Wächserne Lektüre
Mit dem Roman «Wachs hat die Schriftstellerin Christine Wunnicke kürzlich schon das zweite Mal einen Platz auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises erreicht, auf der Longlist war sie außerdem schon dreimal vertreten. Auch dieser neue Roman folgt wieder ihrem bewährten Erzählmuster, historisch verbürgte, mehr oder weniger prominente Personen als exzentrische Figuren auszuwählen und sie mit ihren jeweiligen Obsessionen in einem zum großen Teil fiktiven Geschehen agieren zu lassen. Die Autorin selbst hat ihr Roman-Personal als «zerfallende Personen» und «fragmentierte Figuren» bezeichnet, die in ihrem Werk dann ein Eigenleben führen würden. Zu ihrem Stil hat sie an gleicher Stelle angemerkt, sie beschreibe «Zwischenzustände, Grenzüberschreitungen, zweifelhafte Identitäten».
So hat sie auch mit dem vorliegenden Roman wieder ein ganz eigenständiges Werk geschaffen, in dem sich verschiedene literarische Gattungen zu einem im Genre historischer Werke eher seltenen Kurzroman vermischen. Der reichert als gelehrte Groteske real Verbürgtes mit unbeirrt Fiktivem an und erzählt es mit zuweilen parodistischem Einschlag.. Im Mittelpunkt dieser im Paris des 18ten Jahrhunderts angesiedelten Geschichte stehen mit der Anatomin Marie Biheron und der Malerin Madeleine Basseporte zwei historisch verbürgte Frauen im Mittelpunkt. Marie, die anfangs 14jährige Tochter eines Apothekers, besucht einen Kurs im Zeichnen bei der bekannten Malerin Madeleine, die deren Talent entdeckt und zu ihrer Mentorin wird. Im Roman werden sie kurzerhand als lesbisches Paar zusammen geführt, das es dann durch eine List von Marie sogar schafft, kirchlich getraut zu werden. Es lebe die Fiktion! Die reale Marie Marguerite Bihéron war zu damaligen Zeiten als Anatomin eine absolute Ausnahme-Erscheinung nicht nur in Frankreich und weithin bekannt für ihre realistischen Zeichnungen und anschaulichen Wachsmodelle des menschlichen Körpers. Wie gleich im ersten der zehn Kapitel des Romans beschrieben, versucht Marie als blutjunges Mädchen vergebens, beim Militär an die für ihre Obsession benötigten Leichen heran zu kommen. Naiv wie sie ist hat sie nämlich geglaubt, dort müsste es ja viele davon geben, – die erstaunten Soldaten haben nur den Kopf geschüttelt! Aber stur und zielstrebig, wie sie auch ist, findet sie mit Unterstützung ihrer Eltern, abseits der anatomischen Institute, einen illegalen Weg und wird fortan zuverlässig von einem Bestattungs-Unternehmen ‹beliefert›,
Das auch altersmäßig ungleiche Paar findet fortan durch den Verkauf der Zeichnungen von Madeleine und die überall neugierig bestaunten anatomischen Wachsmodelle von Marie ihr Auskommen. Das politische Geschehen vor und während der Französischen Revolution spielt voll mit hinein in einen Plot, in dem den Männern allenfalls Nebenrollen zugedacht sind, so auch für Denis Diderot, der hier Kaffee trinkend als ziemlicher Schwätzer dargestellt wird. Trotz seiner Kürze wird viel erzählt in diesem feministischen Roman, in dem es, mit wilden Zeitsprüngen und gelegentlichen Abschweifungen, vor allem um die Probleme geht, denen Frauen damals ausgesetzt waren. Aber gerade weil diese Hürden ihnen den Weg schwer machten, wurden zielstrebige Kämpfernaturen weiblichen Geschlechts wie die Protagonistin Marie damals zu Höchstleitungen angestachelt und vollbrachten für unmöglich Gehaltenes.
Und genau das ist denn auch die Botschaft dieses historischen Romans, der en passant neben geschichtlichen auch durch anatomische und botanische Details bereichernd wirkt für den Leser. Gelungen sind auch die Passagen, in denen über die verklemmten, religiös oktroyierten Moralvorstelllugen dieser Zeit berichtet wird, über Jungfräulichkeit und ehrbares Verhalten als Frau. Es sind durchweg sympathische Figuren, die den Roman bevölkern, allen voran Marie als willensstarke, autodidaktische Anatomin, Die Sprache, in der all das erzählt wird, ist wohl bewusst, quasi der Zeit geschuldet, etwas altertümelnd gehalten, also weder elegant noch flüssig lesbar, sie erscheint vielmehr in dieser Hinsicht als ziemlich «wächserne» Lektüre!
Fazit: lesenswert
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