Das Singen der Sirenen

Literarisch ein Solitär

Mit dem Roman «Das Singen der Sirenen» gelang Michael Wildenhain eine überzeugende Synthese aus Inhalt und Stil, aus zeitaktueller Themenvielfalt und bravourös variierter Sprache. Wobei eines seiner Themen schon im Titel anklingt, ist doch der Protagonist wie Odysseus den Verlockungen der Sirenen ausgesetzt, – nur dass niemand den Romanhelden an den Mast bindet. Ein Liebesroman also? Mitnichten! Der Autor hat als ehemaliger Hausbesetzer und Linker soziale, politische, ethische und ökonomische Themen eingebunden in seinen Plot, der zeitlich im Jahre 2010 angesiedelt ist.

Dr. Jörg Krippen, Literaturwissenschaftler, Dramatiker und Frankenstein-Spezialist, wird als Gastdozent nach London eingeladen. Ein willkommener Job, denn eine Karriere als Wissenschaftler hat er längst verpasst, er lebt in prekären Verhältnissen mit Frau und fünfzehnjährigem Sohn Leon in einem Plattenbau in Berlin-Hellersdorf. Sabrina arbeitet als Lageristin, beide waren aktive Mitglieder einer militanten Antifa-Gruppe, haben sich aber aus Angst vor Vergeltung in ein unauffälliges Privatleben zurückgezogen, nachdem die beinharte, prollige Sabrina bei einem Überfall einen Neonazi angeschossen hatte. Auf dem Campus in London trifft Krippen auf Mae, eine an ihrer Promotion arbeitende, deutlich jüngere und überaus attraktive Stammzellen-Forscherin indischer Herkunft, die schon bald seine Geliebte wird. Und ihm dann überraschend seinen elfjährigen, unehelichen Sohn Raji präsentiert, Ergebnis eines Seitensprungs mit ihrer älteren Schwester. Ein Gentest bestätigt seine Vaterschaft, ergibt aber als unerwartetes Nebenergebnis, dass er nicht der Vater von Leon ist.

Der Erzählstoff kreist um polarisierende Themen, die akademische Rivalität zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zum Beispiel, oder gebildete Geliebte und proletenhafte Ehefrau, sexuell beglückende Liebe und unerwünschte Fortpflanzung, er lebt aber auch vom kulturellen Kontrast zwischen westlichem und östlichem, hier indischem Lebensstil, – selbst Pegida wird thematisiert. Die beiden Söhne Raji und Leon könnten unterschiedlicher nicht sein, draufgängerischer Rugbyspieler und Schachgenie der eine, untalentierter Fußballer der andere. Natürlich spart Wildenhain als Linker auch nicht mit Kapitalismuskritik, personifiziert hier durch den Cousin von Mae, der viel Geld verdient, ohne dass wirklich klar wird, womit, während Jörg als Dramatiker auf Hartz 4 angewiesen wäre ohne seine Gastdozentur. Der antriebslose Protagonist, ein typischer Looser, übt eine unerklärliche Anziehungskraft auf Frauen aus, dem auch die «schöne Russin» erlegen ist, Regisseurin eines seiner erfolglosen Bühnenwerke. Als Liebhaber bringt er Frau und Geliebte im Bett gleichermaßen zum Stöhnen, der Sex wird jedoch niemals vulgär erzählt, sondern ausgesprochen dezent, eher beiläufig, erwähnt. Erzählerisches Meisterstück ist der Kuss im 49ten, dem vorletzten Kapitel: «Es ist ein Kuss, der, wie Alice Munro es ausdrückt, ein Ereignis für sich ist», der Abschiedskuss von Mae nämlich, nachdem er sich endgültig zur Rückkehr nach Deutschland entschieden hat. «Denk nach, Jörg Krippen, geh in dich, horche in dich hinein, weißt du, wogegen du dich entscheidest?» sagt die Erzählerstimme, als er Mae im Arm hält. Grandios, diese knapp zwei Seiten!

Wildenhain jongliert sprachlich virtuos mit verschiedenen Stilen, variiert sie stimmig und szenensynchron nach Erzählsträngen, wechselt perspektivisch von der Ich- zur Er-Erzählform oder auch zur Du-Form und deutet, kursiv gesetzt, am Ende als auktorialer Erzähler sehr berührend das weitere Schicksal seiner Figuren an. Seine bilderreiche Sprache ist komplex, changiert von stakkatoartigen Wortfetzen zu ambitionierten Satzgebilden, vom Gassenjargon bis zur fein ziselierten Hochsprache. Ich habe in der deutschen Gegenwartsliteratur schon lange nichts Vergleichbares mehr gelesen, literarisch ein Solitär also, – bereichernd, erfreuend und unterhaltend im besten Sinne!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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