Nachtfrauen

Nachtfrauen. Die beiden Geschwister Mira und Stanko stehen vor einer herausfordernden Aufgabe. Ihre Mutter ist alt und soll auf den Auszug aus ihrem Haus im kärntnerischen Jaundorf vorbereitet werden. Da weder Mira noch Stanko sich um sie kümmern können, wird es für die alte Dame zu gefährlich alleine zu leben.

Nachtfrauen: Verzeihen und Vergeben

Du wirst dich um Mutter kümmern müssen“, sagt ihr Bruder zu ihr. Aber Mira ist längst aus der Enge des Dorfes in die Weite der Großstadt Wien gezogen, wo sie einen Mann und eine Arbeit hat. Sie kann also gar nicht zurückkommen und sie will es auch nicht. Zwischen ihrer Mutter Anni und ihr bestehen immer noch Differenzen, die nun endlich durch einen neuen Besuch beseitigt werden könnten. So packt sie also ihre Koffer und reist zurück ins “Innere ihrer Kindheit“, wie sie sagt: “Sie konnte nicht einmal behaupten, in die Fremde zu reisen, wenn sie nach Hause fuhr, das würde ihr niemand glauben“.

Heimat und Sprache

Wenn sie ihr Dorf besucht, erwarten sie die üblichen Vorwürfe, die jeden “Abtrünnigen” treffen, der sich aufmachte, um ein anderes Leben in der Fremde zu finden. Weggehen kann schließlich jeder, das Schwierige ist doch zu bleiben. Sobald sie sich der Jauntalebene näherte, veränderte sich auch ihre Sprache und ihre Haltung, denn der slowenische Dialekt, den sie in Wien nie benutzt, bestimmt nun auch ihr Denken und Handeln. Die Sprache ihrer Kindheit ist auch die Sprache ihrer Verluste, “über die Mira sich selbst nicht recht im Klaren war“. Eine davon ist ihre Jugendliebe Jurij, dem sie prompt in Jaundorf begegnet.

Schweigen (Klage), Geheimnis (Tat)

Einen interessanten Zugang findet Mira auch zur Wahrheit: “(…) dass es vielleicht besser ist angelogen zu werden, nicht die Wahrheit zu wissen. Wir wollen den anderen immer nackt vor uns sehen, nackt und durchschaubar, das ist doch demütigend, es geht doch darum, miteinander auszukommen oder nicht?”, stellt sie Jurij die Frage der Fragen. Auch er, der bewusst Slowene ist, hat darauf eine Antwort. Denn lange galt die Zweisprachigkeit der Region als Makel, auch darüber schreibt Maja Haderlap im ersten Teil ihres Romans Nachtfrauen, der von drei Generationen Frauen erzählt. Der erste ist ganz Mira gewidmet, der zweite, kürzere Agnes und Anni, also Großmutter und Mutter. Der erste Teil ist eine Erzählung und ein Dilemma, wie es nicht besser formuliert werden könnte. Denn das Zerwürfnis mit ihrer Mutter beruht auf einem Unfall bei dem ihr Vater zu Tode kam.

Bedrängte (Nacht-)Frauen

Dieses Unglück schwelte lange zwischen ihrer Mutter und ihr und vergiftete die Beziehung, dabei war sie damals noch ein Kind und konnte gar nichts dafür, was geschah. Schuldgefühle waren es vielleicht auch, die Mira nach Wien vertrieben, aber immerhin war sie auch die erste Frau, die ihr Dorf verließ. Das tat sie auch für die anderen Frauen, die, die zurückblieben. Denn die alleinstehenden Frauen in Jaundorf litten am meisten unter den zudringlichen Händen der Männer. Aber damals galt die Schweigsamkeit einer Frau noch als noble Eigenschaft und so beschloss auch sie, lieber zu schweigen. Ein Schweigen, das vielleicht mit diesem Roman durchbrochen wird. Stellvertretend für all die Schweigenden.

Ein Roman über Zugehörigkeit, Erinnerungen, Verlust und Entscheidungen, die das Leben beeinflussen. Aber auch ein Roman, der Mut macht, darüber zu sprechen, was unaussprechlich ist.

Maja Haderlap wurde in Bad Eisenkappel / Železna Kapla (Kärnten) geboren. Sie veröffentlichte Lyrik in slowenischer Sprache, ehe sie für einen Auszug aus ihrem Romandebüt Engel des Vergessens 2011 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde. Weitere renommierte Preise folgten, wie der Max Frisch-Preis 2018 oder der Christine Lavant Preis 2021. Nachtfrauen ist ihr erstes Buch im Suhrkamp Verlag und stand auf der Shortlist für den Österreichischen Buchpreis 2023.

Maja Haderlap
Nachtfrauen. Roman
2023, fester Einband mit Schutzumschlag, 294 Seiten
ISBN: 978-3-518-43133-7
Suhrkamp Verlag
24,00 €


Genre: Biographie, Frauen, Frauengeschichte, Roman, Slowenen, Zweiter Weltkrieg
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Gefühle in Zeiten des Kapitalismus

Gefühle in Zeiten des Kapitalismus Eva Illouz

Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Auch wenn der Originaltext schon vor einigen Jahren erschienen ist, ist dieses Buch aktueller denn je. Die erstmals bei Suhrkamp 2023 erschienene Ausgabe gliedert sich in drei Teile von denen einer besser ist als der andere. Denn die israelische Soziologin versteht ihr Handwerk. Für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Anneliese-Meier-Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung und den EMET-Preis für Sozialwissenschaften. Ein Manifest der Postmoderne, das Buch des beginnenden 21. Jahrhunderts!

Ein Bruch mit der Tradition der Liebe

Für wen “emotionaler Kapitalismus” bisher eine contradictio in eo ipso gewesen ist, der wird hier eines besseren belehrt. Denn gerade die Emotionen sind zum Startkapital eines neuen kapitalistischen Akkumulationsmodells geworden, mit dem sich nicht nur start ups wie Datingseiten finanzieren lassen. Die neue Technologie des Internets versteht sich einerseits zwar als eine Technologie der Entkörperlichung und so begegnen sich in diversen Internetforen “entkörpertlichte wahre Selbst“, aber in Wahrheit entscheidet dann doch der Körper. Das Internet mache den Menschen zu einer “ausgestellten Ware mit bewußten Manipulationen des Körpers, der eigenen Sprechmuster, des Benehmens und des Kleidungsstils“. Nichts wird dem Zufall – dem eigentlichen Geburtshelfer der romantischen Liebe – überlassen: “Der Prozess der Selbstbeschreibung bedient sich kultureller Skripte der wünschenswerten Persönlichkeit.

Kosten-Nutzen-Rechnung der Liebe

Die Folgen seien ironischerweise “Uniformität, Standardisierung und Verdinglichung, wie Illouz schreibt. Allerdings Verdinglichung im Nicht-Marxschen Sinne, denn es behandelt den abstrakten Begriff als wäre er die reale Sache. Romantische Begegnungen werden durch das Internet in die konsumistische Logik des Kapitalismus integriert, das Selbst wird zu einem “verpackten Produkt, das mit anderen auf dem offenen Markt konkurriere, der nur durch das Gesetz von Angebot und Nachfrage reguliert wird”. Aus Romantik wird Routinebildung und Administration, Kosten-Nutzen-Rechnung und Zeitökonomie. Manche Dater und Liebessuchende legen sogar Ordner nach bestimmten Kategorien an, so überwältigend und beliebig ist der Response.

Das Internet: “Glamour of Misery”

Während die traditionelle Liebe von einer Exklusivität aufgrund von Knappheit maßgeblich war und der Zufall eine maßgebliche Rolle spielte, basiere die Partnersuche im Internet “auf einer Ökonomie der Fülle, der endlosen Wahlfreiheit, der Effizienz, der Rationalisierung, der selektiven Auswahl und der auf Standardisierung basierenden Prinzipien des Massenkonsums”. Freilich ist auch in der Realität Liebe von Illusion und Idealisierung geprägt, aber nirgends tritt es so offensichtlich zu Tage, als wenn zwei Chatpartner sich das erste Mal begegnen: Enttäuschung, ein Hilfsbegriff. Dass die moderne Psychologie wesentlich dazu beigetragen hat, dass Privatheit, Emotion und Intimität in einer Arena der Öffentlichkeit zur Schau getragen werden ist zu konstatieren. Nicht zuletzt Oprah Winfrey, ein Buch von Illouz über Oprah trägt den entlarvenden Titel “Glamour of Misery” und tauchte tief ein in die Welt des Showbiz und wie Psychologie und Konsumkultur zu einem perfekten Zusammenspiel aufgeigen können.

Das therapeutische Narrativ des Leidens

Das Narrativ der Krankheit, das therapeutische Narrativ oder auch das Opfernarrativ trugen wesentlich zu Umsatzboosts für Pharmaindustrie und klinische Psychologen bei. “Pharmaunternehmen haben ein großes Interesse an der Ausweitung psychischer Pathologen, die mit Psychopharmaka behandelt werden müssen”, schreibt Illouz. Auch Versicherungsgesellschaften profitieren von der Ware “Gesundheit” und deren monetärer Akkumulation. Das therapeutische Narrativ produziere geradezu vielfältige Formen des Leidens, wie schon Foucault wusste und um mit dem Anthropologen Shweder zu sprechen, mitverursache die kausale Ontologie des Leidens das von ihr erklärte Leiden geradezu. “Sie verursachen ironischerweise viel von dem Leiden, das zu lindern sie vorgeben”, so Illouz. We are all a happy family.

Eva Illouz
Gefühle in Zeiten des Kapitalismus.
Adorno-Vorlesungen 2004.
Aus dem Englischen von Martin Hartmann
2023, Broschur, 170 Seiten
ISBN: 978-3-518-30023-7
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2423
Suhrkamp Verlag, 1. Auflage
16,00 € (D), 16,50 € (A), 23,50 Fr. (CH)


Genre: Kapitalismus, Krankheit, Psychologie, Soziologie
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Allein

Daniel Schreiber: Allein

Allein. Der Susan-Sontag-Biograph (Geist und Glamour, 2007) und Autor vieler Beiträge für die Zeit, Deutschlandradio Kultur und die taz war auch in der Pandemie nicht untätig. Nach “Nüchtern” (2014) und “Zuhause” (2017) erscheint nun ein weiteres sehr persönliches Buch. Dessen Thema erfüllt immer noch viele Menschen mit Unbehagen. Dabei muss sich jede/r ihm stellen. Nicht nur einmal im Leben.

Allein: Einsamkeit als Chance

Das Thema Allein-Sein ist so alt wie die Menschheit und sicherlich kein Phänomen der Moderne oder allein von Krisenzeiten wie eben Pandemien, Kriegen oder anderen Apokalypsen: “Niemand von uns kann der Einsamkeit entkommen. Sie ist eine unabwendbare, eine existentielle Erfahrung. Vielleicht auch eine notwendige.” In seinem Bestseller (SPIEGEL, FOCUS, stern und Börsenblatt) erzählt Schreiber, wie er sich gerade in der paradoxen Situation der Einsamkeit auf eine Insel (Fuerteventura) flüchtete, um dort zu schreiben und schließlich zu sich selbst zu finden. Schreiber zeigt, dass gerade Menschen in Einsamkeit ihren Egoismus schließlich besiegen lernen, sich reorganisieren und damit zu neuem Wachstum finden. “Das Erleben von Einsamkeit bringt, mit andren Worten, eine Form der Selbstwahrnehmung mit sich, die wir anders nicht erlangen können. Gerade der Schmerz, der der mit ihr einhergeht, sorgt dafür, dass wir eine neue Art des Mitgefühls in uns entdecken, für uns selbst und andere Menschen. Uns neue Lebenswege erschließen und innere Auseinandersetzungen zulassen, die sonst ausblieben.”

Allein: Praktiken der Selbstreparatur

Mit seinen Gedanken über das Allein-Sein befindet Schreiber sich übrigens in bester Gesellschaft, schon Roland Barthes, Hannah Arendt, Sartre oder andere Choryphän des abendländischen Denkens haben sich in ihrem Schreiben damit beschäftigt. Oft hätte er sich unvollkommen gefühlt, weil er keine Zweierbeziehungen führen hätte können, jedenfalls keine auf Lebenszeit. Vor allem die Rituale, die den Alltag, das Leben zusammenhalten, würden einem abgehen, wenn man alleine ist, gerade in Zeiten einer Pandemie. Ähnlich wie die traditionellen kollektiven Rituale in westlichen Gesellschaften (Hochzeit, Taufe Beerdigungen, etc.) als rites de passage in neue Lebensabschnitte führen, habe nun aber auch die Pandemie einen solchen Schwellenzustand, eine Liminialität, geschaffen, die, wie zu befürchten ist, zu einem permanenten zu werden droht.

Das Narrativ von der Apokalypse

Denn die Welt ist nicht erst seit der Pandemie aus den Fugen geraten und die Apokalypse wieder in aller Munde. Aber selbst das ist nur Teil der ewigen Wiederkehr des Gleichen, denn die Menschheit hat immer schon von ihrem Untergang geschwärmt, seit Anbeginn der Zeit. Schreiber bezieht sich auf viele Autorinnen und Autoren der Gegenwart oder Antike und stellt einen Zusammenhang her mit seinem eigenen persönlichen Leben als homosexueller Mann, dem sich herkömmliche Glücksversprechen von Eigenheim und Kleinfamilie vorerst verwehren, er sich dann aber bewusste dafür entscheidet, eben nicht dazuzugehören: “Ich gehörte nicht mehr zu diesen Menschen, und wollte auch nicht mehr zu ihnen gehören.” Er entscheidet sich dafür, “uneindeutige Verluste” als eben solche stehen zu lassen und mit der Ambivalenz zu leben, da manche Fragen eben unbeantwortet blieben. So wie Derek Jarman auf seinem Prospekt Cottage: “Er nahm ein paar Samen, Stecklinge und etwas Treibholz und begann dieses Gefühl vom Ende der Welt in Kunst zu verwandeln und so dessen Schrecken zu lindern.”

Liminalität: der neue Schwellenzustand

Aber mehr noch als das, ist “Allein” vor allem auch ein äußerst lesenswertes Buch über die Segnungen von Freundschaft und das eigentliche Wesen dieser wohl größten menschlichen Tugend. Wer sich nämlich nicht in einer von der Gesellschaft vorgegebenen patriarchalisch-normativen Kleinfamiliensituation in der Mitte seines Lebens wiederfindet, wird ebenfalls dankbar sein für dieses so wertvolle Buch, das Einblicke gewährt, mit dessen Abgründen sich jeder einmal in seinem Leben wird auseinandersetzen müssen. Spätestens nach einer Scheidung, einem Verlust oder wenn die Kinder erwachsen sind und das Haus verlassen. Die wohl prägendste Erfahrung im Leben eines Menschen ist nämlich gerade diese Einsamkeit, deren Potential und heilsamer Charakter erst noch entdeckt werden muss. “Paare” gälten oft als dominantes Lebensmodell, während sie doch eigentlich oft “patriarchale Horrofilme” ähnelten, wie Hannah Black etwa meint. Black beschreibt Paare als “reduktionistischste, ausgrenzendste und prekärste Methode, um das wahrscheinlich universale Bedürfnis nach Nähe zu stillen”.

Liebe vs. Freundschaft

Auch queere Paare würden dies oft nur reproduzieren, dabei liege das wahre Glück doch in der Freundschaft und der Auflösung jedweder Arten von Herrschaft und Macht. Freundschaft beruhe ja gerade auf Freiwilligkeit und sei deswegen losgelöst von Verpflichtungen und Normierungen wie etwa Familie, Verwandtschaft oder Ehe. Aber oft würden sich Freunde oder Freundinnen dann doch in eine Zweierkiste verabschieden und man bliebe alleine zurück. Dabei sei Liebe ohnehin nur eine Illusion, die für einige Jahre vielleicht “die Angst vor dem Sterblichen und dem Tode” zu bannen vermöge. Es ist kein Geheimnis, dass Liebe tatsächlich sehr viel der Kraft unserer Fantasten bedarf. “Erst unsere Vorstellungskraft schenkt uns die Magie der Hingabe“, zitiert Schreiber Lauren Berlants “Desire/Love“. In der Einsamkeit lässt sich die Nähe zu Gott und zu seiner/m Nächsten. erfahren. Die Liebe kommt dann von ganz allein. Denn sie genügt sich selbst.

Ein beflügelndes, inspirierendes Essay, das nicht nur über die Pandemie, sondern noch so manchen anderen Schmerz hinwegtrösten kann. Das Buch zur Apokalypse.

Daniel Schreiber
Allein. Essay
2023, Broschur, 160 Seiten
ISBN: 978-3-518-47318-4
suhrkamp taschenbuch 5318
12,00 € (D), 12,40 € (A), 17,90 Fr. (CH)

 


Genre: Essay, Pandemie, Philosophie, Soziologie
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Der kurze Brief zum langen Abschied

Erinnerungen

Es war überhaupt die Zeit, in der sich meine kulturelle Prägung zum großen Teil vollzog. Zumindest was die Literatur betrifft. Meine Affinität zu den Büchern wurde, wie schon erwähnt, durch unseren Jugendpfarrer und durch meinen Besuch in München bei Irmgard und Toni angeregt. Ich begann die Werke bedeutender Schriftsteller zu lesen wie Kafka, Camus, Hemingway, Böll oder Grass, was mir nebenbei bemerkt, die beste Deutschnote in meiner schulischen Laufbahn bescherte. Nur weil ich mit meinem Deutschlehrer unter anderem über „die verlorene Ehre der Katharina Blum“ diskutieren konnte. Viele meiner bevorzugten Schriftsteller waren oder wurden später Literatur-Nobelpreisträger.

Apropos Literaturnobelpreisträger. Auch der erst 2019 ausgezeichnete und oft nur schwer lesbare Peter Handke gehörte dazu. Als das Nobel-Komitee seinen Namen in den Medien bekannt gab, fiel mir sofort die folgende Geschichte ein.

1972 erschien sein neuestes Buch „Der kurze Brief zum langen Abschied“, und ich wollte es unbedingt haben. Daran konnte auch die Reiberei mit meinem Favoriten Grass nichts ändern, bei der Handke den in Princeton anwesenden Gruppe-47-Dichtern „Beschreibungsimpotenz“ vorgeworfen hat und daraufhin Grass „um bessere Feinde“ gebeten hatte. Ich wollte das Buch also haben, zumal es als Taschenbuch angekündigt war und somit meinem Budget entsprach. So machte ich mich auf, die Straße runter in unsere Buchhandlung. Der „Budow“, wie wir sie einfach nur nannten, war und ist wahrscheinlich auch heute noch eine Institution in Marktredwitz. Auf Frau Budow, die Inhaberin der Buchhandlung, konnte man sich verlassen. Sie kannte mich auch sehr gut, weil ich öfter bei ihr vorbeischaute, und sie hatte immer einen Buchtipp für mich bereit. Dieses Mal wusste ich aber genau was ich wollte, das Taschenbuch von Peter Handke. Sie hatte es nicht vorrätig und fragte, ob sie es bestellen solle. Ich stimmte zu und holte es einige Tage später bei ihr ab. Sie legte es auf den Ladentisch, ein Hochglanz-Taschenbuch, schwarz, darauf der in weißen Lettern geschriebene Titel und eine in zarten Farben gemalte Gebirgslandschaft am Meer. Ich nahm es in die Hand, drehte und wendete es. Es gefiel mir sehr. Frau Budow meinte: sechzehnachtzig. Sechzehnachtzig für ein Taschenbuch? Ich hatte mir noch kurz vorher eines von Handke gekauft, auch vom Suhrkamp-Verlag, und ich bezahlte fünf D-Mark. Mir mussten die Gesichtszüge ordentlich entglitten sein. Ich wusste in diesem Augenblick gar nicht, ob ich überhaupt so viel Geld eingesteckt hatte. Und der Betrag war im Vergleich zu meinem „Gehalt“ als Fachoberschüler schon heftig. Frau Budow sah es mir sofort an und bot mir an, es hier zu lassen. Ich brauche es nicht mitzunehmen. Das ließ ich mir aber nicht nachsagen, zahlte und steckte es ein.

Was mir zum Thema Handke auch noch einfällt, ist das Spiegelinterview mit Reich-Ranicki vom 4.10.1999, wo es um den Nobelpreis für Günter Grass ging. Er meinte, Deutschland sei einfach mal wieder dran gewesen und nun solle man sich vorstellen, Martin Walser wäre der Preis zugefallen: „Das wäre ein schwerer Schlag für mich. Oder gar dem dümmlichen Peter Handke! Eine Katastrophe.“ Fand ich irgendwie amüsant.

Auszug aus einem Kapitel aus meinem biografischen Roman “August und ich”.

https://www.bod.de/buchshop/august-und-ich-werner-haussel-9783751950992


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Afropäisch: Eine Reise durch das schwarze Europa

AfropäischAfropäisch: Mit einem Interrailticket reist der Autor durch Europa, startet an einem 1.10. und muss genau am 31.3. zurück sein, denn er reist auf eigene Kosten, schläft dabei in Hostels, manche Einschränkungen des Komforts inbegriffen. So wird er auch Menschen begegnen, die nicht zu den Besserverdienenden gehören. Nach Plan besucht er europäische Hauptstädte und kleinere Orte im Süden Frankreichs und Spaniens: er folgt damit „seiner afropäischen Achse“. Mal reist er wie ein Flaneur, lässt sich von Zufallsbekanntschaften Geschichten erzählen, deren Informationen wird dann nachgeforscht, mal flicht er eigene Erlebnisse und Gelesenes ein. Weiterlesen


Genre: Afrikanische Geschichte, Gesellschaft, Imperialismus
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Thomas Bernhard. Die unkorrekte Biografie

Thomas Bernhard: Die unkorrekte Biografie

Wer bleibt denn da überhaupt übrig, den Sie nicht für einen Idioten halten?“ – „Na keiner, das ist es eben.“ In 99 rasant-komischen Bildern wird die Biographie des am 12. Februar 1989 in Gmunden verstorbenen enfant terrible Österreichs erzählt. Dazu einige der besten und humorvollsten Zitate der „Zwiderwurzn“, die auch heute noch das Herz erwärmen. Dieses Jahr jährt sich sein Geburtstag am 9. Februar zum 90. Mal. Schade, dass er nicht mehr lebt und die Gemüter erhitzt. So wie damals.

Den Nagel auf den Kopf getroffen, die Österreicher ins Herz

1. Thomas Bernhard muss Burgtheater-Direktor werden, 2. Es ist alles sehr kompliziert, 3. Ich nehme zur Kenntnis, dass Kurt Waldheim nie bei der SA war, sondern nur sein Pferd“. Diese pointierte Zusammenfassung der Innenpolitik der Achtziger stammt vom damaligen österreichischen Bundeskanzler Fred Sinowatz. Das Theaterstück „Holzfällen“ von Thomas Bernhard schlug in dieses innenpolitische Klima ein wie eine Bombe und machte den Schriftsteller zum meistgehasstesten Mann Österreichs, aber gleichzeitig auch zum Aushängeschild eines Landes, das seine Vergangenheit so lange wie möglich verdrängt hatte. Aber ich den Achtzigern kam alles hoch und Bernhard schwamm auf einer Welle, die ihn bis ganz nach oben brachte. Im oberösterreichischen Ohlsdorf hatte er sich einen Denk- und Schreibkerker eingerichtet, von wo aus er nicht nur die Republik, sondern auch ihre Bewohner regelrecht beschimpfte.

Gegen Männer, Nationalsozialismus und Katholizismus

Dabei war sein Hass auf Österreich vor allem auch ein Selbsthass: „Ich habe die Wiener Kaffeehäuser immer gehasst, weil ich in ihnen immer mit Meinesgleichen konfrontiert gewesen bin… Ich ertrage mich selbst nicht, geschweige denn eine ganze Horde von grübelnden und schreibenden Meinesgleichen.“

Auch die Männer an sich kamen bei ihm nicht gut weg. „Ich vertrage Männer nicht. Männergespräche halte ich nicht aus. Die machen mich narrisch. Männer reden immer das gleiche. Über ihren Beruf oder über Frauen. Da sind mir schwätzende Frauen noch lieber.

Sein abwesender, alkoholkranker Vater und sein Heranwachsen in den Vierzigern hatten auch seinen Hass auf den Nationalsozialismus und den Katholizismus bestärkt. Beides erkannte Bernhard als kennzeichnende Wesensmerkmale des Österreichers. Und lehnte sich zeitlebens dagegen auf. Nicolas Mahler hat einige von Bernhards besten Zitaten aufgespürt und mit seinen Bildern versehen, die auch ein Schlaglicht auf den Menschen Bernhard werfen. Bernhards Preise und Skandale, seine Krankheit, sein Lebensmensch Hedwig Stavianicek oder das Verhältnis zu seinem Verleger Siegfried Unseld: Nicolas Mahler lässt nichts aus.

Nicolas Mahler

Thomas Bernhard. Die unkorrekte Biografie

2021, Hardcover, suhrkamp taschenbuch 5125, Gebunden, 119 Seiten

ISBN: 978-3-518-47125-8

D: 16,00 € / A: 16,50 € / CH: 23,50 sFr

Suhrkamp Verlag


Genre: Biographien, Comic
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Selbstverteidigung – Eine Philosophie der Gewalt

Selbstverteidigung – Eine Philosophie der Gewalt. In ihrem Prolog zum Buch stellt die Philosophie-Professorin eine Foltermethode des beginnenden 19. Jahrhunderts den Geschehnissen um die Ermordung von Rodney King durch das LAPD im 20. Jahrhundert gegenüber. In beiden Fällen galt, dass je mehr sich der „Delinquent“ wehrte, desto mehr wurde er geschlagen oder gefoltert. Der Prozess um die Polizisten endete mit einem Freispruch. Rodney King hatte sich verteidigt, doch indem er sich verteidigte, wurde er unverteidigbar. Der Inhalt des Zeugen-Videos wurde in seiner Bedeutung einfach umgedreht. Schuldumkehr.

Selbstverteidigung: Tanz als Widerstand

Die Ergebnisse des Freispruchs sind bekannt. Die als „L.A. Riots“ in die Geschichte eingegangenen Unruhen von 1992 kosteten weitere 63 Tote und 2000 Verletzte sowie einen Sachschaden in Milliardenhöhe. Die Geschichte der USA ist vor allem auch eine Geschichte von Rassismus. Die USA waren eine Sklavenhaltergesellschaft, deren Opferbilanz insgesamt sogar höher als der Holocaust ausfällt. Man schätzt, dass er 40 Millionen (schwarze) Leben kostete. „Jede Verknüpfung von Tanz, Gesang und Musik, deren Aufführung in einem Kreis eine agonistische Disposition annimmt, stellt eine Kampfkultur mit bloßen Händen dar und loste eine weiße Panik aus”, schreibt die Autorin. Dennoch entstanden Kampftänze, die zu den kodifizierten Formen der Gegenkultur gehörten, die als traditionelle Kultur bis heute überlebten. Während in Übersee die Sklaven also entwaffnet und unterworfen blieben, machte sich das französische Kolonialrecht mit Hilfe einer schwarzen Streitmacht auf eine Mission der Zivilisierung der Welt. Sie wurden sogar als „Geheimwaffe gegen Deutschland“ gehandelt, da die personellen Ressourcen unerschöpflich schienen.

Gewalt: Vigilanten und weiße Justiz

In einem weiteren Kapitel beschreibt die Autorin den Aufstand des Warschauer Ghettos als ein Beispiel der Zeugnisse der Selbstverteidigung (Kapitel 3). Eines der interessantesten Kapitel ist die Beschreibung des Vigilantismus in der jungen Nation der USA, der sich im Grunde bis heute erhalten hat. Während der gesamten Kolonisierung Amerikas schlossen sich Gruppen von Männern zu Verteidigungsmilizen zusammen, die sich selbst das außerordentliche Recht der Gerichtsbarkeit (Justiz und Polizei) einräumten. „Der Vigilant ist der große Verteidiger der amerikanischen Nation, der Held, der immer bereit ist, sie zu verteidigen: Die Kultur des Vigilantismus hält so das Narrativ von der weißen Rasse in Gang und aktualisiert es ständig.“ Diese sog. „Weiße Justiz“ (Kapitel 5) schreckte auch vor Lynchmorden nicht zurück, ein Begriff übrigens der auf den tatsächlich existenten Charles Lynch zurückgeht, der in Virginia, zur Zeit der Amerikanischen Revolution seinen Männern eine Blankovollmacht gab, um Pferdediebe und andere Banditen „auszumerzen“. Aber natürlich auch zur Verfolgung von Landstreichern, Fremden, weißen Dissidenten sowie schwarzen Sklaven und Rebellen. Die Legende vom Black Beast Rapist – dem schwarzen Vergewaltiger weißer Frauen -wurde dabei zur treibenden Kraft. Eines der düstersten Kapitel der „besten Demokratie auf Gottes Erden“. Etwa wenn man vom Waco-Horror von 1916 spricht, bei dem ein unschuldiger Schwarzer gelyncht und Teile seines Körpers als Souvenir verkauft und Fotos der Szene in Form pittoresker Postkarten verbreitet wurden, „um den Tourismus in der Stadt anzukurbeln“ (sic!).

Geschichte des Widerstands gegen den weißen Mann

Weitere Kapitel beschäftigen sich u.a. auch mit Martin Luther King, „der besten Waffe des weißen Mannes“ oder den Black Panthern for Self-Defense sowie feministischen Organisationen wie den Suffragetten oder der Association of Southern Women for the Prevention of Lynching oder auch anderen. Ein wichtiges Buch, das zwar keine Antwort auf

Die Autorin wurde mit dem Frantz Fanon Prize 2018 und dem Prix de l’Écrit Social 2019 ausgezeichnet.

 

Elsa Dorlin

Selbstverteidigung – Eine Philosophie der Gewalt

Aus dem Französischen von Andrea Hemminger

D: 32,00 € / A: 32,90 € / CH: 42,90 sFr

2020, Gebunden, 315 Seiten

ISBN: 978-3-518-58756-0

Suhrkamp Verlag

 


Genre: Philosophie, Politik, Selbstverteidigung
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Lenz

Ein Klassiker par excellence

Mit «Lenz» hat Georg Büchner eine Novelle geschrieben, die erstmals 1839 unter dem Titel «Lenz. Eine Reliquie von Georg Büchner» erschienen ist. Sie blieb zunächst weitgehend unbeachtet. Ursache dafür war ein dem damaligen Lesepublikum schwer zu vermittelnder Paradigmenwechsel in der deutschen Literatur, den insbesondere auch dieses Werk mit eingeläutet hat: Weg von einem ästhetisierenden Idealismus, hin zum realitätsbezogenen Naturalismus! Erst gegen Ende des Jahrhunderts fand «Lenz» dann die Aufmerksamkeit eines breiteren Lesepublikums und löste euphorische Kommentare aus. Arnold Zweig sprach von einem Meisterwerk, «mit dem die moderne europäische Prosa» begonnen habe, Elias Canetti nannte es das «wunderbarste Stück deutscher Prosa».

Mit dem Zusatz ‹Reliquie› hat der erste Herausgeber dieser posthum veröffentlichten Novelle auf deren Huldigungscharakter hingewiesen. Historische Grundlage ist das tragische Schicksal des Dichters Jakob Reinhold Michael Lenz aus Livland, der als prominentes Mitglied einer dem ‹Sturm und Drang› zugehörigen, in Straßburg versammelten Autorengruppe gilt, zu der auch Goethe gehörte. Beide waren befreundet, und beide hatten auch ein Auge auf Friederike Brion geworfen, die durch Goethes ‹Sesenheimer Lieder› ja nahezu unsterblich wurde. Als wichtigste historische Quelle nutzt Georg Büchner einen Bericht des Pfarrers Johann Friedrich Oberlin, der den Besuch des Dichters im elsässischen Steintal dokumentiert hat. Er übernimmt dessen chronologischen Ablauf vom 20. Januar bis zum 8. Februar 1778 unverändert in seine Novelle.

«Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg.» lautet der erste Satz, – mit ‹Gebirg› ist hier der Elsass gemeint. Er findet freundliche Aufnahme im Haus des Pfarrers Oberlin in Waldbach, der damit einer Bitte von Johann Caspar Lavater folgt. Der mit ihm befreundete, berühmte Schweizer Schriftsteller, Philosoph und Pfarrer erhofft sich von dem Besuch in ländlicher Idylle eine Besserung der psychischen Erkrankung des ihm bekannten, jungen Dichtertalents. Einfühlsam geht Oberlin mit theologischer Argumentation auf die geisterhaften nächtlichen Erscheinungen ein, von denen sein verwirrter Gast ihm berichtet. Mit dem Besuch des ehemaligen Dichterkollegen Christoph Kaufmann aus der gemeinsamen Straßburger Zeit wird Lenz ungewollt an die alten Zeiten erinnert. Bei Tisch kommt es schließlich zu einem Diskurs der Beiden über Kunst, wobei Lenz seinem literarisch die idealistische Periode verkörpernden Widerpart vorwirft, wie viele andere auch die Wirklichkeit verklären zu wollen. Als künstlerische Belege nennt er den Apoll von Belvedere oder die Madonnenbilder von Raffael. «Die holländischen Maler sind mir lieber als die italienischen», ergänzt er sein Beispiel. Er sieht den Dichter als eine Art zweitrangigen Schöpfer nach Gott, dessen künstlerisches Ziel es sein müsse, «ihm ein wenig nachzuschaffen». Diese Novelle ist zutiefst religiös motiviert, bei dem pietistisch geprägten Oberlin hofft Lenz seine innere Ruhe wiederzufinden. Die zeitweise geistige Umnachtung des Poeten verschlimmert sich aber trotz aller Bemühungen von Oberlin. Der versucht geduldig, beruhigend auf ihn einzuwirken, nimmt ihn zu seinen seelsorgerischen Besuchen mit, er erlaubt ihm sogar, selbst die nächste Predigt zu halten. Lenz jedoch zerbricht an den Dämonen, die von ihm Besitz ergriffen haben, die ihn sogar glauben lassen, er könne ein totes Kind wieder zum Leben erwecken, woran er natürlich kläglich scheitert.

Es ist erstaunlich, wie intensiv Büchners Sprachgewalt auch den heutigen Leser in Bann zu ziehen vermag, wie er derart komprimiert, auf einigen wenigen Buchseiten, den Zweifel am menschlichen Dasein so überaus eindrucksvoll schildern kann. Die Benennung des allseits angesehenen und höchstdotierten deutschen Literaturpreises als Georg-Büchner-Preis unterstreicht ziemlich deutlich seinen überragenden literarischen Rang, und sein «Lenz» ist unumstritten ein Klassiker par excellence!

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Novelle
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Postdemokratie. Das neue Zeitalter

Postdemokratie als Begriff bezieht sich auf die Tatsache, dass heute (Erstauflage 2008) mehr Nationalstaaten als jemals zuvor demokratische Verfahren zur Bestimmung ihrer Regierung praktizierten. Allerdings mag deswegen noch kein Optimismus aufkommen, denn die Art und Weise wie diese durchgeführt wurden steht auf einem anderen Blatt. Dennoch spricht der Begriff, Postdemokratie, für die Phase der Demokratie in der wir uns seither befinden und die u.a. durch Politikverdrossenheit, Sozialabbau und Privatisierung gekennzeichnet ist.

Stichwort: sound bites

Colin Crouch spitzt die Beschreibung unserer politischen Systeme noch derart zu, dass er bemerkt, dass die demokratischen Institutionen zwar weiterhin formal existieren, diese aber von Bürgern und Politikern nicht mehr länger mit Leben gefüllt werden. Denn längst hätten Interventionen kapitalistischer Interessensgruppen die Demokratie ausgehöhlt. Politiker werden gekauft und vertreten im Parlament die Interessen ihrer jeweiligen pressure groups. Die Bevölkerung selbst geht gar nicht mehr zur Wahl oder verschwendet ihre Stimmen an populistisiche Systemzerstörer. Natürlich spielen auch die Medien eine wichtige Rolle in der Postdemokratie: Konkurrierende Teams professioneller PR-Experten würden Politik zu einem Spektakel verkommen lassen, bei dem nur mehr über Probleme diskutiert werde, die zuvor von Experten ausgewählt worden wären. „Der Einfluss privilegierter Eliten nimmt zu, in der Folge ist das egalitäre Projekt (die Demokratie, AP) zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert.“ Stichwort: sound bites.

Das Ende der Demokratie?

Ist der „demokratische Augenblick“ der Menschheitsgeschichte bald vorbei? Im Mutterland der Demokratie, den USA, ist seit Ronald Reagan das wohlfahrtsstaatliche Projekt abgewickelt, die Gewerkschaften marginalisiert, die Spaltung zwischen Arm und Reich auf einem Niveau, das man eigentlich nur aus Ländern der Dritten Welt kennt. „Dass sich diese Rückentwicklung“, schreibt Crouch, „ausgerechnet in den USA, der am stärksten zukunftsorientierten Gesellschaft der Welt, einem Land, das in der Vergangenheit der Vorreiter des demokratischen Fortschritts war, am radikalsten vollzieht, lässt sich allein mit dem Modell des parabelförmigen Verlaufs der Demokratie erklären.“ Bedeutet Postdemokratie auch das Ende der politischen Kommunikation? Auch in seinem Folgewerk, „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“, stellt Crouch unbequeme Fragen. Es sind die gigantischen transnationalen Konzerne, unter denen die Demokratie und das Marktmodell leiden. Crouch entwirft aber auch ein Modell des Widerstands: indem wir uns auf unsere Werte und unsere Macht als Verbraucher besinnen. Das ist Crouchs optimistische Vision einer sozialen und demokratischen Marktwirtschaft, die er in diesem Essay der Hegemonie der Konzerne entgegenhält.

Colin Crouch
Postdemokratie
Aus dem Englischen von Nikolaus Gramm
D: 10,00 € / A: 10,30 € / CH: 14,90 sFr
2008, edition suhrkamp 2540, Taschenbuch, 159 Seiten
ISBN: 978-3-518-12540-3

Suhrkamp Verlag


Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Jarmila

Reminiszenz an die alte Welt

Die Novelle «Jarmila» des in Brünn geborenen und zum Kreis um Franz Kafka gehörenden Schriftstellers Ernst Weiß wurde im Sommer des Jahres 1937 in Paris geschrieben. Der dort im Exil lebende jüdische Autor hatte sich 1940 beim Einmarsch der deutschen Truppen das Leben genommen, viele seiner unveröffentlichten Manuskripte gingen verloren. Ein Typoskript von «Jarmila» mit dem ironischen Untertitel «Eine Liebesgeschichte aus Böhmen» wurde jedoch 1995 in Prag entdeckt und posthum erstmals veröffentlicht. Dieses späte Werk ist eine berührende Reminiszenz an die innig geliebte, für ihn damals aber unerreichbare böhmische Heimat des Autors. «Die Novelle ‹Jarmila› ist eine Ihrer stärksten», hat sein Freund und Gönner Stefan Zweig in einem Brief dazu angemerkt. Die Titelfigur gehört zur Gruppe jener Frauengestalten, die als Femme fatale im Werk dieses Autors häufig vorkommen.

Ich-Erzähler ist ein in Paris lebender Obsthändler, der geschäftlich nach Prag reist. Seine vor Reiseantritt in Paris gekaufte, billige Taschenuhr erweist sich als extrem launisch, er verpasst ihretwegen seinen Geschäftspartner. Im Café wartend lernt er den Spielzeughändler Bedřich kennen, der sich als geschickter Uhrmacher anbietet, die störrische Uhr zu reparieren, was aber misslingt. Sie kommen ins Gespräch, und Bedřich erzählt ihm von seiner schicksalhaften Liebe zu Jarmila, die mit einem deutlich älteren Bauern verheiratet ist, der sich auf Gänsefedern spezialisiert hat und damit viel Geld verdient. Seinen Spitznamen Bombardon trägt er, weil er in der dörflichen Kapelle die Basstuba spielt. Bedřichs Affäre mit der Dorfschönheit bleibt nicht ohne Folgen, sein Sohn Jaroslaus wird geboren. Als er mit ihr und dem Kind nach Amerika auswandern will, lehnt Jarnila das allerdings strikt ab, sie genießt ihr Leben an der Seite des wohlhabenden Bombardon. Es gelingt dem hörigen Bedřich nicht, sich von ihr zu trennen, im Gegenteil, sie bezirzt ihn immer wieder und wird erneut schwanger von ihm. Erbost baut der gehörnte Ehemann daraufhin heimlich eine Falltür in das als Liebesnest dienenden Lager für Gänsefedern ein. Bei einem letzten Stelldichein unmittelbar vor seiner geplanten Auswanderung legt Bedřich zur Ablenkung Feuer in Bombardons Scheune, zwei Landstreicher sterben darin. Die schwangere Jarmila stürzt im Liebesnest durch die Falltür zu Tode, Bombardon aber geht straffrei aus. Bedřich hingegen kommt für fünf Jahre ins Zuchthaus, und als er entlassen wird, entführt er seinen Sohn, mit dem er nun auswandern will. Er taucht auf der Durchreise überraschend mit Jaroslaus beim Ich-Erzähler in Paris auf. Aber es kommt alles ganz anders als geplant.

Mit der als äußerer Rahmen dienenden Ich-Erzählung huldigt der Autor, erkennbar autobiografisch beeinflusst, liebevoll seiner böhmischen Heimat und schließt die dörfliche Liebesaffäre als Kerngeschichte darin ein. Das schicksalhafte Verhängnis der Erzählung wird an vielen Stellen schon früh angedeutet und hält den Leser in Spannung. Geradezu leitmotivisch fungiert dabei die unzuverlässige Taschenuhr, aber auch Begriffe wie Grenze oder Feder kehren ebenfalls ständig wieder. Letztere als kuscheliges Symbol für das heimliche Liebesnest im Lagerschuppen von Bombardons Gänsefedern, aber auch in Form der Uhrenfeder, die dann in dem katharsisartigen, dramatischen Finale eine verhängnisvolle Rolle spielt.

Atmosphärisch dicht evoziert Ernst Weiß in seiner inneren Erzählung von der böhmischen Dorfidylle Lebensumstände und Werte einer «alten, von uns geliebten Welt», wie er sie Stefan Zweig gegenüber genannt hat. In seinem für ihn wenig erfreulichen, prekären Exildasein schafft er damit literarisch ein Gegengewicht zu den sich abzeichnenden Ungeheuerlichkeiten der Nazi-Barbarei, die er früh schon vorausgeahnt hatte. Angesichts der literarischen Qualität dieser geradezu klassisch angelegten Novelle kann man sich nur freuen, dass sie doch noch aufgefunden und veröffentlicht wurde.

Fazit: erfreulich

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Genre: Novelle
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Trutz

Glücklich ist, wer vergisst

Der mit Preisen üppig dekorierte Schriftsteller Christoph Hein erzählt in seinem Roman «Trutz», wie zwei Familien in Deutschland und Russland ins Mahlwerk der Geschichte geraten. Im Vorwort erfahren wir: «In diesen Roman geriet ich aus Versehen oder vielmehr durch eine Bequemlichkeit». Bei einem Vortrag nämlich trifft er zufällig auf Maykl Trutz, der ganz offensichtlich ein phänomenales Gedächtnis hat und aus dem Stehgreif mit seinen gezielten Fragen die Rednerin arg in Verlegenheit bringt. Von dem verblüfften Ich-Erzähler angesprochen, woher er denn seine Detailkenntnisse habe, erklärt er: «Ich habe es irgendwann einmal gelesen. Und was ich gelesen habe, weiß ich. Und wenn ich es aufgeschrieben habe, weiß ich es für alle Zeiten». Von ihm stammt die Geschichte, die hier erzählt wird, und ihm hat der Autor sein Epos auch gewidmet.

Die Mnemonik, die Kunst des Gedächtnistrainings also, zieht sich wie ein roter Faden durch den Plot, der von der Weimarer Republik bis ins neue Jahrtausend hinein insbesondere die verheerenden Auswirkungen der durch Hitler und Stalin, aber auch durch die SED errichteten Diktaturen am Beispiel seiner Protagonisten verdeutlicht. Da ist zunächst Maykls Vater Rainer, der nach der Schule aus seinem kleinen Dorf nach Berlin geht, um dort als Schriftsteller sein Glück zu versuchen. Er schreibt eine kritische Rezension für die «Weltbühne» über die Reise einer Gruppe von Schriftstellern durch die Sowjetunion und hat mit einem kleinen Roman seinen ersten Erfolg, bis plötzlich im «Stahlhelm», dem Kampfblatt der Nazis, eine bösartige Kritik erscheint, der sich alle anderen Zeitschriften geflissentlich anschließen, – er ist als Autor damit vernichtet. Mit seiner Lebensgefährtin, die einer christlichen Gewerkschaft angehört und ebenfalls unter politischen Druck gerät, emigriert er schließlich nach Moskau. Sie bauen sich dort unter großen Mühen ein bescheidenes Leben auf und bekommen 1934 einen Sohn, Maykl.

Bei einer Weihnachtsfeier mit ihrer russischen Freundin lernen sie Waldemar Gejm kennen, Professor für Mathematik und Sprachwissenschaft, der als Pionier der Mnemonik in Russland erfolgreiche Studien betreibt. Selbst sein kleiner Sohn Rem und Maykl werden darin einbezogen, als sie zwei Jahre alt sind, beide machen begeistert mit, die Knirpse profitierten deutlich erkennbar von dem neuartigen Gedächtnistraining. Bis plötzlich beide Familien Opfer der stalinschen Säuberungen werden und man sie unter völlig unhaltbaren Anschuldigungen zur Zwangsarbeit im Osten verurteilt, die beide Elternpaare letztendlich nicht überleben. Auch in der DDR leidet der später nach Deutschland zurückgekehrte Maykl erneut unter politischer Willkür, er trifft Rem schließlich erst nach 48 Jahren wieder, als beide schon pensioniert sind.

Dramaturgisch geschickt erzählt Hein in drei Teilen seine ebenso spannende wie bewegende Geschichte von der oft abstrusen politischen Willkür dieses für das Menschsein eher katastrophalen, rückschrittlichen Jahrhunderts. Wobei er sich einer geradezu «zweckdienlichen», schnörkellos klaren Sprache bedient, die besonders in den lebensechten Dialogen überzeugt. Auch die Verstrickung der beiden Familienschicksale ist glaubwürdig dargestellt. Allerdings hat man all das, wovon berichtet wird, schon anderswo gelesen, sieht man mal von der Mnemonik ab, und es wird leider auch so manches Klischee bemüht. Zuweilen stellt sich – auch durch einige unnötige Wiederholungen – Langeweile ein bei den detailverliebten, aber eben auch ausufernden Schilderungen. Ironie mithin, weil Maykls Verleger im Roman ihn ermahnt, nicht mehr als 150 Seiten zu schreiben bei seinem zweiten Romanprojekt, – Hein selbst braucht 477, Suhrkamp ist da deutlich großzügiger. Und das Couplet «Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist» am Ende von Rems Trauerfeier, das auch den letzten Satz des Romans bildet, den Maykl da vor sich hinträllert, ist geradezu unglaublich kitschig. Schade!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Der Hals der Giraffe

schalansky-1Pathologische Skepsis

Mit ihrem zweiten Roman «Der Hals der Giraffe» hat Judith Schalansky 2011 ein in vielerlei Hinsicht unkonventionelles Prosawerk veröffentlicht. Es ist kein Bildungsroman, auch wenn der Einband aus grobem Leinen dies ironisch behauptet, hier entwickelt sich nämlich nichts, vielmehr wird ein Zustand beschrieben, und zwar aus der sehr speziellen Perspektive einer misanthropischen Biologielehrerin. Die Schule dient der Autorin hier gleichsam als literarisches Biotop, von dem aus sie ihre bis in die Ursuppe zurückreichenden Betrachtungen der Evolution entwickelt.

Die 55jährige Protagonistin arbeitet seit dreißig Jahren als Lehrerin für Biologie und Sport an einem Kleinstadt-Gymnasium in der vorpommernschen Provinz. Ihre Schule wird in vier Jahren geschlossen, die neunte Klasse, in der sie unterrichtet, zählt gerade noch 12 Schüler. Inge Lomarks Unterricht ist streng, als unangreifbare Respektsperson fordert sie ihre Schüler mit einem altmodisch kreidelastigen «Frontalunterricht», für den sie Disziplin als eiserne Grundvoraussetzung ansieht. Überdurchschnittliche Leistungen ihrer Schüler geben ihr insoweit auch recht. Soziale Kompetenz allerdings geht ihr völlig ab, sie scheint zu keiner Empathie fähig, verhielt sich selbst ihrer eigenen Tochter gegenüber im Unterricht als unnahbar und folgte unbeeindruckt ihrem Kodex, als diese einmal gemobbt wurde, – sie ist im Klassenzimmer nicht Mutter, sie ist «Die Lohmark». Kein Wunder also, dass sie heute nur noch selten Kontakt zur Tochter hat, die vor 12 Jahren in die USA ausgewandert ist, und auch ihre Ehe hat sich zu einer reinen Zweckallianz entwickelt. Gefühlskälte allenthalben, das Wort Liebe habe ich, wenn meine Erinnerung nicht trügt, im ganzen Roman nicht einmal gelesen. Und die Heldin, das wird ihr selbst schon bald deutlich, gehört beruflich ja ebenfalls zu einer aussterbenden Spezies.

Aus diesem misanthropischen Handlungskern heraus entwickelt die Autorin in drei mit «Naturhaushalte», «Vererbungsvorgänge» und «Entwicklungslehre» betitelten Abschnitten und auf September, November und März verteilten drei Handlungstagen eine Tour d’Horizon durch die Biologie. Deren Detailreichtum ist ebenso beeindruckend wie die anschaulichen Beispiele, mit denen sie verdeutlicht werden, zuweilen ergänzt durch Zeichnungen, die den Leser an sein Biologiebuch erinnern. Das mag für manchen langweilig sein, etliche Leser allerdings erfahren auf diese Art eine erfreuliche Auffrischung ihres biologischen Wissens, so war es bei mir jedenfalls, – also doch ein Bildungsroman? Nicht als literarischer Terminus! Immer wieder werden hier evolutionäre Phänomene auch zur Deutung des profan Alltäglichen benutzt, streng funktionale Abläufe an der Lebenswirklichkeit gespiegelt, soziales Verhalten eben auch mal evolutionär erklärt, – Darwin allerdings wäre schockiert!

All das wird staubtrocken von einem auktorialen Erzähler präsentiert, sprachlich dem Staub der Schulkreide angepasst und klar gegliedert in kurzen Sätzen aus der Perspektive der miesepeterigen Protagonistin erzählt. Die Figuren sind mit psychologischem Feinsinn glaubwürdig skizziert, ihre Dialoge erscheinen lebensecht. In weiten Teilen dominieren im Roman erzählerisch innerer Monolog und Bewusstseinsstrom, meist in kurzen Satzstummeln. Die atheistische Heldin hat für die Stasi gearbeitet, erfahren wir nebenbei, hat auch mal abgetrieben nach einem Seitensprung, von dem ihr Mann nichts weiß, sie entwickelt sogar ganz gegen ihre Prinzipien eine gewisse Sympathie für eine ihrer Schülerinnen, – mehr aber menschelt es nicht in diesem Roman. Merkwürdig unterkühlt sind auch die Schilderungen der Natur, streng sachlich bleibend und verzückte Schwärmerei strikt ausklammernd. Humor gar fehlt ganz, und die Ironie ist meist diffamierend, sie wirkt eher zynisch. Ich habe den Roman als das verstörende Psychogramm einer starrsinnigen Lehrerin gelesen, deren Skepsis, Schule und Bildung betreffend, fast schon pathologische Züge annimmt.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Außer sich

salzmann-1Пошёл ты!

Die bisher als Dramatikerin bekannte Sasha Marianna Salzmann hat es mit «Außer sich» auf Anhieb ins Finale des Deutschen Buchpreises geschafft, «Ein Debütroman mit großer sprachlicher und dramaturgischer Kraft» hat die Frankfurter Jury ihre Wahl begründet. Begonnen hat die in Wolgograd geborene und 1995 als Zehnjährige mit ihren jüdischen Eltern nach Deutschland emigrierte Schriftstellerin ihren ersten Roman während eines Stipendiums in Istanbul. Die türkische Metropole dient hier als exotischer Schauplatz ihrer Geschichte einer sehr rigorosen Selbstfindung.

Die Zwillinge Alissa und Anton wachsen fast schon symbiotisch aneinanderhängend in prekären Verhältnissen in Moskau auf, sie landen nach der Ausreise zunächst in einem Asylantenheim tief in der deutschen Provinz. Den Eltern gelingt aber ein bescheidener Aufstieg, Alissa beginnt sogar ein Mathematik-Studium in Berlin, das sie dann bald wieder abbricht, weil es sie zu stark am Boxtraining hindert (sic!). Als Anton spurlos verschwindet und nach geraumer Zeit eine Postkarte ohne Text und Absender aus Istanbul eintrifft, beschließt Alissa, ihn dort zu suchen. Dieses Handlungsgerüst dient der Autorin in ihrem vier Generationen umfassenden Epos einer von den politischen Umbrüchen Europas gebeutelten Familie als Basis für weit ausholende Rückblicke auf das Leben der Eltern und Großeltern Alissas. Die Intensität und Schonungslosigkeit dieser familiären Nabelschau auf der einen Seite, die kompromisslose, keine Grenzen kennende Suche nach sich selbst, nach dem Sinn hinter alldem auf der anderen Seite, gerät der Autorin zu einem ebenso verstörenden wie tabulosen Seelenstriptease Alissas.

«Ich bin nicht wie du», sagt sie einmal zu ihrer Mutter, «ich bin kein Tier, das vor sich hin grast und alles hinnimmt, wie es kommt. Ich will nichts von diesem Leben, in dem es alles gibt, aber niemand etwas will. Ich will nichts von diesem Schnickschnack, den ihr für die Erfüllung eures Lebens haltet, weil ihr sonst nichts habt, woran ihr glauben könnt.» Mehr Kapitalismuskritik geht kaum, und so gleitet Alissa tief in ein Istanbuler Milieu ab, das kleinkriminell geprägt ist, eine Schwulen- und Transgender-Szene mit Drogen, Alkohol, Prostitution. Hedonisten unter den Lesern wird viel Geduld abverlangt bei den detailverliebten Schilderungen aus dem schmuddeligen gesellschaftlichen Untergrund, es wird geschwitzt, gestunken, gepisst, gekotzt, gefickt bei endlosen Streifzügen durch vermüllte Abbruchhäuser und Kellerlöcher, die mit verwanzten, verdreckten Matratzen und ohne auch nur minimalistische Hygiene der Heldin als jederzeit von Auflösung bedrohte, improvisierte Bleibe dienen. Und die anarchische Alissa hadert letztendlich auch mit ihrem Geschlecht, sie versucht wie viele in der Szene mit Testosteronspritzen ihren rein körperlichen Sexus dem innerlichen, gefühlten anzugleichen.

Aus Sicht Alissas – mal in der ersten, mal in der dritten Person – erzählt die Autorin ihre Geschichte in einer klaren, unprätentiösen Sprache, teilweise aus einiger Distanz und dann auch wieder sehr nahe bei ihrer Protagonistin. Neben dem im Russischen scheinbar unvermeidlichen Namenswirrwarr, bei dem hier eine vorangestellte Personenliste allerdings darüber aufklärt, dass Etja, Etina und Etinka oder Katho, Katharina und Katüscha jeweils die gleiche Person meint, haben mich die häufigen kyrillischen Einsprengseln irritiert, die fast alle ohne Übersetzung bleiben. Bis auf «verpiss dich!», für das ich dann auf Russisch im Internet eine andere Formulierung fand als im Buch, «Пошёл ты!» nämlich. Was soll das also! Besonders gefallen haben mir die anschaulich erzählten Kapitel über die russischen Großeltern, die ein wenig über Alissas unappetitliche Abenteuer in der Transgender-Szene Istanbuls hinwegtrösten, bei denen mir öfter mal unwillkürlich etwas ähnliches wie Пошёл ты herausgerutscht ist. Ein sperriger Roman also, rätselhaft, hoch komprimiert erzählt zudem, der weitab vom Mainstream angesiedelt ist.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Die Hauptstadt

menasse-1Brüssel oder Auschwitz

Neueste in der langen Reihe von Ehrungen für den österreichischen Schriftsteller Robert Menasse ist der ihm vor drei Tagen verliehene Preis der Frankfurter Buchmesse für den Roman «Die Hauptstadt». Er hat damit den weltweit ersten EU-Roman veröffentlicht, ein Panorama der europäischen Eliten, eine Farce aber auch über die Brüsseler Verhältnisse abseits der Blitzlichtgewitter und rituellen Statements von Spitzenpolitikern, wie man sie aus den Medien kennt. Der europa-politisch engagierte Autor, der sich schon vielfach in Essays und Traktaten mit der europäischen Idee beschäftigt hat, greift hier mit dem Moloch der Brüsseler Bürokratie ein literarisches Thema auf, das in dem schwierigen Fahrwasser, in dem sich die EU derzeit befindet, manchem allein von der guten Absicht her schon preiswürdig erscheinen mag.

«Da läuft ein Schwein». Mit dem ungewöhnlichen Rahmenmotiv eines durch Brüssel irrlichternden Borstenviehs, das im Roman immer wieder mal kurz auftaucht, beginnt Menasse seinen Prolog, sicherlich auch in Hinblick auf die allfälligen Konnotationen. Und wie man bald erfährt, stammt eine seiner Figuren von der EU-Kommission prompt aus dem agrarischen Milieu, sein Bruder betreibt einen Schweinemastbetrieb und ist als Lobbyist in Brüssel aktiv, um von dem gewaltigen Agrar-Etat der Gemeinschaft möglichst viel zu ergattern. Vergleichsweise winzig sind dagegen die Gelder, die Fenia Xenopoulou von der Generaldirektion Kultur zu Verfügung stehen. Sie hat den schwierigen Auftrag, das arg ramponierte Image der Kommission mit einer Feier zu ihrem fünfzigjährigen Bestehen aufzupolieren, – Musils «Parallelaktion» als literarisches Vorbild also! Und sie gewinnt Gefallen an der Idee, dafür Auschwitz heranzuziehen, den Fokus der Gemeinschaft also weg vom kleinteilig Ökonomischen auf das universal Moralische, auf das historische Grauen zu richten, das die Gründungsväter Europas mit ihrem Zusammenrücken ein für alle Mal politisch bannen wollten, nach dem Motto: Nie wieder!

In diversen, fragmentarisch erzählten Handlungssträngen entwickelt Menasse das anschauliche Bild eines engen Geflechts von karrieregeilen Akteuren, die mit- und gegeneinander arbeitend in Think-Tanks nach kreativen Lösungen suchen für die geplante Feier, – oder sie, im Hintergrund und mit geschickten Winkelzügen, schnöde hintertreiben. Der nach außen hin erratische Block der Kommission wird hier zum lebendigen Organismus europäischer Eliten, in dem der Einzelne als das berühmte Rädchen im Getriebe fungiert, sich damit für ein großes Ganzes engagierend. Das im Roman verwendete Insider-Kauderwelsch ist allerdings sehr gewöhnungsbedürftig für den Leser, und die vielen fremdsprachigen Textschnipsel sind ebenfalls nicht gerade leserfreundlich.

Der Plot ist mit einem Mordfall angereichert, dessen spurlose Tilgung aus allen Akten und Datenbanken auf die große Politik hinweist, die Nato ist im Spiel, und da ist alles möglich, es gibt schließlich ja auch noch eine supranationale, vatikanische Killertruppe. Eine der Figuren kommt bei dem Attentat im U-Bahnhof Maelbeek (sic!) ums Leben, und der emeritierte Professor aus einer Nazi-Familie fordert gar in seiner Einführungsrede die Gründung einer neuen europäischen Hauptstadt auf dem Boden von Auschwitz als symbolträchtigem Standort. Das Schwein aber erscheint plötzlich als Hirngespinst einiger überspannter Bewohner Brüssels, das Boulevardblatt lässt ihre hysterisch aufgeblähte Serie daraufhin sang und klanglos in der Versenkung verschwinden. Menasse erzählt seine vielschichtige, zuweilen tief in die Vergangenheit zurückgreifende, turbulente Geschichte durchaus ironisch, er verbindet dabei gekonnt ziemlich disparate Themen miteinander, wobei mir seine überwiegend männlichen Figuren jedoch arg überzeichnet vorkommen. Der große Wurf ist dieser Roman literarisch bestimmt nicht, Buchpreis hin oder her, aber er erweitert den Horizont und ist zudem unterhaltsam, mithin also durchaus bestsellertauglich.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Die Kieferninseln

poschmann-2Clash of Cultures

Die mit vielen Ehrungen überhäufte Schriftstellerin Marion Poschmann ist heuer mit ihrem neuen, dem vierten Roman «Die Kieferninseln» bereits das zweite Mal unter den Finalisten des Deutschen Buchpreises, sie gilt einigen sogar als Favoritin. Wir haben es dabei mit einer federleicht geschriebenen Tragikkomödie zu tun, die in Japan spielt und Witz wie auch Tragik aus dem Zusammenprall zweier unterschiedlicher Kulturen zieht, verkörpert zudem durch zwei einsame Protagonisten, wie sie konträrer nicht sein könnten.

«Er hatte geträumt, dass seine Frau ihn betrügt», lautet der erste Satz des Romans. Privatdozent Gilbert Silvester, Kulturwissenschaftler ohne Fortune, der im Rahmen eines Drittmittelprojekts über Bartfrisuren forscht, ist auch am selben Abend noch fest von ihrer Schuld überzeugt und stellt sie zur Rede. Es kommt zum Streit, wütend rafft er ein paar Sachen zusammen, verlässt das Haus und fährt zum Flughafen. Auf Seite zwei schon sitzt er in einem Airbus nach Tokyo, es war der früheste Interkontinentalflug, den er buchen konnte. Als er in der japanischen Metropole ziellos herumstreift, bemerkt er auf einem Bahnhof einen jungen Mann, der offensichtlich Suizid begehen will. Er bringt ihn davon ab, indem er ihm klar macht, wie vulgär doch ein Bahnhof sei für sein Vorhaben. «Wir finden einen besseren Platz», verspricht Gilbert und nimmt den Petrochemie-Studenten Yosa Tamagotchi, der trotz ordentlicher Noten unter extremer Prüfungsangst leidet, mit in sein Hotel.

Indem die Autorin ihrem Protagonisten den Namen jenes virtuellen Kückens gibt, das Ende der neunziger Jahre weltweit einen kurzzeitigen Hype ausgelöst hatte, betont und verdeutlicht sie dessen Hilfsbedürftigkeit. Gilbert entdeckt den Samariter in sich, er will Yosa helfen, einen würdigen Ort für seinen Suizid zu finden. Gemeinsam begeben sie sich auf den Spuren des berühmten japanischen Haiku-Dichters Matsuo Bashō an jene mystischen Orte, die er auf seiner legendären Pilgerreise Ende des 17ten Jahrhunderts besucht hatte und deren Endpunkt damals die Bucht von Matsushima war, – die Kieferninseln, einer der schönsten Orte Japans. Der gemeinsame Trip ist natürlich geprägt vom erwartbaren Clash of Cultures, den die Autorin geschickt einwebt in ihre leichtfüßig, zuweilen auch lakonisch erzählte Geschichte. Entsetzt merkt Kaffeetrinker Gilbert zum Beispiel erst im Flugzeug, dass Japan ja zu den Teenationen gehört. Und dass es dort ethnisch bedingt auch kaum Bartträger gibt, also keine für seine Studien verwertbare Bartkultur, – auch Yosa hat nur ein dünnes Ziegenbärtchen, und auch das ist nur angeklebt, wie sich später herausstellt. Und wenn sich ein Zugschaffner bei Gilbert für dreißig Sekunden Verspätung entschuldigt, erscheint ihm als Kunden der Deutschen Bundesbahn das schon fast überirdisch.

Die Geschichte wird zu weiten Teilen in Form der inneren Rede aus der Perspektive Gilberts erzählt, ein echter Gedankenaustausch zwischen den beiden einsamen Männern scheitert an den englischen Sprachkenntnissen Yosas. Es gibt zudem keine markanten Nebenfiguren im Roman, alles ist nebelhaft und unbestimmt, auch Gilberts Frau und Yosas Familie bleiben völlig profillos. Wahrhaft irrwitzig ist die Szene im Selbstmordwald Aokigahara am Fuße des Fuji, den Umweltschützer einmal im Jahr von verwesten Leichen säubern, 102 Tote waren es im Jahre 2003, – auch hier übrigens ein literarischer Nachahmeffekt wie bei Goethes Werther. Es gelingt der Autorin mühelos, die schon fast hysterische Naturliebe der Japaner poetisch umzusetzen, ihr Held Gilbert ist am Ende tief in die japanische Mentalität mit ihren strengen Ritualen eingetaucht, wovon insbesondere die Haiku zeugen, die er eifrig verfasst bei seiner roadtripartigen Sinnsuche. Ein pikaresker Roman, morbide zugleich und damit auch irritierend, der unbestimmt zwischen Traum und Wirklichkeit pendelt, in der zweiten Hälfte dann leider einiges von seinem Esprit verliert, das Ende aber immerhin wohltuend offen lässt.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main