Die ungeliebte “friend zone”
Ausgerechnet an ihrem Geburtstag tritt er in ihr Leben – Miller Stratton, ein sehr musikalischer Junge, der aber ein Geheimnis vor Violett hat: Er ist bitterarm und er will sich vor seiner reichen besten Freundin keine Blöße geben. Vom Vater verlassen wohnen seine Mutter und er in ihrem Auto, haben keine feste Bleibe und die Mutter muss zweifelhaften Jobs nachgehen, damit die Familie überhaupt überleben kann. All das prägt Miller zutiefst. Aber in Violett hat er eine zuverlässige Freundin gefunden, die ihm sogar das Leben rettet. Denn Miller hat Diabetes und weiß es nicht. Violett, die Ärztin werden will, regiert sofort, als er einen Schock erleidet, und kümmert sich ab diesem Zeitpunkt sorgfältig um Millers Gesundheit. Miller empfindet schon bald mehr für das großherzige Mädchen, aber Violett will ihre Freundschaft nicht für eine Liebesbeziehung aufs Spiel setzen, denn sie sieht an ihren völlig zerstrittenen Eltern, wohin eine Ehe führen kann. So leidet Miller heimlich, verarbeitet seine Gefühle aber in seinen Songs. Die gefallen irgendwann auch anderen und so nimmt seine musikalische Laufbahn durch Glück und Talent seinen Lauf. Als er es an die Spitze schafft, hat sich aber sein größter Traum nicht erfüllt: Violett ist immer noch „nur“ seine beste Freundin.
Raus aus den typischen Rollen für Frau oder Mann
Die in sich abgeschlossene Geschichte ist natürlich eine romantische Story: Die Charaktere merken, dass sie sich nicht nur mögen, sondern auch lieben. Aber wie bei romantischen Stories üblich haben sie mit vielen Hindernissen zu kämpfen, bis es vielleicht ein Happy End gibt. Dabei trifft die Autorin genau das richtige Tempo in der Entwicklung dieser Gefühle und wie mit ihnen umgegangen wird.
Liebeswirren sind den jungen Leser*innen schon bekannt, und diese können völlig unterschiedlich aussehen. Scott wählt hier Hindernisse, die eher nicht im Außen, sondern im Inneren eines Menschen ihren Ursprung haben: eine unglückliche Kindheit und Jugend, schädlich vorgelebte Rollen, Scham. Die Psyche spielt eine große Rolle in Beziehungen bzw. darin, ob man bereit ist, eine Beziehung und damit Nähe zuzulassen oder nicht. Und das bereitet das Buch hier sehr verständlich auf, wobei diese inneren Konflikte durchaus gern zum Spannungsaufbau genutzt werden, da sie sich hierfür anbieten.
Auch in diesem Buch gibt es wieder Triggerwarnungen: häusliche Gewalt, Krankheit von Angehörigen, Armut, Mobbing. Ich persönlich finde diese Warnungen gut, da man sich dann überlegen kann, ob man dieses Buch lesen will oder nicht. Allerdings habe ich auch schon gehört, dass allein die Triggerwarnungen triggern können. Wenn man allerdings bereit ist, sich seinen Ängsten zu stellen, bietet dieses Buch auch Möglichkeiten an, wie man mit Schwierigkeiten umgehen könnte.
Eine ganz zentrale Möglichkeit sind Freunde und das Sprechen über Dinge, die nicht gut laufen. Denn so hat man die Chance, mehrere Blickwinkel auf eine Sache zu erhalten und damit neue Ideen, wie man mit schwierigen Situationen umgehen könnte. Auch die Erleichterung und der Mut, den man aus guten Gesprächen schöpfen kann, sind nicht unerheblich für Problemlösungen.
Dabei gibt es aber auch in diesem Buch – wie im Leben auch – keine geraden Wege. Aber vielleicht sind ja v.a. die Umwege diejenigen, aus denen man letztlich am meisten lernen kann. Die Figuren haben Macken, auch Krankheiten, sie sind nicht perfekt. Sie ergehen sich aber nicht in ihren Leiden, sondern packen nach Phasen des Trauerns und der Tiefschläge immer wieder das Leben neu an. Die Kunst und die Träume, was man mit seinem Leben anfangen will, sind dabei zentrale Kraftquellen und im Fall der Kunst auch Katalysatoren, die wertgeschätzt werden.
Überhaupt ist mir in der sogenannten „Trivialliteratur“ und (nicht nur) in amerikanischen Teenagerfilmen immer wieder aufgefallen, dass diese Probleme in der Gesellschaft ansprechen und auf ihre Weise bearbeiten. Gerade in amerikanischen Filmen z.B. sind die Stars nicht die propagierten Sportler oder Cheerleader oder sonstwie beliebten Schüler*innen in der High School, sondern die „Nerds“ und ihre Lebenswelt. Schaut man sich an, was aus vielen Nerds geworden ist, weiß man, wie wenig sinnvoll patriarchalische Wertvorstellungen sind – die in solchen Filmen und in der Literatur auch direkt oder indirekt kritisiert werden. Denn männliche Sportler-Machos will eigentlich niemand, ebenso wenig weibliche seichte Barbie-Puppen, schlimmstenfalls noch garniert mit einem schlechten Charakter. „Nerds“ und Außenseiter dagegen haben viel mehr zu bieten, sind tiefsinniger und halten einer Gesellschaft, die auf Äußerlichkeiten und patriarchale „Werte“ Wert legen, den Spiegel vor. Man denke nur an Till Eulenspiegel oder die damaligen Hofnarren, die das Gewissen der Gesellschaft waren. In diesem Buch wird z.B. ein Typ Mann vorgestellt, der weit ab vom Krieger- und Sportlertyp ist, der aber tiefsinnig und komplex ist und dabei sehr kreativ. Außerdem lässt er Gefühle zu und verarbeitet sie.
Auch Violett fällt aus der Rolle, die für sie vorgesehen ist, weil sie diese kritisch hinterfragt und mutig genug ist, ihre eigenen Vorstellungen zu verfolgen. Sie zeigt Stärke und steht damit für eine typische Frau nicht im Sinne des Rollenklischees, in welchem eine Frau eher schwach und naiv sein muss, um dem Mann nicht im Weg zu stehen, sondern bildet eine Realität ab, in der Frauen gerade in einem System, das sie unterdrücken will, stark sind und auch sein müssen, um nicht nur zu überleben, sondern auch zu leben.
Fazit
Gelungenes Buch über Beziehungen, die wie in der Realität nicht immer einfach sind. Das Buch zeigt, dass jede*r ihr/sein eigenes Päckchen zu tragen und abzuarbeiten hat und in eine Beziehung mitbringt. Aber Eigenschaften (wie eine gute Kommunikationsfähigkeit, Einfühlungsvermögen, Unterstützung, Verständnis), die traditionell als feminin angesehen werden (die aber zentral sind für das Herdentier Mensch, um in einer Gesellschaft nicht nur zu bestehen, sondern glücklich zu werden und das Leben insgesamt zu verbessern!), garantieren damit auch das Finden und Erhalten einer guten Liebesbeziehung. Also von wegen „trivial“!