Eine fragwürdige Konditionierung
Der Roman mit dem kryptischen Titel «Die Uhrwerk-Orange» von Anthony Burgess ist der große Wurf im umfangreichen Œuvre des englischen Autors, sehr zu dessen Bedauern. Er wolle nicht auf dieses eine Werk reduziert werden, erklärte der Schriftsteller. An dieser Dominanz hat allerdings auch Stanley Kubricks gleichnamige Verfilmung einen nicht unerheblichen Anteil. Ähnlich, nicht ganz so ausgeprägt, ist es übrigens auch Thomas Mann mit seinen «Buddenbrooks» ergangen, in beiden Fällen hat das entscheidende große Werk seinen Autoren allerdings einen ansehnlichen Wohlstand beschert, vom Ruhm ganz abgesehen. So what! Im Original 1962 erschienen, ist dieser Roman zeitlich in einer nahen Zukunft angesiedelt, in einer unguten allerdings, muss man hinzufügen. Sein Thema ist die Frage nach dem Guten und dem Bösen, eine rein moralisches Problem, nur den Menschen betreffend, die Natur kennt derartige Kategorien bekanntlich nicht. Kann man den im tiefsten Inneren einschlägig vorgeprägten Menschen ändern?
Burgess erzählt in seinem dreiteilig aufgebauten Roman von einer Jugendbande, deren ungebremste kriminelle Energie sich in brutalen Raubüberfällen, Vergewaltigungen und blinder Zerstörungswut entlädt. Als Alex, sechzehnjähriger Anführer der vierköpfigen Gang, beim Überfall auf eine alte Frau, die er dabei tötet, von der Polizei gefasst wird, landet er für vierzehn Jahre im Gefängnis. Zwei Jahre später nimmt er dort als Versuchsperson an einem neuartigen Programm zur Resozialisierung teil. Man spritzt ihm ein Medikament, schließt ihn an diverse Sonden an und führt ihm vierzehn Tage lang täglich mehrere Stunden Film mit schlimmen Gewaltexzessen vor. Dabei ist er auf einem Stuhl fixiert und kann auch die Augen nicht schließen, wird also unerbittlich gezwungen, zuzusehen bei all den Gräueln. Sehr bald schon wird ihm schlecht, ohne dass er sich erbrechen kann, wenn er auch nur an Gewalt denkt, man entlässt ihn deshalb als nicht mehr gefährlich in die Freiheit. Dort wird er selbst Opfer von Gewalt, wird für politische Auseinandersetzungen instrumentiert, begeht einen Selbstmordversuch und liebäugelt am Ende gar, endgültig domestiziert, mit einer bürgerlichen Existenz, denkt an Frau und Kinder.
Als Ich-Erzähler benutzt Alex, der begeisterter Hörer von Klassik ist, besonders von Beethovens Sinfonien, einen Jugendslang, die von Burgess speziell für diesen Roman konstruierte Sprache Nadsat, die auf dem Russischen basiert. Mit diesem Jargon soll einerseits die futuristische Szenerie verdeutlicht, andererseits aber auch eine gewisse Distanz zum diabolischen Geschehen hergestellt werden. Und so sieht man sich denn mit Kunstwörtern wie Droog, Tollschock, Slowo, Velozet, Sabok, Petieze, Tschelljuffjek; Nosch; Britwa; Spatschka; Mesto, Dewotschka, Maltschick und vielen anderen konfrontiert, – mit unterschiedlichen Auswirkungen auf das Lesevergnügen allerdings, abhängig vom Naturell des verblüfften Lesers. Die Zukunftsperspektive, die uns Burgess 1962 ausmalte, ist aus heutiger Sicht nicht ganz abwegig, sinnlose Gewalt in Form des Terrorismus ist ja Thema Nummer Eins in den Medien. Und führt wie im Roman zu No-go-Areas in bestimmten städtischen Quartieren, verschämt soziale Brennpunkte genannt, in die sich selbst die Polizei nicht mehr hineintraut.
Die Stärke dieses Romans ist zweifellos seine philosophische Thematik, die Frage nämlich, ob laut dem Dogma von der Erbsünde der Mensch von Natur aus schlecht sei, das Gute also eine Konditionierung ist, oder aber, dem Mönch Pelagius folgend, ob der Mensch als Gottes Geschöpf selbstverständlich gut sein müsse, sonst wäre ja ein Teil der Schöpfung böse. Der intelligente Alex jedenfalls ist zu keiner Empathie fähig, ist seelisch allenfalls über seine Musik erreichbar, ihm fehlt jedes Unrechtsbewusstsein. Die Konditionierung, die er erfährt im Roman, ist fragwürdig, gleichwohl wird man diese Figur lange im Kopf behalten als Leser, und die aufgeworfenen Fragen ebenfalls.
Fazit: lesenswert
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