisen. Allein schon die verschiedenen, oft nur schwer erkennbaren Perspektiven seiner fragmentarischen Textblöcke, viel mehr aber ihre abrupten Übergänge in einem erzählerischen Stakkato ohnegleichen stellen extrem hohe Anforderungen an Geduld und Aufmerksamkeit des Lesers, von der eigenwilligen Syntax, fremdsprachlichen Einsprengseln und dem plattdeutschen Palaver des alten Cresspahl ganz zu schweigen. Ein Verwirrspiel, welches man dem Autor dieses wenig gelesenen, sperrigen Romans vorwerfen kann, der beide deutsche Staaten gleichermaßen kritisch betrachtet und ihre Ideologien als menschenfeindlich bloßstellt. Und auch wenn heute vieles überholt erscheint von der damaligen Problematik, ist der Roman doch ein literarisch ambitioniertes Zeitzeugnis ohne Beispiel.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Montauk

frisch-3Mein Name sei Frisch

Das epische Werk des Schweizer Schriftstellers Max Frisch ist autobiografisch geprägt, so auch die 1975 erschienene Erzählung «Montauk», die jedoch nicht fiktiv, sondern authentisch sei. Vorbild für diese Erzählhaltung ist Michel de Montaigne, aus dessen Einführung zu seinen weltberühmten «Essais» Frisch im vorangestellten Motto zitiert: «Denn ich bin es, den ich darstelle. Meine Fehler wird man hier finden, so wie sie sind, und mein unbefangenes Wesen, so weit es nur die örtliche Schicklichkeit erlaubt». Auf die Schicklichkeit komme ich noch zurück, Frisch selbst verdeutlich seine Absicht an einer der Stellen im Buch, an denen er die Entstehung des Textes von «Montauk» selbst thematisiert. «Ich möchte erzählen können, ohne irgendetwas dabei zu erfinden. Eine einfältige Erzähler-Position» merkt er dazu an.

Äußerer Rahmen der Erzählung ist ein Wochenendausflug zu dem titelgebenden Dorf Montauk an der Ostspitze von Long Island, mit dem eine Lesereise des Autors durch die USA endet. Der kurz vor seinem 63ten Geburtstag stehenden Frisch wurde durch eine 30jährige Angestellte des Verlages betreut und hatte mit Alice Locke-Carey, die im Buch Lynn heißt, eine Affäre. Beiden ist klar, dass ihr kurzes Techtelmechtel mit diesem gemeinsamen Ausflug enden wird. Geradezu dokumentarisch berichtet der Autor nun von den zwei zusammen verbrachten Tagen mit der jungen Amerikanerin, die keine Zeile von ihm gelesen hat. Mit scharfem Blick erfasst er die wenig spektakuläre Landschaft und die eher trostlose dörfliche Atmosphäre auf ihrem Kurztrip, der wegen Unpässlichkeit und temporärer Impotenz auch in sexueller Hinsicht nicht gerade ein Highlight ist. In vielen eingeschobenen Rückblicken erzählt Frisch von seinen Frauen, von den beiden gescheiterten Ehen ebenso wie von diversen Liebschaften. Wesentlich jedoch ist die Rückschau auf sein Leben, die Fragen des Alters und den Tod ebenso einschließt wie seinen berufliche Werdegang vom Architekten zum freien Schriftsteller oder seine anfangs prekäre finanzielle Situation. Eine lange Episode widmet er der besonderen Beziehung zu seinem langjährigen, als dominant empfundenen Mäzen und Jugendfreund, außerdem thematisiert er wiederholt auch seine literarische Arbeit als Dramatiker und Epiker. Dabei treibt ihn permanent die Sorge um, dass er mit seinen Texten dem realen Leben nicht wirklich gerecht wird, keine zureichend erscheinende Erzählform dafür gefunden hat.

Eine solch rigorose Selbstentblößung kann natürlich auch peinlich wirken auf die Leserschaft oder die realen Personen ziemlich verärgern; Abtreibungen zum Beispiel sind vermutlich eher ein allseits beachtetes Tabu als ein gern goutiertes literarisches Thema. Aber auch wenn sie die «Schicklichkeit» verletzen in Montaignes Sinne, sind die ungeschönten Geständnisse, bedrängenden Selbstzweifel und grenzenlosen Reflexionen von Max Frisch ein ebenso neuartiger wie bereichernder Erzählansatz abseits üblicher, aber unverbindlicher Fiktionalität.

Mit einer Fülle von trefflich beschriebenen Figuren gliedert sich diese collageartige Erzählung in fast zweihundert assoziationsreiche Einzelszenen unterschiedlichen Umfangs, die ohne kausalen Zusammenhang abrupt vom Gegenwärtigen zum Erinnerten springen. Das erfordert vom Leser viel Aufmerksamkeit, zum vollen Verständnis aber auch Kenntnisse der Vita des Autors. Die Erzählperspektive wechselt mit dem Erzählgegenstand, in den direkt erzählten Szenen wird in der dritten Person erzählt, in der Rückschau berichtet ein Ich-Erzähler. Was allerdings die apostrophierte Wahrhaftigkeit dieser Erzählung anbelangt, so wird man enttäuscht, es stimmt so gut wie nichts! «Mein Name sei Frisch» hat er selbst in Anspielung auf den vorhergehenden Roman geschrieben, seine Bewältigungsarbeit erweist sich also als gescheiterter Versuch zur Authentizität. Die literarische Bedeutung all dessen aber ist unbestritten, man sollte dieses Buch lesen, meine ich, es ist heute schon ein Klassiker!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Landschaften nach der Schlacht

goytisolo-1Surreale Megalopolis

Als Nestbeschmutzer wird der spanische Schriftsteller Juan Goytisolo oft in seiner Heimat angesehen, politisch ein ehedem linientreuer Stalinist, der aus dem faschistischen Spanien nach Frankreich floh, wo er beim angesehenen Gallimard-Verlag als Lektor tätig wurde. Später dann erwarb er auch als erfolgreicher Autor und kritischer Journalist hohes Ansehen, 2014 erhielt der 83jährige Exilant mit dem Cervantespreis die in der spanischsprachigen Literaturwelt wichtigste Auszeichnung für sein Lebenswerk. In seinem 1982 erschienenen Roman «Landschaften nach der Schlacht» negiert der innovative Autor so ziemlich alle politischen und moralischen Überzeugungen, als Homosexueller lässt er seine bürgerliche Herkunft ebenso hinter sich wie die katholische Religion, mit der er schon früh gebrochen hat.

Von Mario Vargas Llosa als «aufregendes apokalyptisches Werk» bezeichnet, sprengt dieser innovative Roman die biederen bürgerlichen Vorstellungen in einer «Periode planetarischer Ungewissheit», hinterfragt gnadenlos wohlfeile gesellschaftliche Klischees. Schauplatz ist das zentrale Pariser Viertel Le Sentier, das ein Protagonist, erkennbar nur an der immergleichen Kleidung, als Flaneur ruhelos durchstreift. Seine Identität bleibt fraglich, «letzten Endes weiß er nicht mehr, ob er dieses abseitige Individuum ist, das seinen Namen usurpiert, oder ob dieser Goytisolo ihn eben erschafft». Die Perspektive wechselt unablässig zwischen dem auktorialen Erzähler, der seinen Protagonisten als pensionierten Schriftsteller schildert, und dem schrulligen Helden, dessen abartige Neigungen und sonstigen Spleens ebenso verstörend wirken wie seine fremdenfeindlichen Obsessionen. Seine Frau scheint fiktiv zu sein, wohnt in der Wohnung ihm gegenüber, die Kommunikation mit ihr läuft über Zettel, die er unter der Tür durchschiebt.

Der kurze Roman ist in 78 übertitelte Abschnitte unterteilt, Textfragmente zumeist, die oft ohne erkennbaren Zusammenhang aneinander gereiht sind. Dabei ist häufig kaum erkennbar, was Realität und was Imagination ist in diesem Konglomerat verstörender Texte, in denen nebelhaft allenfalls ein privater Handlungsstrang von einem öffentlichen unterschieden werden kann. Neben den schmuddeligen Angewohnheiten des wenig sympathischen Antihelden und seinem Hang zur Sufi-Mystik beherrscht vor allem abartiger Sex sein Privatleben, und zwar in Form von exhibitionistischen, pädophilen und sodomitischen Phantasien. Häufige Handlungsorte sind Pornokinos und der Calvados-Ausschank eines benachbarten Kohlenhändlers, wo auf Stammtischniveau politisiert wird. Im gesellschaftlichen Bereich ist die Überfremdung das Hauptthema des Romans, was bei einem Immigranten wie Goytisolo besonders widersinnig scheint. Originell gleich zu Beginn die Vision, sämtliche Schilder des Viertels wären plötzlich arabisch beschriftet, zum blanken Entsetzen der einheimischen Bevölkerung. Ein Heidenschreck auch für die Franzosen, als bei der Sargöffnung des Unbekannten Soldaten die einbalsamierte Leiche eines Negers zum Vorschein kommt. Ebenso köstlich ist die beißende Satire des altstalinistischen Autors über das sozialistische Albanien, oder auch seine Schilderung der «bastardisierten» Pariser Stadtviertel, «wo auf den Boulevards Afrika beginnt».

Zweifellos ein verstörender Text, geschrieben in einer anspruchsvollen, kreativen Sprache, hoch komprimiert zudem, was dem Leser einiges an Aufmerksamkeit abverlangt, will er den vielen Andeutungen und Verweisen folgen. Virtuos, geradezu artistisch wird hier literarisch eine Landschaft gezeichnet, die jenseits der Wirklichkeit satirisch eine Apokalypse der modernen Gesellschaft heraufbeschwört. Weit über den «Magischen Realismus» als literarische Form hinausgehend ist das Besondere hier der satirische Unsinn, der gleichwohl Wirkung zeigt beim Lesen, aller Vernunft zum Trotz. Einzig das macht diesen Roman lesenswert und hilft hinweg über Abstruses, Irritierendes, das der Autor uns hier zumutet.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Mein Name sei Gantenbein

frisch-2Ein artistischer Roman

Es findet sich nicht oft, dass eine durchaus reale, gescheiterte Liebesbeziehung Anlass ist für gleich zwei Romane, geschrieben von den Betroffenen selbst: «Manila» von Ingeborg Bachmann, «Mein Name sein Gantenbein» von Max Frisch. Sexuelle Untreue, vom Schwerenöter Frisch wie selbstverständlich praktiziert, wird der Bachmann nicht zugestanden, er reagiert im Gegenteil mit starker Eifersucht, ihre problematische Beziehung zerbricht daran. Der vorliegende, 1964 erschienene Roman gehört zusammen mit «Stiller» und «Homo faber» zum Hauptwerk der Prosa von Max Frisch, ist durch seinen komplexen Aufbau aber auch sein schwierigster, hohe Ansprüche an den Leser stellend. Gemeinsam sind den genannten Romanen das Spiel mit den Identitäten ihrer Figuren und jene schwierige Thematik, welche die problematischen Beziehungen zwischen Mann und Frau darstellt, die sich einer halbwegs schlüssigen Klärung so hartnäckig widersetzt.

«Ich erlebe lauter Erfindungen» lässt der Autor seinen Helden sagen, wobei er unbekümmert die Fähigkeit der Leser voraussetzt, dass sie ihm folgen können, wenn er in seiner komplizierten Geschichte vom Ende einer Ehe verschiedene Identitäten und Erzählvarianten ausprobiert. Dieses Trial and Error jedoch führt, trotz literarisch durchaus raffinierter Varianten, auch nicht zu befriedigenden Ergebnissen, das Wesentliche bleibe für die Sprache unsagbar, hat Frisch später eingeräumt. «Was wäre wenn» also ist seine Methodik, im Roman durch den häufig eingeschobenen Satz «Ich stelle mir vor» eingeleitet, der nicht nur die Perspektive ändert, sondern auch den Kontext, Standpunkt und Haltung der Figuren mithin. Was dann zwangsläufig zu neuen, alternativen Geschichten führt, und man staunt nicht schlecht als Leser, zu welchen! Es schleichen sich nämlich Zweifel ein, was Realität letztendlich denn überhaupt bedeutet, von Identität ganz zu schweigen! Menschenwürde, die Annahme des Ich und seiner Selbstverwirklichung, könne sich nur auf freier Wahl gründen, so das Credo des Autors. Ein Kontinuum der Handlung ist also nicht zu erwarten, womit Frisch auch die Illusion zerstört, diese Geschichte könnte tatsächlich passiert sein, er erwartete vielmehr eher, dass sie zu «artistisch» sei für das deutsche Publikum.

Der Erzähler ist von seiner Frau verlassen worden, in der leer geräumten Wohnung sitzend erfindet er zu dieser realen Erfahrung eine, wie er glaubt, dazu passende Geschichte jenes Gantenbein, der nach einem Unfall seine Erblindung vortäuscht. So kann er tun, als merke er nicht, dass seine Frau Lila ihn betrügt. Eine weitere imaginierte Figur ist Enderlin, ein Wissenschaftler mit einem Ruf nach Harvard, dem er nicht folgt, weil er annimmt, todkrank zu sein. Eine dritte Figur ist Svoboda, mit Lila verheiratet, die eine Affäre mit Enderlin beginnt. Gantenbein wiederum wird zunehmend gequält von Anzeichen für die Untreue seiner Lila: ihr Kontakt zu einem Mann aus Uruguay, mysteriöse Briefe aus Dänemark, die sie vor ihm verbirgt, ein Rat suchender junger Schauspielschüler, den sie im Schlafzimmer empfängt. Als Lila eine Tochter bekommt, hat er den Verdacht, ein Mann namens Siebenhagen könnte der Vater sein.

Den drei Männern Gantenbein, Enderlin und Svoboda steht eine Lila gegenüber, die mal Schauspielerin ist, mal Ärztin oder venezianische Contessa, mal verheiratet mit Svoboda und mal mit Gantenbein, ein Kind hat oder auch nicht, die streckenweise sogar als Baucis auftritt an der Seite von Philemon, Ovids treuem Ehepaar, das sich den gleichzeitigen Tod erbat von Zeus. Wenn schließlich eine männliche Wasserleiche im Kiefernsarg die Limmat hinunter schwimmt, eine Hand scheinbar winkend in der Strömung, ist das letzte der assoziationsreich montierten Textfragmente dieses Romans erreicht. Es mag einer der drei Männer sein, der uns da zuwinkt, – «weiß man’s?» würde Marcel Reich-Ranicki sagen. Der übrigens diesen «artistischen» Roman für gut hielt und damit so falsch nicht lag, wie ich meine.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Der Liebhaber

duras-2Irrt Radio Eriwan?

Schon durch den Titel «Der Liebhaber» hatte die bis dato wenig gelesene Schriftstellerin Marguerite Duras 1984 gewisse Erwartungen beim Lesepublikum geweckt, der Prix Goncourt tat ein Übriges für Bestsellerstatus und Millionenauflage. Haben sich diese Erwartungen erfüllt? Im Prinzip ja, würde Radio Eriwan antworten, aber die apostrophierte Erotik erweist sich als kinderbuchtauglich harmlos, und die fragmentarische Erzählweise ist zudem schwierig lesbar. Ein derart sperriger Text dürfte kaum massenkompatibel sein, wo aber liegt denn dann der Schlüssel zum Erfolg?

Im umfangreichen Œuvre der Autorin ist die Unmöglichkeit der Liebe ein beliebtes Sujet, sie hat es schon 1959, mit ihrem Drehbuch zum Spielfilm «Hiroshima, mon amour» thematisiert. Im vorliegenden Roman geht es um die Beziehung einer 15jährigen Schülerin zu einem zwölf Jahre älteren Mann. Anders als Nabokovs Lolita ist die französische Ich-Erzählerin noch Jungfrau, als sie Anfang der dreißiger Jahre in Saigon einen reichen Chinesen trifft, der sie zu seiner Geliebten macht. Eine Amour fou von Anfang an, sie versucht sich damit aus den Verstrickungen ihrer chaotischen Familie zu befreien, begreift sich als Prostituierte und lässt sich auch bezahlen, ist aber gleichzeitig geradezu süchtig nach sexueller Lust. Der namenlose Chinese, von der Autorin mitunter nur als der «Mann aus Cholen» bezeichnet, ist ihr verfallen, liebt sie unsterblich, wird sie aber niemals heiraten können. Denn er ist völlig vom Vater abhängig, und der hat andere Pläne, will eine arrangierte Ehe mit einer jungen Chinesin. Nach eineinhalb Jahren endet die Liaison, sie geht zum Studium nach Paris, wird Schriftstellerin (sic!) und hört erst Jahrzehnte später wieder von ihm, als er, inzwischen Familienvater, sie anruft. Und mit diesem Anruf endet der Roman auch, der letzte Satz lautet: «Er sagte ihr, dass es wie früher sei, dass er sie immer noch liebe, dass er nie aufhören werde sie zu lieben, dass er sie lieben werde bis zu seinem Tod». Ist sie also doch kein leerer Wahn, die Liebe, wie es Marcel Reich-Ranicki als Botschaft herauszulesen glaubte?

Duras beschreibt in ihrer typischen Vorliebe für das Verwegene, im Abstand vieler Jahrzehnte, den Tabubruch ihrer kindhaften Romanfigur, über deren autobiografische Bezüge viel spekuliert wurde. Sie tut dies sprachlich in einer schichten, fast karg zu nennenden, monotonen Erzählweise, emotional sehr unterkühlt, und unterstreicht damit geradezu beschwörend den Wahnsinn, ja den Horror des modernen Lebens, an dem sie teilhat, wie sie in einem Interview mal deprimiert anmerkte. Ihre Gestalten sind irgendwie alle auf tragische Weise verstrickt in ihre Leidenschaften und Widersprüche, erleben Gefühlskälte und Verluste, und auch die Fragen nach Entfremdung, nach Unendlichkeit und Tod beschäftigen die Autorin. Durch häufige Wechsel der Erzählperspektive in die dritte Person distanziert sich Marguerite Duras von ihrer namenlos bleibenden Protagonistin, die dann in den wenigen, unspektakulären erotischen Szenen als «die Kleine» bezeichnet wird. Die fragmentarische Erzählung lässt vieles unausgesprochen, ist zudem gewöhnungsbedürftig insbesondere wegen der wilden Zeitsprünge, manchmal in Einschüben von wenigen Zeilen, mit denen der Leser kaum etwas anfangen kann. Auch viele ihrer puzzleartig eingestreuten Gedankengänge, kurzum ihre Weltsicht, war mir häufig zu abstrus, ich konnte dem wenig abgewinnen.

Der Handlungsrahmen dieser Amour fou wird ergänzt durch bruchstückhafte Schilderungen einer turbulenten, vaterlosen Kindheit mit der als wahnsinnig bezeichneten Mutter, dem bösartigen älteren Bruder, dem geistig zurückgebliebenen jüngeren Bruder, mit Freundinnen aus dem Internat und aus Paris. All das aber bleiben zusammenhanglose Erinnerungsfetzen, die kaum Reflexionen des Lesers auszulösen vermögen. Bleibt einzig der Lolitaeffekt, um den Erfolg dieses Romans zu erklären, ein bisschen wenig, wie ich meine.

Zitat: mäßig

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Genre: Roman
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Maps

farah-1Wenn der Leser nicht zum Buch passt

Einer der bedeutendsten Schriftsteller Afrikas ist der Somalier Nuruddin Farah, dem mit seinem 1986 erschienenen Roman «Maps», erster Teil einer Trilogie unter dem Titel «Blood in the Sun», auch international der Durchbruch gelang. Eine moderne Literatur entwickelte sich in seinem Heimatland erst mit der Verschriftung seiner somalischen Muttersprache im Jahre 1972, die in Folge dann eine Niederschrift der – bis dahin ausschließlich mündlich tradierten – Volksgeschichten überhaupt erst ermöglicht hat. Bis auf eine Ausnahme ist das umfangreiche Œuvre des Autors, der wegen politischer Verfolgungen auch viele Jahre seines Lebens im Exil verbracht hat, deshalb auf Englisch veröffentlicht worden. Seine Thematik in vielen Werken ist die Situation der Frau in seiner Heimat, ferner die soziale Verantwortung des Menschen sowie Fragen seiner Autonomie in der modernen Gesellschaft, wobei Somalia stets den geografischen und damit auch politischen und soziologischen Hintergrund seiner Erzählungen bildet. «Maps» nun fand sogar Aufnahme in die Süddeutsche Zeitung Bibliothek der hundert besten Romane des 20. Jahrhunderts, mit Recht?

In einer Hütte in Ogaden, einem von Äthiopien 1977/78 annektierten somalischen Gebiet, findet Misra, eine junge verwitwete Dienstmagd, ein neugeborenes Kind, dessen Mutter bei der Geburt gestorben ist. Sie wird die Ziehmutter des Säuglings und entwickelt eine geradezu symbiotische Beziehung zu Askar, die Beiden lieben sich abgöttisch. Als er erwachsen ist, zieht Askar zu Verwandten in die Hauptstadt Mogadischu, kann sich aber nicht entscheiden, ob er nun studieren oder der somalischen Freiheitsbewegung beitreten soll. Plötzlich taucht Misra dort auf, denunziert und verfolgt als Verräterin, Askar jedoch verhält sich abweisend, kann ihr nicht glauben. Auch als sie tatsächlich ermordet wird, bleibt er seltsam unberührt, nimmt nicht mal an der Trauerfeier teil.

Die vom Plot her extrem knappe Geschichte ist verstörend in ihrer polarisierenden Darstellung, im ersten Teil eine geradezu idealisierte Liebe, überirdisch erscheinend wie ein Geschenk des Himmels, im zweiten Teil die abrupte Sprachlosigkeit des Protagonisten, der Wegfall jedweder Empathie. In einer streng patriarchalischen Gesellschaft verkörpert Misra das Mütterliche, das typisch Weibliche. Weitgehend rechtlos in eine untertänige Rolle als Magd gedrängt, dient sie gleichzeitig dem Priester und dem Nachbarn als Sexualobjekt. Darüber hinaus aber ist sie eine Art Seherin mit tief reichendem Wissen, die Natur und alles Menschliche betreffend. Ihre Intuition ist in diesem Roman dicht verwoben mit Reflexionen und Träumen, denen der Autor in epischer Breite den allergrößten Teil seiner poetischen Geschichte um menschliche Bindungskräfte und innere Autonomie widmet. Die spärliche Handlung einschließlich des Ogadenkriegs scheint dagegen nebensächlich zu sein, auch wenn der auf Grenzziehungen anspielende Titel des Romans etwas anderes suggeriert.

Metaphernreich lässt der Autor den Leser an der inneren Entwicklung seines Protagonisten teilnehmen, ein Ausflug in surreale Welten gewissermaßen, ohne dass sein Held uns dadurch wirklich sympathisch wird. Die Sprache ist blumenreich, Farah erzählt all das recht eigenwillig aus drei ständig wechselnden Perspektiven, dem Ich-Erzähler nämlich steht kapitelweise ein Du-Erzähler und ein auktorialer Erzähler gegenüber, ohne dass ein tieferer Sinn dahinter erkennbar wäre. Das Ganze wird leider schnell sterbenslangweilig, als Lesefrucht bleibt dem Leser allenfalls der den Horizont erweiternde Einblick in die Geschichte Somalias, eines Landes, das den meisten nur als Tummelplatz moderner Piraten bekannt sein dürfte. Das Menstruationsblut und andere Körperflüssigkeiten jedoch, von denen so oft die Rede ist in diesem Roman, dürften dank wohltuend selektivem Gedächtnis hoffentlich bald vergessen sein. Hier, so mein Resümee, passte ich als Leser partout nicht zum Buch.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Ein diskreter Held

vargas llosa-1Potenzschwäche

In seinem 2013 erschienenen Roman «Ein diskreter Held» thematisiert der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa die Ehrbarkeit – nicht die Diskretion, wie der Titel suggeriert – am Beispiel zweier älterer Männer, die sich standhaft mafiosen Machenschaften widersetzen. Der vielfach prämierte, in seiner Heimat hochangesehene Autor mit politischen Ambitionen hat sich nach der verlorenen Stichwahl um das Amt des peruanischen Präsidenten wieder ganz dem Schreiben zugewandt und wurde 2010 mit dem Nobelpreis geehrt «für seine Kartographie der Machtstrukturen und scharfkantigen Bilder individuellen Widerstands, des Aufruhrs und der Niederlage», wie es das Nobelkomitee in seinem typisch gestelzten Ton formuliert hat.

Felícito aus der Stadt Piura im Norden Perus, der sich mit harter Arbeit eine florierende Firma aufgebaut hat, sieht sich plötzlich mit Schutzgeldforderungen konfrontiert. Unbeirrt bleibt er jedoch hart, hält sich strikt an die Worte seines Vaters «Lass dich niemals von irgendwem herumschubsen», er weigert sich zu zahlen. Vielmehr wendet er sich an die Polizei und veröffentlicht außerdem eine Zeitungsanzeige, in der er den Erpressern lakonisch erklärt, von ihm würden sie nichts erhalten, nicht mal einen Centavo. Dabei bleibt er, auch nachdem Feuer gelegt wird in seinem Büro, erst als seine Mätresse entführt wird, beginnt er zu wanken. Als im zweiten Handlungsstrang der 81jährige Chef des gerade in den Vorruhestand gegangenen Don Rigoberto in Lima seine halb so alte Haushälterin heiratet, setzten dessen missratene Söhne wegen der ihnen entgangenen Erbschaft alle Hebel in Bewegung, um diese Ehe annullieren zu lassen. Ihr Vater sei unzurechnungsfähig, behaupten sie, und natürlich versuchen sie mit allen Mitteln, die beiden Trauzeugen, den Chauffeur des reichen Unternehmers ebenso wie dessen ehemaligen Generaldirektor, unter Druck zu setzten, damit sie dies bezeugen.

Es ist ein spannender Plot, zeitlich in der Gegenwart angesiedelt, wobei die zwei tragenden Stränge der Handlung am Ende zusammenlaufen, mehr sei hier aber nicht verraten. Dies ist bereits der vierte Roman des in wenigen Tagen 79jährigen Autors, den ich gelesen habe, ein Alterswerk mithin. Und ein recht handlungsreicher Roman, von seinem Autor gekonnt erzählt in farbenfrohen Bildern, mit lebendigen Figuren bevölkert, von denen die eine oder andere aus den vorhergehenden Romanen schon bekannt ist. Auch das Grüne Haus wird erwähnt, obwohl dieses Bordell aus dem berühmten gleichnamigen Roman von 1965 inzwischen längst abgerissen ist. Viele der für Vargas Llosa typischen Techniken finden sich auch in diesem Roman. Er erzählt seine Geschichte in Fragmenten, lässt bewusst Lücken in der Handlung, verschachtelt nicht zusammengehörende Teile der Handlung ineinander. So wechselt er zum Beispiel mehrfach von einem Dialog zweier Figuren völlig unvermittelt und ohne jede Kennzeichnung, also direkt Satz an Satz montierend, in einen ganz anderen Dialog zweier ganz anderer Personen. Diese von ihm bewusst betriebene, den Lesefluss arg störende Desorientierung ziele darauf ab, wie er in einem Aufsatz erklärt hat, die orientierungslose Sinnsuche seiner Romanfiguren analog auch auf den Leser zu übertragen. Zusätzlich benutzt er auch esoterische Elemente, hier eine an den «Doktor Faustus» von Thomas Mann angelehnte, den gesamten Plot begleitende, mysteriöse Teufelserscheinung.

Im Duktus von Elke Heidenreich handelt es sich zweifellos um eklige Altmännerliteratur, hier in der Variante des südamerikanischen Machismo. Und auch der Ödipus-Mythos wird variiert, in zwei sehr spezielle Vater-Sohn-Beziehungen nämlich, den Vätern allein aber gilt die Sympathie des Autors. Vieles bleibt ungesagt, die Erwartung des Lesers auf Szenen aus dem Mafiamilieu zum Beispiel wird geradezu konterkariert. Nach dem kitschigen Schluss musste ich konsterniert feststellen, dass Vargas Llosas Erzähltalent ebenso schwächelt wie die Potenz der alten Männer, über die er berichtet.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Die Welt hinter Dukla

stasiuk-1Transzendentale Herausforderung

Mit dem im Original 1997 erschienenen Roman «Die Welt hinter Dukla» wurde der polnische Schriftsteller, Literaturkritiker und Journalist Andrzej Stasiuk drei Jahre später schlagartig auch dem deutschen Lesepublikum bekannt, sein Buch wurde 2008 sogar in die Anthologie «Hundert große Romane des 20. Jahrhunderts» der Süddeutsche Zeitung aufgenommen. Zu Recht? Fragt man sich, denn die Rezeption war zwiespältig, einig war sich die Kritik nur darin, dass die Lektüre anstrengend und der Roman weitgehend handlungslos sei.

«Um vier Uhr früh hebt die Nacht langsam ihren schwarzen Hintern, steht vollgefressen vom Tisch auf und geht schlafen. Die Luft ist wie kalte Tinte, sie fließt die Asphaltwege herab, zerläuft und gerinnt zu schwarzen Seen. Es ist Sonntag, die Menschen schlafen noch, und deshalb sollte diese Erzählung keine Handlung haben, kein Ding kann schließlich andere Dinge verdecken, wenn wir zum Nichts streben, zu der Feststellung, dass die Welt nur eine vorübergehende Störung ist im freien Fluss des Lichts.» Dieser Romananfang bestätigt die Adjektive «anstrengend» und «handlungslos» eindrucksvoll, über die Mühe des Lesens vermittelt der zitierte Text einen Eindruck, insbesondere wenn man weiß, so geht es weiter bis zum Schluss, und die fehlende Handlung wird hier explizit durch den Autor bestätigt.

Der Romantitel ist metaphorisch zu verstehen, er weist darauf hin, dass die polnische Kleinstadt Dukla für den Ich-Erzähler mehr ist als ein verschlafenes Provinznest am Rande der Karpaten, er sucht nichts weniger als deren Genius loci, benutzt den Ort als Projektionsfläche transzendenter Betrachtungen. «Ich komme immer wieder in dieses Dukla zurück, um es bei unterschiedlichem Licht, zu unterschiedlichen Tageszeiten anzusehen.» Diese nicht enden wollende Spurensuche nach der eigenen Kindheit, nach magischen Orten, nach dem Geist der Schutzpatronin Amalia von Brühl, deren Sarkophag er immer wieder besucht, ist der eigentliche Gegenstand dieses Erzählbandes. Die wenigen den Roman bevölkernden Figuren bleiben konturlos wie der Ich-Erzähler selbst, man erfährt so gut wie nichts von ihnen, und sie agieren auch nicht. Aus allen Himmelsrichtungen kommend, mit verschiedenen Verkehrsmitteln, zu verschiedenen Jahreszeiten, zu verschiedenen Stunden des Tages, bei Licht und bei Dunkelheit, stets münden diese Besuche in tiefsinnige Beschreibungen von Straßen, Plätzen, Gebäuden, der umgebenden Natur, lebender und toter Materie, behandeln existenzielle Fragen in einer nimmermüden Suche nach dem Sinn hinter alldem.

«Schon immer wollte ich ein Buch über das Licht schreiben.» lässt uns der Erzähler wissen, «Ich wüsste nichts, was mehr an die Ewigkeit erinnert». Das Vergehen der Zeit ist sein Thema, seine rastlose Erinnerungsarbeit kreist um philosophische Grundfragen unserer Existenz. Diese anspruchsvolle Thematik ist sprachlich metaphernreich umgesetzt in Textblöcke ohne inhaltlichen Zusammenhang oder erkennbare Gliederung. Ein breit dahinströmender Gedankenfluss, der den Leser zu häufigen Denkpausen zwingt, will er all den Bildern folgen, die da so zahlreich heraufbeschworen werden. «Das Bild, der Zwillingsbruder unseres Verstandes, wird uns überleben» lautet die Erkenntnis. Auf den letzten Seiten wird die unkonventionelle, zu nichts hinführende Erzählweise konkreter, in kurzen Kapiteln wird von einem glücklosen Viehhirten, verschiedenen Tieren, Wetterphänomenen, zuletzt vom Himmel erzählt, auf dem sich weiße Wolken zeigen. «Sie sehen aus wir Knochen, wie eine zerstreute, nebulöse Wirbelsäule. Denn so wird es ganz am Ende sein. Sogar die Wolken werden verschwinden, nur das himmelblaue, grenzenlose Auge wird bleiben über den Resten.» Ob tollkühne Metaphorik und transzendente Reflexionen allein den Leser zufrieden stellen können, muss jeder für sich entscheiden. Ich jedenfalls war enttäuscht, auch die gekonnte Poetik des schmalen Erzählbandes konnte da literarisch nichts mehr retten.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Jakob von Gunten

walser-r-1Die Zucht von Untertanen

Von vielen berühmten Kollegen bewundert, wurde Robert Walser als einer der größten deutschen Schriftsteller des Zwanzigsten Jahrhunderts einem breiteren Lesepublikum erst nach seiner Wiederentdeckung in den 1970er Jahren bekannt. Eines seiner frühen Prosawerke ist «Jakob von Gunten», 1909 unter der Bezeichnung «Ein Tagebuch» erschienen, in seiner Berliner Epoche also, in der vergleichsweise realistische Texte entstanden. Gemeinsam ist ihnen die Perspektive einer an Unterwürfigkeit grenzender Bescheidenheit, der Titelheld Jakob schreibt sein undatiertes Tagebuch als Zögling einer Dienerschule im wilhelminischen Berlin. Der nicht chronologisch gegliederte Text spiegelt eigene Erfahrungen wider, die der Autor in einer derartigen Anstalt gemacht hat, zu Recht wird dieses Buch deshalb häufig auch als Entwicklungsroman bezeichnet. Walsers Realismus trägt hier wahrhaft monströse Züge und ähnelt in seiner märchenartigen, verstörenden Rätselhaftigkeit dem Stil seines Bewunderers Franz Kafka. Das Motiv des gegängelten Zöglings findet sich ähnlich auch in Musils «Törless» und, tragisch endend, auch in Hesses «Unterm Rad».

Anders jedoch liegt hier eine stets präsente Heiterkeit über dem Erzählten, auch wenn der Geschichte fundamentale Ängste zugrunde liegen. Sein Buch sei «zum größten Teil eine erzählerische Phantasie», hat Walser angemerkt, und so steht dem verstörend Servilen ein durchaus robustes Selbstverständnis seines eigenwilligen Protagonisten gegenüber. Jakob stammt aus einer wohlhabenden Familie, er ist von zuhause weggelaufen und ganz bewusst in das Institut «Benjamenta» eingetreten, um sich als Diener ausbilden zu lassen. In dieser merkwürdigen Anstalt lehrt nur Lisa, die Schwester des Vorstehers, die anderen Lehrer sind abwesend oder liegen in tiefem Schlaf. Lehrstoff ist ausschließlich eine Broschüre mit der Selbstdarstellung des Instituts sowie die «Vorschriften». Unter dem Motto «Wenig aber gründlich» werden die Zöglinge einseitig gedrillt, sie lernen ihren «Lehrstoff» stur auswendig. Jakob, der sich für den Gescheitesten unter den Schülern hält, fühlt sich verdummt und rebelliert, was ihm strenge Strafen einträgt, denen er sich geradezu masochistisch unterwirft. Allmählich ändert sich das Verhalten des Vorstehers zu ihm, er avanciert zu dessen Liebling und gewinnt auch das Vertrauen von dessen Schwester. Als Lisa stirbt und auch die Schülerzahl rapide sinkt, schließt der Vorsteher die Dienerschule, er will mit Jakob in die Welt hinaus.

Der flüssig lesbare Bericht des Ich-Erzählers ist in einer altersgemäßen Sprache abgefasst, deren naiver Duktus wirkungsvoll die dahinter liegende Problematik kaschiert. Vor einige Verständnisprobleme stellen den Leser die fehlende Chronologie der fragmentarischen Berichtsteile sowie das Vermischen von Realem mit Jakobs Träumen und Phantasien. Zusammen mit den ebenfalls vorhandenen Leerstellen des Plots werden zwangsläufig eigene Deutungen angeregt, es werden darüber hinaus aber auch spekulative Ergänzungen des märchenhaft Unvollständigen bewirkt. Jakobs Hang zum Servilen wird in seinen Träumen konterkariert, dort wird er als Soldat in den Adelsstand erhoben, zieht mit Napoleon nach Moskau, verlässt mit dem Vorsteher zusammen die Dienerschule, beide reiten auf Kamelen in die Wüste.

Ich habe «Jakob von Gunten» als gekonnte Parodie des klassischen deutschen Bildungsromans gelesen, Figuren wie der undurchschaubare Vorsteher oder dessen feenhafte Schwester, aber auch Schulfreund Kraus als arbeitswütiger, unbeirrbar pflichtbewusster Zögling sind ja geradezu Karikaturen ihrer selbst. Die Sucht nach Erniedrigung macht die Absolventen der Zuchtanstalt  «Benjamenta» zu willfährigen Untertanen, ganz im Sinne der damals Herrschenden. Wohl kaum aber im Sinne von Robert Walser, der das deutsche Obrigkeitsdenken hier fast schon zynisch vorführt, – aus seiner eigenen, eher unterprivilegierten Perspektive, seine Biografie gibt dafür eindeutige Hinweise.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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