Berlin in hundert Kapiteln, von denen leider nur dreizehn fertig wurden

Berlin in hundert Kapiteln, von denen leider nur dreizehn fertig wurdenDie beiden Journalisten des Buches
Berlin in hundert Kapiteln, von denen leider nur dreizehn fertig wurden kennen sich vom Tagesspiegel, für den sie seit Jahrzehnten schreiben. Manche Kapitel haben sie gemeinsam geschrieben, einige allein. Es geht um ihre immer wieder getrübte Liebe zu Berlin, wo sie trotz alledem gerne leben. Und sie können manche offene Frage mit ihrem profunden Hintergrundwissen aufklären. Es ist pointiert geschrieben, eben mit Herz und Schnauze, wozu sie auch Einiges sagen.

Im ersten Kapitel stellen sie sich vor, warum sie wann nach Berlin gekommen sind, wie das war mit Ost und West, dass sie, als Westdeutsche in den Osten durften, aber wir Westberliner nicht, jedenfalls, wenn wir keine Verwandten „drüben“ hatten. Das ist Zeitgeschichte und für jüngere und Neuberliner kaum zu glauben.

Im zweiten Kapitel „Ins Scheitern verliebt“ wird die Schludrigkeit der Berliner Corona Maßnahmen am Beispiel der geschlossenen Spielplätze in Erinnerung gebracht. Aber das ist nur ein letzter Höhepunkt. Eigentlich beziehen sie sich auf einen Karl Scheffler, der 1910 das Buch „Berlin, Ein Stadtschicksal“ schrieb, wo er den Hang zum Scheitern dieser Stadt schon damals erkannte. Früher war eben doch nicht alles besser.

Das dritte Kapitel Die Bürgschaft hat den Untertitel „Eine leider unvollständige Beschreibung der jüngeren Berliner Skandalgeschichte und der Versuch, ein Handlungsmuster zu erkennen.“ Wir werden an viele Bestechungsfälle in der Berliner Baubranche erinnert. Wobei es bemerkenswert ist, wie die CDU, die wesentlich kürzer den Regierenden stellte, als die SPD, doch mit diesen fast gleichzog, was die krummen Dinger anbelangte (Das ist nicht von den Autoren, sondern eine Anmerkung der Rezensentin). Gewarnt werden wir vor den Grünen, die in Friedrichshain-Kreuzberg auch schon das auffällige „Handlungsmuster“ an den Tag legen.

Wir lernen von den Imagekampagnen, dem seit Langem immer wieder geforderten Mentalitätswechsel, bei wem denn nun, fragt man sich allerdings. Natürlich wird der Flughafen BER gewürdigt, und wir sehen, was aus der Untersuchung zum Radikalismus in der Polizeischule herausgekommen ist: Nichts. Auch das ist ein Handlungsmuster.

Recht liebevoll geht man mit den Eigenheiten der Bezirke um, denn früher, als Wohnungen noch zu haben waren, wurde mehr umgezogen, natürlich mit Zapf: dem Spediteur, dessen Betrieb in den Händen der Belegschaft war.

Immer wieder fließen die Außensichten auf Berlin ein, das ja gerne eine Weltstadt sein möchte, allerdings ohne deren Widrigkeiten. Im englischen Magazin Time Out wird der Wedding empfohlen, als Ort, der sich nicht so schnell verändert, wie andere Bezirke, „Berlin als Spielplatz für Menschen, die nicht erwachsen werden wollen.“ Ob Menschen, die nicht erwachsen werden wollen, sich die Miete noch leisten können, wenn sie sich verdreifacht haben wird?

Besonders gefiel der Vergleich von Herrn Martenstein zwischen einer Zeitungsredaktion in München, wo er ein Jahr lang gearbeitet hatte und dem Tagesspiegel: Wie würde man ein Versagen der Politik dem Leser nahebringen? In München wäre es tröstend, mit Hinweisen auf Schönes, den Viktualienmarkt etwa, oder die schönen Frauen. In Berlin wäre, wie schon Marlene Dietrich gesungen hat, der Beifall ehrlich, wenn jemand hinfällt.

Im dreizehnten und letzten Kapitel üben die Autoren Selbstkritik, fragen sich, ob sie zu kritisch waren und nehmen sich vor, ein Buch mit 100 Lobreden zu verfassen. Aber vielleicht reicht es ja, wenn sie einfach weiter ihren Job machen, für eine möglichst lange Zeit, erst in der Zeitung und, falls nötig, mit weiteren Kapiteln über die Stadt, die nicht fertig wird.


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Ullstein

Realitätsschock: Zehn Lehren aus der Gegenwart

RealitätsschockGleich in der Einleitung des Buches von Sascha Lobo steht fettgedruckt dieser Satz: „Realitätsschock in einem Satz: Plötzlich müssen wir erkennen, dass die Welt anders ist als gedacht oder erhofft.“

Die Welt scheint aus den Fugen geraten, und ist mit unserem geistigen Vermögen schwer zu erfassen. Wir werden „der Hoffnung beraubt, Politik, Wirtschaft und Eliten hätten eine gewisse Kontrolle über den Lauf der Dinge.“

Die These des Buches lautet: Digitalisierung und Globalisierung bedingen sich gegenseitig, sodass die eine Entwicklung ohne die andere nicht möglich und deswegen nicht zu verstehen wäre. Dieser Gedanke wird auf bald vierhundert Seiten in zehn (wie wir später sehen werden, eigentlich elf!) Kapiteln durch dekliniert.

Gleich eingangs entschuldigt er sich, dass er einen weiteren Entwicklungsstrang auslassen musste: die zunehmenden und für Viele überraschenden Rollen, die Frauen nun einnehmen. Dies müsse er seiner Frau, Meike Lobo, überlassen, die ein Buch darüber vorbereite, und er möchte nicht vorgreifen. Schade! Ein wenig old School, aber nicht unsympathisch für einen Ehegatten …
Er bezieht sich auf das Buch „Die Metamorphose der Welt“ von Ulrich Beck 2016 geschrieben, in dem es heißt, die Welt in der wir leben, verändert sich nicht bloß, sie befindet sich in einer Metamorphose. „… Die ewigen Gewissheiten moderner Gesellschaften brechen weg.“ Später zitiert er Beck: „Die laufende Metamorphose hängt zutiefst mit dem Konzept des Nichtwissens zusammen. Dieses Nichtwissen kann uns nicht mehr schützen, wenn wir alles Wissen, das uns zugänglich ist, aufnehmen und bedenken.“

Ich hatte beim Lesen mit den Bereichen angefangen, über die ich schon viel wusste und nachgedacht hatte. Als dabei Lobos Konzept nachvollziehbar und immer auch erfrischend war, konnte ich vertrauensvoll die mir unbekannten Bereiche lesen und staunen. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle schon anmerken, dass er das Alter meiner Kinder hat.

Beim Lesen genoss ich seine große Sachkenntnis und Erfahrung im Netz: Wer kann schon von sich im Klappentext schreiben, dass er „in Berlin und im Internet lebt“? Als Gesundheitswissenschaftlerin fand ich das Kapitel zur Gesundheit realitätsfern, es sollte überarbeitet werden.

Klima (Kapitel 1)

Klimakollaps, Plastikpanik, vegane Visionen

Das Kapitel beginnt in einem sibirischen Dorf am Barentssee, in dem hungrige Eisbären die Menschen bedrohen. Der Klimawandel, der 2018 beginnt, führt zu Verschiebungen: während die USA Temperaturen bis zu minus 50°C haben, im nahe am Pol gelegenen Russland wird es dagegen zu warm. Dadurch schwimmen für die Eisbären keine Robben mehr auf Eisschollen heran und sie müssen sich ihre Nahrung anderswo suchen, etwa in der Nähe menschlicher Behausungen. Woher wissen wir diese Zusammenhänge? Von Satellitenaufnahmen.
Das Zeitalter des Holozän mit klimatischer Stabilität ist beendet, wir leben im Anthropozän, dem Zeitalter des Menschen. Der Klimaforscher Schellnhuber sagt 2019: „Wir Forscher haben gewarnt vor den Folgen des Klimawandels … und Keiner hört zu.“ Erst als die Jugendlichen der Klimabewegung das Wissen ernst nehmen, wird der Begriff „Kippelemente der Erdsysteme“ in der Öffentlichkeit wahrgenommen.

Als nächstes wird ausführlich die „Plastikpanik“ behandelt, wie die Plastik produzierende Industrie schon in den siebziger Jahren Stimmung für ihr Produkt machen (kann man immer wiederverwenden!) und die Schuld für den Plastikmüll auf die Verbraucher schiebt. Oder man soll recyceln, was aber faktisch nur in 5,6 % der Fälle geschieht.

Zeitgleich entwickeln sich digitale Medien und die Bilder von Plastik verseuchten Meeren erreichen uns. Sie zeigen, wie Produkte, die in reichen Ländern hergestellt und genutzt wurden, als Müll in die Verantwortung armer Staaten kommen, die die Probleme nicht besser lösen können. Es folgt eine Übersicht, wann einzelne Länder beispielsweise Plastiktüten verboten haben.

Seit Anfang der Zehnerjahre werden mehr Menschen „plötzlich pflanzlich.“ In Deutschland sind 2016 1,3 Millionen Menschen vegan, knapp 9 % vegetarisch. Ein Grund sind die Leiden der Tiere, aber angesichts des durch Viehzucht entstehenden Kohlendioxidüberschusses (70 % der Agrarflächen werden für die Tierproduktion verwendet!) wird zunehmend pflanzliche Ernährung als bester Ausweg gesehen.

Israel gilt als Hochburg des Veganismus, schon 2015 mit rund 5 % der Bevölkerung, die sich vegan ernährt. Beim anstehenden Wechsel der Ernährungsgewohnheiten spielen Kinder und Jugendliche eine große Rolle, auch als Mediennutzer, die ihre Eltern beeinflussen. In ihnen sieht Lobo die entscheidenden Akteure, um den Kapitalismus „ökologischer und bedingungslos nachhaltig“ zu machen.

Migration (Kapitel 2)

Massenwanderungen: Warum Migration heute ein höchst digitales Problem ist

Die UN hat ein „Predictive Analytics“ Projekt aufgebaut, das mit Daten wie Konflikteinschätzungen eine Wiederholung des „Realitätsschock von 2015“ künftig vermeiden soll. Die damalige Migration von mehr als einer Millionen Syrern wird als „Zeitenwende“ bezeichnet. Alle Parteien in der BRD fordern, die Fluchtursachen in den Herkunftsländern zu bekämpfen, manche eher human, andere eher inhuman – hilflos sind sie alle.

Große Wanderungsbewegungen gab es immer: 90 % innerhalb von Afrika. Die Migrationsvermeidungsstrategien der Europäer denken eurozentrisch nur an die, die nach Europa wollen, in besonders erwählte Länder, zu denen Deutschland gehört.

„Wasser, Smartphone, Essen, in dieser Reihenfolge“, so beschreibt eine britische Migrationssoziologin die Prioritäten der Migranten. Sie schätzen die Möglichkeit, Kontakt zu Freunden und Familie aufrecht zu erhalten, darüber ihre Flucht zu organisieren, und Kontakte am geplanten Zielort zu finden.

Die afrikanische Migration ist eine Spätfolge des Kolonialismus; viele der europäischen Staaten hatten Kolonien in Afrika. In einem längeren Zitat eines togolesischen Kulturhistorikers schreibt er: „Kolonisierung (war) eine gewalttätige Einführung von Systemen“ … mit dem Ziel, die Länder auszubeuten. „Eine Elite führt diese Systeme weiter. In den meisten afrikanischen Ländern wird eine große Masse der Bevölkerung (von dieser Elite) im Stich gelassen … Migration und Entwicklung gehören zusammen, aber mit einer Sensibilität für die hinterlassenen Systeme der Kolonialzeit.“

Nach der Unabhängigkeit der meisten afrikanischen Nationen ging es auf neue Weise weiter. Die Ermordungen afrikanischer Führer wurden, wie wir aus inzwischen freigegebenen Geheimdienstunterlagen wissen, durch die europäischen Mächte und die USA inszeniert.

Handelsbeziehungen sollen die alte Einteilung, ihr liefert die Rohstoffe und wir die Produkte, erhalten. 2014 wollte Kenia ein europäisches Freihandelsabkommen mit der Ostafrikanischen Staatengemeinschaft nicht unterzeichnen, weil es befürchtete, die heimischen Produkte hätten gegen Subventioniertes keine Chance. Darauf erhöhte die EU die Zölle für kenianische Waren (Blumen, Kaffee, Obst) um 30 %. Der Export drohte zu versiegen, und Kenia unterschrieb. Ein kenianischer Wirtschaftsexperte schätzt, dass das Land aus den durch das Handelsabkommen resultierenden EU-Importen jährlich rund 100 Millionen Euro verliert.

„Sie kommen so oder so“ und hinterlassen, gerade in Westafrika, in manchen Gegenden praktisch keine Jugendlichen mehr, die für die heimische Landwirtschaft nötig sind.

Integration (Kapitel 3) und Rechtsruck (Kapitel 4)

sind ebenfalls kenntnisreich und lesenswert. Zur Integration habe ich mir gemerkt, dass Helmut Kohl 1982 (in einem inzwischen veröffentlichtem Dokument) Frau Thatcher in London erklärte, dass es notwendig wäre, die Anzahl der in Deutschland lebenden Türken um 50 % zu reduzieren. Wir sehen dann die langsame Entwicklung auch bei der CDU, Integration steuern zu wollen, die Phasen des Multikulti, der Leitkultur, und wie der Versuch scheitert, die muslimischen Kirchenverbände mit der Integration zu betrauen. Statt der Leitkultur gälte es, Leitwerte zu vermitteln, eine Art Multikulti 2.0. „Es handelt sich um die basalen Regeln der liberalen Demokratie, die allerdings in Europa auch von lange heimischen Einwohnern nicht ausreichend ernst genommen werden.“ Diesen widmet sich das vierte Kapitel.

China (Kapitel 5)

Die chinesische Weltmaschine—Wie Chinas Gegenwart auch unsere Zukunft verändert

Das Kapitel beginnt mit der Beschreibung eines Fünfjährigen, dessen „Tigereltern“ das Einzelkind auf das Leben in einer „gesellschaftlichen Effizienzradikalität“ vorbereiten. Die meisten unter Vierzigjährigen in der wachsenden Mittelschicht glauben an das „meritokratische Wohlstandsversprechen“ und „konsumieren sich reich.“

Die Digitalisierung der Gesellschaft ist unglaublich weit fortgeschritten, finanzielle Transaktionen werden meist digital erledigt. Dieses Jahrhundert wird zum chinesischen, weil auch die westlichen Firmen ihre Produkte danach entwickeln, ob sie auf dem chinesischen Markt bestehen. Übrigens richtet auch Hollywood seine Filme danach aus. Und der Vorsprung wird in China weiter ausgebaut durch gezielte Förderung gerade der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz (KI).

Wenn früher galt: Demokratie plus Marktwirtschaft gleich Wohlstand, scheint das chinesische Gegenmodell: Autoritäre Herrschaft plus Digitalkapitalismus gleich Wohlstand für manche überzeugender.

Im Mai 2020 liest sich der folgende Satz des 2019 erschienenen Buches prophetisch: „Ab und zu wird eine kommende chinesische Krise beschworen, und die Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht gering. …wird eine chinesische Krise, so merkwürdig das klingt, den Rest der Welt härter treffen, als China selbst.“

Künstliche Intelligenz (Kapitel 6)

Wir nannten es Arbeit

Wie künstliche Intelligenz und Plattformen verändern, was wir unter Arbeit verstehen.

In einigen Chefetagen ist schon der Begriff der Decision making Strategie angekommen. Problem dabei, je mehr KI angewandt wird, „umso schwieriger wird es, den Sinn dahinter zu erkennen.“ Wer etwa Facebook fragt, warum ein „Inhalt im Nachrichtenstrom angezeigt wird und der andere nicht, dann ist deren einzige ehrliche Antwort: Ich weiß es nicht, das hat die KI so anhand von Nutzungsdaten entschieden.“ Ein bisschen anders als in China ist es bei uns also doch …

Gesundheit (Kapitel 7)

Digitale Körperlichkeit

Dies ist das Kapitel, welches mich zu einem zweiwöchigen Realitätsschock Detox veranlasste. Der Tenor ist: mit der Digitalisierung wird bestimmt auch in Deutschland endlich die Gesundheit besser. Die in den anderen Kapiteln durchschimmernde Systemskepsis vermisse ich hier. Bei „Wir nannten es Arbeit“ wird über die ungerechte Bezahlung verschiedener Tätigkeiten gesprochen, seit Jahrzehnten wissen wir, dass Pflegekräfte unterbezahlt sind, viele nach wenigen Jahren den Beruf aufgeben, und viele Stationen, schon lange vor Corona, unterbesetzt sind. Das in anderen Kapiteln Bearbeitete wird nicht auf das Gesundheitswesen bezogen.

Lobo stellt Erkenntnisse medizinischer Forschung dar, vor allem im Bereich der genetischen Forschung, die eine aufs Individuum angepasste Medizin erlauben. Deutschland hat sich dieser Entwicklung bisher eher verweigert. „Wir wohnen der Entstehung unseres zweiten Körpers bei.“ Und der ist digital. Die Vermessung des Körpers läuft inzwischen bei „hunderte(n) Millionen Menschen“ und Lobo begrüßt, dass einige davon sinnvoll verknüpft werden können. Er hofft: „Eine digitale Kultur der Offenheit (gegenüber etwa psychischen Erkrankungen) ist im Netz entstanden, und sie betrifft auch das Körperliche.“ Wie soll die mögliche Diskriminierung von Menschen, deren Genom sie für Erkrankungen (etwa psychische) prädestiniert, verhindert werden? „Wir brauchen gesellschaftliche, regulatorische, politische und auch technische Antworten auf die Fragen, die sich daraus ergeben.“

Nicht nur Gesundheitswissenschaftler wissen, dass es in Deutschland eine Unterversorgung bei der sprechenden Medizin gibt, eine Überversorgung bei operativen Eingriffen, weil diese besser bezahlt werden. Da geht es um Macht und viel Geld. Wessen Interessen werden „Antworten auf die Fragen“ entsprechen. Stattdessen wünscht er: „Irgendwann werden physischer und digitaler Körper wieder eins.“ Und wo bleibt die Seele?

Noch bedenklicher sein Schluss: Die Kosten-Nutzen-Rechnung des deutschen Gesundheitswesens ist mies. Warum? Wegen der mangelhaften Digitalisierung. Erst wenn die kommt, wäre das deutsche Gesundheitswesen „ausreichend effizient.“

Soziale Medien (Kapitel 8)

Fun und ein Stahlbad

Wir erfahren, wie ein junger Mann, mit Spitznamen „Drachenlord“ von der Medienmeute fertig gemacht wurde. An einem Augusttag kamen in sein kleines fränkisches Dorf 800 Menschen, um ihn zu belagern, traten die Türen ein und legten einen Brand, sodass er mit Hilfe von Polizei und Feuerwehr geschützt werden musste. Was hatte er verbrochen? Im Netz seine eigenwilligen Meinungen vertreten. Dazu wurde er provoziert. Ein Beispiel: Er wurde von einer Frau dazu verführt, dass er ihr seine Liebe gestand, worauf sie dies Hunderten Interessierten mitteilte. Ihr Freund, auch ein Youtuber, hat alles aufgenommen und ins Netz gestellt.

Nachbarn rieten ihm, mit dem Posten aufzuhören, aber er sieht es als sein Recht an, weiterzumachen. An diesem Punkt wurde mir als alter weißer Frau etwas klar: Sascha Lobo hat ein Verständnis für dessen Weitermachen entwickelt, das mir fehlt. Als wenn es ein Recht gäbe, auf Provokationen hereinzufallen! Sein Zitat dazu: „Solche Ratschläge beruhen auf der Selbstverständlichkeit einer Zeit, in der man noch die Wahl hatte, ob man ins Netz geht oder nicht. Diese Zeit ist für die meisten jüngeren Menschen vorbei.“ Der Drachenlord lebt auch von den Werbeeinnahmen, die er, wie viele Youtuber auch, ausgezahlt bekommt.

Wir lernen viel über Cybermobbing: In den USA gab es Selbstmorde von überlebenden Schülern nach Schulschießereien, oder auch von Eltern getöteter Schüler. Es war verbreitet worden, die Massaker hätten gar nicht stattgefunden, sondern seien vom „tiefen Staat“, also den Behörden, selbst inszeniert. Die rechtsgerichteten Provokateure, die auch der Waffenindustrie nahestehen, unterstellten, die Trauernden seien Krisenschauspieler, die vom Staat bezahlt und von der „Lügenpresse“ über nicht stattgefundene Schießereien interviewt worden waren.

Gamegater sind Gruppen, die gerne ihre Spiele austauschen und einen Hass auf Frauen pflegen, und gespielt verfolgen, indem sie Intimes, auch Erfundenes, verbreiten.

In diesem Zusammenhang lernen wir die Besonderheiten von Twitter kennen. “Twitter ist ein großartiger Ort, um der Welt mitzuteilen, was man denkt, noch bevor man darüber nachgedacht hat.“ Wie funktioniert ein Hashtag, wie werde ich als Twitterin Teil eines Shitstorms, ohne es zu wissen?

Die enge Beziehung zwischen Fake News und Verschwörungstheorien (Traumpaar) wird an harmlosen Beispielen (der Mond ist aus Käse, oder die Erde ist eine Scheibe) gezeigt. Mit welchem Algorithmus („lernender Empfehlungsalgorithmus“) wird beim Autoplay bei Google der nächste Film ausgewählt, der mich als Nutzerin mit weiteren Beweisen für die angesprochene Theorie überzeugen soll. „Bei frisch zur Verschwörungstheorie Konvertierten handelt es sich um das absolute Traumpublikum von Youtube.“

Gefährlicher ist die Verwendung zur Rekrutierung von Islamisten, oder die Verbrechen der Militärs in Myanmar gegenüber den Rohingyas. Erst vier Jahre nach Vorwürfen, dass über Facebook die herrschende (buddhistische) Elite Greueltaten der (muslimischen) Rohingyas vorgetäuscht hatten, reagiert Facebook: Für die siebenstellige Zahl der Nutzer in Myanmar wird eine Task Force für die Überprüfung von Hassreden in der Landessprache gebildet: „Die Zahl der Mitarbeiter der Task Force: eins.“ Das Unternehmen Facebook hat im Jahr 2018 übrigens 55 Milliarden Dollar mit Werbung eingenommen.

Zukunft (10.) Kapitel

Die Weisheit der Jugend

Warum die Älteren von den Jungen lernen müssen, um den Realitätsschock zu bewältigen

Ein schönes Kapitel: Es werden die bekannten Aktivitäten dargestellt, mit der Zuversicht, dass sie dem Erhalt der Erde dienen, mit einem Schlusswort von Greta.

Zum elften Kapitel, das auch lesenswert ist, kommen wir über einen QR Code, im Anhang des Buches. Der soll aber nicht im Netz verbreitet werden, darüber wird Buchfluch ausgesprochen. „Ihnen möge für den Rest der Tage stets im unpassenden Moment der Handyakku leer sein.“ Ein Tipp für diejenigen, die länger auf die € 22 sparen müssten: Man kann das Buch auch in der Stadtbücherei ausleihen! Es lohnt sich!

Fazit: Schockierend realistisch, das Gesundheitskapitel noch mal überarbeiten!


Genre: Politik und Gesellschaft, Sachbuch, Umwelt
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Haymatland

Eine Liebeserklärung an Deutschland

Stellen Sie sich vor, Sie leben in einem Land, das sie seit ihrer Geburt kennen und dessen Sprache sie sprechen. Über Heimat haben sie nie nachgedacht, weil sie es immer für selbstverständlich hielten, dass sie in dieses Land gehören.

Und plötzlich tauchen Leute auf, die sie vertreiben wollen. Nach Anatolien, oder sonstwohin, weil sie angeblich nicht hierher gehören. Weiterlesen


Genre: Politik und Gesellschaft, Zeitgeschichte

Kültür alakart

Das Kennenlernen kulinarischer Kultur befördert das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen. Diese Behauptung trifft zu und ist grundverkehrt. Sei trifft zu, weil man sich normalerweise am Tisch, während des Essens, nicht den Kopf einschlägt. Sie trifft für alle Menschen zu, die neugierig auf andere Menschen und deren Kultur sind. Sie trifft auch für Diejenigen unter uns zu, die mit „Fremden“ fremdeln, die man aber bei einem leckeren Essen aus ihrem Misstrauen herausholen kann.
Grundverkehrt ist die Annahme, man könne Rassisten durch das Servieren von Köstlichkeiten fremder Kulturen bekehren.
Da wir alle darauf angewiesen sind, dass die Gutwilligen, die Neugierigen und die Sinnlichen sich von Unbelehrbaren nicht frustrieren lassen, sind solche Projekte wie das Buch „kültür alakart“ aus dem Verlag „Tre Torri“ hochwillkommen und sehr zu begrüßen.

„Kültür alakart“, im Untertitel: „Das türkisch-deutsche Kulturkochbuch!“ ist sowohl ein Lese-, wie ein Kochbuch. 24 türkische, bzw. türkischstämmige Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Wirtschaft werden jeweils mit einem Interview portraitiert. Diesen Portrait folgen Rezepte aus der türkischen Küche, die durch die Vorgestellten ausgewählt wurden. Handelt es sich bei den Promis um Angehörige der schreibenden Zunft, wird mit einer Leseprobe zudem Appetit auf deren literarisches Oeuvre gemacht.
Extra-Kapitel zu den Themen „Essen und Trinken“, „Teekultur“ sowie „Kaffeesatzlesen“ ergänzen die kulinarischen Informationen.

„Kültür alakart“ ist ein Gemeinschaftsprojekt des Studiengangs Kommunikationsdesign der Fachhochschule Wiesbaden, des Fachbereichs Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg Universität Mainz und des Tre Torri-Verlags.
Das Buch ist nicht nur schön gestaltet, sondern in jeder Hinsicht informativ und appetitanregend. Es nimmt die kulinarische Kultur ebenso Ernst, wie die Vita der Befragten und ist deshalb nicht nur politisch korrekt, sondern auch ein sehr interessantes Kochbuch der türkischen Küchen.


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Tre Torri Wiesbaden

November 1918 – Eine Deutsche Revolution

Band 1: Bürger und Soldaten

Es sind die ersten Novembertage des Jahres 1918, der Kaiser ist nach Holland geflüchtet, der Krieg für Deutschland verloren. In einem elsässischen Städtchen warten Soldaten und Zivilisten gleichermaßen gebannt auf Neuigkeiten in diesen unruhigen Zeiten der Irrungen und Wirrungen, sie hören die Kunde einer Revolution, ausgehend von Matrosen in Wilhelmshaven und von dort weiter getragen in das ganze deutsche Reich. Wir begleiten – unter anderen – den verwundeten Oberleutnant Becker, einen Gymnasiallehrer auf der Suche nach neuen Werten und dürfen miterleben, wie die tief gespaltene Bevölkerung sich auf die Besetzung durch französische Truppen vorbereitet.

Band 2: Verratenes Volk

Zerrissenheit herrscht auch in der Reichshauptstadt Berlin: Die regierenden Sozialdemokraten Ebert und Scheidemann paktieren im Geheimen mit den alten Mächten, die sich um General Hindenburg scharen; hart bedrängt von den Spartakisten Karl Liebknecht und Kurt Eisner, dem bayerischen Ministerpräsidenten, die nicht bereit sind, ihre Ideale zu verraten und deshalb auf eine echte sozialistische Revolution pochen. Doch wiederum folgen wir ebenso den einfachen Leuten auf ihren verschlungenen Wegen, treffen elegante Kriegsgewinnler und dekadente Schieber, versprengte Deserteure und lustige Witwen. Auch Becker ist wieder in Berlin bei seiner Mutter, wo er sich von den Verletzungen an Körper und Seele erholt. Die politische Krise eskaliert, als am 6. Dezember Gardesoldaten unbewaffnete Spartakus-Demonstranten angreifen und dabei etliche töten.

Band 3: Heimkehr der Fronttruppen

US-Präsident Wilson reist per Schiff nach Europa um seine humanistischen Vorstellungen einer neuen Weltordnung zu präsentieren, aber seine Vision eines gerechten und dauerhaften Friedens und der Aufbau eines Völkerbundes scheitern in der Konferenz von Versailles am Kleingeist und Egoismus der europäischen Staaten. Währenddessen kehren in Deutschland die Soldaten aus dem Krieg heim, ermüdet und desillusioniert zerfällt die einst so gefürchtete Armee. Die Reichsregierung gerät zunehmend zwischen die Fronten der Generale und Spartakisten; der Kleinbürger Ebert verliert dabei immer mehr den Überblick und auch seine letzten Ideale. Becker dagegen findet in der Krankenschwester Hilde eine neue Liebe und kämpft zusammen mit ihr gegen dunkle Dämonen der Depression und Kriegsbilder, die ihn immer wieder quälen. Schließlich gelangt er zum christlichen Glauben, allerdings zu der radikalen Variante des Neuen Testaments; eine Wandlung, die ihn Freunde und Weggefährten kostet.

Band 4: Karl und Rosa

Becker kehrt für kurze Zeit in den Schuldienst zurück, doch er bemerkt schnell, dass das nicht mehr seine Welt ist. Er verliert seine Liebste und wird auf eine harte Probe gestellt: Seine Güte und Menschlichkeit führen ihn in das von Spartakisten besetzte Polizeipräsidium, als es von Regierungstruppen angegriffen wird. Schnell erkennt er, wohin er gehört und kämpft Seite an Seite mit seinen neuen Genossen. Er wird verwundet und festgenommen, lehnt aber eine Begnadigung ab und geht für 3 Jahre ins Gefängnis. Unfähig, sich danach wieder in die ihm fremd gewordene bürgerliche Gesellschaft einzufügen, zieht er als Landstreicher und Rebell durch die Gegend, um schließlich einsam, doch mit geretteter Seele zu sterben.

Rückblende auf die Kriegsjahre: Die revolutionäre Freiheitskämpferin Rosa Luxemburg sitzt in einem Breslauer Kerker und leidet unter der ihr aufgezwungenen Tatenlosigkeit. Endlich ist der Krieg zu Ende und sie – wie auch Karl Liebknecht – wird entlassen. Die beiden gehen nach Berlin, wo sie dringend gebraucht werden, denn Reichskanzler Ebert tut dort alles, um die Revolution zu stoppen. Die Stunde scheint günstig für die Aufständischen, Liebknecht mobilisiert die Massen, doch anstatt gemeinsam dieses Potenzial zu nützen, ergehen sich die übrigen Parteiführer in endlosen Diskussionen und Theoriedebatten; es sind eben sehr deutsche Revolutionäre. Die Regierung wird von derartigen Skrupeln nicht geplagt, Ebert überlässt es seinem Bluthund Noske, die Gegenrevolution zu organisieren und der fackelt nicht lange. Inzwischen in Berlin eingetroffene Offizierstruppen jagen Karl und Rosa, fassen sie schließlich mit Hilfe von Verrätern und erschlagen die beiden auf der Stelle man schreibt den 15. Januar 1919. Die feigen Mörder gehen mit Unterstützung der sozialdemokratischen Regierung straffrei aus, die deutsche Revolution ist zu Ende.

Alfred Döblin ist den meisten Literaturfreunden wohl hauptsächlich durch „Berlin Alexanderplatz“ bekannt, ein Buch, das mich ehrlich gesagt nie sonderlich begeistert hat. In seiner Revolutionstetralogie dagegen zeigt er, dass er sein Handwerk wirklich versteht: Ohne falsches Pathos verknüpft der Autor die historische Entwicklung mit den Geschicken zahlreicher fiktiver Romanfiguren, dabei entsteht ein wunderbar schlüssiges Gesamtbild, ein Sittengemälde dieser spannenden Zeit. Trotz etlicher Nebenhandlungen verzettelt er sich nicht, der Fokus bleibt stets streng erhalten. Die Bücher sind in überschauliche Kapitel gegliedert, die sich in Stil und Inhalt bisweilen erheblich unterscheiden. Mystischen Begegnungen der Protagonisten mit Geistern, Engeln und Dämonen folgen nüchterne Beschreibungen von Truppenverschiebungen, allzu menschliche Liebesaffären werden abgelöst durch tagebuchähnliche Gedanken der Spree in Berlin und wenn es nötig ist, meldet sich der Verfasser auch selbst zu Wort.

„November 1918“ ist weitaus mehr als die Verarbeitung historischer Ereignisse, Döblin erteilt eine Geschichtslektion und bezieht Stellung: Deutlich zutage tritt seine kritische Sympathie für die Revolutionäre des Spartakusbundes (nicht umsonst trägt Band 4 den Titel „Karl und Rosa“), ebenso wie seine Verachtung für die Sozialdemokratie der Genossen Ebert und Noske, die für ihren Verrat am Volk und der Sache mit sorgfältig ausgesuchten Worten voller Zynismus und Sarkasmus bedacht werden. Aber auch die andere Seite bekommt ihr Fett weg; für eine echte Revolution waren sie wohl doch zu deutsch, Respekt vor den Symbolen des Staates, aber auch vor den Theorien ihrer geistigen Lehrer verhinderten die notwendige Spontaneität und Skrupellosigkeit.

Die vier Romane schrieb Döblin in einem Zeitraum von mehr als 15 Jahren auf der Flucht vor den Nazis im Exil. Eine der Hauptfiguren, Studienrat Dr. Friedrich Becker, trägt autobiographische Züge, denn wie der Autor findet er schließlich zum christlichen Glauben in einer radikalen Prägung, die ihm ein Verbleiben in der bürgerlichen Gesellschaft unmöglich macht. Auch Döblin sah sich mit verschiedenen Problemen konfrontiert, als er nach dem zweiten Weltkrieg sein Manuskript anbot; erst in den 70er-Jahren wurde das Werk in kompletter Form veröffentlicht. Nicht nur denen, die sich für diesen Abschnitt deutscher Geschichte interessieren, sondern auch allen anderen, die einfach Freude an gepflegter Literatur empfinden lege ich es wärmstens ans Herz.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by dtv München

Italienische Verhältnisse

Von wegen “bella figura”

„(…)Mit Hilfe seiner Zeitungen, seiner Fernsehstationen, seiner Abgeordneten (er hatte nämlich eine Partei gegründet) entfesselte der Cavaliere eine wilde Kampagne gegen die Staatsanwälte, die gegen ihn ermittelten, und bezichtigte sie, ein parteiisches Recht auszuüben. Er selbst bezeichnete sich als politisch Verfolgten.
Er tat so viel und sprach so viel, daß viele Italiener ihm Glauben schenkten.
Dann, eines Tages, geschah, was allen widerfährt: er starb. Im Jenseits wurde er in ein schmuckloses Zimmer geführt. Dort stand ein wackliger Tisch, hinter dem auf einem Strohstuhl ein heruntergekommenes Männlein saß.
„Du bist der Cavaliere?“ fragte das Männlein. „Mit Verlaub“, sagte der Cavaliere verwirrt durch diesen vertrauten Ton. „Sagen Sie mir zuerst einmal, wer Sie sind.“ „Ich bin der Höchste Richter“, sagte das Männlein leise. „Und ich lehne Sie ab!“ schrie der Cavaliere umgehend, der zwar sein gesamtes Haar, sein Fleisch, seine Knochen verloren hatte, nicht aber sein Laster.“

Wer da als „Cavaliere“ daherkommt, ist niemand anderer als der zweifache Ministerpräsident Italiens, Medienmoguls und notorische Gerichtsbeschimpfer und nun bald wieder-Ministerpräsident Italiens, Silvio Berlusconi. Der Autor dieser oben zitierten Zeilen wiederum niemand geringeres als der derzeit wohl berühmteste, lebende Autor Italiens, Andrea Camilleri.
Dem deutschen Lesepublikum ist Camilleri vor allem als Schöpfer des überaus beliebten „Commissario Montalbano“ bekannt, jener Kriminalromane, die Sizilien auf unnachahmliche Weise in ein Licht stellen, dass zumindest partiell nicht von Mafia und anderen Furchtbarkeiten dominiert wird.
Andrea Camilleri gehört aber auch zu den engagiertesten und wortmächtigsten Kritikern Berlusconis. In vielen Ausätzen, Artikeln, Parabeln und Kurzgeschichten, die zumeist in Zeitschriften erscheinen, geißelt er nicht nur die geradezu „schulbübische Dreistigkeit“ des Medienmoguls Berlusconi. Camilleri zeichnet mit seinen Texten auch ein Bild seines Vaterlandes und seiner Landsleute, das zumindest schlaglichtartig in der Lage ist, die mehr als berechtigte Frage zu beantworten, wie es denn sein kann, dass die Bewohner eines der schönsten Länder Europas, in dem Wert gelegt wird auf gute Küche, geschmackvolles Design und eine „bella figura“ so ein Parvenü nun dreimal zum Regierungschef gewählt werden konnte.
Wer die Geschichten in dem hier ohne Vorbehalte empfohlenen, schon 2006 erschienen Band „Italienische Verhältnisse“ von Andrea Camilleri liest, wird ein Panoptikum italienischer Skurrilitäten, Lebensentwürfe, Verhaltensweisen und Realitäten vor Augen geführt bekommen. In dieser bunten Vielfalt, zum Teil liebenswerten Skurrilität aber auch in der Widersprüchlichkeit liegt der Schlüssel zum Verständnis. Italien ist das Land, in dem die Zitronen blühen. Italien ist aber auch das Land, in dem Senatoren im Parlament Schampusflaschen köpfen, weil der politische Gegner eine Abstimmungsniederlage erlitten hat oder auch schon mal nicht sprichwörtlich, sondern im Wortsinne handgreiflich werden.

In dem Taschenbuch, das im Wagenbach-Verlag erschienen ist, werden insgesamt 22 Texte Camilleris, sortiert in vier Kapitel, dem deutschen Publikum erstmals in deutscher Übersetzung zugänglich gemacht. Ein Text mit den Lebensdaten Camilleris, Anmerkungen zu Namen und Fakten, die in den Texten eine Schlüsselrolle spielen, sowie ein ausführliches Quellenverzeichnis helfen, dem Text-Verständnis auch noch eine politisch-historische Einordnung hinzuzufügen.


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Klaus Wagenbach Berlin

Minimum

»Deutschland stirbt aus!« warnt Frank Schirrmacher und dramatisiert in »Minimum« das drohende Sterben einer Nation durch fehlende Brut. Wir leben immer länger, wir zeugen kaum noch Nachwuchs; und vor allem gebärfreudige Frauen, die Träger der Familien als Urzellen der Nation, fehlen auf allen Betten und Matratzen. Uralte Kinder erleben ihre bald hundertjährigen Eltern, doch jeder dritte Verbund bleibt ohne Nachwuchs. Die Brutöfen sind kalt. Siegfrieds einstmals kriegerische Erben sind müde geworden. — Armes Deutschland! —

»Na und?« mag man ungerührt fragen. Ganze Kontinente kämpfen mit der explodierenden Bevölkerung, und wir beklagen mangelnde Fruchtbarkeit! — Fakt ist: aus dem einstigen »Volk ohne Raum« wird schleichend aber unaufhaltsam ein Raum ohne Volk. Deutschland hat mittelfristig nur eine Überlebenschance: als multinationaler Mischmasch. — Ist das wirklich ein derartig schmerzliches Szenario, dass wir zur Abwehr wieder Mutterkreuze und Abschussprämien stiften sollten? —

Vielleicht siedeln in Zukunft kinderreiche Mongolenstämme zwischen Rhein und Weser! Vielleicht treiben anno 2112 tibetische Hirten zottelige Yaks über die Schwäbische Alb! Vielleicht leiten schwarzafrikanische Voodoo-Priesterinnen dann in Berlin das Fruchtbarkeitsministerium und konservieren germanisches Sperma zur völkerkundlichen Dokumentation in Kryobanken!

Solange in allen Bereichen deutlich wird, dass Kinder eine kaum zu tragende wirtschaftliche Last mit ungewissen Zukunftschancen sind und es an attraktiven Hortplätzen und Schulen mangelt, wird kaum einer aus selbstloser Verantwortung gegenüber dem gesellschaftlichen Ganzen bereit sein, zusätzlich ein Dutzend Kinder in die Welt zu setzen und aufzuziehen. Bevölkerung entwickelt sich natürlich, Appelle halten ebenso wie Anreize keinen Untergang auf. Wie eines schönen Tages keine Saurier mehr auf dieser Erde grasten, und die Hochkultur der Maya im Orkus verschwand, so geht auch das Volk der Dichter und Denker früher oder später den Bach hinunter und wandert ins Geschichtsbuch.

Es sei denn, es sei denn, es sei denn … Frank Schirrmacher weist in seinem nächsten Buch den Weg aus der Misere und rettet good old germany.


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Blessing München

Minimum

Mit seinem Bestseller »Das Methusalem-Komplott« thematisierte Frank Schirrmacher das Phänomen einer rapide alternden Gesellschaft. Mit »Minimum« legt er den Finger auf die wunde Familie und das drohende Sterben einer Nation durch fehlenden Nachwuchs. Auch mit diesem Buch gelingt es ihm, demografische Entwicklungen populär zu veranschaulichen.

Der Autor sieht in der aktuellen gesellschaftlichen Situation Parallelen zum Jahre 1945: heute müsse sich Deutschland ebenso wie nach Kriegsende um einen Wiederaufbau bemühen; es gelte, die Familie als existentielle Kraft wieder zu beleben, um das Land neu zusammen zu setzen. — Warum? — In naher Zukunft seien fast siebzigjährige Kinder mit ihren noch lebenden Eltern unterwegs, von denen bereits ein Drittel gänzlich ohne Enkel bleibe. Eine Welt, in der wir aber aufgrund steigender Lebenserwartungen siebzig Jahre lang Kinder sein können und in der gleichzeitig Kinder als nachwachsende Ressource fehlen, sei so ungewöhnlich, dass uns dafür im Augenblick sogar noch die Begrifflichkeit fehle, schreibt Schirrmacher.

Eine Gesellschaft ohne Kinder ist eine sterbende Gesellschaft, das bedarf keiner Erläuterung. Dabei lässt sich nachweisen, dass nur durch den Kontakt mit Kindern das Bedürfnis, selbst Kinder haben zu wollen, geweckt wird. Abhängig ist dies bereits von den Familienverhältnissen der Elterngeneration: wachsen Kinder mit jüngeren Geschwistern auf, entsteht eine Fürsorgemotivation, die sich bei Erwachsenen in höherer Kinderliebe und stärkerem Kinderwunsch ausdrückt — und umgekehrt! Daraus folgt: immer weniger Kinder werden später immer weniger Nachwuchs produzieren wollen, Familienbande reißen, Sippen erlöschen, der Staat zerfällt.

Die heutige von Telenovelas erzogene Elterngeneration hat vor dem Hintergrund sozialer Krisen und kultureller Konflikte andere Interessen, als ausgerechnet Kinder in die Welt zu setzen. So schließt sich der Kreis, den Schirrmacher schlägt. Dabei weist er leider keine Wege, wie sich die Erkenntnis, wonach Blut dicker ist als Wasser, in konkretem Kindersegen niederschlagen könnte. Aber vielleicht erklärt er in seinem nächsten Buch, wie Deutschland vor titanischem Untergang und sozialem Bankrott bewahrt werden kann?


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Blessing München