Die Unschärfe der Welt

In ihrem vierten Roman «Die Unschärfe der Welt» erzählt die aus Siebenbürgen stammende Schriftstellerin Iris Wolff auf gerade mal zweihundert Seiten die vier Generationen umfassende Geschichte einer Familie, deren starke Bindungskräfte die Zeiten überdauern. Bereits der Buchtitel kündet ein narratives Verfahren an, das vieles nur andeutet und in ‹Unschärfe› belässt, während ‹Welt› andererseits auf ein breit gestreutes Themenspektrum verweist. Mit einer wunderbar bilderstarken Sprache gelingt dieser literarische Spagat auf beeindruckende Weise, der Autorin verleiht ihrem Text damit etwas geradezu poetisch Schwebendes. Erinnerung sei «ein Raum mit wandernden Türen», heißt es im Roman dazu.

Es beginnt gleich dramatisch. Die schwangere Frau des Pfarrers einer dörflichen Gemeinde im rumänischen Banat, die beinahe ihr Kind verliert, wird mit der Kutsche eiligst ins nächste Krankenhaus gefahren. Dort verdächtigt man sie zunächst mal, eine in Rumänien strafbare Abtreibung eingeleitet zu haben, nichts jedoch liegt ihr ferner als das. Wochen später bringt sie schließlich dann Samuel zur Welt, der auch die folgenden sechs Episoden als rätselhafte Figur lose miteinander verbindet. Samuels Großmutter gehört als Tochter aus reichem Hause zu den ewiggestrigen Monarchisten, die sich sehnlich den rumänischen König zurückwünschen, sie wird sich mit dem verhassten Sozialismus niemals abfinden können. Hannes, der glückliche Vater, als evangelischer Seelsorger dazu verdonnert, die Gastfreiheit katholischer Klöster in seinem Pfarrhaus weiterzuführen, muss sich nach der Beherbergung zweier schwuler Lehrer aus der DDR bei der verhassten Securitate verpflichten, künftig Berichte über seine jeweiligen Gäste abzuliefern. Es ist ein bunter Reigen von Figuren aus der Familie und ihrem Umfeld, über die da, vor dem Hintergrund sich wandelnder politischer Verhältnisse, von den sechziger Jahren an bis in die Umbruchjahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs berichtet wird. Die Liebe spielt dabei eine wichtige Rolle, auch die zwischen Männern, Freundschaften zerbrechen, tragische Unfälle ereignen sich. Religion, Krankheit und Tod sind ebenfalls Themen, die die Menschen permanent beschäftigen. Aber auch ein Husarenstück wie die Flucht nach Österreich in einem gestohlenen Agrarflugzeug wird erzählt.

Immer wieder sind stimmig die verschiedensten Symbole in diese Geschichte eingebaut, wird mit Metaphern verdeutlicht und komprimiert zugleich. Von der Suche nach Glück wird berichtet, welches oft in der Natur zu finden sei, aber auch im friedlichen Miteinander bescheidener, genügsamer Menschen und im unverdrossenen Neubeginn nach Enttäuschungen und Verlusten. Die ethnische Vielfalt und Vielsprachigkeit bildet dabei kein Hindernis, selbst bei Familienfeiern unterhält man sich oft wie selbstverständlich in drei verschiedenen Sprachen. Auf die Frage, wer denn in dem kleinen Dorf, in dem es «mehr Schafe als Einwohner gibt», heute noch eine einheimischer Suppe zu kochen vermag, fragt die Pfarrersfrau schnippisch zurück: «Was meinst du mit einheimisch? Schwäbisch, slowakisch, ungarisch, rumänisch, tschechisch, jüdisch oder vielleicht serbisch»? Amüsant ist auch ein Intermezzo in einer Buchhandlung, in der ein dort beschäftigter, ehemaliger Lehrer nur das Lesen von gekauften Büchern statthaft findet: «Geliehene Bücher zu lesen war wie Sex mit angelassenen Klamotten» lautete seine Erkenntnis.

Vieles wird nur angedeutet in diesem komplexen Plot, dessen Prinzip die extreme Komprimierung ist, Iris Wolff vermeidet konsequent jede Vertiefung des historischen Geschehens, Stichworte dazu müssen reichen. Ein sprachliches Kennzeichen dafür sind unter anderem die kurzen Sätze, die den Text flüssig lesbar machen und ihn zuweilen geradezu musikalisch schwingend erscheinen lassen. Bei alldem muss der Leser ständig wachsam sein, um nachvollziehen zu können, wie die einzelnen Episoden zusammenhängen, worauf das alles denn hinausläuft in diesem leisen Roman.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Der englische Gärtner

Der englische Gärtner

Im letzten Frühling erschien in der ZEIT Literaturbeilage ein Interview mit dem Autor: Es fand in Oxford statt, wo er über Jahrzehnte die Gartenanlage einer Universität gestaltet hatte. Im Hauptberuf war er Antikenforscher mit dem Schwerpunkt Griechenland, und nebenbei hatte er mehr als vier Jahrzehnte lang eine Gartenkolumne für die Financial Times geschrieben. Wie die von mir so geschätzte Vita Sackville-West, die er auch als Vorbild bezeichnet. Das Interview führte Susanne Mayer.

Aus dem Fundus der Kolumnen hatte Fox 2010 für das Buch Thoughtful Gardening, Great Plants, Great Gardens, Great Gardeners mehrere Dutzend ausgewählt, und sie (so wie Vita) nach Jahreszeiten geordnet. In den Texten legt er Wert darauf, thoughtful zu gärtnern, was die Übersetzerin meist durch besonnen übersetzt. Nun kommt das Problem: in vielen Texten gibt er sich gänzlich unbesonnen, mal wie ein Pubertist, der gerne polarisiert. Von Besonnenheit, Nachdenklichkeit oder gar Altersweisheit keine Spur.

Da besucht er die Firma Bayer und schwärmt von Herbiziden, klagt darüber, dass die richtig starken Keulen uns Gärtnern verwehrt bleiben, nur die Landwirtschaft darf sie anwenden. Er bekämpft mit unverschämter Freude die Tiere, die ihn im Garten stören. Es half, mir einzureden, wer die Financial Times liest, bräuchte das so. Ich kenne niemanden, der oder die sie regelmäßig liest, stelle mir als Leser erfolgreiche Banker und Manager vor, oder solche, die es gerne wären.

Aber trotzdem hab ich weitergelesen: Wir ziehen mit einem älteren Herrn in die Vergangenheit, besuchen Stätten der Antike und sehen, wie es den Pflanzen heute dort geht. Wir reisen durch die Welt und entdecken den Garten einer ehemaligen thailändischen Prinzessin in Thailand, wandern entlang der blühenden Kirschen in Korea, reiten durch die kirgisische Steppe auf der Suche nach den schönsten Krokussen. Besonders freue ich mich, wenn er Parks beschreibt, die ich kenne und durch sein großes Wissen meine Erinnerungen runder werden.

Von vielen Pflanzen, die ich im Garten hab, weiß ich nun, ob sie es sauer oder kalkreich mögen, dass man Kaiserkronen gaaanz tief einbuddeln und regelmäßig düngen muss, wenn sie wieder blühen sollen. Ansteckend ist auch die Liebe zum Säen und Vermehren. Gärten atmen den Hauch der Ewigkeit, und er lässt ihn uns spüren.

Warnen muss ich allerdings doch vor seiner Geringschätzung Frauen gegenüber. Da kann man kaum glauben, dass er aus meiner Generation ist. Über sein Frauenbild hat er seit der Internatszeit in Eton offensichtlich noch nicht neu nachgedacht. Er ist eher wie mein Großvater, selbst mein Vater, auch ein Internatsschüler, war da schon weiter.

Es sind Belanglosigkeiten, aber auch Verstörendes. Einige Beispiele: Ein bekannter englischer Gärtner weiß, dass „Frauen kein Auge für den Mittelgrund des Gartens haben“ und wird für diese Beobachtung als gradlinig gelobt. Richtig dumpfbackig sind die Kapitel Rüsslerinnen an der Macht und aggressiv wird er in Ladykiller.

Fast um die Fassung brachte mich der schlüpfrige Bericht über Blumen im Leben der Lady Chatterly. Dieses „erotische Meisterwerk“ wurde von einem Mann geschrieben, D.H.Lawrence. Dabei machte dieser einen gärtnerischen Fehler, in dem er die Lady und ihre Haushälterin im Frühling Akeleien einpflanzen lässt, die im Sommer blühen sollen. Nun weiß man, dass Akeleien im Juni mit dem Blühen aufhören. Beim Legen der Wurzeln haben die Frauen erotische Gefühle, sie „spüren, wie ihr Schoß vor Glück bebte.“ Fox flicht dagegen ein, er hätte so was nie gehabt.

Diese von einem Mann phantasierte Geschichte, turnt ihn so sehr an, dass er immer, wenn Frauen sich selbst als leidenschaftliche Gärtnerinnen bezeichnen, an diese Literaturstelle denken muss. Wenn sie wenigstens eine Frau geschrieben hätte … wäre sie immer noch nicht fair gegenüber der Gärtnerin.

Beim Lesen fragte ich mich immer öfter, warum Susanne Mayer auf diese Frauenverachtung nicht eingeht. In der ZEIT hat sie eine Kolumne, die sich kritisch mit männlichen Eigenarten befasst. So etwas ließe sie Männern da nicht durchgehen. Ich guckte mir das Interview noch einmal an. Chapeau! Sie geht darin gar nicht auf das Buch ein, sondern plaudert mit ihm über seine Biographie. Geschickt gemacht. Ich bin fast dankbar, dass sie nur über Schönes sprach. Sonst wüsste ich immer noch nicht, dass ich den Schneeball kalken und die Zaubernuss sauer halten muss.

Ältere Gärtnerinnen, mit oder ohne Leidenschaft, die auch einem Zausel gern zuhören, wenn er Interessantes zu erzählen hat, können sich auf die Lektüre freuen. Gärtner natürlich auch.

Leseprobe


Genre: Garten, Pflanzen, Sachbuch
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Risiko

Es lebe der Zufall

Mit dem Namen eines auf Clausewitz zurückgehenden, militärischen Strategiespiels deutet der Roman «Risiko» von Steffen Kopetzky auf sein Thema hin. Es handelt sich um die wie ein Hasardspiel anmutende Afghanistan-Expedition der Mittelmächte Deutschland und Österreich zu Beginn des Ersten Weltkriegs, die es als ‹Niedermayer-Hentig-Expedition› tatsächlich gegeben hat. Angeregt dazu wurde der Autor, wie er im Interview erklärte, durch das Buch «East of Constantinople» von Peter Hopkins, in dem er ein Foto von Oskar von Niedermayer in Kabul entdeckte, der darauf aussah «wie aus einem Karl-May-Roman entsprungen». Das reale historische Geschehen ist hier fiktional angereichert zu einem dickleibigen Abenteuerroman, der vor allem durch seine Gutmenschen und sein Draufgängertum an den mit Abstand auflagestärksten deutschen Schriftsteller aller Zeiten erinnert, Kara Ben Nemsi lässt grüßen!

Als junger, aus München stammender Marinefunker erlebt Sebastian Stichnote den Kriegsbeginn im Mittelmeer auf dem Kleinen Kreuzer ‹Bremen›, der vor der britischen Übermacht nach Konstantinopel fliehen muss und dort umgeflaggt in die Kriegsmarine der neutralen Türkei eingegliedert wird. Der technisch gewiefte Funker schließt sich daraufhin einer geheimen Expedition nach Kabul an, deren Ziel es ist, den Emir von Afghanistan zum Kriegseintritt gegen die Engländer zu bewegen. Im Ringen um die Vorherrschaft der Großmächte in Zentralasien geht der in Berlin ausgeheckte Plan davon aus, man könne die islamischen Völker dort zum Dschihad aufhetzen, zum Heiligen Krieg, um dadurch endlich die Vormacht der Briten zu brechen. Die 5000 Kilometer lange Reise der anfangs knapp hundertköpfigen Expedition führt sie vom Bosporus zunächst mit der Eisenbahn quer durch das Osmanische Reich über Aleppo nach Bagdad und von dort als Karawane über Isfahan und durch die Kewir-Wüste in Persien an den Hindukusch, nach Kabul.

Stichnote als Held der Geschichte ist der unangefochtene Großmeister des als Metapher für den gesamten Roman dienenden, militärischen Strategiespiels um die Weltherrschaft. Im Laufe der Expedition muss er seine schweren Funkgeräte zurücklassen und auf seine Brieftauben zurückgreifen, mit denen er Berichte an die zurückgebliebene Etappe schickt. Bei seinem im Prolog geschilderten Mordanschlag fungiert ein von ihm aufgelassener, weißer Jagdfalke als Startsignal. Man merkt dem Roman an solchen Details eine sorgfältige, umfassende Recherchearbeit an, deren Ergebnisse in dieses überreiche narrative Gemenge aus Fakten und Fiktion einfließen. «Risiko» enthält alle Zutaten für einen unterhaltsamen Roman, zu denen hier zuvorderst natürlich die Abenteuerlust gehört. Aber auch Verrat, Missgunst, Kameradschaft, Strapazen, Rückschläge, Beinahe-Katastrophen, Kämpfe und unzählige andere Ereignisse gehören zu diesem üppigen Erzählkosmos. Wirklich ganz am Rande dieser ansonsten ziemlich alkoholseligen, archetypischen Männerwelt, als geschickt eingebaute, erzählerische Klammer lediglich, gehört sogar die Liebe dazu. Sie führt denn auch prompt zu einem im Epilog verschämt angedeuteten, kitschigen Ende, – an den großen Kollegen aus Radebeul erinnernd.

Es hätte diesem Roman wirklich nicht geschadet, die maritime erste Hälfte einfach ganz wegzulassen und sich auf die Expedition als den eigentlichen Erzählstoff zu beschränken, für den es ja eine interessante historische Vorlage gibt. Sprachlich überzeugend ohne Schnörkel wird hier eine Geschichte erzählt, deren üppiger Plot sich in hemmungsloser Phantasie von Abenteuer zu Abenteuer stürzt und dabei ungeniert von den unwahrscheinlichsten Zufällen lebt. Ungebremst mäandernd muss hier selbst das allerkleinste Detail dann unbedingt auch noch erzählt werden, – vieles von dieser stofflichen Überfülle aber ist einfach nur störender, manchmal sogar ärgerlicher Ballast! Abenteuer liebende Leser werden ihren Spaß haben an diesem Roman, andere hingegen werden sich ziemlich langweilen oder entnervt abbrechen!

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Das Schöne, Schäbige, Schwankende

Konglomerat literarischer Vignetten

Die Schriftstellerin Brigitte Kronauer hat ihr kürzlich erschienenes Werk «Das Schöne, Schäbige, Schwankende» erst kurz vor ihrem Tod fertig gestellt, es trägt die eigenwillige Genrebezeichnung «Romangeschichten». Schon als Schülerin hat sie angefangen zu schreiben, später dann als Deutschlehrerin gearbeitet, ehe 1980 der erste Roman der damals Vierzigjährigen erschien. Ohne Zweifel gehört die Büchner-Preisträgerin zu den herausragenden deutschen Schriftstellern unserer Zeit, viele, auch ich, schätzen sie als deren wortmächtigste ein. Ihre unbeirrt zum Credo erhobene Erkenntnis von der Ambivalenz der Dinge beherrscht auch den vorliegenden Band. Gegensätze seien nun mal die Würze in der Literatur, hat sie dazu erklärt, sie erst würden ermöglichen, viel dichter an die Wirklichkeit heranzukommen, denn man dürfe sich das intensive Erleben nicht nehmen lassen. Genau das ist ihr hier in ihrer geradezu als Vermächtnis anmutenden Sammlung von Geschichten wahrlich gelungen.

Die Autorin schildert in einem vorwortartig kurzen, ersten Kapitel ihr Vorhaben, in ihrem Romanprojekt über Menschen zu schreiben, Freunde, flüchtige und alte Bekannte. Das Manuskript trug den Arbeitstitel ‹Glamouröse Handlungen›, «der ein bisschen aggressiv gemeint war, denn solange ich veröffentliche, hat man mir vorgeworfen, mal grob, mal mit sanftem Kopfschütteln, vom sogenannten Plot nichts zu verstehen. Im Klartext heißt das, man unterstellt mir narrative Impotenz. Weiß ich etwa nicht, dass die Welt von sogenannten Handlungen  und Ereignissen zwischen Mikro- und Makrokosmos geradezu birst und Heerscharen von Autoren ihnen nachhetzen auf Teufel komm raus? Ich hoffte, diesmal den Stier nach meinem Gusto bei den Hörnern packen zu können. Irgendwelche Leute sollten sich schwer wundern». Und sie schreibt weiter: «Neununddreißig Porträts sollten zu je dreizehn nach Kategorien geordnet werden. Sie lauteten: ‹Das Schöne, das Schäbige, das Schwankende›». Die Schäbigen würden in einen stetigen Fall geraten ins immer Unerfreulichere, erläutert sie ihre geplante Vorgehensweise, bei den Schönen würde sich der Aufstieg zur lichten Offenbarung erst allmählich abzeichnen, die Schwankenden sollten «… unentschieden anfangen, dann zu einem glänzenden Moment aufsteigen und von dort aus wieder absinkend, in der Weise gezähmt, wie sie es jeweils verdienen».

Im zweiten und dritten der fünf Kapitel werden kurze Figurenporträts aus verschiedenen sozialen Gruppen skizziert, die in einem weiten Bogen über diverse Milieus hinweg psychologisch feinsinnig über Alltägliches ebenso berichten wie über Kunst und Natur. Formal kühn entstehen so äußerst kunstvolle narrative Vignetten, in denen bildhaft diverse solitäre Individuen auftreten, die sich allmählich zu einem polyphonen Wortgemälde fügen. Die beiden folgenden, weit umfangreicheren Kapitel handeln vom schwankenden Schicksal einer lebenslustigen, schönen jungen Frau sowie vom ebenso schwankenden, insgesamt aber eher behaglichen letzten Lebensabschnitts eines Literatur-Professors, der sich als schwärmerischer Bewunderer des berühmten Renaissance-Malers Matthias Grünewald erweist. Über dessen Isenheimer Altar wird in der letzten Geschichte immer wieder aufs Neue und bis ins allerkleinste Detail berichtet, der 92jährige Ich-Erzähler findet kein Ende in seiner schier grenzenlosen Verehrung.

Selbstironisch, spöttisch, geradezu übermütig bekennt Brigitte Kronauer im ersten, dem unverkennbar autobiografischen Kapitel, dass sie an ihrem streng geplanten Romanprojekt letztendlich gescheitert sei, «alles verlor den sortierenden Halt». Und so ist denn auch diese Geschichten-Sammlung ein undurchschaubares Konglomerat literarischer Vignetten und Kurzgeschichten geworden. Genau das aber ist als wortmächtiges Sprachkunstwerk mit einem kunterbunten Ensemble stimmig beschriebener, lebensechter Figuren, die viele Formen und Varianten menschlichen Daseins abbilden, unbedingt zur Lektüre zu empfehlen.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Das flüssige Land

Schwarze Löcher als Metapher

Mit ihrem Roman-Debüt «Das flüssige Land» hatte Raphaela Edelbauer schon 2018 den Publikumspreis in Klagenfurt erhalten, nun kam sie damit sehr zu recht auf die Shortlist des diesjährigen Frankfurter Buchpreises. Als Jurymitglied hätte ich eher für sie als Preisträgerin gestimmt, aber das Migrations-Thema ist derzeit wohl gar zu übermächtig und verspricht wohl weit höhere Auflagen als ein surrealer Roman, auch wenn der literarisch besser gelungen erscheint und zudem deutlich unterhaltsamer ist.

Die 35jährige Wiener Physikerin Ruth steht kurz vor ihrer Habilitation, als sie die Nachricht erhält, ihre Eltern seien beide bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen. Deren schriftlich hinterlassener Wunsch, im Ort ihrer Kindheit beerdigt zu werden, bereitet der Ich-Erzählerin nun aber große Probleme, denn Groß-Einland ist nirgendwo in Österreich verzeichnet, obwohl doch ihre Eltern ihr viel erzählt hatten von ihrem früheren Leben dort. Irritiert macht sie sich mit dem Auto auf den Weg in die Gegend, wo nach den Erzählungen der Ort eigentlich liegen müsste. Und tatsächlich sieht sie nach tagelanger vergeblicher Suche, bei der ihr niemand irgendeinen Hinweis geben konnte, weil keiner je von diesem Ort gehört hat, im Vorbeifahren an einer Nebenstrasse plötzlich ein verwittertes Schild «Groß-Einland». Auf einem Feldweg, der irgendwann nur noch über Stock und Stein mitten durch den Wald führt, gelangt sie mit ihrem dadurch total ramponierten, werkstattreifen Auto tatsächlich in den Ort, den niemand kennt. Es stellt sich bald heraus, dass Groß-Einland auf einem riesigen Hohlraum steht, den ein ehemaliges Bergwerk hinterlassen hat. Dieses gewaltige Loch im Untergrund bewirkt ständige Erdabsenkungen, die gefährliche Schäden an den Häusern anrichten, manche sind schon unbewohnbar. Merkwürdig ist allerdings, dass die Bewohner kaum Notiz davon nehmen, die ständig auftretenden und immer breiter werdenden Risse werden einfach zugespachtelt, niemand verliert ein Wort darüber.

In diesem Szenarium stößt Ruth bei den Vorbereitungen für die Beerdigung der Eltern auf Einwohner, die sie zwar freundlich aufnehmen, die aber allesamt seltsam verschlossen sind und ihren Fragen ausweichen. Je tiefer sie in die eigene Familiengeschichte einzudringen versucht, desto verwirrender wird sie. Ruth beschließt, neugierig geworden, länger als geplant zu bleiben und die geheimnisvollen Hintergründe aufzudecken. In einer an Kafka erinnernden, surrealen Geschichte eines merkwürdigen Ortes gerät die Protagonistin immer tiefer hinein in die rätselhaften Strukturen der Einwohnerschaft, die von einer geheimnisvollen, alles beherrschenden Gräfin regiert wird. Ruth nimmt schließlich sogar deren Auftrag an, eine Lösung für das «Loch» zu finden, obwohl sie als theoretische Physikerin dazu überhaupt nicht qualifiziert ist. Die Habilitation rückt völlig in den Hintergrund, so sehr nimmt sie ihre Recherche in Anspruch, sie vermutet nämlich einen Massenmord der Nazis hinter dem hartnäckigen Schweigen der Bewohner, den sie partout aufdecken will. Und aus den paar Tagen, die sie ursprünglich zu bleiben gedachte, werden schließlich drei Jahre, in denen sie dieser merkwürdigen, kollektiven Verdrängung nachspürt!

Listig führt die kreative Autorin im Stil der unzuverlässigen Erzählerin den zunächst arglosen Leser, sprachlich souverän, ständig auf falsche Spuren. Sie brennt dabei ein wahres Feuerwerk ab an skurrilen Einfällen, die sie zuweilen mit komplizierten physikalischen Anmerkungen garniert, was dem surrealen Plot einen realistischen Anstrich gibt. Die Figuren erscheinen allesamt sympathisch, Landschaft und Ort sind bilderbuchartig als idyllisch beschrieben, womit das Thema Heimat als eine weitere falsche Fährte gelegt ist. So steht in dieser parabelhaften Traumwelt den Schwarzen Löchern der Astrophysik das mysteriöse «Loch» in Groß-Einland gegenüber als Metapher für ein auf schwankendem Boden errichtetes soziales Gefüge.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Roman ohne Held

Konzeptionell danebengelungen

Die Lektüre des Buches von Ulrike Kolb mit dem deskriptiven Titel «Roman ohne Held» verblüfft den Leser gleich zu Beginn. Denn da wird detailliert – aus der Perspektive eines Ertrinkenden – dessen Ertrinken geschildert, werden geradezu minutiös alle medizinischen Phasen des Sterbeprozesses aufgezählt bis zum endgültigen Exitus. Und ganz offensichtlich, so merkt der erstaunte Leser, soll es so weitergehen mit dem toten Ich-Erzähler, er berichtet wie in einem medizinischen Lehrbuch von den vergeblichen Versuchen zur Wiederbelebung ebenso wie von der nachfolgenden Obduktion seines Körpers in der Pathologie. Eine anatomische Lehrstunde geradezu, man fühlt sich wie ein junger Medizinstudent, – von denen der eine oder andere zartbesaitete genau da ja schon mal weiche Knie bekommt und dann doch lieber Jura studiert. Es ist diese irritierende narrative Sichtweise aus dem Jenseits, die sehr geschickt einen starken Sog zum Weiterlesen erzeugt.

Nach dem Tod wird denn auch gleich die schwere Geburt des namenlos bleibenden Ich-Erzählers geschildert, genau so medizinisch detailliert, nur dass hier ein psychologisches Element hinzukommt, die Mutter wünscht dem hässlichen Säugling, der zunächst kein Lebenszeichen von sich gibt, den Tod, die Hebamme solle ihn einfach ans offene Fenster legen, damit seine kaum vorhandenen Lebensgeister sich wegen der Kälte nicht entfalten. Aber dann kommt doch noch der befreiende erste Schrei des Neugeborenen, und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Denn was wir im Folgenden lesen ist die Geschichte eines von Geburt an unter seiner Zurückweisung leidenden Mannes, den die Welt geradezu anekelt, der in allem nur das Schlechte sieht. Immer wieder wird seine lebenslängliche, unheilvolle Getriebenheit auf dieses eine elementare Ereignis seiner frustrierenden Geburt zurückgeführt. Wobei sein fataler Urschmerz meist durch Gerüche ausgelöst wird, Schweiß, Eiter, Erbrochenes, Menstruationsblut, Kot und Urin bewirken zwanghaft Ekelgefühle bei ihm. Und sein eigener «Seelengestank» hindert ihn am Atmen, der «Pesthauch meines Selbst», sagt er.

Leider hat sich Ulrike Kolb mit ihrer kreativen Idee vom Erzählen aus dem Totenreich heraus gründlich verhoben, denn sie kann diese außergewöhnliche Perspektive nicht durchhalten und wechselt zunehmend in die Sicht der Tochter des Toten, die sich imaginativ die Lebenserinnerungen des Vaters aneignet: «Indem sie sich vorstellt, ich wäre derjenige, der schreibt», liest man da, «lässt sie Szenen des Lebens aufleuchten, die der Lebende vergessen hat, um sie in die Kellerverliese seiner Seele herabzupressen.» Und dieses Leben ist vom Chaos geprägt, familiär hinterlässt der – ja nun doch vorhandene – «Held» nur Trümmer, er ist geschieden, der Sohn und die Tochter haben sich von ihm abgewandt, seine Mätresse nimmt ihn finanziell aus nach Strich und Faden, er hat keine Freunde und vagabundiert einsam durch die Welt. Das ererbte Vermögen hat er durch obskure Geschäfte vervielfacht, dann aber auch wieder verloren oder so raffiniert versteckt, dass es sogar für ihn selbst am Ende großenteils nicht mehr auffindbar ist, zum Teil auf Nummernkonten schlummert, deren Nummern er vergessen hat. Zudem wird er auch noch von skrupellosen Vermögensberatern betrogen, es bleibt kaum etwas übrig vom einst so eifrig zusammengerafften Mammon, als schließlich der Sarg ins Grab gesenkt wird.

Schlüssig ist all das nicht, weder familiäres und finanzielles Chaos noch die traumatischen Kriegserlebnisse in Babyn Jar oder die sadomasochistischen Anwandlungen des fiesen Helden, für den Perversion, Gewalt und Sex untrennbar zusammengehören. Der erzählerische Schwerpunkt liegt schon fast penetrant auf der schieren Körperlichkeit, während die psychologischen Aspekte allzu klischeehaft und unmotiviert aneinander gereiht werden. Auch wenn manches dabei gut erzählt wird, so ist der Roman als Ganzes konzeptionell doch gründlich danebengelungen!

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de

 


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Das Singen der Sirenen

Literarisch ein Solitär

Mit dem Roman «Das Singen der Sirenen» gelang Michael Wildenhain eine überzeugende Synthese aus Inhalt und Stil, aus zeitaktueller Themenvielfalt und bravourös variierter Sprache. Wobei eines seiner Themen schon im Titel anklingt, ist doch der Protagonist wie Odysseus den Verlockungen der Sirenen ausgesetzt, – nur dass niemand den Romanhelden an den Mast bindet. Ein Liebesroman also? Mitnichten! Der Autor hat als ehemaliger Hausbesetzer und Linker soziale, politische, ethische und ökonomische Themen eingebunden in seinen Plot, der zeitlich im Jahre 2010 angesiedelt ist.

Dr. Jörg Krippen, Literaturwissenschaftler, Dramatiker und Frankenstein-Spezialist, wird als Gastdozent nach London eingeladen. Ein willkommener Job, denn eine Karriere als Wissenschaftler hat er längst verpasst, er lebt in prekären Verhältnissen mit Frau und fünfzehnjährigem Sohn Leon in einem Plattenbau in Berlin-Hellersdorf. Sabrina arbeitet als Lageristin, beide waren aktive Mitglieder einer militanten Antifa-Gruppe, haben sich aber aus Angst vor Vergeltung in ein unauffälliges Privatleben zurückgezogen, nachdem die beinharte, prollige Sabrina bei einem Überfall einen Neonazi angeschossen hatte. Auf dem Campus in London trifft Krippen auf Mae, eine an ihrer Promotion arbeitende, deutlich jüngere und überaus attraktive Stammzellen-Forscherin indischer Herkunft, die schon bald seine Geliebte wird. Und ihm dann überraschend seinen elfjährigen, unehelichen Sohn Raji präsentiert, Ergebnis eines Seitensprungs mit ihrer älteren Schwester. Ein Gentest bestätigt seine Vaterschaft, ergibt aber als unerwartetes Nebenergebnis, dass er nicht der Vater von Leon ist.

Der Erzählstoff kreist um polarisierende Themen, die akademische Rivalität zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zum Beispiel, oder gebildete Geliebte und proletenhafte Ehefrau, sexuell beglückende Liebe und unerwünschte Fortpflanzung, er lebt aber auch vom kulturellen Kontrast zwischen westlichem und östlichem, hier indischem Lebensstil, – selbst Pegida wird thematisiert. Die beiden Söhne Raji und Leon könnten unterschiedlicher nicht sein, draufgängerischer Rugbyspieler und Schachgenie der eine, untalentierter Fußballer der andere. Natürlich spart Wildenhain als Linker auch nicht mit Kapitalismuskritik, personifiziert hier durch den Cousin von Mae, der viel Geld verdient, ohne dass wirklich klar wird, womit, während Jörg als Dramatiker auf Hartz 4 angewiesen wäre ohne seine Gastdozentur. Der antriebslose Protagonist, ein typischer Looser, übt eine unerklärliche Anziehungskraft auf Frauen aus, dem auch die «schöne Russin» erlegen ist, Regisseurin eines seiner erfolglosen Bühnenwerke. Als Liebhaber bringt er Frau und Geliebte im Bett gleichermaßen zum Stöhnen, der Sex wird jedoch niemals vulgär erzählt, sondern ausgesprochen dezent, eher beiläufig, erwähnt. Erzählerisches Meisterstück ist der Kuss im 49ten, dem vorletzten Kapitel: «Es ist ein Kuss, der, wie Alice Munro es ausdrückt, ein Ereignis für sich ist», der Abschiedskuss von Mae nämlich, nachdem er sich endgültig zur Rückkehr nach Deutschland entschieden hat. «Denk nach, Jörg Krippen, geh in dich, horche in dich hinein, weißt du, wogegen du dich entscheidest?» sagt die Erzählerstimme, als er Mae im Arm hält. Grandios, diese knapp zwei Seiten!

Wildenhain jongliert sprachlich virtuos mit verschiedenen Stilen, variiert sie stimmig und szenensynchron nach Erzählsträngen, wechselt perspektivisch von der Ich- zur Er-Erzählform oder auch zur Du-Form und deutet, kursiv gesetzt, am Ende als auktorialer Erzähler sehr berührend das weitere Schicksal seiner Figuren an. Seine bilderreiche Sprache ist komplex, changiert von stakkatoartigen Wortfetzen zu ambitionierten Satzgebilden, vom Gassenjargon bis zur fein ziselierten Hochsprache. Ich habe in der deutschen Gegenwartsliteratur schon lange nichts Vergleichbares mehr gelesen, literarisch ein Solitär also, – bereichernd, erfreuend und unterhaltend im besten Sinne!

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de

 


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Die Uhrwerk-Orange

burgess-1Eine fragwürdige Konditionierung

Der Roman mit dem kryptischen Titel «Die Uhrwerk-Orange» von Anthony Burgess ist der große Wurf im umfangreichen Œuvre des englischen Autors, sehr zu dessen Bedauern. Er wolle nicht auf dieses eine Werk reduziert werden, erklärte der Schriftsteller. An dieser Dominanz hat allerdings auch Stanley Kubricks gleichnamige Verfilmung einen nicht unerheblichen Anteil. Ähnlich, nicht ganz so ausgeprägt, ist es übrigens auch Thomas Mann mit seinen «Buddenbrooks» ergangen, in beiden Fällen hat das entscheidende große Werk seinen Autoren allerdings einen ansehnlichen Wohlstand beschert, vom Ruhm ganz abgesehen. So what! Im Original 1962 erschienen, ist dieser Roman zeitlich in einer nahen Zukunft angesiedelt, in einer unguten allerdings, muss man hinzufügen. Sein Thema ist die Frage nach dem Guten und dem Bösen, eine rein moralisches Problem, nur den Menschen betreffend, die Natur kennt derartige Kategorien bekanntlich nicht. Kann man den im tiefsten Inneren einschlägig vorgeprägten Menschen ändern?

Burgess erzählt in seinem dreiteilig aufgebauten Roman von einer Jugendbande, deren ungebremste kriminelle Energie sich in brutalen Raubüberfällen, Vergewaltigungen und blinder Zerstörungswut entlädt. Als Alex, sechzehnjähriger Anführer der vierköpfigen Gang, beim Überfall auf eine alte Frau, die er dabei tötet, von der Polizei gefasst wird, landet er für vierzehn Jahre im Gefängnis. Zwei Jahre später nimmt er dort als Versuchsperson an einem neuartigen Programm zur Resozialisierung teil. Man spritzt ihm ein Medikament, schließt ihn an diverse Sonden an und führt ihm vierzehn Tage lang täglich mehrere Stunden Film mit schlimmen Gewaltexzessen vor. Dabei ist er auf einem Stuhl fixiert und kann auch die Augen nicht schließen, wird also unerbittlich gezwungen, zuzusehen bei all den Gräueln. Sehr bald schon wird ihm schlecht, ohne dass er sich erbrechen kann, wenn er auch nur an Gewalt denkt, man entlässt ihn deshalb als nicht mehr gefährlich in die Freiheit. Dort wird er selbst Opfer von Gewalt, wird für politische Auseinandersetzungen instrumentiert, begeht einen Selbstmordversuch und liebäugelt am Ende gar, endgültig domestiziert, mit einer bürgerlichen Existenz, denkt an Frau und Kinder.

Als Ich-Erzähler benutzt Alex, der begeisterter Hörer von Klassik ist, besonders von Beethovens Sinfonien, einen Jugendslang, die von Burgess speziell für diesen Roman konstruierte Sprache Nadsat, die auf dem Russischen basiert. Mit diesem Jargon soll einerseits die futuristische Szenerie verdeutlicht, andererseits aber auch eine gewisse Distanz zum diabolischen Geschehen hergestellt werden. Und so sieht man sich denn mit Kunstwörtern wie Droog, Tollschock, Slowo, Velozet, Sabok, Petieze, Tschelljuffjek; Nosch; Britwa; Spatschka; Mesto, Dewotschka, Maltschick und vielen anderen konfrontiert, – mit unterschiedlichen Auswirkungen auf das Lesevergnügen allerdings, abhängig vom Naturell des verblüfften Lesers. Die Zukunftsperspektive, die uns Burgess 1962 ausmalte, ist aus heutiger Sicht nicht ganz abwegig, sinnlose Gewalt in Form des Terrorismus ist ja Thema Nummer Eins in den Medien. Und führt wie im Roman zu No-go-Areas in bestimmten städtischen Quartieren, verschämt soziale Brennpunkte genannt, in die sich selbst die Polizei nicht mehr hineintraut.

Die Stärke dieses Romans ist zweifellos seine philosophische Thematik, die Frage nämlich, ob laut dem Dogma von der Erbsünde der Mensch von Natur aus schlecht sei, das Gute also eine Konditionierung ist, oder aber, dem Mönch Pelagius folgend, ob der Mensch als Gottes Geschöpf selbstverständlich gut sein müsse, sonst wäre ja ein Teil der Schöpfung böse. Der intelligente Alex jedenfalls ist zu keiner Empathie fähig, ist seelisch allenfalls über seine Musik erreichbar, ihm fehlt jedes Unrechtsbewusstsein. Die Konditionierung, die er erfährt im Roman, ist fragwürdig, gleichwohl wird man diese Figur lange im Kopf behalten als Leser, und die aufgeworfenen Fragen ebenfalls.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Berittener Bogenschütze

kronauer-2Das Mirakel der Realität

Man hat vom Höhepunkt ihrer Erzählkunst gesprochen bei Brigitte Kronauers 1986 erschienenem Roman «Berittener Bogenschütze», der nicht nur vom Titel her Rätsel aufgibt. Die mit vielen Preisen geehrte Schriftstellerin hat nach langen Jahren im literarischen Untergrund ihren ganz eigenen Erzählstil entwickelt, den sie nach ihrem erfolgreichen Romandebüt wie ein Markenzeichen konsequent weiterverfolgt und im vorliegenden, sechs Jahre später erschienenen Band auf die Spitze getrieben hat. Mit Realistik im Sinne üblicher Lesererwartungen hat ihr spezieller literarischer Stil rein gar nichts gemein, soviel vorweg!

Der vierzigjährige Matthias Roth ist Literaturdozent an einer nicht genannten deutschen Uni, sein Forschungsschwerpunkt scheint Joseph Conrad zu sein. Er ist allein stehend und lebt als möblierter Herr in zwei einfachen Zimmern beim Ehepaar Bartels. Nachdem Karin ihn verlassen hat, ist er zu Beginn des Romans mit der Biologiestudentin Marianne liiert, die gelegentlich bei ihm übernachtet. Frau Bartels kocht für ihn und erzählt ihm Geschichten über die Mitbewohner, die ihn wirklich nicht interessieren, die er aber aus reiner Höflichkeit über sich ergehen lässt. Als er seinen früheren Freund Fritz und dessen Frau in einer anderen Stadt besucht, staunt er über das für ihn rätselhafte Eheleben der Beiden, spekuliert darüber, wie nahe sie sich menschlich denn tatsächlich sein können. Von den alten Freunden ist nur Hans in der Stadt geblieben, er ist mit Gisela verheiratet und hat einen Job im Kulturamt; Matthias ist öfter bei ihnen eingeladen, die Drei verstehen sich gut. Als Marianne ihn wortlos verlässt, unternimmt er in den Semesterferien eine längere Reise nach Italien, wohnt einige Zeit bei Irene, einer allein stehenden Bekannten in Genua, ohne aber intim mit ihr zu werden, wie er es eigentlich vorhatte. Am letzten Tag seines Badeurlaubs hat er auf einer Wanderung in einem einsamen, mediterranen Tal eine Art Erweckungserlebnis. Zurückgekehrt trifft er zufällig Anneliese wieder, mit der er mal eine Nacht verbracht hatte, und bandelt nun wieder mit ihr an. Der Roman endet mit einer ihn vollends irritierenden Begebenheit: Als er eines Abends seine Freunde besucht, ist Hans noch nicht von der Arbeit zurück. Beim Teetrinken in der Küche kommen er und Gisela sich plötzlich für einen winzigen Moment nahe, man hört aber schon den Schlüssel von Hans in der Haustür. Völlig verwirrt nach schlafloser Nacht trifft Matthias die Beiden am nächsten Abend wieder, und alles ist wie immer, als wäre nichts geschehen.

Brigitte Kronauer versucht in ihrem Roman, den Dingen des Alltags auf den Grund zu gehen, Erkenntnisse zu gewinnen über die Geheimnisse dessen, was wir Wirklichkeit nennen. Ihr sensibler Protagonist ist ein ewiger Grübler, ein Skeptiker, der ständig sinnierend das Innere der sichtbaren Welt ebenso zu erforschen sucht wie das verbindende Beziehungsgeflecht ihrer Teile. Als sehr spezieller Entwicklungsroman, in dem nichts von Bedeutung passiert, enthält er fast ausschließlich tiefsinnige Reflexionen und äußerst detailverliebte Schilderungen. In einer kreativen, wortmächtigen Sprache lassen sie auf der Suche nach Erkenntnis, nach dem Mirakel hinter der Realität, vieles aufscheinen, das sich dem weniger genauen Betrachter völlig entzieht.

Der komplexe Roman erscheint mir ziemlich artifiziell, er ist wahrlich nicht einfach zu lesen mit seinen zuweilen komplizierten Satzgebilden, die partout alles, was ist, zu benennen suchen. Damit erfordert er einiges an Geduld, nötigt zudem den Leser auch zur Mitwirkung bei der Überfülle an Details, die da auf ihn einströmen und sich zu Bildern formen, permanent neue Assoziationen generierend. So sehr die exzessive, fast schon manische Beschreibungslust der Autorin auch zu bewundern ist, das Gros der Leser dürfte den Roman kaum wirklich goutieren, zu abseitig ist diese spezifische Erzählweise, von der schwierigen Thematik ganz zu schweigen.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Das Nest

daprix-sweeney-1Kreatives Schreiben

Entsteht beim Erscheinen eines neuen Buches ein Hype wie der beim Roman «Das Nest» von Cynthia D’Aprix Sweeny, sollte der Leser gewarnt sein: Vorsicht, Bestseller! Die US-amerikanische Autorin war freiberufliche Werbetexterin und hat nach der Kinderphase ein spätes Studium in Creative Writing absolviert. Ihren Debütroman, den sie bereits während dieser Studienzeit begonnen hat, wäre ihr vom zweitgrößten Verlag der Welt, HarperCollins in New York, geradezu aus den Händen gerissen worden, sie hätte einen Dollarvorschuss in Millionenhöhe bekommen, wird kolportiert. Ein Blitzstart also, der wahr gewordene American Dream, – hält denn das Buch, was der Hype verspricht?

Der inzwischen verstorbene Patriarch der New Yorker Familie Plumb hat vor vierundzwanzig Jahren für seine vier Kinder einiges Geld in einem Fonds angelegt. Ein üppiges finanzielles Polster, wie er damals sagte, an das sie frühestens zum vierzigsten Geburtstag von Melody, seiner jüngsten Tochter, herankämen, damit sie es nicht vorher schon verprassen können. Fortan nannten die Geschwister dieses Erbe unter sich immer nur «Das Nest». Dem Roman ist ein Prolog vorangestellt, der einen schlimmen Autounfall von Leo schildert, dem Playboy unter den vier Geschwistern, bei dem seine junge Beifahrerin einen Fuß verliert. Als nun die Auszahlung des Geldes ansteht, erfahren die Geschwister, dass der wohlhabende Leo auf einen Schlag all sein eigenes Geld verloren hat durch den Unfall und durch seine ruinöse Scheidung, seine Mutter musste sogar den Fonds auflösen, damit er die immensen Schadenersatzansprüche erfüllen konnte, – «Das Nest» ist also leer.

Was folgt ist die abwechselnd in mehreren Handlungssträngen erzählte Geschichte der vier Geschwister, die alle in Geldnöten sind. Die deutlich über ihre Verhältnisse lebende Melody kann die immens hohen College-Gebühren für ihre zwei Töchter nicht aufbringen, die erfolglose Schriftstellerin Beatrice möchte endlich ein größeres Appartement haben, und der schwule Antiquitätenhändler Jack hat hinter dem Rücken seines «Ehemannes» ? das gemeinsame Sommerhaus verpfändet. Der finanziell total abgebrannte Leo stellt seinen Geschwistern bei einem eilig anberaumten Familientreffen in Aussicht, er würde sich schon etwas einfallen lassen, damit ihr Erbteil doch noch ausgezahlt werden kann. Die Gier nach dem Gelde führt die Geschwister notgedrungen wieder enger zusammen, ohne dass dadurch familiäre Wärme entstehen würde, zu sehr träumt jeder von ihnen egoistisch davon, wie sich sein Leben auf Pump schlagartig ändern würde, könnte Leo frisches Geld auftreiben. Der Roman folgt unbeirrt der eingängigen Devise: «Geld macht nicht glücklich, aber es hilft ungemein».

Die Geschichte ist prall gefüllt mit jederzeit leicht nachvollziehbaren, geradlinig und ohne Schnörkel erzählten Geschehnissen, wobei der sprachliche Stil doch ziemlich bieder wirkt, ohne Esprit und kaum je witzig. All die glaubhaft beschriebenen Figuren agieren aber so munter, dass es dem Leser dieser verzwickten Geschwisterstory nicht langweilig wird. Und auch die Dialoge sind stimmig, der plausible Plot konzentriert sich weitgehend auf die schwierigen Charaktere der vier durchaus sympathisch erscheinenden Protagonisten, von deren Irrungen und Wirrungen im Wechsel so flott berichtet wird, oft in Form innerer Monologe. «Kreatives Schreiben will Anleitung zum Schreiben sein, ohne notwendigerweise anspruchsvolle Texte zu produzieren», heißt es bei Wikipedia, und genau diese Definition trifft hier auch voll zu. Dem mit offensichtlichem Kalkül auf Erfolg getrimmten Roman, an dessen Verfilmung schon eifrig gearbeitet wird, fehlt jedenfalls völlig ein wirklich authentischer Duktus, von inhärentem literarischem Genius ganz zu schweigen. Derart konstruierte Bücher, – so mein Albtraum, nachdem autonomes Autofahren ja schon Realität geworden ist -, werden künftig wohl Computer schreiben, mit intelligenten Algorithmen für das Creative Writing.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Die Drachen der Tinkerfarm

Mutter Jenkins möchte Singleferien machen. Doch wohin mit ihren halbwüchsigen Kindern Tyler und Lucinda? Die Nachbarin muffelt und müffelt, ein Sommercamp ist unbezahlbar. Rettung naht in Gestalt des alten Onkels Gideon Tinker, der die Kinder brieflich zur Sommerfrische auf seine Tinkerfarm lädt. Niemand hat bisher von diesem Onkel gewusst, aber das macht ja nichts. Zumindest der Mutter nicht. Da können Tyler und Lucinda noch so oft betonen, dass Heuwagen-fahrten nicht die Erfüllung ihrer Träume sind, ehe sie sich versehen, sitzen sie im Zug und harren der Kühe, die sie dort bestimmt melken und dem Mist, den sie kratzen müssen. Und Internet oder eine Playstation gibt es dort bestimmt auch nicht. Dafür sind sie angehalten, im Zug eine eigenartige Anleitung des Onkels zur Pflege von Kühen zu studieren. Dass sie dabei Asbestanzüge tragen sollen, macht sie nun doch neugierig.
Weiterlesen


Genre: Fantasy
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Shadowmarch 4 • Das Herz

Im vierten und letzten Band der Tetralogie »Shadowmarch« bringt Tad Williams sein Desaster-Epos vom Aufstieg, Fall und Untergang mächtiger Reiche zu voller Blüte. Die Geschichte gipfelt in einem gewaltigen Krieg, den keiner gewinnen kann und der selbst ärgste Feinde zu Verbündeten macht. Quar und Funderlinge schließen sich zusammen gegen den wahnsinnigen Autarchen Sulepis, Gottkönig des Großreiches Xis, der in der Mitsommernacht mit dem Blut von König Olin dunkle Götter erwecken will, die voller Zorn auf alles Lebende sind. Weiterlesen


Genre: Fantasy
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Shadowmarch 2 • Das Spiel

Mit dem Vormarsch einer Riesenstreitmacht der elbischen Qar unter Führung von Fürstin Yassamez gegen Südmark scheint die Welt aus den Fugen zu geraten. Im Reiche König Olin Eddons, der selbst gefangen in Hierosol sitzt und gegen ein hohes Lösegeld ausgetauscht werden soll, findet ein heimlicher Umsturz statt, der die Tolly-Brüder an die Macht bringt. Weiterlesen


Genre: Fantasy
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Der Ritter

In einem Brief an seinen Bruder berichtet ein Junge, den es in die Welt von Mythgarthr verschlug, über seinen Werdegang zum Ritter. Sir Able of The High Heart nennt sich der junge Held, der langsam erwachsen wird und viele Abenteuer in unterschiedlichen Sphären wie Alfarin und Muspel erlebt. Sein Ziel ist, das magische Schwert Eterne zu finden, um damit ein richtiger Ritter zu werden. Mit einem riesenhaften Wolfshund und einer magischen Katze sowie weiteren geheimnisvollen Gefährten besteht er Abenteuer, die ihn schließlich in das Reich der Frostriesen führen. Dort führt er gegen den Drachen Grengarm einen Kampf auf Leben und Tod …

In seltsam subtilem Stil erzählt der in seinem Sprachraum hoch gelobte Autor die Geschichte seines jungen Helden. Der Leser zieht an Sir Ables Seite durch die Ereignisse, um immer wieder festzustellen, dass viel geschieht, ohne dass es explizit beschrieben wird. Mit der lapidaren Art, mit der Schlachten und Kämpfe als selbstverständlich angesehen, aber eben nicht geschildert werden, soll der Leser angeregt werden, sein Phantasie zu benutzen. Das unterscheidet den Autor klar von den gängigen Fantasy-Schreibern, denen das Blut literweise aus der Feder tropft. Die ersten zweihundert Seiten des Bandes wirken leider wenig zusammenhängend, erst allmählich kristallisieren sich Handlungsstränge heraus, denen es zu folgen lohnt. Natürlich gibt es jede Menge Ungeheuer, Zauberschwerter, Drachen, Riesen, Questen, es geht auch um Liebe, Ehre und Edelmut — all die vertrauten Elemente des Genres werden berücksichtigt und eingewoben

Der Briefroman ist leserfreundlich in viele kleine Kapitel geteilt. Ausgesprochen billig wirkt allerdings, dass lediglich vier Vignetten geschaffen wurden, die sich endlos wiederholen … wobei diese Unsitte zu allem Überfluss auch noch im zweiten Band der Geschichte fortgesetzt wird …


Genre: Fantasy
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart