Die Macht des Schicksals
Der Roman «Vom Ende der Einsamkeit» des Schriftstellers Benedict Wells widmet sich dem Thema Verlusterfahrungen und der daraus resultierenden Einsamkeit am Beispiel dreier Geschwister, die durch den frühen Unfalltod ihrer Eltern zu Waisenkindern werden. Der ursprünglich wohl als Opus magnum gedachte, mit 800 Seiten sehr üppige Roman wurde schließlich auf knapp 360 Seiten gekürzt, was ihm zweifellos gut getan hat. Über einen Zeitraum von etwa dreißig Jahren hinweg schildert der deutsch/schweizerische Autor, wie die plötzlich aus ihrer familiären Mitte heraus gerissenen, ungleichen Geschwister, weitgehend allein gestellt bis auf eine Tante als einzigem familiären Anker, von Verlust und Einsamkeit geformt werden.
Der anfangs zehnjährige Ich-Erzähler Jules, sein älterer Bruder Marty und Liz, die Älteste, kommen in ein staatliches Waisenhaus, wo sie getrennt nach Alter und Geschlecht untergebracht werden. Die Familie als gemeinsamer Rückzugsort existiert plötzlich nicht mehr. Die Drei könnten im Charakter nicht unterschiedlicher sein. Jules ist der eher realitätsferne, melancholische Träumer, der sein Jurastudium abbricht und mit Hilfe von Liz glücklich einen Job bei einem Musikverlag findet, wo er für die Vertragsabschlüsse mit den Musikern verantwortlich ist. Mit seiner geheimnisvollen Schulfreundin Alva verbindet ihn eine kumpelhafte Freundschaft weit über die Schulzeit hinaus. Die Beiden verstehen sich bestens, lieben die gleiche Musik, führen intensive Gespräche und unternehmen viel miteinander, – mehr ist da nicht! Als Jules sie eines Tages zu einer Feier pünktlich zu Hause abholen kommt, steht sie nicht, wie sonst immer, schon vor der Haustüre. Die Mutter lässt ihn herein, und als er die Tür zu ihrem Zimmer öffnet, liegt sie nackt mit einem fremden Mann im Bett und starrt ihn provozierend an. Er flüchtet entsetzt! Als sie sich vor dem mündlichen Abitur noch einmal kurz sehen, reden sie kein Wort über Alvas unglaublichen Affront, und sie sehen sich dann auch über als ein Jahrzehnt lang nicht mehr wieder. Marty ist ein introvertierter Eigenbrödler, der später zum Nerd mutiert und als Internet-Pionier derart erfolgreich ist, dass er seine Firma für einen hohen siebenstelligen Betrag verkaufen kann. Die quirlige Liz, die Älteste, ist eine äußerst attraktive Frau, die immer von Männern umschwärmt wird, denen sie dann nach kurzer Zeit den Laufpass gibt. Sie taucht schon früh in die Drogenszene ein, ist extrem lebenshungrig und stürzt sich immer wieder in neue Affären.
Als Jules nach langer Zeit im Internet nach Alva sucht, sie findet und ihr eine E-Mail schickt, kommen sie wieder ins Gespräch. Sie ist jetzt mit einem bekannten, mehr als zwanzig Jahre älteren Schriftsteller verheiratet und lebt in der Schweiz. Aber Jules und Alva finden nun tatsächlich doch zueinander, diesmal sogar als Liebespaar, denn sie erkennen beide ihre enge Seelen-Verwandtschaft. Marty ist Professor geworden und ist glücklich verheiratet. Und Liz erkennt als fast 42Jährige, dass es ein Fehler war, keine Kinder zu haben. Ein Versäumnis, dass sie nun umgehend nachholen will, an Männern mangelt es ihr ja nicht.
In chronologisch aufeinander folgenden Rückblenden entwickelt der Autor über drei Jahrzehnte hinweg seine Geschichte vom auseinander Driften und wieder zusammen Finden, von Vereinsamung und dem Segen von Freundschaft und Liebe. Es ist die buchstäbliche Macht des Schicksals, die in diesem klug konstruierten Roman stets unvermittelt einwirkt und das bestehende Beziehungsgefüge grausam zerstört. Der sorgfältig aufgebaute Spannungsbogen des Romans wird durch die vielen überraschenden Wendungen des Geschehens immer wieder eindrucksvoll verstärkt. Mit psychologischem Einfühlungs-Vermögen werden die glaubhaften Charaktere präzise geschildert. Man kann verstehen, dass sie sind wie sie sind, und wie sie aus ihren Traumata allmählich zurückfinden zu selbstbewusster Lebensbewältigung.
Fazit: erfreulich
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