Die Inkommensurablen

Intellektueller Höhenflug

«Die Inkommensurablen», der dritte Roman von Raphaela Edelbauer, die in Wien Sprachkunst und Philosophie studiert hat, weist wie die zwei vorherigen Romane einen erstaunlich kreativ angelegten Plot auf. Ihre Erzählung beginnt am 30. Juli 1914 um 6:32 Uhr und endet am nächsten Tag mit dem Ablauf des Ultimatums und der umgehend erfolgenden Kriegserklärung an Serbien, gemeinhin als der Beginn des Ersten Weltkriegs angesehen. Die Stadt liegt im Taumel, die jungen Männer melden sich scharenweise freiwillig, sie können es kaum erwarten, sich für das tödliche Attentat auf den österreichischen Kronprinzen an den Serben zu rächen. Es wimmelt von Menschen auf den Straßen Wiens. Mitten in dieses Gewimmel hinein gerät, gerade erst mit dem Nachtzug am Wiener Hauptbahnhof angekommen, der siebzehnjährige Pferdeknecht Hans aus Tirol. Auch er will sich freiwillig melden, nicht zuletzt um der unerträglichen Fron seiner harten Arbeit auf dem armseligen, heimischen Bauernhof zu entkommen.

Vorher aber will er sich noch bei der bekannten Wiener Psychoanalytikerin Helen Cheresch vorstellen, er hat für den gleichen Tag einen Termin in ihrer Praxis vereinbart. In acht Kapiteln erzählt die Autorin chronologisch von den Erlebnissen ihres Protagonisten Hans in diesen turbulenten eineinhalb Tagen. Er hat sich schon als kleiner Junge, der nicht in die Schule gehen durfte und als Arbeitsknecht gnadenlos ausgebeutet wurde, heimlich das Lesen und Schreiben beigebracht und bildungshungrig jede Möglichkeit ergriffen, um seinen geistigen Horizont zu erweitern. Vor der Praxis trifft er auf Klara, die mit der berühmten Psycho-Analytikerin befreundet ist und sich als eine hochintelligente Mathematik-Studentin erweist. Sie ist denn auch eine der ersten Frauen in Österreich, die in ihrem Fach promovieren will, – am folgenden Tag schon ist der Termin für ihr Rigorosum. Und während Hans und Klara sich sofort in einem für beide fruchtbaren, ersten Gespräch anfreunden, stößt auch noch Adam, ein musisch begabter, aristokratischer Sohn aus reichem Hause, zu ihnen und erweitert das diskussions-freudige Duo zum Trio.

Dieser wortwörtlich am Vorabend des Ersten Weltkriegs angesiedelte Roman wird von Beginn an in einer wohltuend klaren, sachlichen Sprache erzählt. Er spiegelt damit die Geschichte des zu Höherem strebenden Pferdeknechts Hans vor dem Panorama eines gerade endgültig aus den Fugen geratenden, spät-habsburgischen Österreichs. Das genialische Hochbegabten-Trio versinkt in endlosen Diskussionen, denen zu folgen zusehends schwerer wird. Da wird zum Beispiel versucht, das Wesen der «Inkommensurablen» anhand eines Vergleichs mit den irrationalen Zahlen zu erklären. Aber als ebenso inkommensurabel, als unvergleichbar mithin, erweist sich dieses intellektuelle Trio selbst. Und dass in den mit der Musik beschäftigen Diskursen Arnold Schönberg als Komponist im Mittelpunkt steht, verwundert dann kaum noch. Allmählich aber entwickelt sich die Erzählung von den drei ebenso hyper-begabten wie inkommensurablen Figuren zu einer Art Traumnovelle, die zusehends ins Irreale steuert mit von Drogen befeuerten Trugbildern. Intellektueller Höhepunkt ist am Ende des Romans ein längerer Vortrag Klaras mit ihrer schriftlich verfassten Einleitung zum Rigorosum, dem allenfalls studierte Mathematiker wirklich folgen können.

Intellektuell also auf sehr hohem Niveau angesiedelt, ist der detail-versessene Erzählstoff nicht immer ganz frei von Anachronismen, trotzdem aber liest man die mathematischen, musik-wissenschaftlichen und psycho-analytischen Exkurse der österreichischen Autorin mit Gewinn. Sachlich beruhigend sind dabei die im Anhang aufgelisteten Quellen für ihre hochgestochenen Diskurse, die manchen Kommentatoren als zu gestelzt, aber auch als zu konstruiert erscheinen. Dabei wird übersehen, dass doch etliche, gerade in den intellektuellen Höhenflügen zweifellos vorhandene, satirische Elemente all das hochgestochen Erscheinende wohltuend relativieren.

Fazit:  erfreulich


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Die Möglichkeit von Glück

Die Mär von den Ossis

Als großer DDR-Roman gelobt und auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gewählt, hat das Debüt von Anne Rabe mit dem Titel «Die Möglichkeit von Glück» im vergangenen Jahr einen wichtigen Beitrag zum aktuellen literarischen Diskurs geleistet. Auf starken Widerspruch stieß dabei vor allem die in diesem Roman vertretene These, dass erzieherische Gewalt und emotionale Kälte in den unter der Knute der sozialistischen Diktatur stehenden Familien in letzter Konsequenz zu den bekannten Gewaltexzessen und zum Erstarken der Rechtsextremen geführt hätten. Die auf dem Gebiet der DDR lebende Gesellschaft, die 56 Jahre lang, von 1933 bis 1989, also über Generationen hinweg, nur Diktatur erlebt hat, ist in Teilen mit der Demokratie offensichtlich überfordert und trauert dem «ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden» nach. Ein politisches Phänomen übrigens, das man ja überall auf der Welt wiederfindet und das von gewissen Protestierenden derzeit in der ­ allen Ernstes ­ vorgetragenen Forderung nach einem Kalifat gipfelt. Man braucht den starken Mann, man will «geführt» werden! Aber das sind Abschweifungen.

Eine der Autorin ähnelnde, drei Jahre vor dem Mauerfall geborene Ich-Erzählerin namens Stine beschreibt im vorliegenden Roman schonungslos ihre Kindheit im Kreise der Familie. Dabei konzentriert sie sich meist auf das Private, beschreibt detailreich die Verhältnisse während der Nach-Wende-Zeit in ihrer kleinen Stadt an der Ostsee, in der sie aufwächst. Ihre Eltern sind gar nicht erfreut über die Wiedervereinigung, zu tief waren sie verwurzelt in das sozialistische Unrechtssystem, dessen markantestes Kennzeichen die alles beherrschende, absurde Stasi war. Sie sind trotzdem überzeugt, das «richtige Leben» gelebt zu haben, sie halten weiterhin den Sozialismus für die bessere, gerechtere Staatsform, halten hartnäckig an ihrer Lebenslüge fest.

Die dominante Rolle in der Kindererziehung hat Stines Mutter, der Vater hält sich da weitgehend raus. Er ist ein liebevoller Vater, den bohrenden Fragen der älter werdenden Tochter nach der Vergangenheit aber weicht er hartnäckig aus. Innig verbunden ist Stine mit ihrem jüngeren Bruder, der wie sie unter der lieblosen Mutter leidet, die ihre Kinder, völlig emotionslos, mit harter Hand und viel Prügel erzieht. Dabei wendet sie ungerührt sogar sadistische Methoden an, denen ihre Kinder völlig schutzlos ausgeliefert sind. Der Vater greift in der Regel nicht ein, lässt die Mutter gewähren mit ihren grausamen Strafen. Diese schlimmen Erfahrungen und die heftigen Streitereien mit der Mutter, auch nachdem Stine schon selber ein Kind hat, führen zum Bruch mit den Eltern. Die Mutter traut ihrer Tochter die richtige Erziehung der Enkel nicht zu, sie geht sogar so weit und will ihr das Kind entziehen lassen. Weil doch die Stine einen total unkonventionellen Lebenswandel hat, und die falschen politischen Überzeugungen sowieso!

Formal changiert diese DDR- Geschichte zwischen Erzählung und akribisch recherchierter Dokumentation, wobei viele interessante Details zum Vorschein kommen und demonstrieren, was die politischen Umbrüche doch für deutliche Spuren in der Familien-Historie hinterlassen haben. Als eine besonders fragwürdige Figur stellt sich letztendlich der von Stine innig geliebte Opa heraus, der Stines Fragen immer ausgewichen ist. Aber genau dessen politische Verstrickungen sind es schließlich, die Stine am Ende des Romans, nach hartnäckigen Recherchen, doch noch offenlegen kann, ­ geahnt hat sie es ja schon immer! Im ständigen Wechsel zwischen Ich-Erzählung und dem kursiv gesetzten inneren Monolog entwickelt die Autorin ihre Geschichte in einer angenehm lesbaren Sprache. Indem sie sich meist an das Private hält, benutzt sie in ihren episodischen Rückblicken auch mundartliche Einschübe, kurze Gedichte oder Kinderreime, landestypische Redewendungen. Es findet sich zudem aber auch die ironisch präsentierte Amtssprache der «besseren» Deutschen, die sich ihre DDR-Landsleute zu sein dünkten in den seligen Zeiten des sozialistischen Musterstaates.

Fazit: erfreulich

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Das Recht auf Sex: Feminismus im 21. Jahrhundert

Das Buch Das Recht auf Sex: Feminismus im 21. Jahrhundert besteht aus sechs Essays, die unabhängig und zu verschiedenen Zeitpunkten geschrieben wurden. Die Autorin wurde in den USA und den UK zur Philosophin ausgebildet und lehrt soziale und politische Theorie am Chichele Institut für Völkerrecht in Oxford, als erste nicht-weiße Professorin.

Das Buch basiert auf breitem Wissen gerade der feministischen Philosophinnen; die kleingedruckten „Anmerkungen“ umfassen über 50 Seiten und sind teils so lesenswert, wie die Essays selbst. Ihr Schwerpunkt liegt auf dem anglo-sächsischen Schriftgut zu Sexualität, Feminismus und Gender.

Was sind Rechte, was sind Normen, und wie verändern sie sich in den letzten sechzig Jahren, seit Debatten über Feminismus und zur sexuellen Revolution öffentlich geführt wurden? In der Einleitung heißt es: “Was wäre zu tun, damit Sex frei ist? Wir wissen es noch nicht, aber versuchen, es herauszufinden.“

Im letzten Kapitel wird es utopisch, aber erst einmal viel Dystopisches: Im ersten Kapitel werden die ersten, teil hilflosen, Versuche beschrieben, mit Rechtsmitteln übergriffige Männer zu zügeln, und wie Männer darauf reagieren. In „Gespräche mit Studierenden über Pornografie“ wird das Schriftgut gerade der Feministinnen darüber dargestellt, es gibt „Porn Wars“, „Pro Porno Feministinnen“. „Für die Studentinnen und Studenten ist Sex das, was die Pornoindustrie als Sex definiert.“

Alles geht von Männern aus, Frauen sind untergeordnet, die Darstellerinnen entweder pubertierende oder milfs (mother I’d like to fuck), und zum Abschluss braucht es einen Ejakulationsschwall.

In allen Kapiteln werden Unterschiede nicht nur der Geschlechter, auch von Rasse und Klasse beschrieben, immer wird der in westlichen Ländern propagierte Feminismus der weißen Akademikerinnen mit den Formen und Aktionen der Frauen in armen Ländern kontrastiert. Wenn es in der Entwicklungshilfe Trend ist, Frauen kleine Kredite zu gewähren, weist sie darauf hin, dass es Aufgabe der Staaten ist, Wasser, Land und Nahrung sicherzustellen.

Im letzten Kapitel Sex, Karzeralismus, Kapitalismus wird Karzeralismus beschrieben als Rechtssystem, in dem Menschen eingesperrt werden, die nicht im Mainstream stehen, und das betrifft in den USA zunehmend auch Frauen: „In den USA, wo 30 % der weltweit inhaftierten Frauen leben (zum Vergleich: In China sind es 15 %, in Russland 7,5 %) ist die Inhaftierungsrate von Frauen doppelt so schnell gestiegen, wie die von Männern.“ Ausführlich geht es um die für Frauen meist die Situation verschlechternden Maßnahmen gegen die Prostitution, oft gefordert vom „karzeralen Feminismus.“ Nur in Neuseeland und in einer australischen Region, wo Zwangsmaßnahmen aufgehoben wurden, hat sich die Lage der Frauen verbessert. Das erfahren wir, übrigens, in einer Fußnote.

Dann knüpft die Autorin am Marxismus an, fragt: „Kann sich die Arbeiterbewegung leisten, nicht antirassistisch zu sein?“ und wünscht sich post-kapitalistische Lösungen auch der Frauenfrage.

Am spannendsten fand ich den fünften, und eher kurzen, Essay: „Warum wir nicht mit unseren Studierenden schlafen sollten“ und möchte ihn beispielhaft vorstellen:

Eine erste Fassung hatte sie geschrieben, nachdem 2010 „ihre“ Universität Yale ein generelles Verbot von „Beziehungen zwischen Fakultätsmitgliedern und nicht Graduierten“ beschlossen hatte. Andere Uni folgten und das University College London 2020 als 3. britische Uni.

Die Frage wird breit diskutiert, wie sich sexuelle Beziehungen entwickeln können, wenn zwischen den Partnern ein Machtgefälle existiert, und verschiedene Sichtweisen beschrieben, auch die von Feministinnen. Srinivasan zitiert mit Jane Gallop eine Autorin, die Freuds Konzept der Übertragung bei Beziehungen zwischen Patient und Therapeut für die Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden, also für den pädagogischen Bereich übernimmt.

Ja, es lernt und lehrt sich besser, wenn die Beziehung stimmt. Aber die Lehrenden müssen wissen, dass sich ein entstehendes Begehren der Lernenden nicht auf sie als Person richtet, sondern auf das, was sie repräsentieren. Die Projektion muss auf: „Wissen, Wahrheit, Verstehen“ gelenkt werden.

Es gibt eine Fülle von genauen Beschreibungen, wie mit diesen Konflikten umgegangen wurde, bei den Beispielen der Autorin sind es eher Frauen, die als Dozentinnen „bestraft“ wurden, als Männer. Es wird gefordert, Lehrende auf die Bedeutung ihrer und der Körperlichkeit der Studierenden beim Vermitteln der Lehre hinzuweisen, manche fordern gar Vorbereitungskurse, um deren Wirksamkeit besser wahrzunehmen und, dessen bewusst, sich besser zu steuern.

Mir gefiel bei der Lektüre, wie die Autorin neben Zitaten von Philosoph:innen auch Ich-Botschaften einfügt, auch hier in diesem Kapitel. So möchte ich mit einer solchen enden:

Als berentete Professorin bin ich einerseits froh, dass Deutschland nicht vorangegangen war mit Versuchen, Beziehungen zu verrechtlichen, die sind doch oft gescheitert. Die Vorstellung, allerdings, in meiner Universitätszeit in den Nullerjahren, wären wir Profs zu solchen, natürlich koedukativen, Kursen geladen worden, bringt mich zu einem verschmitzten Schmunzeln …

Das Buch bringt viele Denkanstöße, auch in unerwartete Richtungen.


Genre: Frauen, Gender, Soziologie
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Mitgift

Nichts zu lachen

Auch der neue Roman «Mitgift» von Henning Ahrens ist wieder in der niedersächsischen Provinz angesiedelt, in Klein Ilsede nahe Peine. Anders als seine bisherigen Romane aber weist dieser keine magischen, fantastischen Elemente auf, hier wird im Gegenteil, für ihn untypisch, sehr realistisch erzählt. Dieses acht Generationen umfassende, autobiografisch inspirierte Familienepos, das bis ins Jahr 1775 zurückreicht und 1962 ein jähes Ende findet, stützt sich, wie der Autor im Nachwort schreibt, auf Briefe und Tagebücher des eigenen Großvaters, der Pate stand für den Protagonisten seines Buches. Der Roman wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert, der bisher größte Erfolg für den Autor.

Wilhelm Leeb sen. bewirtschaftet den Bauernhof der Familie in siebter Generation, er ist ein glühender Nazi, das örtliche SA-Büro befindet sich in seinem Haus. Zum Entsetzen seiner Familie, zu der auch die beiden Großeltern-Paare gehören, meldet er sich zum Militär, obwohl er als Landwirt eigentlich unabkömmlich ist. Begeistert zieht er in den Krieg, für ihn scheinbar nur eine spektakuläre Abenteuer-Reise. Vier Jahre nach Kriegsende kehrt er dann schließlich desillusioniert aus polnischer Gefangenschaft zurück. Und vom ersten Tag an schikaniert der Despot seine Familie wie in alten Zeiten. Sein ältester Sohn Wilhelm jun., von allen nur ‹Willem› genannt, wird traditionell den Hof übernehmen müssen, obwohl er dazu so gar keine Lust verspürt. Und dass er während der Abwesenheit des Vaters, als Jüngling noch, ganz allein mit der Mutter, den Hof geführt hat, wird von dem Tyrannen nur mit maßloser Kritik bedacht, er ist mit nichts zufrieden und nörgelt nur rum. Immer mehr versinkt ‹Willem› nun in seinem Frust, er kommt gegen den Despoten einfach nicht an. Bis der dann eines Tages plötzlich vor der Tür der Nachbarin Gerda steht, seiner Jugendliebe. Er hatte sich damals, der hohen Mitgift wegen, doch lieber eine wohlhabende Bauerntochter zur Frau genommen, während Gerda unverheiratet geblieben ist. Gerade sie aber ist es, die nebenberuflich seit vielen Jahren den Dienst der «Totenfrau» versieht, die also im Dorf die Leichen zur Bestattung herrichtet. Wegen wem aus seiner Familie der Exfreund denn nun Gerda plötzlich in sein Haus bestellen muss, das erfährt der Leser erst ganz am Ende.

Die streng sachlich bleibende Erzählung klammert Emotionen fast völlig aus. Dem harten bäuerlichen Leben mit seinen starren Denkstrukturen angepasst ist auch das umfangreiche Figuren-Ensemble des Romans, das stimmig geschildert wird in seiner derben, weitgehend freudlosen Lebenswirklichkeit. Innige Liebe, aber auch Herzeleid kommen nicht vor, alles ist streng rational begründet. Ehen sind wohl kalkulierte Zweckbündnisse mit einer streng hierarchischen inneren Struktur, die ungeschriebenen Gesetzen folgt und unumstößlich scheint. Nur Willems jüngerem Bruder und auch seiner Schwester gelingt es, einer lebenslangen Fron auf dem Bauernhof zu entfliehen, er selbst zerbricht daran.

Erzählt wird fragmental, in großen Zeitsprüngen, manchmal sogar über Jahrhunderte hinweg. Durch diese in 21 Kapiteln zeitlich vor und zurück wechselnde Erzählweise bringt der Autor Spannung in die ansonsten narrativ ja weitgehend abgearbeitete Thematik. Das Geschehen einer problematischen Vater-Sohn-Beziehung bleibt in dieser Zeitreise mit elf kunstvoll angelegten, parallelen Handlungs-Strängen immer leicht nachvollziehbar. Die eher nüchterne Sprache wird auch durch eine Fülle von alltäglichen Redensarten und Gemeinplätzen geprägt, was die Geschichte sehr realistisch, fast authentisch erscheinen lässt. Auch die Dialoge in diesem Familien-Epos sind durchweg stimmig, man fühlt sich beinahe dazugehörig als Leser und ist nicht nur Zaungast. Die nüchterne Erzählweise lässt allerdings die Figuren sehr blutarm erscheinen, man erfährt, was ihnen geschieht, ohne selbst mitzufühlen, und zu lachen gibt es ja sowieso kaum mal was im freudlosen Alltag der Dörfler aus Klein Ilsede.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Das kurze Glück der Gegenwart

Die zehn besten Bücher der letzten zwanzig Jahre

Wem Literatur mehr bedeutet als ein paar vergnügliche Lesestunden, der wird auch gerne hin und wieder mal ein Sachbuch lesen, das Aspekte seiner bevorzugten Kunstgattung mit wissenschaftlicher Expertise beleuchtet. Richard Kämmerlings hat mit «Das kurze Glück der Gegenwart» ein solches Buch vorgelegt, er widmet sich darin der deutschsprachigen Literatur seit 1989, bei der er als Literatur-Wissenschaftler deutliche Defizite an Gegenwärtigkeit konstatiert und bedauert.

Als Beispiel führt er in der Einleitung an, dass der ultimative Wende-Roman nicht geschrieben wurde, «… so als sei es unter der Würde des Schriftstellers, einen naheliegenden, sich für eine erzählerische Bearbeitung geradezu aufdrängenden Gegenstand zu wählen». Wenn aber der Zeitbezug fehle, wenn gegenwarts-bezogene Erkenntnisse oder Denkimpulse also nicht zu erwarten wären, warum sollte sich der Leser dann überhaupt den Neuerscheinungen zuwenden? Es geht ihm also darum, eine Literatur einzufordern, bei der es nicht nur um das Private oder das Historische geht, sondern auch um die gegenwärtigen Themen aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft, also um politische Strömungen, ökonomische Desaster, kulturelle Trends und wissenschaftliche Erkenntnisse.

In neun thematisch ganz unterschiedlichen Kapiteln geht Richard Kämmerlings wohlgemut in medias res, wobei er mit Berlin beginnt als «Topos des Terrors». Er konstatiert eine Mitte der neunziger Jahre einsetzende Umwertung der Gegenwartsliteratur, die mit «Faserland» von Christian Kracht eingeleitet wurde und vehement das Hier und Heute ins Zentrum stellt. Aber auch Klagenfurt ist für ihn «… der Ort, an dem sich die Veränderungen, die Verschiebungen des literarischen Feldes manifestieren». Als Enfant terrible ist Maxim Biller für ihn der Vorreiter eines thematischen Umdenkens, das mit dem später verbotenen Roman «Esra» seinen medialen Höhepunkt fand, weil er erzählte Wirklichkeit war und nicht Fiktion. Es folgt das Kapitel über Krieg als gegenwärtiges Thema, bei dem Kämmerlings Ernst Jünger als ihn persönlich prägenden Schriftsteller nennt und die Sprachlosigkeit heutiger Autoren beklagt, denen außer NVA-Klamauk dazu nichts einfalle. Mit Sex als fast nur auf Englisch thematisiertem Stoff, mit der weltweiten Finanzkrise, die literarisch, wenn überhaupt, allenfalls im Krimi oder als Science-Fiction stattfinde, mit dem Ignorieren der rapide wachsenden sozialen Verwerfungen setzt der Autor seine Liste der Sprachlosigkeit fort. Um dann zum Thema Familie zu gelangen, die immer mehr in der Patchwork-Version beschrieben werde, wobei er den Roman «Die Liebe der Väter» als lobenswertes Beispiel erwähnt, dessen Thematik Kämmerlings aus eigenem Erleben bestens kennt. Auch die Herkunft werde bis auf wenige Ausnahmen in der Gegenwarts-Literatur vernachlässigt, Heimat als Thematik versinke entweder im Provinzialismus oder sei allenfalls noch im Migrations-Roman anzutreffen. Beim Tod schließlich, im letzten Kapitel, ist die Gegenwart ebenfalls ausgeblendet, nur einige wenige Schriftsteller hätten dazu literarisch wirklich Überzeugendes geliefert.

Der Erkenntnisgewinn für den Leser dieses Buches liegt in der sachkundigen Tour d’Horizon durch die neuere deutsche Gegenwarts-Literatur, für deren Defizite aber immer auch Gegenbeispiele genannt werden, kenntnisreich analysiert zudem. Mit Anekdoten angereichert erfährt man auch Interna aus dem Literaturbetrieb, liest von den Disputen der Autoren, Kritiker und Lektoren untereinander. Vor allem aber lernt man en passant viele Autoren und Bücher kennen, die man bisher nicht auf dem Radar hatte als Leser. Und so empfiehlt sich das reichhaltige Autorenregister als ergiebiger Quell künftiger Leseabenteuer, auch wenn die Auswahl des Autors natürlich subjektiv ist und damit anfechtbar. Was dann vor allem für die «Zehn besten Bücher der letzten zwanzig Jahre» gilt, die Richard Kämmerlings sich am Ende mutig vorzustellen traut.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Sachbuch
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Milchmann

Surreale Parabel

Mit ihrem dritten Roman hat die irische Schriftstellerin Anna Burns 2018 den Durchbruch geschafft, das Buch erhielt den Booker Price. Die in Belfast geborene Autorin thematisiert darin den Nordirland-Konflikt in Form einer surrealen Parabel, in der eine junge Frau ihren Weg sucht in der schwierigen politisch-religiösen Gemenge-Lage. Während in Deutschland das Feuilleton den Roman überwiegend positiv beurteilt, sind hierzulande die Leser-Kritiken auffallend verhalten. Zu Recht?

«An dem Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb.» Wer das Buch liest, ohne sich vorab über seine Thematik oder die Autorin informiert zu haben, wird nur den Kopf schütteln über das, was er da liest. Eine namenlose 18Jährige erzählt aus der Ich-Perspektive, oft in Form des inneren Monologs, wie sie von einem älteren Mann gestalkt wird. Der Stalker nähert sich der jungen Frau, die ältere und jüngere Schwestern hat und im Roman nur ‹Mittlere Schwester› genannt wird, ohne sie jedoch körperlich zu bedrängen. Sie hat seit einem Jahr eine eher zerbrechliche Beziehung mit ‹Vielleicht-Freund›, einem autobesessenen Messi. Der will unbedingt mit ihr zusammenziehen, sie aber ist sich ihrer Beziehung nicht sicher. Um den lästigen ‹Milchmann› zu vergraulen, der sich ständig beim täglichen Jogging an sie ranhängt, überredet sie den sportbesessenen ‹Schwager 3›, mit ihr zusammen zu trainieren. Das Versteckspiel der Autorin treibt seltsame Blüten, weder benennt sie den Ort ihrer Handlung noch die feindlichen Parteien, die sich hier unversöhnlich gegenüber stehen, es wird nur von Wir und Die gesprochen. ‹Wir› sind dabei die Staatsverweigerer, die als Paramilitärs den Stadtteil beherrschen, ‹Die› sind die ‹Feinde aus dem Land auf der anderen Seite der See›. Es geht um Nordirland, wird dem unvorbereiteten Leser irgendwann klar, ohne dass es explizit benannt wird, auch der Klappentext schweigt sich dazu aus. Damit soll mutmaßlich der bürgerkriegsartigen Situation eine exemplarische Bedeutung zugewiesen werden.

Aberwitzig in dieser kafkaesken Gesellschaft ist auch das Verhältnis der Geschlechter zueinander, ‹Ich Mann, Du Frau› sind klar definierte Rollenbilder, denen zu folgen hat, wer sich viel Ärger ersparen will. Die Mutter von ‹Mittlere Schwester› redet deshalb auf sie ein, doch endlich zu heiraten, das sei schließlich ja der Lebenszweck einer jeden Frau, sie sei kein gutes Vorbild für ihre drei jüngeren Schwestern. Es gibt viele Tote in dieser Geschichte, ‹Älteste Freundin› gehört ebenso dazu wie ‹Tablettenmädchen›, auch ‹Chefkoch› muss sterben und am Ende dann ‹Milchmann›, der Terroristen-Anführer.

Die nur rudimentär vorhandene Handlung wird in einer seltsam codierten, monotonen Sprache mit häufig mäandernden Satzkonstruktionen erzählt. Deren Umschreibungen wirken ebenso verstörend wie die unbeholfenen Bezeichnungen der namenlosen Figuren, die hier als Namens-Ersatz dienen. Wie in dieser verfremdeten Schilderung die Verhältnisse im Nordirland-Konflikt geschildert werden, das erfordert beim Lesen schon einige Phantasie, zumal Zeit- und Lokalkolorit weitgehend fehlen. In einem proletarischen Milieu, das sich im permanenten Ausnahme-Zustand befindet und anscheinend auch unregierbar geworden ist, wird hier die Angst thematisiert, was doch ziemlich irreal wirkt in seiner Parabelartigkeit. Zur Paranoia zählt dann auch ein spektakuläres Massaker unter den Hunden des Stadtviertels, die in einer barbarischen Aktion restlos alle umgebracht werden, indem man ihnen den Hals durchschneidet. Durch ihr Gebell, heißt es, würden heimlich anschleichende Kämpfer zu früh entdeckt werden. Bei all der Symbolik und Geheimnistuerei wird die durch stilistisch ständig wiederholte, hölzern formulierte Phrasen allmählich nervende Geschichte vom Psycho-Terror dann auch noch zunehmend langweilig. Wofür eigentlich der Preis, fragt man sich!

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

DAVE

In ihrem zweiten Roman «DAVE» entwickelt die österreichische Schriftstellerin Raphaela Edelbauer eine verstörende Dystopie, bei der es um Künstliche Intelligenz geht. Die gigantisch angewachsene Menschheit erhofft sich mit Hilfe eines Supercomputers, der technisch alles Dagewesene bei weitem übertrifft, den selbst verursachten Zusammenbruch aller Lebens-Grundlagen zu überwinden. Was diesen Roman aus der Masse von Science-Fiction heraushebt, ist eine in jeder Hinsicht eigenwillige, alle narrativen Konventionen sprengende Sprache, in der da erzählt wird. Damit wird eine hohe Hürde aufgebaut, an der viele Leser scheitern dürften.

DAVE also soll’s richten, und zwar mit Hilfe der KI. Tausende von Nerds schuften in einem streng von der verwüsteten Außenwelt abgeschirmten Entwicklungs-Zentrum wie Sklaven. Auch Syz, 28jähriger Ich-Erzähler der Geschichte, produziert als kleines Rädchen im Getriebe Scripts am laufenden Band. Er schläft nur wenige Stunden, den Rest seiner Zeit sitzt er vor dem Computer. Oder redet mit seinen Freunden, und zwar immer wieder nur über technologische Probleme. In dieser elitären Denkfabrik nun bildet DAVE den Mittelpunkt, eine gottähnliche Maschine, die demnächst den Menschen an Intelligenz weit übertreffen wird und in ihrer Allmacht alles steuern kann, sogar bis tief ins Universum hinein. Man ist in einer Entwicklungsphase angelangt, wo die noch vorhandene Limitierung des Superhirns durch das Einspeisen von menschlichen Emotionen überwunden werden soll. Die muss DAVE sich nach und nach in einem Selbstlern-Prozess einverleiben, um nach diesem Muster sein eigenes Bewusstsein zu entwickeln. Und Syz ist der Auserwählte, dessen Ego in diesen Computer integriert werden soll. Er berichtet nun in endlosen Nacht-Sitzungen von seinen Erfahrungen, Erlebnissen, Ängsten, Empfindungen, – quasi von allem, was mit dem Menschsein korreliert, und all das wird der Maschine unentwegt einprogrammiert. Es gibt aber zwei Störfälle, die das Ganze ins Wanken bringen. Syz verliebt sich, was in dieser aberwitzigen Techno-Welt nicht vorgesehen ist, und ihm kommen Zweifel an den Hintergründen für das gigantische Projekt und an seinen unbekannten Nutznießern.

Die Autorin baut viele existenzielle Fragen ein in ihre surreale Geschichte, sie arbeitet mit literarischen Verweisen, es gibt aber auch diverse popkulturelle Anspielungen, die allenfalls Eingeweihte verstehen. Besonders krass stürmt das gleich am Anfang auf den Leser ein, er wird mit Neologismen, absurdem Fachjargon und akademisch abgehobenem Vokabular regelrecht zugeschüttet, alles völlig sinnfrei. Die narrative Form des unzuverlässigen Erzählers trägt zusätzlich zur Verwirrung bei, es ist eiserner Wille erforderlich, um da weiter durchzuhalten. Denn auch eine Handlung, die einen gewissen Lesesog erzeugen könnte, ist nicht mal ansatzweise vorhanden. In dieser durchgeknallten Nerd-Welt begegnet man fast ausnahmslos zombiehaften Figuren, die keinerlei Empathie zu wecken vermögen mit ihrem an Roboter erinnernden Habitus. Überlagert ist dem allen eine Tristesse, die in einer allmächtigen digitalen Klassengesellschaft begründet ist, deren diktatorischen Triebkräften der Romanheld irgendwann nicht mehr traut.

Raphaela Edelbauer, die in Wien Sprachkunst studiert hat, arbeitete mehr als zehn Jahre an diesem Roman, wie sie im Interview erklärt hat, zweimal habe sie ihn umgeschrieben. Bei ihr sind dann auch schon mal «belatzhoste» Arbeiter am Werke, für Sprachkunst ja durchaus exemplarisch! Was da als Science-Fiction geboten wird, überwindet nicht nur mühelos die Grenzen von Zeit und Raum, sondern auch die der Erzählinstanzen, man ist immer wieder im Zweifel, ob da noch ein Erzähler spricht oder schon der Computer selbst. Denn bald, wird behauptet, könnten ja die Computer schon ganze Romane schreiben. Spätestens dann aber muss ich mir ein neues Steckenpferd suchen, die Literatur also an den Nagel hängen und eine Computersprache lernen, – zum Beispiel.

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Eine kurze Geschichte der RAF

Eine kurze Geschichte der RAF

Eine kurze Geschichte der RAF. Vor bald 51 Jahren wurde der 27-jährige Kleinkriminelle Andreas Baader bei einem Bibliotheksbesuch den staatlichen Behörden durch eine Befreiungsaktion entzogen. Er hätte gerade mal noch zwei Monate seiner wegen Brandstiftung gefassten Strafe zu verbüßen gehabt. Denn nach Verbüßung der Hälfte seiner Strafe hätte er die vorzeitige Entlassung auf Bewährung beantragen können. Aber an jenem 14. Mai 1970 begann ein beispielloser Amoklauf, der in der Geschichte der BRD hoffentlich einzigartig bleibt.

“Hitler’s Kinder”?

Die sogenannte Stadtguerilla oder Baader-Meinhof Bande und selbsternannte RAF war natürlich kein Einzelphänomen, wie Kellerhoff glaubhaft darstellt. Es gab auch die Bewegung 2. Juni oder andere terroristische Kommandos, die glaubten durch ihre Taten eine Art „Volkskrieg2 entfesseln zu können. Die Bilanz fällt allerdings weit nüchterner aus: zwischen 1970 und 1993 starben 34 unschuldig Opfer, 230 Menschen wurden teilweise schwer verletzt. Auf Seiten der Terroristen starben fünf, sechs nahmen sich das Leben, zwei weitere starben bei misslungenen Anschlägen und bei Unfällen. Mit rund 40 Banküberfällen hatten sie insgesamt sieben Millionen Mark erbeutet. Durchschnittlich saßen die meisten RAF-Mitglieder, die zu lebenslänglich verurteilt worden waren, 20 Jahre in Haft. Seit 2011 ist kein früheres RAF-Mitglied mehr in Haft, schreibt Kellerhoff. Die von den Studenten zum „Schweinesystem“ ernannte Gesellschaft der Bundesrepublik hatte also durchaus Milde walten lassen. Zumindest stellt Kellerhoff dies glaubhaft so dar, genauso wie er bemüht ist, festzuhalten, dass stets die Terroristen zuerst schossen und immer die RAF das Feuer eröffnete. Ein Staat in der Defensive?

Prada-Meinhof und Radical Chic

Besonders beachtenswert ist an der Geschichte der RAF, dass nicht nur viele Anwälte anzog, sondern auch eine Reihe anderer Sympathisanten der Zivilgesellschaft. Ohne diese wäre der RAF wohl gar kein „Erfolg“ zuteil geworden, wenn man die Bewaffnung der Bundesrepublik und die Aufrüstung von Polizei und Militär denn als solchen werten möchte. Kellerhoff fasst in seiner kurzen und sehr lesenswerten Geschichte der RAF die wichtigste Ereignisse zusammen und gliedert sein Buch nach den drei Generationen der RAF, wobei letztere vielleicht sogar nur mehr ein Phantom war. Über weite Strecken liest sich seine Erzählung wie ein spannender Krimi, der allerdings real ist und keine Fiktion, wie die Western und Nouvelle Vague Filme, die die RAF in ihrer Jugend offensichtlich als Vorlage für ihren Amoklauf sichteten. Dass die Veränderung der Gesellschaft ein langsamer, evolvierender Prozess ist und keineswegs durch Gewalt erreicht werden kann, bleibt als Erkenntnis zurück. Aber dafür mussten zu viele Unschuldige sterben.

Kellerhoff erhielt 2012 den Ehrenpreis der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Zuletzt erschien bei Klett-Cotta sein Buch über „Mein Kopf“ und dessen Folgen. „Mein Kampf – Die Karriere eines deutschen Buches“, ist eine erste umfassende und allgemeinverständliche Aufklärungsschrift über das Machwerk Hitlers und natürlich auf dem Stand der aktuellen Forschung.

Sven Felix Kellerhoff

Eine kurze Geschichte der RAF

1.Aufl. 2020, 208 Seiten, Klappenbroschur

ISBN: 978-3-608-98221-3

18,00 EUR (D), 18,50 EUR (A)

Klett-Cotta

 


Genre: Politik, Zeitgeschichte
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Die Unschärfe der Welt

In ihrem vierten Roman «Die Unschärfe der Welt» erzählt die aus Siebenbürgen stammende Schriftstellerin Iris Wolff auf gerade mal zweihundert Seiten die vier Generationen umfassende Geschichte einer Familie, deren starke Bindungskräfte die Zeiten überdauern. Bereits der Buchtitel kündet ein narratives Verfahren an, das vieles nur andeutet und in ‹Unschärfe› belässt, während ‹Welt› andererseits auf ein breit gestreutes Themenspektrum verweist. Mit einer wunderbar bilderstarken Sprache gelingt dieser literarische Spagat auf beeindruckende Weise, der Autorin verleiht ihrem Text damit etwas geradezu poetisch Schwebendes. Erinnerung sei «ein Raum mit wandernden Türen», heißt es im Roman dazu.

Es beginnt gleich dramatisch. Die schwangere Frau des Pfarrers einer dörflichen Gemeinde im rumänischen Banat, die beinahe ihr Kind verliert, wird mit der Kutsche eiligst ins nächste Krankenhaus gefahren. Dort verdächtigt man sie zunächst mal, eine in Rumänien strafbare Abtreibung eingeleitet zu haben, nichts jedoch liegt ihr ferner als das. Wochen später bringt sie schließlich dann Samuel zur Welt, der auch die folgenden sechs Episoden als rätselhafte Figur lose miteinander verbindet. Samuels Großmutter gehört als Tochter aus reichem Hause zu den ewiggestrigen Monarchisten, die sich sehnlich den rumänischen König zurückwünschen, sie wird sich mit dem verhassten Sozialismus niemals abfinden können. Hannes, der glückliche Vater, als evangelischer Seelsorger dazu verdonnert, die Gastfreiheit katholischer Klöster in seinem Pfarrhaus weiterzuführen, muss sich nach der Beherbergung zweier schwuler Lehrer aus der DDR bei der verhassten Securitate verpflichten, künftig Berichte über seine jeweiligen Gäste abzuliefern. Es ist ein bunter Reigen von Figuren aus der Familie und ihrem Umfeld, über die da, vor dem Hintergrund sich wandelnder politischer Verhältnisse, von den sechziger Jahren an bis in die Umbruchjahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs berichtet wird. Die Liebe spielt dabei eine wichtige Rolle, auch die zwischen Männern, Freundschaften zerbrechen, tragische Unfälle ereignen sich. Religion, Krankheit und Tod sind ebenfalls Themen, die die Menschen permanent beschäftigen. Aber auch ein Husarenstück wie die Flucht nach Österreich in einem gestohlenen Agrarflugzeug wird erzählt.

Immer wieder sind stimmig die verschiedensten Symbole in diese Geschichte eingebaut, wird mit Metaphern verdeutlicht und komprimiert zugleich. Von der Suche nach Glück wird berichtet, welches oft in der Natur zu finden sei, aber auch im friedlichen Miteinander bescheidener, genügsamer Menschen und im unverdrossenen Neubeginn nach Enttäuschungen und Verlusten. Die ethnische Vielfalt und Vielsprachigkeit bildet dabei kein Hindernis, selbst bei Familienfeiern unterhält man sich oft wie selbstverständlich in drei verschiedenen Sprachen. Auf die Frage, wer denn in dem kleinen Dorf, in dem es «mehr Schafe als Einwohner gibt», heute noch eine einheimischer Suppe zu kochen vermag, fragt die Pfarrersfrau schnippisch zurück: «Was meinst du mit einheimisch? Schwäbisch, slowakisch, ungarisch, rumänisch, tschechisch, jüdisch oder vielleicht serbisch»? Amüsant ist auch ein Intermezzo in einer Buchhandlung, in der ein dort beschäftigter, ehemaliger Lehrer nur das Lesen von gekauften Büchern statthaft findet: «Geliehene Bücher zu lesen war wie Sex mit angelassenen Klamotten» lautete seine Erkenntnis.

Vieles wird nur angedeutet in diesem komplexen Plot, dessen Prinzip die extreme Komprimierung ist, Iris Wolff vermeidet konsequent jede Vertiefung des historischen Geschehens, Stichworte dazu müssen reichen. Ein sprachliches Kennzeichen dafür sind unter anderem die kurzen Sätze, die den Text flüssig lesbar machen und ihn zuweilen geradezu musikalisch schwingend erscheinen lassen. Bei alldem muss der Leser ständig wachsam sein, um nachvollziehen zu können, wie die einzelnen Episoden zusammenhängen, worauf das alles denn hinausläuft in diesem leisen Roman.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Der englische Gärtner

Der englische Gärtner

Im letzten Frühling erschien in der ZEIT Literaturbeilage ein Interview mit dem Autor: Es fand in Oxford statt, wo er über Jahrzehnte die Gartenanlage einer Universität gestaltet hatte. Im Hauptberuf war er Antikenforscher mit dem Schwerpunkt Griechenland, und nebenbei hatte er mehr als vier Jahrzehnte lang eine Gartenkolumne für die Financial Times geschrieben. Wie die von mir so geschätzte Vita Sackville-West, die er auch als Vorbild bezeichnet. Das Interview führte Susanne Mayer.

Aus dem Fundus der Kolumnen hatte Fox 2010 für das Buch Thoughtful Gardening, Great Plants, Great Gardens, Great Gardeners mehrere Dutzend ausgewählt, und sie (so wie Vita) nach Jahreszeiten geordnet. In den Texten legt er Wert darauf, thoughtful zu gärtnern, was die Übersetzerin meist durch besonnen übersetzt. Nun kommt das Problem: in vielen Texten gibt er sich gänzlich unbesonnen, mal wie ein Pubertist, der gerne polarisiert. Von Besonnenheit, Nachdenklichkeit oder gar Altersweisheit keine Spur.

Da besucht er die Firma Bayer und schwärmt von Herbiziden, klagt darüber, dass die richtig starken Keulen uns Gärtnern verwehrt bleiben, nur die Landwirtschaft darf sie anwenden. Er bekämpft mit unverschämter Freude die Tiere, die ihn im Garten stören. Es half, mir einzureden, wer die Financial Times liest, bräuchte das so. Ich kenne niemanden, der oder die sie regelmäßig liest, stelle mir als Leser erfolgreiche Banker und Manager vor, oder solche, die es gerne wären.

Aber trotzdem hab ich weitergelesen: Wir ziehen mit einem älteren Herrn in die Vergangenheit, besuchen Stätten der Antike und sehen, wie es den Pflanzen heute dort geht. Wir reisen durch die Welt und entdecken den Garten einer ehemaligen thailändischen Prinzessin in Thailand, wandern entlang der blühenden Kirschen in Korea, reiten durch die kirgisische Steppe auf der Suche nach den schönsten Krokussen. Besonders freue ich mich, wenn er Parks beschreibt, die ich kenne und durch sein großes Wissen meine Erinnerungen runder werden.

Von vielen Pflanzen, die ich im Garten hab, weiß ich nun, ob sie es sauer oder kalkreich mögen, dass man Kaiserkronen gaaanz tief einbuddeln und regelmäßig düngen muss, wenn sie wieder blühen sollen. Ansteckend ist auch die Liebe zum Säen und Vermehren. Gärten atmen den Hauch der Ewigkeit, und er lässt ihn uns spüren.

Warnen muss ich allerdings doch vor seiner Geringschätzung Frauen gegenüber. Da kann man kaum glauben, dass er aus meiner Generation ist. Über sein Frauenbild hat er seit der Internatszeit in Eton offensichtlich noch nicht neu nachgedacht. Er ist eher wie mein Großvater, selbst mein Vater, auch ein Internatsschüler, war da schon weiter.

Es sind Belanglosigkeiten, aber auch Verstörendes. Einige Beispiele: Ein bekannter englischer Gärtner weiß, dass „Frauen kein Auge für den Mittelgrund des Gartens haben“ und wird für diese Beobachtung als gradlinig gelobt. Richtig dumpfbackig sind die Kapitel Rüsslerinnen an der Macht und aggressiv wird er in Ladykiller.

Fast um die Fassung brachte mich der schlüpfrige Bericht über Blumen im Leben der Lady Chatterly. Dieses „erotische Meisterwerk“ wurde von einem Mann geschrieben, D.H.Lawrence. Dabei machte dieser einen gärtnerischen Fehler, in dem er die Lady und ihre Haushälterin im Frühling Akeleien einpflanzen lässt, die im Sommer blühen sollen. Nun weiß man, dass Akeleien im Juni mit dem Blühen aufhören. Beim Legen der Wurzeln haben die Frauen erotische Gefühle, sie „spüren, wie ihr Schoß vor Glück bebte.“ Fox flicht dagegen ein, er hätte so was nie gehabt.

Diese von einem Mann phantasierte Geschichte, turnt ihn so sehr an, dass er immer, wenn Frauen sich selbst als leidenschaftliche Gärtnerinnen bezeichnen, an diese Literaturstelle denken muss. Wenn sie wenigstens eine Frau geschrieben hätte … wäre sie immer noch nicht fair gegenüber der Gärtnerin.

Beim Lesen fragte ich mich immer öfter, warum Susanne Mayer auf diese Frauenverachtung nicht eingeht. In der ZEIT hat sie eine Kolumne, die sich kritisch mit männlichen Eigenarten befasst. So etwas ließe sie Männern da nicht durchgehen. Ich guckte mir das Interview noch einmal an. Chapeau! Sie geht darin gar nicht auf das Buch ein, sondern plaudert mit ihm über seine Biographie. Geschickt gemacht. Ich bin fast dankbar, dass sie nur über Schönes sprach. Sonst wüsste ich immer noch nicht, dass ich den Schneeball kalken und die Zaubernuss sauer halten muss.

Ältere Gärtnerinnen, mit oder ohne Leidenschaft, die auch einem Zausel gern zuhören, wenn er Interessantes zu erzählen hat, können sich auf die Lektüre freuen. Gärtner natürlich auch.

Leseprobe


Genre: Garten, Pflanzen, Sachbuch
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Risiko

Es lebe der Zufall

Mit dem Namen eines auf Clausewitz zurückgehenden, militärischen Strategiespiels deutet der Roman «Risiko» von Steffen Kopetzky auf sein Thema hin. Es handelt sich um die wie ein Hasardspiel anmutende Afghanistan-Expedition der Mittelmächte Deutschland und Österreich zu Beginn des Ersten Weltkriegs, die es als ‹Niedermayer-Hentig-Expedition› tatsächlich gegeben hat. Angeregt dazu wurde der Autor, wie er im Interview erklärte, durch das Buch «East of Constantinople» von Peter Hopkins, in dem er ein Foto von Oskar von Niedermayer in Kabul entdeckte, der darauf aussah «wie aus einem Karl-May-Roman entsprungen». Das reale historische Geschehen ist hier fiktional angereichert zu einem dickleibigen Abenteuerroman, der vor allem durch seine Gutmenschen und sein Draufgängertum an den mit Abstand auflagestärksten deutschen Schriftsteller aller Zeiten erinnert, Kara Ben Nemsi lässt grüßen!

Als junger, aus München stammender Marinefunker erlebt Sebastian Stichnote den Kriegsbeginn im Mittelmeer auf dem Kleinen Kreuzer ‹Bremen›, der vor der britischen Übermacht nach Konstantinopel fliehen muss und dort umgeflaggt in die Kriegsmarine der neutralen Türkei eingegliedert wird. Der technisch gewiefte Funker schließt sich daraufhin einer geheimen Expedition nach Kabul an, deren Ziel es ist, den Emir von Afghanistan zum Kriegseintritt gegen die Engländer zu bewegen. Im Ringen um die Vorherrschaft der Großmächte in Zentralasien geht der in Berlin ausgeheckte Plan davon aus, man könne die islamischen Völker dort zum Dschihad aufhetzen, zum Heiligen Krieg, um dadurch endlich die Vormacht der Briten zu brechen. Die 5000 Kilometer lange Reise der anfangs knapp hundertköpfigen Expedition führt sie vom Bosporus zunächst mit der Eisenbahn quer durch das Osmanische Reich über Aleppo nach Bagdad und von dort als Karawane über Isfahan und durch die Kewir-Wüste in Persien an den Hindukusch, nach Kabul.

Stichnote als Held der Geschichte ist der unangefochtene Großmeister des als Metapher für den gesamten Roman dienenden, militärischen Strategiespiels um die Weltherrschaft. Im Laufe der Expedition muss er seine schweren Funkgeräte zurücklassen und auf seine Brieftauben zurückgreifen, mit denen er Berichte an die zurückgebliebene Etappe schickt. Bei seinem im Prolog geschilderten Mordanschlag fungiert ein von ihm aufgelassener, weißer Jagdfalke als Startsignal. Man merkt dem Roman an solchen Details eine sorgfältige, umfassende Recherchearbeit an, deren Ergebnisse in dieses überreiche narrative Gemenge aus Fakten und Fiktion einfließen. «Risiko» enthält alle Zutaten für einen unterhaltsamen Roman, zu denen hier zuvorderst natürlich die Abenteuerlust gehört. Aber auch Verrat, Missgunst, Kameradschaft, Strapazen, Rückschläge, Beinahe-Katastrophen, Kämpfe und unzählige andere Ereignisse gehören zu diesem üppigen Erzählkosmos. Wirklich ganz am Rande dieser ansonsten ziemlich alkoholseligen, archetypischen Männerwelt, als geschickt eingebaute, erzählerische Klammer lediglich, gehört sogar die Liebe dazu. Sie führt denn auch prompt zu einem im Epilog verschämt angedeuteten, kitschigen Ende, – an den großen Kollegen aus Radebeul erinnernd.

Es hätte diesem Roman wirklich nicht geschadet, die maritime erste Hälfte einfach ganz wegzulassen und sich auf die Expedition als den eigentlichen Erzählstoff zu beschränken, für den es ja eine interessante historische Vorlage gibt. Sprachlich überzeugend ohne Schnörkel wird hier eine Geschichte erzählt, deren üppiger Plot sich in hemmungsloser Phantasie von Abenteuer zu Abenteuer stürzt und dabei ungeniert von den unwahrscheinlichsten Zufällen lebt. Ungebremst mäandernd muss hier selbst das allerkleinste Detail dann unbedingt auch noch erzählt werden, – vieles von dieser stofflichen Überfülle aber ist einfach nur störender, manchmal sogar ärgerlicher Ballast! Abenteuer liebende Leser werden ihren Spaß haben an diesem Roman, andere hingegen werden sich ziemlich langweilen oder entnervt abbrechen!

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Das Schöne, Schäbige, Schwankende

Konglomerat literarischer Vignetten

Die Schriftstellerin Brigitte Kronauer hat ihr kürzlich erschienenes Werk «Das Schöne, Schäbige, Schwankende» erst kurz vor ihrem Tod fertig gestellt, es trägt die eigenwillige Genrebezeichnung «Romangeschichten». Schon als Schülerin hat sie angefangen zu schreiben, später dann als Deutschlehrerin gearbeitet, ehe 1980 der erste Roman der damals Vierzigjährigen erschien. Ohne Zweifel gehört die Büchner-Preisträgerin zu den herausragenden deutschen Schriftstellern unserer Zeit, viele, auch ich, schätzen sie als deren wortmächtigste ein. Ihre unbeirrt zum Credo erhobene Erkenntnis von der Ambivalenz der Dinge beherrscht auch den vorliegenden Band. Gegensätze seien nun mal die Würze in der Literatur, hat sie dazu erklärt, sie erst würden ermöglichen, viel dichter an die Wirklichkeit heranzukommen, denn man dürfe sich das intensive Erleben nicht nehmen lassen. Genau das ist ihr hier in ihrer geradezu als Vermächtnis anmutenden Sammlung von Geschichten wahrlich gelungen.

Die Autorin schildert in einem vorwortartig kurzen, ersten Kapitel ihr Vorhaben, in ihrem Romanprojekt über Menschen zu schreiben, Freunde, flüchtige und alte Bekannte. Das Manuskript trug den Arbeitstitel ‹Glamouröse Handlungen›, «der ein bisschen aggressiv gemeint war, denn solange ich veröffentliche, hat man mir vorgeworfen, mal grob, mal mit sanftem Kopfschütteln, vom sogenannten Plot nichts zu verstehen. Im Klartext heißt das, man unterstellt mir narrative Impotenz. Weiß ich etwa nicht, dass die Welt von sogenannten Handlungen  und Ereignissen zwischen Mikro- und Makrokosmos geradezu birst und Heerscharen von Autoren ihnen nachhetzen auf Teufel komm raus? Ich hoffte, diesmal den Stier nach meinem Gusto bei den Hörnern packen zu können. Irgendwelche Leute sollten sich schwer wundern». Und sie schreibt weiter: «Neununddreißig Porträts sollten zu je dreizehn nach Kategorien geordnet werden. Sie lauteten: ‹Das Schöne, das Schäbige, das Schwankende›». Die Schäbigen würden in einen stetigen Fall geraten ins immer Unerfreulichere, erläutert sie ihre geplante Vorgehensweise, bei den Schönen würde sich der Aufstieg zur lichten Offenbarung erst allmählich abzeichnen, die Schwankenden sollten «… unentschieden anfangen, dann zu einem glänzenden Moment aufsteigen und von dort aus wieder absinkend, in der Weise gezähmt, wie sie es jeweils verdienen».

Im zweiten und dritten der fünf Kapitel werden kurze Figurenporträts aus verschiedenen sozialen Gruppen skizziert, die in einem weiten Bogen über diverse Milieus hinweg psychologisch feinsinnig über Alltägliches ebenso berichten wie über Kunst und Natur. Formal kühn entstehen so äußerst kunstvolle narrative Vignetten, in denen bildhaft diverse solitäre Individuen auftreten, die sich allmählich zu einem polyphonen Wortgemälde fügen. Die beiden folgenden, weit umfangreicheren Kapitel handeln vom schwankenden Schicksal einer lebenslustigen, schönen jungen Frau sowie vom ebenso schwankenden, insgesamt aber eher behaglichen letzten Lebensabschnitts eines Literatur-Professors, der sich als schwärmerischer Bewunderer des berühmten Renaissance-Malers Matthias Grünewald erweist. Über dessen Isenheimer Altar wird in der letzten Geschichte immer wieder aufs Neue und bis ins allerkleinste Detail berichtet, der 92jährige Ich-Erzähler findet kein Ende in seiner schier grenzenlosen Verehrung.

Selbstironisch, spöttisch, geradezu übermütig bekennt Brigitte Kronauer im ersten, dem unverkennbar autobiografischen Kapitel, dass sie an ihrem streng geplanten Romanprojekt letztendlich gescheitert sei, «alles verlor den sortierenden Halt». Und so ist denn auch diese Geschichten-Sammlung ein undurchschaubares Konglomerat literarischer Vignetten und Kurzgeschichten geworden. Genau das aber ist als wortmächtiges Sprachkunstwerk mit einem kunterbunten Ensemble stimmig beschriebener, lebensechter Figuren, die viele Formen und Varianten menschlichen Daseins abbilden, unbedingt zur Lektüre zu empfehlen.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Das flüssige Land

Schwarze Löcher als Metapher

Mit ihrem Roman-Debüt «Das flüssige Land» hatte Raphaela Edelbauer schon 2018 den Publikumspreis in Klagenfurt erhalten, nun kam sie damit sehr zu recht auf die Shortlist des diesjährigen Frankfurter Buchpreises. Als Jurymitglied hätte ich eher für sie als Preisträgerin gestimmt, aber das Migrations-Thema ist derzeit wohl gar zu übermächtig und verspricht wohl weit höhere Auflagen als ein surrealer Roman, auch wenn der literarisch besser gelungen erscheint und zudem deutlich unterhaltsamer ist.

Die 35jährige Wiener Physikerin Ruth steht kurz vor ihrer Habilitation, als sie die Nachricht erhält, ihre Eltern seien beide bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen. Deren schriftlich hinterlassener Wunsch, im Ort ihrer Kindheit beerdigt zu werden, bereitet der Ich-Erzählerin nun aber große Probleme, denn Groß-Einland ist nirgendwo in Österreich verzeichnet, obwohl doch ihre Eltern ihr viel erzählt hatten von ihrem früheren Leben dort. Irritiert macht sie sich mit dem Auto auf den Weg in die Gegend, wo nach den Erzählungen der Ort eigentlich liegen müsste. Und tatsächlich sieht sie nach tagelanger vergeblicher Suche, bei der ihr niemand irgendeinen Hinweis geben konnte, weil keiner je von diesem Ort gehört hat, im Vorbeifahren an einer Nebenstrasse plötzlich ein verwittertes Schild «Groß-Einland». Auf einem Feldweg, der irgendwann nur noch über Stock und Stein mitten durch den Wald führt, gelangt sie mit ihrem dadurch total ramponierten, werkstattreifen Auto tatsächlich in den Ort, den niemand kennt. Es stellt sich bald heraus, dass Groß-Einland auf einem riesigen Hohlraum steht, den ein ehemaliges Bergwerk hinterlassen hat. Dieses gewaltige Loch im Untergrund bewirkt ständige Erdabsenkungen, die gefährliche Schäden an den Häusern anrichten, manche sind schon unbewohnbar. Merkwürdig ist allerdings, dass die Bewohner kaum Notiz davon nehmen, die ständig auftretenden und immer breiter werdenden Risse werden einfach zugespachtelt, niemand verliert ein Wort darüber.

In diesem Szenarium stößt Ruth bei den Vorbereitungen für die Beerdigung der Eltern auf Einwohner, die sie zwar freundlich aufnehmen, die aber allesamt seltsam verschlossen sind und ihren Fragen ausweichen. Je tiefer sie in die eigene Familiengeschichte einzudringen versucht, desto verwirrender wird sie. Ruth beschließt, neugierig geworden, länger als geplant zu bleiben und die geheimnisvollen Hintergründe aufzudecken. In einer an Kafka erinnernden, surrealen Geschichte eines merkwürdigen Ortes gerät die Protagonistin immer tiefer hinein in die rätselhaften Strukturen der Einwohnerschaft, die von einer geheimnisvollen, alles beherrschenden Gräfin regiert wird. Ruth nimmt schließlich sogar deren Auftrag an, eine Lösung für das «Loch» zu finden, obwohl sie als theoretische Physikerin dazu überhaupt nicht qualifiziert ist. Die Habilitation rückt völlig in den Hintergrund, so sehr nimmt sie ihre Recherche in Anspruch, sie vermutet nämlich einen Massenmord der Nazis hinter dem hartnäckigen Schweigen der Bewohner, den sie partout aufdecken will. Und aus den paar Tagen, die sie ursprünglich zu bleiben gedachte, werden schließlich drei Jahre, in denen sie dieser merkwürdigen, kollektiven Verdrängung nachspürt!

Listig führt die kreative Autorin im Stil der unzuverlässigen Erzählerin den zunächst arglosen Leser, sprachlich souverän, ständig auf falsche Spuren. Sie brennt dabei ein wahres Feuerwerk ab an skurrilen Einfällen, die sie zuweilen mit komplizierten physikalischen Anmerkungen garniert, was dem surrealen Plot einen realistischen Anstrich gibt. Die Figuren erscheinen allesamt sympathisch, Landschaft und Ort sind bilderbuchartig als idyllisch beschrieben, womit das Thema Heimat als eine weitere falsche Fährte gelegt ist. So steht in dieser parabelhaften Traumwelt den Schwarzen Löchern der Astrophysik das mysteriöse «Loch» in Groß-Einland gegenüber als Metapher für ein auf schwankendem Boden errichtetes soziales Gefüge.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Roman ohne Held

Konzeptionell danebengelungen

Die Lektüre des Buches von Ulrike Kolb mit dem deskriptiven Titel «Roman ohne Held» verblüfft den Leser gleich zu Beginn. Denn da wird detailliert – aus der Perspektive eines Ertrinkenden – dessen Ertrinken geschildert, werden geradezu minutiös alle medizinischen Phasen des Sterbeprozesses aufgezählt bis zum endgültigen Exitus. Und ganz offensichtlich, so merkt der erstaunte Leser, soll es so weitergehen mit dem toten Ich-Erzähler, er berichtet wie in einem medizinischen Lehrbuch von den vergeblichen Versuchen zur Wiederbelebung ebenso wie von der nachfolgenden Obduktion seines Körpers in der Pathologie. Eine anatomische Lehrstunde geradezu, man fühlt sich wie ein junger Medizinstudent, – von denen der eine oder andere zartbesaitete genau da ja schon mal weiche Knie bekommt und dann doch lieber Jura studiert. Es ist diese irritierende narrative Sichtweise aus dem Jenseits, die sehr geschickt einen starken Sog zum Weiterlesen erzeugt.

Nach dem Tod wird denn auch gleich die schwere Geburt des namenlos bleibenden Ich-Erzählers geschildert, genau so medizinisch detailliert, nur dass hier ein psychologisches Element hinzukommt, die Mutter wünscht dem hässlichen Säugling, der zunächst kein Lebenszeichen von sich gibt, den Tod, die Hebamme solle ihn einfach ans offene Fenster legen, damit seine kaum vorhandenen Lebensgeister sich wegen der Kälte nicht entfalten. Aber dann kommt doch noch der befreiende erste Schrei des Neugeborenen, und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Denn was wir im Folgenden lesen ist die Geschichte eines von Geburt an unter seiner Zurückweisung leidenden Mannes, den die Welt geradezu anekelt, der in allem nur das Schlechte sieht. Immer wieder wird seine lebenslängliche, unheilvolle Getriebenheit auf dieses eine elementare Ereignis seiner frustrierenden Geburt zurückgeführt. Wobei sein fataler Urschmerz meist durch Gerüche ausgelöst wird, Schweiß, Eiter, Erbrochenes, Menstruationsblut, Kot und Urin bewirken zwanghaft Ekelgefühle bei ihm. Und sein eigener «Seelengestank» hindert ihn am Atmen, der «Pesthauch meines Selbst», sagt er.

Leider hat sich Ulrike Kolb mit ihrer kreativen Idee vom Erzählen aus dem Totenreich heraus gründlich verhoben, denn sie kann diese außergewöhnliche Perspektive nicht durchhalten und wechselt zunehmend in die Sicht der Tochter des Toten, die sich imaginativ die Lebenserinnerungen des Vaters aneignet: «Indem sie sich vorstellt, ich wäre derjenige, der schreibt», liest man da, «lässt sie Szenen des Lebens aufleuchten, die der Lebende vergessen hat, um sie in die Kellerverliese seiner Seele herabzupressen.» Und dieses Leben ist vom Chaos geprägt, familiär hinterlässt der – ja nun doch vorhandene – «Held» nur Trümmer, er ist geschieden, der Sohn und die Tochter haben sich von ihm abgewandt, seine Mätresse nimmt ihn finanziell aus nach Strich und Faden, er hat keine Freunde und vagabundiert einsam durch die Welt. Das ererbte Vermögen hat er durch obskure Geschäfte vervielfacht, dann aber auch wieder verloren oder so raffiniert versteckt, dass es sogar für ihn selbst am Ende großenteils nicht mehr auffindbar ist, zum Teil auf Nummernkonten schlummert, deren Nummern er vergessen hat. Zudem wird er auch noch von skrupellosen Vermögensberatern betrogen, es bleibt kaum etwas übrig vom einst so eifrig zusammengerafften Mammon, als schließlich der Sarg ins Grab gesenkt wird.

Schlüssig ist all das nicht, weder familiäres und finanzielles Chaos noch die traumatischen Kriegserlebnisse in Babyn Jar oder die sadomasochistischen Anwandlungen des fiesen Helden, für den Perversion, Gewalt und Sex untrennbar zusammengehören. Der erzählerische Schwerpunkt liegt schon fast penetrant auf der schieren Körperlichkeit, während die psychologischen Aspekte allzu klischeehaft und unmotiviert aneinander gereiht werden. Auch wenn manches dabei gut erzählt wird, so ist der Roman als Ganzes konzeptionell doch gründlich danebengelungen!

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de

 


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Das Singen der Sirenen

Literarisch ein Solitär

Mit dem Roman «Das Singen der Sirenen» gelang Michael Wildenhain eine überzeugende Synthese aus Inhalt und Stil, aus zeitaktueller Themenvielfalt und bravourös variierter Sprache. Wobei eines seiner Themen schon im Titel anklingt, ist doch der Protagonist wie Odysseus den Verlockungen der Sirenen ausgesetzt, – nur dass niemand den Romanhelden an den Mast bindet. Ein Liebesroman also? Mitnichten! Der Autor hat als ehemaliger Hausbesetzer und Linker soziale, politische, ethische und ökonomische Themen eingebunden in seinen Plot, der zeitlich im Jahre 2010 angesiedelt ist.

Dr. Jörg Krippen, Literaturwissenschaftler, Dramatiker und Frankenstein-Spezialist, wird als Gastdozent nach London eingeladen. Ein willkommener Job, denn eine Karriere als Wissenschaftler hat er längst verpasst, er lebt in prekären Verhältnissen mit Frau und fünfzehnjährigem Sohn Leon in einem Plattenbau in Berlin-Hellersdorf. Sabrina arbeitet als Lageristin, beide waren aktive Mitglieder einer militanten Antifa-Gruppe, haben sich aber aus Angst vor Vergeltung in ein unauffälliges Privatleben zurückgezogen, nachdem die beinharte, prollige Sabrina bei einem Überfall einen Neonazi angeschossen hatte. Auf dem Campus in London trifft Krippen auf Mae, eine an ihrer Promotion arbeitende, deutlich jüngere und überaus attraktive Stammzellen-Forscherin indischer Herkunft, die schon bald seine Geliebte wird. Und ihm dann überraschend seinen elfjährigen, unehelichen Sohn Raji präsentiert, Ergebnis eines Seitensprungs mit ihrer älteren Schwester. Ein Gentest bestätigt seine Vaterschaft, ergibt aber als unerwartetes Nebenergebnis, dass er nicht der Vater von Leon ist.

Der Erzählstoff kreist um polarisierende Themen, die akademische Rivalität zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zum Beispiel, oder gebildete Geliebte und proletenhafte Ehefrau, sexuell beglückende Liebe und unerwünschte Fortpflanzung, er lebt aber auch vom kulturellen Kontrast zwischen westlichem und östlichem, hier indischem Lebensstil, – selbst Pegida wird thematisiert. Die beiden Söhne Raji und Leon könnten unterschiedlicher nicht sein, draufgängerischer Rugbyspieler und Schachgenie der eine, untalentierter Fußballer der andere. Natürlich spart Wildenhain als Linker auch nicht mit Kapitalismuskritik, personifiziert hier durch den Cousin von Mae, der viel Geld verdient, ohne dass wirklich klar wird, womit, während Jörg als Dramatiker auf Hartz 4 angewiesen wäre ohne seine Gastdozentur. Der antriebslose Protagonist, ein typischer Looser, übt eine unerklärliche Anziehungskraft auf Frauen aus, dem auch die «schöne Russin» erlegen ist, Regisseurin eines seiner erfolglosen Bühnenwerke. Als Liebhaber bringt er Frau und Geliebte im Bett gleichermaßen zum Stöhnen, der Sex wird jedoch niemals vulgär erzählt, sondern ausgesprochen dezent, eher beiläufig, erwähnt. Erzählerisches Meisterstück ist der Kuss im 49ten, dem vorletzten Kapitel: «Es ist ein Kuss, der, wie Alice Munro es ausdrückt, ein Ereignis für sich ist», der Abschiedskuss von Mae nämlich, nachdem er sich endgültig zur Rückkehr nach Deutschland entschieden hat. «Denk nach, Jörg Krippen, geh in dich, horche in dich hinein, weißt du, wogegen du dich entscheidest?» sagt die Erzählerstimme, als er Mae im Arm hält. Grandios, diese knapp zwei Seiten!

Wildenhain jongliert sprachlich virtuos mit verschiedenen Stilen, variiert sie stimmig und szenensynchron nach Erzählsträngen, wechselt perspektivisch von der Ich- zur Er-Erzählform oder auch zur Du-Form und deutet, kursiv gesetzt, am Ende als auktorialer Erzähler sehr berührend das weitere Schicksal seiner Figuren an. Seine bilderreiche Sprache ist komplex, changiert von stakkatoartigen Wortfetzen zu ambitionierten Satzgebilden, vom Gassenjargon bis zur fein ziselierten Hochsprache. Ich habe in der deutschen Gegenwartsliteratur schon lange nichts Vergleichbares mehr gelesen, literarisch ein Solitär also, – bereichernd, erfreuend und unterhaltend im besten Sinne!

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de

 


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart