Vom Ende der Einsamkeit

Die Macht des Schicksals

Der Roman «Vom Ende der Einsamkeit» des Schriftstellers Benedict Wells widmet sich dem Thema Verlusterfahrungen und der daraus resultierenden Einsamkeit am Beispiel dreier Geschwister, die durch den frühen Unfalltod ihrer Eltern zu Waisenkindern werden. Der ursprünglich wohl als Opus magnum gedachte, mit 800 Seiten sehr üppige Roman wurde schließlich auf knapp 360 Seiten gekürzt, was ihm zweifellos gut getan hat. Über einen Zeitraum von etwa dreißig Jahren hinweg schildert der deutsch/schweizerische Autor, wie die plötzlich aus ihrer familiären Mitte heraus gerissenen, ungleichen Geschwister, weitgehend allein gestellt bis auf eine Tante als einzigem familiären Anker, von Verlust und Einsamkeit geformt werden.

Der anfangs zehnjährige Ich-Erzähler Jules, sein älterer Bruder Marty und Liz, die Älteste, kommen in ein staatliches Waisenhaus, wo sie getrennt nach Alter und Geschlecht untergebracht werden. Die Familie als gemeinsamer Rückzugsort existiert plötzlich nicht mehr. Die Drei könnten im Charakter nicht unterschiedlicher sein. Jules ist der eher realitätsferne, melancholische Träumer, der sein Jurastudium abbricht und mit Hilfe von Liz glücklich einen Job bei einem Musikverlag findet, wo er für die Vertragsabschlüsse mit den Musikern verantwortlich ist. Mit seiner geheimnisvollen Schulfreundin Alva verbindet ihn eine kumpelhafte Freundschaft weit über die Schulzeit hinaus. Die Beiden verstehen sich bestens, lieben die gleiche Musik, führen intensive Gespräche und unternehmen viel miteinander, – mehr ist da nicht! Als Jules sie eines Tages zu einer Feier pünktlich zu Hause abholen kommt, steht sie nicht, wie sonst immer, schon vor der Haustüre. Die Mutter lässt ihn herein, und als er die Tür zu ihrem Zimmer öffnet, liegt sie nackt mit einem fremden Mann im Bett und starrt ihn provozierend an. Er flüchtet entsetzt! Als sie sich vor dem mündlichen Abitur noch einmal kurz sehen, reden sie kein Wort über Alvas unglaublichen Affront, und sie sehen sich dann auch über als ein Jahrzehnt lang nicht mehr wieder. Marty ist ein introvertierter Eigenbrödler, der später zum Nerd mutiert und als Internet-Pionier derart erfolgreich ist, dass er seine Firma für einen hohen siebenstelligen Betrag verkaufen kann. Die quirlige Liz, die Älteste, ist eine äußerst attraktive Frau, die immer von Männern umschwärmt wird, denen sie dann nach kurzer Zeit den Laufpass gibt. Sie taucht schon früh in die Drogenszene ein, ist extrem lebenshungrig und stürzt sich immer wieder in neue Affären.

Als Jules nach langer Zeit im Internet nach Alva sucht, sie findet und ihr eine E-Mail schickt, kommen sie wieder ins Gespräch. Sie ist jetzt mit einem bekannten, mehr als zwanzig Jahre älteren Schriftsteller verheiratet und lebt in der Schweiz. Aber Jules und Alva finden nun tatsächlich doch zueinander, diesmal sogar als Liebespaar, denn sie erkennen beide ihre enge Seelen-Verwandtschaft. Marty ist Professor geworden und ist glücklich verheiratet. Und Liz erkennt als fast 42Jährige, dass es ein Fehler war, keine Kinder zu haben. Ein Versäumnis, dass sie nun umgehend nachholen will, an Männern mangelt es ihr ja nicht.

In chronologisch aufeinander folgenden Rückblenden entwickelt der Autor über drei Jahrzehnte hinweg seine Geschichte vom auseinander Driften und wieder zusammen Finden, von Vereinsamung und dem Segen von Freundschaft und Liebe. Es ist die buchstäbliche Macht des Schicksals, die in diesem klug konstruierten Roman stets unvermittelt einwirkt und das bestehende Beziehungsgefüge grausam zerstört. Der sorgfältig aufgebaute Spannungsbogen des Romans wird durch die vielen überraschenden Wendungen des Geschehens immer wieder eindrucksvoll verstärkt. Mit psychologischem Einfühlungs-Vermögen werden die glaubhaften Charaktere präzise geschildert. Man kann verstehen, dass sie sind wie sie sind, und wie sie aus ihren Traumata allmählich zurückfinden zu selbstbewusster Lebensbewältigung.

Fazit:  erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Mein drittes Leben

Trauer ohne Larmoyanz

Der vierte Roman der Schriftstellerin Daniela Krien mit dem Titel «Mein drittes Leben» behandelt nicht weniger als die Vergänglichkeit des Menschen und seine oft vergebliche Suche nach Glück. Er gehört zu dem heiklen Genre der Trauer-Romane, ohne aber ganz in Pathos zu versinken, wie das bei dieser Thematik allzu häufig der Fall ist. Seit der Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2024 gilt dem Roman erhöhte Aufmerksamkeit, die Besprechungen in den Feuilletons und die Bewertungen in der Leserschaft sind durchweg positiv. Und tatsächlich: Die Lektüre lohnt sich in jeder Hinsicht

«Heute Morgen kam ein Bussard vom Himmel geschossen und stürzte sich auf eine meiner jungen Hennen», lautet der erste Satz. Die Protagonistin und Ich-Erzählerin Linda hat sich einen komplett eingerichteten Dreiseit-Bauernhof samt Tieren gemietet. Ein bewusst gewählter Rückzugsort in einem gottverlassenen, sächsischen Straßendorf, wo sie ihre grenzenlose, zerstörerische Trauer über den Tod ihrer siebzehnjährigen Tochter zu bewältigen sucht. Sie war als gutbezahlte Kuratorin für eine große Kunststiftung tätig, ihr Mann ist einer jener Kategorie Kunstmaler, denen der ganz große Erfolg versagt geblieben ist. Sie lebten beide glücklich und zufrieden mit ihrer 17jährigen Tochter in einer luxuriösen Eigentumswohnung in Leipzig. Bis Sonja bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Für Linda eine Zäsur, sie kündigt ihre Stellung und ergreift die sich zufällig ergebende Möglichkeit, den bescheidenen Bauerhof in einer ländlichen Einöde für sich zu mieten. Ihr Mann ist entsetzt, er glaubt an eine vorübergehende Laune und fragt sie immer wieder, wann sie zurückkommt nach Leipzig.

Aber Linda kann die mit ihrer Trauer verbundene Hoffnungslosigkeit nicht überwinden. Sie hat schon mal eine Krebserkrankung überstanden, hat glücklicher Weise aber damals wieder ins normale Leben zurückgefunden. Der Tod ihres einzigen Kindes hat sie nun in tiefste Depressionen gestürzt, zu denen auch Suizidgedanken gehören. Durch die ungewohnte, harte Arbeit auf dem Hof lenkt sie sich von diesen düsteren Gedanken ab, lebt selbstvergessen ein einsames, ländliches Leben. Ihre junge Henne übrigens hat sie gerettet, hat sie dem Bussard beherzt entrissen, ein kleiner Triumph für sie! Nach und nach lernt sie dann auch Leute kennen. Ihr Nachbar besorgt ihr das Brennholz für den Winter, sie freundet sich mit der Mutter einer autistischen Tochter an, geht sogar mal zum Dorffest mit, sie beginnt also ihr «drittes Leben». Und da passt ihre beste Freundin, die sich einen reichen Mann geangelt hat, absolut nicht mehr hinein, weil sie in einer Welt lebt, die Linda regelrecht abstößt mit ihrer unersättlichen Konsumgier. Lindas Mann hat sich inzwischen eine Freundin gesucht, meldet sich trotzdem aber immer wieder mal bei ihr mit der Frage, «wann kommst du zurück», aber er erhält nie eine Antwort.

Erfreulich bei einer so unerfreulichen Thematik ist es, dass die Autorin mit psychologischem Sachverstand so ganz ohne Larmoyanz auskommt, also nicht auf die Tränendrüsen drückt, und dass ganz selten nur auch ein wenig Pathos mitschwingt. Die in vielen Rückblenden erzählte Geschichte ist stilistisch geradezu brillant in eine wortmächtige Sprache umgesetzt, die das Lesen zum puren Vergnügen werden lässt. Der straff gegliederte Plot des zweiteiligen Romans steuert zielstrebig auf ein überraschendes Ende zu, das dem Genre gerecht werdend kein Happy End ist, auch wenn zumindest doch ein klein wenig Hoffnung aufkeimt. Die ausführlichen, sich fatal ähnelnden Szenen der verzweifelten, schier endlosen Trauerarbeit erweisen sich als ein geringfügiges Manko, welches aber durch gelegentlich ganz versteckt auftretenden Humor (sic!) im Sprachlichen mehr als ausgeglichen wird.

Fazit:  erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Paradise Garden

Mix aus Coming-of-Age und Roadnovel

Mit ihrem Debütroman «Paradise Garden» ist Elena Fischer eine flotte Coming-of-Age-Geschichte gelungen. Der Buchtitel weist auf den wohl glücklichsten Tag im Leben der 14jährigen Protagonistin und Ich-Erzählerin Billie hin, als ihre Mutter ihr nämlich in der örtlichen Eisdiele den größten Eisbecher mit dem Namen «Paradise Garden» spendiert. Damit wird eine tragische Zäsur angedeutet, von der die alleinerziehende, in prekären Verhältnissen lebende Mutter und ihre pubertierende Tochter noch nichts ahnen können. Etwa die Hälfte der Geschichte handelt von dem äußerst bescheidenen Leben der Beiden in der kleinen Wohnung einer städtischen Hochhaus-Siedlung. Der erste, nach literarischem Dogma oft schon die ganze Story enthaltende Satz des Romans lautet: «Meine Mutter starb diesen Sommer». Damit wird hier schon gleich auf das verhängnisvolle Ereignis hingewiesen, dem sich dann in der zweiten Buchhälfte ein geradezu klassischer Roadtrip anschließt. Schon früh weist die Autorin listig, en passant nämlich, in einer Szene darauf hin, als die Mutter ihre Tochter auffordert, doch ihr Buch zu Ende zu lesen. Es handelt sich um «Unterwegs», original «On the Road» von Jack Kerouac, dem stilprägenden Kultroman für dieses Genre, Vorlage für den berühmten Spielfilm «Easy Rider».

Billie, in Ungarn geboren und nach dem Willen der dominanten Großmutter mit erstem Vornamen Erzsébet getauft, weiß nicht, wer ihr Vater ist, sie kennt nicht mal dessen Namen. Alle Fragen dazu bleiben unbeantwortet, dieses Thema ist ein absolutes Tabu für ihre Mutter. Die war früher mal Ballett-Tänzerin, Billie findet auf dem Dachboden ein Tutu, das davon zeugt. Und es gibt ein Foto von der Mutter vor einem Gartenhaus, auf dem auch der Arm eines Mannes erkennbar ist, der Rest wurde weggeschnitten. Obwohl die Mutter zwei Jobs hat, reicht das Geld hinten und vorne nicht, oft gibt es dann am Monatsende tagelang immer nur Nudeln mit Ketchup. Trotzdem ist ihr Zusammenleben sehr harmonisch, mit ihrer unbeirrbaren Resilienz meistern die Beiden immer wieder alle Fährnisse des Lebens. Die Mutter versteht es, Billie mit viel Fantasie eine bunte Kindheit zu bieten, in der sie sich prächtig amüsieren auch ohne viel Geld. Dieses Jahr aber wollen sie in den großen Ferien ans Meer fahren, Billie träumt immer wieder davon. Sie hat etwas Geld gewonnen, und auch wenn es für Florida nicht reicht, werden sie wenigstens ans Meer fahren mit dem fast schrottreifen Nissan der Mutter, dessen TÜV seit einem dreiviertel Jahr abgelaufen ist, – aber er fährt noch!

Die Reise-Euphorie endet abrupt, als die Großmutter aus Ungarn unangekündigt vor der Tür steht und damit alle Urlaubspläne zunichte macht. Billies Mutter hatte nie ein gutes Verhältnis zu ihrer eigenen Mutter, es gab häufig Streit, und das ist auch jetzt nicht anders. Nach dem tragischen Unfalltod der Mutter fährt die 14jährige Billie beherzt alleine los mit dem Nissan, die Roadnovel beginnt. Sie hatte privaten Fahrunterricht bei ihrer Mutter, übte heimlich auf dem Supermarkt-Parkplatz, sie traut sich die Fahrt ohne Weiteres zu. Und sie hofft, mit den wenigen Informationen, die sie hat, ihren Vater zu finden. Auch die Großmutter hatte ihr nicht weitergeholfen mit Hinweisen auf den Vater, angeblich wüsste sie auch nichts über ihn. Billie, die schon immer gerne geschrieben hat, beginnt mit Aufzeichnungen, sie notiert sich eifrig äußere Erlebnisse und innere Erkenntnisse auf ihrer abenteuerlichen Reise. Dabei trifft sie meist auf freundliche Menschen, die ihr weiterhelfen bei ihrer unbeirrten Suche.

Sehr überzeugend hat die Autorin in ihrem Plot Roadnovel und Coming-of-Age als Genres miteinander verbunden, wobei sie stilistisch eine dem Alter ihrer Protagonistin angepasste, schlichte Jugendsprache mit kurzen Sätzen verwendet. Dieser Roman ist eine leicht lesbare, unterhaltsame Lektüre, die beim vorhersehbaren Ende so etwas wie Hoffnung aufscheinen lässt und manchmal leider dicht am Kitsch vorbeischrammt.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Das Totenschiff

Der Diogenes Verlag gibt einige der Bücher des geheimnisumwitterten B. Traven neu heraus. Eines davon ist “Das Totenschiff” mit einem Nachwort des Krimiautors Volker Kutscher. “Darum soll der schöpferische Mensch keine andere Biografie haben als seine Werke”, zitiert Kutscher Traven, der gleichzeitig weltberühmt und dennoch zeitlebens unbekannt war. Denn keiner kannte seine wahre Identität.

B. Traven: Aufregende Biografie

“Das Abenteuer jeglicher Romantik entkleidet”, so beschreibt Kutscher B. Traven’s Roman im Nachwort der vorliegenden Ausgabe. B. Traven (1882–1969), der bis 1915 unter dem Pseudonym Ret Marut als Schauspieler und Regisseur in Norddeutschland tätig war, beteiligte sich an der Münchner Räterepublik von 1919. Nach deren viel zu schnellen Ende wurde er selbst zum Verfolgten, obwohl er laut einigen Hinweisen der uneheliche Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau (und damit der Halbbruder von Walther Rathenau war, der 1922 als deutscher Außenminister ermordet wurde) war. Nach seiner abenteuerlichen Flucht nach Mexiko schrieb er 12 Bücher und zahlreiche Erzählungen, die in Deutschland Bestseller waren und in mehr als 40 Sprachen veröffentlicht und weltweit über 30 Millionen Mal verkauft wurden. Viele davon wurden auch verfilmt, etwa “Der Schatz der Sierra Madre” (das Buch ist ebenfalls bei Diogenes in einer Neuauflage erhältlich) oder das eben “Das Totenschiff”. 1951 wurde er mexikanischer Staatsbürger, heiratete 1957 Rosa Elena Luján, seine Übersetzerin und Agentin, und starb am 26. März 1969 in Mexiko-Stadt.

Totenschiff: Roman ohne Wiederkehr

In “Das Totenschiff” hat B.Traven die Erfahrungen des amerikanische Seemanns Gales niedergeschrieben, die einer Höllenwanderung in Dantes Inferno gleichen. Gales verpasst in den Kneipen Antwerpens sein Schiff, auf dem sich sein einziges Identitätsdokument befindet. Dadurch wird er zum Staatenlosen und seine Odyssee beginnt. Über mehrere europäische Landesgrenzen abgeschoben landet er schließlich in Barcelona und heuert auf dem Schiff “Yorikke” an. Das Schiff hat eine illegale Ladung und Besatzung und zudem höllische Arbeitsbedingungen. Das besondere an diesem Roman B.Travens ist aber nicht nur die Handlung, sondern vor allem die Sprache mit der er sich auf die Seite der Ausgebeuteten und Ausgeplünderten schlägt. Wenn das Schiff, das die Heimat des Seemanns einfach ohne ihn wegfährt, “dann kommt zu dem Gefühl der Heimatlosigkeit das tötende Gefühl des Überflüssigseins”, schreibt er. Aber die eigentliche Tortur ist nicht dieses Gefühl, sondern die Verzweiflung in der er sich der Yorikke unterordnet, wo er als Kohleschlepper malocht. Die Beschreibung dieser Arbeit ist so plastisch, dass man sich selbst im Purgatorium Dantes wähnt. Aber auch der gleichzeitig dabei transportierte Witz und die ehrliche, schnörkellose Sprache erinnern an andere Meister des Genres. Gleichzeitig strahlt aber auch eine alles durchdringende Lebensfreude durch B.Travens Zeilen, die einzigartig ist. Mit viel Sympathie für die Verlorenen dieser Welt und Weisheit to go: “Aus Liebe kann nicht nur Hass werden, sondern, was viel schlimmer ist, aus Liebe kann Sklaverei werden.

Weitere Werke von B. Trafen im Diogenes Verlag: Der Schatz der Sierra Madre, Die weiße Rose, Die Baumwollpflücker, Die Brücke im Dschungel, Der Marsch ins Reich der Caoba, u.v.a.m.

B. Traven
Das Totenschiff
Mit einem Nachwort von Volker Kutscher
2023, Hardcover Leinen, 416 Seiten
ISBN: 978-3-257-07269-3
Diogenes Verlag
€ (D) 26.00 / sFr 35.00* / € (A) 26.80


Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Kant. Erzählung. Krimi.

Kant. Ein knallharter Hard-boiled Krimi des deutschen Literaturgenies Fauser

Kant. “Im Auge des Tiger ist kein Platz für eine Ameise.” Das einzigartige und unglaubliche Werk Jörg Fausers zeitigte auch einige Krimis. Einer davon ist “Kant“, der als Fortsetzungsroman für die Zeitschrift Wiener geschrieben wurde und erstmals 1987 auch als Taschenbuch erschien.

Kant: Showdown im Playtime

Hezekiel Kant, Privatdetektiv, hat einen chinesischen Freund: Jimmy Chang. An dem muss auch Dr. Eduard Kopmann erst einmal vorbeikommen, bevor Kant seinen Auftrag annimmt. Es geht um seine Tochter. Tutti Kopmann. Und seine Frau. Lisa Kopmann, 41, seit 16 Jahren mit ihm verheiratet und die gemeinsame Tochter, 15. Kopmann Einkäufer für Spumex setzt Kant auf Lisa an. Denn das Vertrauen ist nach 16 Jahren Ehe zerrüttet. Der Kant folgt ihr alsbald ins Playtime und erfährt einiges über die Vergangenheit von Lisa. Bei einer Zigarre und Kaffee. Manchmal auch ein Bier. Oder ein ordentliches Quantum Whisky.

Milieustudien als Metier

Das Milieu in das Fauser seinen Protagonisten schickt dürft ihm selbst auch nicht so unbekannt gewesen sein. Seine Schilderungen des zur Schau gestelltem Pömps sprechen eine deutliche Sprache, wo der allzu früh verstorbene Schriftsteller seine Nächte verbracht hatte, bevor er zu schreiben anfing. Seinen Kant lässt er im Astra wohnen, einer billigen Absteige im Chinesenviertel von München. Für ihn hatte strategisches Denken schon lange das Krafttraining ersetzt. Denn wer im Milieu lebt, schwimmt darin wie ein Fisch im Wasser. Die Forderung nach einem Lösegeld von 500.000 Mark ist aber selbst für Kant etwas zu hoch gegriffen. Denn wie viel müsste der Kopmann dann mit der Spumex schon gemacht haben? Und Sparen gehört ja jetzt nicht unbedingt zum Metier der Kopmanns.

Charakterstudien im Yakuza-Stil

Huren machen für Geld gut, was andere für Liebe schlecht machen.” Ein gewisser Felix Esterhazy spielt aber auch eine wichtige Rolle in diesem Krimi im Münchner Künstler- und Rotlichtmilieu. Denn Max der Galerist verkauft gefälschte Klees und auch unzüchtige Fotos. “Als Lisa Kopmann den Telefonhörer auflegte, war es in dem großen Raum so still, dass Kant den Eiswürfel in seinem Whiskyglas schmelzen hörte.” Und langsam schmilzt auch das Eis in Kants Kopf, denn plötzlich kann er sich über die Clique mit der er es hier zu tun hat, ein Bild machen. Ein dezenter Hinweis auf Fausers Inspiration, den Film Yakuza (1974), befindet sich auch in der Erwähnung Robert Mitchums, denn der Autor liebte das Augenzwinkern nicht nur beim Schreiben. “Im Auge des Tiger ist kein Platz für eine Ameise.

Ein echter Fauser, der seine amerikanischen Vorbilder nicht verhöhnt, sondern offen in seinen Widersprüchen fusioniert. Flott geschrieben und unterhaltsam, zudem voller Inspiration für eigene Geschichten.

Jörg Fauser
Kant. Erzählung
Mit einem Nachwort von Helene Hegemann
2021, Hardcover Leinen, 128 Seiten
ISBN: 978-3-257-07169-6
diogenes Verlag
€ (D) 20.00 / sFr 27.00* / € (A) 20.60


Genre: Crime noir, Erzählung, Hard-boiled Krimi, Krimi, Noir
Illustrated by Diogenes Zürich

Der Alchimist

Der Alchimist. Erstmals erschien die vorliegende Geschichte 1988 in der Originalsprache. Die deutsche Erstausgabe folgte 1993. Die hier nun vorliegende folgt der 1996 im Diogenes erschienenen Version und wurde für die 22. Auflage 2020 ergänzt und überarbeitet. Der bunte Umschlag sowie das schöne Leinen auf der Innenseite des Buchcovers und das praktische Format zeichnen diese Ausgabe, dessen Design von Harper One stammt, besonders aus. Auch Oprah Winfrey hat sie am Nachtkästchen liegen – allerdings auf Englisch.

Seinem Traum folgen

Santiago ist ein andalusischer Hirte mit einem wiederkehrenden Traum: Am Fuß der Pyramiden liege ein Schatz für ihn bereit. Aber eigentlich hat er schon lange den Wunsch seßhaft zu werden. Und er kennt auch schon ein Mädchen, das in einem Dorf auf ihn wartet. Sein Vater wollte einen Priester aus ihm machen, aber er wollte immer reisen. Deswegen besorgte er sich 60 Schafe und tingelte durch Spanien. Bis er den Traum hatte und ihn einer Zigeunerin mitteilt. Diese macht ihm die Prophezeiung und schließlich siegt die Neugierige und er macht sich auf den Weg, indem er die Schafe verkauft und nach Tanger übersetzt. Aber Santiago wird gleich auf der ersten Station seiner Reise bestohlen. Soll er jetzt schon umkehren? Oder seinem Traum folgen? Aber wer ist schon so naiv und macht sich auf eine so lange Reise nur wegen einem Traum? Jedoch ist sein Traum auch seine Bestimmung und das Glück immer mit denen, die ihrer Bestimmung folgen, so Coelho.

Der Weg ist das Ziel

Träume sind die Sprache Gottes und wer Zeit und Muße findet, sollte ihnen zuhören. Ein alter Mann, ein ehemaliger König, übergibt Santiago zwei Steine, Urim und Thummim, schwarz heißt ja und weiß heißt nein. Die beiden Steine helfen Santiago auf seiner langen Reise seine Entscheidungen zu treffen. Denn es vergeht mehr als ein Jahr, bis er sein Ziel erkennt. Aber oft führt einen das Erreichen eines Zieles wieder an den Anfang zurück. Man kennt das von dem Brettspiel „Mensch, ärgere Dich nicht“. „Der Alchimist“ steckt voller Weisheit und das lange bevor Santiago ihm begegnet. Die Geschichte ist hilfreich in kritischen Lebenssituationen und wenn Orientierung notwendig wird. Denn oft vergisst man den Weg zur eigenen Bestimmung, kommt vom Weg ab und landet in einer Sackgasse. Aus dieser Sackgasse führt die vorliegende Lektüre heraus. Obwohl es natürlich schon schön ist, die Pyramiden wirklich gesehen zu haben.

Paulo Coelho
Der Alchimist
Aus dem Brasilianischen von Cordula Swoboda Herzog
2021, Hardcover Leinen, 176 Seiten
ISBN: 978-3-257-07155-9
€ (D) 18.00 / sFr 24.00 / € (A) 18.50
Diogenes


Genre: Belletristik, Esoterik und Grenzwissenschaften, Philosophie
Illustrated by Diogenes Zürich

Hard Land

Bittersüßer Roman

In seinem fünften Roman «Hard Land» erzählt Benedict Wells eine Coming-of-Age-Geschichte, die er in einer fiktiven Kleinstadt in den USA angesiedelt hat. Sein 15jähriger Protagonist und Ich-Erzähler durchlebt dort im Jahre 1985 die schwierige Phase der Mannwerdung und muss sich als überängstlicher Außenseiter mühsam einen Platz unter seinen Mitschülern erkämpfen. Auch die erste Liebe erweist sich als schwierig, vor allem aber muss er mit dem frühen Tod seiner Mutter fertig werden.

Sam Turner lebt in einer dem Niedergang geweihten 20tausend-Einwohner-Stadt in Missouri, deren einziger großer Arbeitgeber in Konkurs gegangen ist. Auch sein Vater ist arbeitslos, seine seit fünf Jahren krebskranke Mutter betreibt einen kleinen Buchladen. Er erzählt seine Geschichte im Rückblick ein Jahr später. Der erste Satz lautet: «In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb». Die Ferien stehen an, seine Eltern wollen ihn zur Tante schicken, die zwei Jungen in seinem Alter hat. Sein erster Besuch dort war aber ein Horror für ihn, und so nimmt er kurz entschlossen einen Ferienjob im örtlichen Kino an, um dem zu entgehen. Dort trifft er auf Cameron, den schwulen Sohn eines erfolgreichen Fabrikanten, und auf den farbigen Hünen Brandon, den sie nur Hightower nennen und dessen Vater eine Farm betreibt. Dritte im Bunde dieser Clique, die sich um das Kino kümmert, ist Kristie, die Tochter des Kinobetreibers. Alle sind zwei Jahre älter als Sam, haben die Schule abgeschlossen und werden das öde Kaff verlassen, um weit weg in New York, Chicago und Los Angeles ihr Studium zu beginnen. Kaum hat er glücklich Anschluss an diese Clique gefunden, steht also in elf Wochen auch schon wieder der Abschied bevor. Und das schmerzt insbesondere wegen der Beziehung zu Kristie, die sich als zarte Bande entwickelt, obwohl sie längst einen festen Freund hat, während er, als männliche Jungfrau, noch nicht mal bis zum Händchenhalten, Küssen oder gar noch mehr gekommen ist.

Benedict Wells hat in seinen Roman eine Fülle von kreativen Ideen eingebaut, zu denen auch der Buchtitel gehört. Der führt nämlich auf einen fiktiven Schriftsteller des Ortes zurück, der unter «Hard Land» 1893 einen Gedichtzyklus veröffentlich hat, an dem sich die Schüler bei der Prüfung in Literatur heute noch die Zähne ausbeißen. Und so glänzt denn dieser Roman mit der Mutter als Buchhändlerin durch eine reiche Intertextualität, zu der auch Kristies Faible für erste Sätze in Romanen zählt, welches der Rezensent, soviel Persönliches sei hier mal erlaubt, mit dem überaus smarten Mädchen teilt. Ergänzt werden diese literarischen Bezüge noch durch diverse popkulturelle, denn Sam ist als Gitarist sehr musikbegeistert, und seit er den Kinojob macht, entwickelt er sich auch noch zum Cineasten. Das besonders innige Verhältnis zwischen Sam und seiner Mutter symbolisiert ein kleiner blauer Holzlöwe, Lieblingsfigur ihrer Sammlung. Den deponieren Vater und Sohn nach ihrem Tod immer wieder heimlich irgendwo, damit ihn der jeweils andere überrascht finde, – eine berührende Geste ihrer ganz persönlichen Erinnerungskultur.

In 49 Kapiteln begleitet man den Heranwachsenden durch die entscheidende Phase seiner Adoleszenz, wobei es dem Autor gelingt, auch eine Menge Lokalkolorit einzubringen in seine Geschichte. Eine schöne Parabel für Sams Hoffnungslosigkeit handelt von einem magischen Ring mit einer auf jede Lebenslage passenden Gravur: «Auch das geht vorbei». Im letzten Teil des Romans bleibt er allein zurück, alle Freunde sind fort, die Briefe werden kürzer, seltener und bleiben irgendwann ganz aus. Aber nach dem einsam verbrachten Winter kommen schließlich auch wieder die Sommerferien, und die drei Freunde kehren ernüchtert zurück. Ihr Kaff ist doch nicht so schlecht, wie sie gedacht haben, es hat ihnen sogar gefehlt in der Ferne. Und das Ende mit Sam und Kristie lässt dann wunderbar leicht alles offen, ein bittersüßer Roman also, und das absolut kitschfrei, – Chapeau!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Fahrenheit 451

Ray Bradbury: Fahrenheit 451

Ray Bradbury: Fahrenheit 451. 1953 entstanden zählt auch der hier vorliegende Roman zu den radikalsten dystopischen Zukunftsvisionen, gleich neben „1984“ von George Orwell oder „Brave New World“ von Aldous Huxley. In nur neun Tagen soll ihn der damals 33-jährige frischgebackene Vater, Ray Bradbury, geschrieben haben, wie Peter Torberg in seinen Anmerkungen am Ende des Romans schreibt.

Bradury’s feuerlegende Feuer(-wehr-)männer

In seiner editorischen Notiz erklärt er auch manche Widersprüche, Unklarheiten oder nicht ganz aufgelöste Stellen im Text durch die Übersetzung. Als Beispiel nennt er etwa auch das englische „fireman“, dem die Doppeldeutigkeit der deutschen Übersetzung mit „Feuerwehrmann“ gänzlich abgeht. Deswegen wählte Peter Torberg für Guy Montag, den Protagonisten des Romans auch „Feuermann“: „In der Welt die Ray Bradbury für seine Leserinnen erschaffen hat, in der Lesen geächtet und Wissen nicht erwünscht ist, in der auf Buchbesitz Strafe steht und die Menschen mit Entertainment und Dauerberieselung unmündig gehalten werden, dort ist die Bedeutung einer Feuerwehr durch das Umschreiben der Menschheitsgeschichte schlicht unbekannt.“ Die Feuermänner in „Fahrenheit 451“ löschen nämlich kein Brände, sondern sie legen sie, sie sind gleichsam dazu da, zu vernichten und zu strafen, Bücher zu verbrennen oder manchmal auch ganze Häuser, notfalls auch zusammen mit den Bewohnern.

Fahrenheit 451: Zeitalter des Papiertaschentuchs

Wie Parfüm wirkt das verwendete Kerosin der Feuerbrigade auf ihn, schwärmt Montag seiner Angebeteten Clarisse vor. Ebenso schwärmerisch antwortet sie ihm: „Ich rieche gerne an Dingen und schaue sie mir an, und manchmal bleibe ich die ganze Nacht auf, gehe spazieren und schaue zu, wie die Sonne aufgeht“. Die beiden leben nicht umsonst im „Zeitalter des Papiertaschentuchs“: „Man schneuzt sich mit einer Person, zerknüllt sie, spült sie hinunter, greift nach der nächsten, schneuzt sich, zerknüllt, spült hinunter“. Aber Clarisse ist jedenfalls anders als seine Frau Mildred. Diese bevorzugt es zu Fernsehen und das Bücherlesen ist ihr ein Grauen. Sie steht auch für die Mehrheit der Bevölkerung in Bradburys Roman die Bücherlesen per se ablehnen, da es sie in eine schlechte Stimmung bringe und zu nachdenklich mache. Ray Bradbury hat in späteren Interviews betont, dass der Roman in einer Zeit entstanden sei (50er Jahre) in der das Fernsehen die Schrift ablöste, als Bücher und Zeitungen immer weniger konsumiert wurden. Genau davor sollte sein Roman warnen.

Fahrenheit 451 und die korrekten Zahlen

Bei der Titelwahl hatte er allerdings schlicht Celsius mit Fahrenheit verwechselt, denn Papier entzündet sich erst bei 451 Grad Celsius, nicht Fahrenheit (451 Grad Fahrenheit wären nur 232,7 Grad Celsius), so Gary Dexter, der in seinem Blog  den alternativen Titel „Fahrenheit 843“ vorschlägt, der tatsächliche Temperatur Celsius also bei der sich Papier selbst entflammt. Dass das Internet-Zeitalter Ray Bradburys Schreckensvision von 1953 längst überflügelt hat, mag den Autor vielleicht noch erreicht haben. Er starb am 5. Juni 2012 in Los Angeles und meinte über Michael Moore, der einen seiner Filme Fahrenheit 9/11 (2004) nannte, einen „dämlichen Drecksack“, weiter zitiert ihn die deutsche FAZ: „So denke ich über ihn. Er hat meinen Titel geklaut und die Zahlen ausgewechselt, ohne mich jemals um Erlaubnis zu fragen.“ Gary Dexter hätte hier wohl das letzte Wort, wenn er Ray Bradbury einen „dämlichen Drecksack“ nennen würde. Tut er aber nicht.

Ray Bradbury

Fahrenheit 451

Aus dem Amerikanischen von Peter Torberg

2020, Hardcover Leinen

272 Seiten

ISBN: 978-3-257-07140-5

€ (D) 24.00 / sFr 32.00* / € (A) 24.70

Diogenes Verlag


Genre: Dystopie, Roman, Science-fiction, Zukunftsvision
Illustrated by Diogenes, Diogenes Zürich

Walden oder Leben in den Wäldern

“Das eine wenigstens lernte ich bei meinem Experimente: Wenn jemand vertrauensvoll in der Richtung seiner Träume vorwärts schreitet und danach strebt, das Leben, das er sich einbildete, zu leben, so wird er Erfolge haben, von denen er sich in gewöhnlichen Stunden nichts träumen ließ.”

Henry David Thoreau (1817 – 1862), der Havard-Absolvent und Kurzzeit-Lehrer, lernte 24-jährig den Philosophen und Dichter Ralph Waldo Emerson kennen und lebte zeitweise in dessen Haus bei Boston. Unter Emersons Einfluss entwickelte er seine reformerischen Ideen des zivilen Ungehorsams. Am Unabhängigkeitstag 1845 zog er in eine selbstgebaute Blockhütte auf Emersons Grundstück am Walden-See. Hier lebte er die nächsten zwei Jahre sein einfaches Leben in der Natur. Weiterlesen


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Diogenes Zürich

Der Halbbart

Ein Mythos wird entlarvt

Mit seinem historischen Roman «Der Halbbart» kratzt der Schweizer Schriftsteller Charles Lewinsky am Gründungs-Mythos seines Vaterlandes. In Folge der siegreichen ‹Schlacht bei Morgarten› gegen die Österreicher am 15. November 1315 schlossen sich die Kantone Schwyz, Uri und Unterwalden zu einem Bündnis zusammen. Im Roman unterläuft der Autor geschickt die mystische Überhöhung dieses historischen Ereignisses, indem er sie von einem fantasiebegabten Jungen aus dem Dorf erzählen lässt. Dessen maßlose Übertreibungen aber werden von den einfältigen Dörflern geglaubt, ein Mythos wird geboren. Kein Wunder also, dass man dem Autor seine durch diesen narrativen Trick geschickt kaschierte, ironische Sichtweise heute als historische Nestbeschmutzung ankreidet.

Eusebius, ein dreizehnjähriger Bub aus einem armseligen Schwyzer Dorf, den alle nur Sebi nennen, ist zart besaitet und nicht für harte, bäuerliche Arbeiten zu gebrauchen. Als ‹Finöggel› verspottet man ihn, weil er eher mädchenhaft wirkt. Eines Tages, so heißt es, wird er wohl ins Kloster von Einsiedel gehen. Der vaterlos aufwachsende Bub freundet sich mit einem Fremden an, der plötzlich ins Dorf kommt, keiner weiß woher. Er hat auf einer Körperhälfte schwere Verbrennungen, so dass auch sein Bart nur auf einer Seite wächst, weshalb er von allen nur «Halbbart» genannt wird. Der weise, auch als Medicus Rat wissende Mann erzählt dem Sebi viel von den Schrecken draußen in der Welt, aus der er kommt, verschweigt aber aus gutem Grund sein Judentum. Mit Onkel Alessi, einem Haudegen durch und durch, dem im Kampf die halbe Gesichtshälfte verloren ging, erscheint ein Unruhestifter im Dorf. Von dem sich der Halbbart aber nicht anstecken lässt, er erweist sich als äußerst besonnen. Und erfindet ganz nebenbei eine neue Waffe, die als Hieb- und Stichwaffe gleichermaßen verwendbar ist.

Die wird von Sebi dann, aus Halbbart abgeleitet, als Hellebarde bezeichnet. Womit diese aus der Ich-Perspektive von Säbi erzählte, auf historischen Geschehnissen basierende Geschichte endgültig ins Reich der Fabeln abgleitet. «Eine Geschichte hört man immer gern, wenn die Nächte lang sind», heißt es im Roman. Und so wurden sie denn auch damals von übers Land ziehenden, professionellen Geschichten-Erzählern wie der Teufels-Annelie überall verbreitet. Nach getaner Arbeit waren die Dörfler abends nur allzu gerne bereit, den Moritaten zu lauschen und den Gerüchten zu glauben, die mit der Zeit, phantasievoll angereichert, inhaltlich eher Märchen als wahre Nachrichten waren. Auch Säbi zeigt ein großes erzählerisches Talent. Er erzählt begeistert eine blutrünstige Geschichte nach der anderen und träumt davon, später ebenfalls mal damit umherzureisen. In dieser uralten Kultur mündlicher Überlieferungen erweisen sich sogar Geschichten als Waffe, denn sie können einen guten oder schlechten Einfluss ausüben, je nachdem, wie sie erzählt werden. Man kann mit ihnen Wahrheiten verdrehen und Bedeutungen umkehren, heute spricht man von Fake-News und, dümmer noch, auch von alternativen Fakten.

Unwillkürlich wird man beim Lesen dieses viel zu breit ausgewalzten Entwicklungs-Romans aus dem Mittelalter an Umberto Ecos «Der Name der Rose» erinnert wird, – und maßlos enttäuscht. Im Wesentlichen wird im Opus magnum von Charles Lewinsky die durch Sprache ermöglichte Manipulation thematisiert. Nachdenklich werden hier auch religiöse Dogmen in Zweifel gezogen, ohne jedoch ins Moralisieren zu verfallen. Mittelalterlich authentisch aber geht es nicht zu bei alldem, die Figuren scheinen mit ihrer Psyche eher der Jetztzeit zu entstammen. Auch das brutale historische Geschehen wird manchmal einfach passend zurechtgebogen für den langweiligen Plot. Die mit vielen Schweizer Begriffen angereicherte, ebenso naive wie nüchterne Erzählsprache des dicken Buches wirkt mit der Zeit dann nur noch nervig. Sie versucht in gestelztem Tonfall mittelalterliche Unbedarftheit mit modernem Denken zu verschmelzen und scheitert daran.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Der grüne Heinrich

Ein kanonischer Roman

Gottfried Kellers «Der grüne Heinrich» ist einer der berühmtesten Bildungsromane, das vierbändige Werk erschien in der ersten Fassung 1855/56 und war zunächst außerhalb der Schweiz so gut wie unbekannt. Er habe sich vorgenommen, so sein Autor, «einen kleinen traurigen Roman zu schreiben über den Abbruch einer jungen Künstlerlaufbahn». Gemeint war damit die eigene, denn seine Geschichte sei, wie der 23Jährige bekannte, nicht erfunden, es sei «sogar das Anekdotische darin so gut wie wahr». In Stil des damals aufgekommenen bürgerlichen Realismus schildert er die Kindheit seines Alter Ego Heinrich Lee bis hin zum gescheiterten Künstler. Kellers Begegnung mit Ludwig Feuerbach bildet das Schlüsselerlebnis seiner weltanschaulichen Umorientierung, und so ist dessen ‹Wende zur Diesseitigkeit› denn auch das zentrale Thema dieses Romans. Sein ‹Schicksalsbuch›, denn es hatte dem perfektionistischen Schriftsteller jahrzehntelang nicht genügt und ihn zu einer Neubearbeitung veranlasst, die erst 1879/80, fast fünfundzwanzig Jahre später, als zweite Fassung erschienen ist.

Nach dem frühen Tode des Mannes lebt eine sparsame Witwe mit ihrem Sohn Heinrich in einfachen Verhältnissen, jahrelang schneidert sie die Kleidung des Jungen aus der grünen Uniform des Vaters, was ihm prompt den Spitznamen «Der grüne Heinrich» einbringt. Durch eine Intrige von der Schule verwiesen und damit von höherer Bildung ausgeschlossen, schickt ihn seine Mutter zum Onkel aufs Land, damit er sich dort in Ruhe über seine Zukunft klar werde. Er verliebt sich in ein zartes Mädchen, lernt aber auch die sinnenfrohe junge Witwe Judith kennen und ist zwischen beiden hin und her gerissen. Schließlich kehrt er nach Zürich zurück, um Landschaftsmaler zu werden. Über verschiedene Stationen verfolgt er nun seine künstlerische Ausbildung, begegnet dabei Dilettanten und Könnern, absolviert schließlich auch seinen Militärdienst und nutzt die Zeit dort, seine Jugendgeschichte aufzuschreiben. Trotz materieller Nöte schickt ihn die Mutter anschließend auf die Kunstakademie nach München, wo er jedoch schon bald erkennen muss, dass es ihm an Talent mangelt. Als Bohemien vertrödelt er nun nutzlos seine Zeit, bis die Schulden erdrückend werden und er notgedrungen eine Arbeit annehmen muss. Nach sieben Jahren endlich entschließt er sich zur Heimkehr, findet auf der langen Wanderung erschöpft und ausgehungert freundliche Aufnahme im Schloss eines Grafen, womit sich auch sein Schicksal wendet und er unverhofft zu viel Geld kommt. Und auch hier vermag der bindungsunfähige Heinrich der schönen Adoptivtochter des Grafen seine Liebe nicht zu gestehen.

«Der grüne Heinrich» wird von seinem Antihelden chronologisch und einsträngig in Ich-Form erzählt, wobei viele Motive sich aus den Dialogen heraus entwickeln, immer wieder ergänzt um breit angelegte Überlegungen und tiefschürfende Grübeleien als Bewusstseinsstrom. Der Plot ist geradezu vorbildlich aufgebaut mit einer reichhaltigen Leitmotivik, zu der zum Beispiel auch der auf dem heimatlichen Gottesacker gefundene Totenschädel gehört, den Heinrich unbeirrt auf seinen Reisen mit sich herumschleppt. An die Vaterlosigkeit als Ursache all seiner Irrwege gemahnen leitmotivisch der selbstlose Onkel und der wohlwollende Schlossgraf als Vaterersatz. Das Motiv der Gottverlorenheit des Helden und die Negierung einer Vorbestimmung im Leben bilden Anlass für köstliche Dispute mit dem Kaplan, der überaus lebensfroh den sprachgewandten Gegenpart zum atheistischen Heinrich bildet.

Zu den Lesefrüchten dieses kanonischen Romans vom Scheitern in der Kunst und vom Verzicht in der Liebe gehören die vielen weltanschaulichen Reflexionen aus der damaligen Zeit, die hier authentisch vorgetragen werden. Ferner erfreut die vollmundige Sprache, die starke Bilder zu erzeugen vermag, außerdem überzeugt auch die durchweg stimmige Figurenzeichnung, bei der als Extreme eine tatkräftige Judith dem ewig zaudernden Grünen Heinrich gegenübersteht.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Farm der Tiere

Der Mensch ist ein Schwein

George Orwell ist durch seine 1945 veröffentlichte sozialkritische Fabel «Farm der Tiere» weltbekannt geworden, ihr folgte wenig später mit «1984» eine ebenso berühmte politische Dystopie. In scharfer Form attackiert der englische Autor in seiner märchenartigen Geschichte von der Machtübernahme der Tiere auf einer englischen Farm den sowjetischen Kommunismus, schon in seinem Buch «Mein Katalonien» über seine Kriegserlebnisse während des Spanischen Bürgerkriegs hatte er vehement gegen den Stalinismus angeschrieben. Nun war aber die UDSSR als Alliierter im Zweiten Weltkrieg quasi sakrosankt, jedwede Kritik unerwünscht, die Veröffentlichung dieser dezidiert sowjetfeindlichen Fabel erwies sich als recht schwierig. Was der überzeugte Sozialist Orwell zum Anlass nahm, in einem Nachwort ein leidenschaftliches Plädoyer für die Pressefreiheit zu halten und die Servilität seiner Landsleute dem verbündeten Russland gegenüber heftig anzuprangern.

Dieses Buch ist eine Parabel auf die Geschichte der Sowjetunion, die auch hier mit einer Revolution der Unterdrückten gegen die herrschende Klasse beginnt, auf dem Bauernhof der Fabel verkörpert durch den Menschen, der die Tiere brutal ausbeutet. Nach einem Traum von einer besseren Zukunft ruft der alte Eber als Primus inter Pares die Tiere der Farm zu einer nächtlichen Versammlung in die Scheune, er erzählt begeistert seinen Traum und fordert alle zur Revolution auf. Der Mensch sei die Wurzel ihres Übels, er müsse nur verjagt werden, dann könnten die Tiere die Farm übernehmen und in eigener Regie ausschließlich zum eigenen Nutzen betreiben, so seine Vision. Ihre Revolte ist erfolgreich, alle Menschen werden von der Farm verjagt. Charismatischer Nachfolger des verstorbenen alten Ebers wird nun Napoleon, er und seine Artgenossen erweisen sich als die schlauesten und übernehmen die Führung der tierischen Genossenschaft. Man legt Regeln für das künftige Zusammenleben fest, ein Denksystem, in dem alle gleiche Rechte und Pflichten haben, formuliert als «Animalismus» in sieben Geboten, die in Großbuchstaben an die Wand der Scheune gemalt werden. Trotz einiger herber Rückschläge gedeiht die «Farm der Tiere», allen geht es deutlich besser als unter den Menschen. Allmählich aber bröckelt der hehre Gleichheitsgrundsatz, Napoleon wird immer selbstherrlicher, die Schweine entwickeln sich zu einer neuen Oberschicht und bekommen ständig mehr Privilegien. Am Ende verbrüdern sie sich gar mit den Menschen, die sie eigentlich doch allesamt aus England fortjagen wollten. In einer feuchtfröhlichen ersten Zusammenkunft erklärt ihr menschlicher Nachbar den Schweinen: «Sie müssen sich mit unteren Tieren herumstreiten und wir mit den unteren Klassen», er löst damit bei allen schallendes Gelächter aus.

«Alle Tiere sind gleich, einige Tiere aber sind gleicher als andere» stand jetzt auf der Scheunenwand geschrieben, die sieben Gebote waren von dort verschwunden. In dieser allegorischen Darstellung des Bolschewismus stehen viele Figuren stellvertretend für Größen des Stalinismus, von Stalin selbst, den das Schwein Napoleon verkörpert, bis zu Lenin, Trotzki und Molotow. Es wimmelt nur so von politischen und soziologischen Anspielungen, ergänzt von einem hintersinnigen Symbolismus, ein reichhaltiges Feld also für Interpretationen aller Art. So ist der überraschende Angriff der Menschen auf die Farm eine Anspielung auf das Unternehmen Barbarossa, die Schlussszene weist auf die Teheran-Konferenz im Jahre 1943 hin.

George Orwell gelingt das Kunststück, seine entlarvende Gesellschaftskritik in einer lockeren, gar nicht märchenhaften Sprache sehr anschaulich zu erzählen, er versteckt seine brisante Thematik der menschlichen Korrumpierbarkeit geschickt in einer harmlos wirkenden, häufig sehr amüsanten Erzählweise. So wartet auf den Leser dieses weltberühmten Buches neben der wenig überraschenden Erkenntnis, der Mensch ist ein Schwein, auch einiges an Lesevergnügen.

Fazit: erfreulich

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Genre: Kurzprosa
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Die Tournee

Jörg Fauser’s letzte Tournee

Fausers letzte Tournee: In „Tournee“ stecken eine ganze Menge den Autor prägende Geschehnisse und Impressionen und eine Menge Furor, mit dem der „Igelkopf im Ledermantel“ auch seine Kritiker begeisterte. So ähnlich steht es im Nachwort von Band 9 der Werkausgabe Jörg Fausers, die aus aktuellem Anlass derzeit bei Diogenes noch erweitert wird. „Ich bin Schriftsteller“, soll Fauser einmal gesagt haben, „ein Angehöriger einer Minorität, einer Randgruppe. Mir zunächst finde ich Schwindler, Gauner, Stromer, Wahnsinnige, Nutten, Weltverbesserer, Arbeitsscheue, Tippelbrüder etcetera. Man hört das nicht gern, aber da sind wir, da gehören wir hin…“. Weiterlesen


Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Liebe als Therapie

Ehe mit Liebe als Therapie

Charlotte, Steve und die Psychotherapeutin Sandy treffen sich jede Woche zum selben Termin: der Eheberatung. Eigentlich sind die beiden schon getrennt und führen auch andere Beziehungen, aber scheiden wollen sie sich dennoch (noch) nicht lassen. Sandy widdert gerade darin eine Chance für die Ehe der beiden. Auch wenn sie nur bei 1:1000 steht.

Liebe ist die beste Therapie

In der Praxis von Sandy stehen immer vier Stühle. Einer für die Frau, einer für den Mann sowie einer für die Paartherapeutin mit unorthodoxen Methoden. Denn den vierten Stuhl hat sie reserviert, der bleibt leer, er steht für die Ehe, die die beiden aufgebaut haben. In den Gesprächen geht es natürlich auch immer wieder um die gemeinsamen Kinder und wer sie schlussendlich bekommt, sie dienen beiden Ehepartnern als Druckmittel gegenüber dem jeweils anderen. Aber da Steve für die Trennung verantwortlich ist, weil er Charlotte während der Ehe betrog, hat er argumentativ immer das Nachsehen, auch wenn er sich redlich bemüht, ein besserer Vater zu sein. Als Ehemann ist er ja gescheitert. Plötzlich will er die Kinder nämlich nicht mehr nur jedes zweite Wochenende sondern die ganze Zeit. „Eine Trennung ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass man wieder zusammenkommt“, meint die Therapeutin. Aber hat sie überhaupt noch Hoffnung?

Chance 1:1000

In witzigen Dialogen wird eine Eheleben nacherzählt, das seine Höhen und Tiefen hatte und nun zu einer einfachen Beziehung wurde. Denn eine Beziehung ist es nach wie vor, das, was Charlotte und Steve verbindet. Auch wenn sie das nicht glauben wollen. Es gehe nicht um Rechte und es gehe nicht um Regeln, so Sandy, sondern darum, seine Gefühle zu zeigen und nicht zu verstecken. „Der Trick ist, das Muster zu erkennen“, sagt Sandy bei einer Einzelsitzung, denn auch das ist möglich und fördert den Erfolg der Paarsitzung. Die Alternative zu einer nicht funktionierenden Ehe ist eben nicht „Die große Liebe“, die bekommt man ohnehin nicht. Aber vielleicht sollte man einfach öfter mit seiner „Ehe“ reden. Sie sitzt ja ohnehin im Stuhl vis a vis.

Unterhaltsame Prosa in pointierte Dialoge gebettet. Ein Buch für alle Therapiefans und solche die es noch werden wollen.

John Jay Osborn
Liebe ist die beste Therapie
Aus dem Amerikanischen von Jenny Merling
2018, Hardcover, 288 Seiten
ISBN: 978-3-257-60922-6
€ (D) 18.99 / sFr 24.00* / € (A) 18.99
Diogenes Verlag


Genre: Roman, Therapie
Illustrated by Diogenes Zürich

Vintage. Eine Reise zum Blues

vintage-9783257608120Der 25-jährige Thomas Dupré arbeitet in einem Gitarren-Shop in Paris als Aushilfe. Gitarren sind für ihn keine verstaubten, unantastbaren Reliquien, sondern „Waffen, an denen noch das Blut der Revolution klebt“, denn wie so viele seiner Altersgenossen, träumt auch Thomas davon ein Rockstar zu werden. Ein Vintage-Roman aus Frankreich? Da bekommt er eines Tages plötzlich das Angebot des Jahrhunderts: er soll für seinen Chef Alain de Chévigné eine Gitarre nach Inverness in Schottland liefern, denn der Käufer legt Wert auf Diskretion. Lord Charles Dexter Winsley – so sein voller Name – ist ein Gitarrensammler, der im mysteriösen Boleskine House nahe des Loch Ness, wo schon Aleister Crowley und Jimmy Page gewohnt haben sollen, mehrere Gitarren im Wert zwischen 300.000 und einer Million Dollar an den Wänden hängen hat, darunter etwa auch eine Les Paul Deluxe mit gebrochenem Hals zusammen mit einer Notiz „Für Charlie von Pete.“ Hervier macht damit eine zärtliche Verneigung vor Pete Townshend von The Who, der es bevorzugte, seinen Gitarren auf der Bühne den Hals zu brechen. „Man muss glauben, um zu sehen“, gibt Lord Winsley seinem neuen Schützling mit auf den Weg. Oder ist es etwa doch umgekehrt?

Vintage: „Sur la route de Memphis”

Der dritte Roman des französischen Schriftstellers aus Villeneuve-Saint-Georges hat alles was sich ein Leser wünschen kann. Er ist zugleich Roadmovie und Kriminalroman und so spritzig, frivol und elegant geschrieben, dass es eine wirkliche Freude macht, ihn von der ersten bis zur letzten Seite in einem Zug durchzulesen. Denn die Reise von Thomas Dupré führt von Schottland auch in den mystischen Süden der USA, dort wo der Blues einst geboren wurde und der eigentliche McGuffin der Story, die Gibson Moderne, einst hergestellt wurde. Denn Thomas muss für Lord Winsley Beweise für die Existenz dieser Gitarre finden, die ihm von einem Gitarrenbauer gestohlen wurde. Und von dieser Gibson Moderne soll es drei Stück gegeben haben, aber einzig ein Musiker aus der Nähe von Kalamazoo soll sie virtuos beherrscht und gespielt haben. Die Reise von Thomas Dupré ist auch eine Reise in den tiefen Süden der USA, die Sümpfe des Missisippi und in die Lebensbedingungen der Schwarzen in den Dreißiger Jahren, die in sog. Juke Joints ihrem einzigen Vergnügen nachgehen konnten: dem Blues.

Blues aus dem Bayou als Vintage

Virtuos geschrieben und voller Liebe zum Detail eröffnet Grégoire Hervier dem Leser die Welt des schwarzen Amerika mit Martin Luther King, den „Little Rock Nine“, James Meredith, der NAACP und dem legendären Robert Johnson, der damals, 1938, an der Kreuzung des Highway 61 und 49 seine Seele dem Teufel verkauft hatte. Robert’s son Li Grand Zombi Robertson wird sogar exhumiert, aber die Details dazu sollte lieber jeder selbst nachlesen, denn die Geschichte ist haarsträubend witzig und voller Liebe zum Detail, ganz abgesehen von den erstaunlichen Sachkenntnissen, die Hervier über Gitarren im Allgemeinen und die Geschichte des Blues im Speziellen zu Protokoll gibt. Geschickt verknüpft Hervier Realität und Geschichte mit seiner Fiction, die so amüsant zu lesen ist, dass man auch sehr oft erleichtert auflachen kann, etwa über den White Trash Amerikas. Denn im 40. Todesjahr des King, darf natürlich auch der „King“ nicht fehlen, der in „Vintage“ eine Hommage in Form des Elvis-Imitators Bruce und seiner „The Bruce Pelvis Presley Band“ bekommt, als Thomas eine Spur in Memphis, Tennessee verfolgt. Einige Seitenhiebe auf das Pärchen Bruce und Shelby und deren europäische Geographiekenntnisse sowie die Lebensbedingungen des White Trash inklusive.

Die rasanteste Suche nach der Nadel im Heuhaufen – oder der Gitarre im Bayou – ist einer der wohl besten Rock`n´Roll Romane der Literaturgeschichte, voller Verve und dramatischer Schwingungen, ganz so wie die Gibson Moderne von Li Grand Zombi Robertson. Eine fulminante Hommage an einen Lebensstil.

Grégoire Hervier
Vintage
Roman
Aus dem Französischen von Alexandra Baisch und Stefanie Jacobs
2017, Diogenes, 391 Seiten
ISBN: 978-3-257-07002-6

 

 


Genre: Gesellschaftsroman, Historischer Roman, Humor und Satire, Kriminalromane, Roadtrip
Illustrated by Diogenes Zürich