Diese Dinge geschehen nicht einfach so

selasi-1Quantität versus Qualität

Mit ihrem Debütroman legt Taiye Selasi ein Epos über eine neue Spezies von Weltbürgern vor, für die sie den Namen Afropolitans geprägt hat. Es sind dies junge, erfolgreiche Menschen mit afrikanischen Wurzeln, die über alle Erdteile verstreut als Eliten leben, oft aber den schwarzen Kontinent noch nie betreten haben, mit dem sie in ihrem Innersten verbunden sind. So erklärt sich die Aufmerksamkeit der Medien und des Publikums zum guten Teil auch mit dem unbekannten Sujet dieses kosmopolitischen Romans, der den plakativen deutschen Titel «Diese Dinge geschehen nicht einfach so» trägt.

In einer gleich von Anbeginn an mitreißenden erzählerischen Wucht entwickelt die Autorin ihre Geschichte raffiniert um ein zentrales Ereignis herum, auf das sie immer wieder zurückkommt: den einsamen Tod des begnadeten Chirurgen Kweku, der am frühen Morgen im Garten seines Hauses in Ghana einem Herzinfarkt erliegt. Die Geschehnisse in den Minuten von der ersten Schmerzattacke bis zum Hinsinken ins taubenetzte Gras werden immer nur häppchenweise erzählt, unterbrochen jeweils von ausgedehnten Rückblenden in die Vergangenheit dieses einst so erfolgreichen Mannes und seiner kunterbunten Familie. Er bleibt auch im Fokus bis zum Schluss, einem arg inszeniert wirkenden Showdown allerdings, bei dem die verstreut lebenden Familienmitglieder anlässlich seiner Beerdigung in Ghana nach langer Zeit alle wieder zusammentreffen.

Es sind die Brüche im Leben einer sechsköpfigen Familie in den USA, denen die Autorin nachspürt, deren Vorbedingungen sie aufzeigt, deren Unabwendbarkeit sie zu erklären sucht. Der Chirurg Kweku muss unschuldig als Opfer herhalten, er wird fristlos entlassen, die Klinikleitung erfüllt damit beflissentlich die Rachegelüste einflussreicher Sponsoren. Seine Karriere scheint ihm zerstört, er verschweigt das aber seiner Familie und kämpft monatelang vergebens um seine Reputation, wobei er sich finanziell ruiniert. Der gewaltsame Rauswurf aus der Klinik nach einem letzten Protest wird von seinem völlig verdutzten Sohn beobachtet, den er zum strikten Schweigen verpflichtet. Untröstlich und voller Scham verlässt er spontan und ohne Abschied seine Familie. Seine nigerianische Frau handelt beherzt, gibt das Haus auf, schickt ihre Zwillinge zum Halbbruder nach Lagos, reicht die Scheidung ein, baut sich ihre eigene Existenz auf. Als Kweku Wochen später zurückkehrt, sind seine Frau und die vier Kinder spurlos verschwunden, die Zäsur ist endgültig. Er geht in seine Heimat zurück, heiratet dort noch einmal und lässt sich schließlich sein Traumhaus bauen von einem wundersamen Handwerker. Der älteste Sohn Olu, ebenfalls Arzt, rätselt immer wieder über die absolute Tatenlosigkeit des Vaters, der die Symptome eines Herzinfarkts sehr wohl gekannt hat, aber partout nichts tat, um Hilfe zu holen. So als ob Kweku den Tod herbeigesehnt hätte nach einem für seine perfektionistischen Vorstellungen aus dem Ruder gelaufenen Leben.

Eine Stärke dieses Romans ist die geradezu eindringliche Figurenzeichnung, die den Leser emotional in das äußerst detailliert geschilderte Geschehen hineinzieht, ihn fast hineinzwingt. Erschwert wird das aber durch eine verwirrende Namensgebung, bei der auch ein knapper Stammbaum vorne im Buch nicht wirklich hilft. Hinzu kommen die häufigen, teils aberwitzigen Zeitsprünge und hektischen Perspektivwechsel, nach denen dann oft lange unklar bleibt, über wen überhaupt berichtet wird. «Großes Gefühlskino» würde man einen Film vermutlich überschreiben, der auf diesem Romanstoff aufbaut. Mehrfach taucht denn auch ein fiktiver Kameramann auf, der Kwekus Leben filmt. Die auch fotografisch tätige Autorin soll von Toni Morrison persönlich in Oxford zum Schreiben animiert worden sein, glaubt man dem werbewirksam verbreiteten Gerücht. Der üppige Roman ist jedenfalls nahe am Rande des Kitsches angesiedelt, weniger Emotionen, weniger Wunderkinder, weniger «jung-schön-intelligent-erfolgreich», aber auch weniger tragisches Scheitern wäre mehr gewesen, so mein Fazit. Bei wichtigen Figuren wie der schnöde verlassenen Exfrau zum Beispiel bleibt der Roman nur an der Oberfläche, über ihre seelischen Wunden erfährt der Leser merkwürdigerweise fast nichts. Diese fehlende Tiefe ist denn doch recht enttäuschend!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Kruso

seiler-1Magischer Realismus

Sein Debüt als Romancier hat Lutz Seiler mit einem Schlage bekannt gemacht, «Kruso» wurde mit dem deutschen Buchpreis 2014 geehrt, und auch das Feuilleton war unisono voll des Lobes. Nun beschert ein derartiger Medienwirbel nicht nur hohe Auflagen, er sorgt auch dafür, dass der preisgekrönte Roman, – eines bis dato als Epiker kaum bekannten Autors zudem -, nun plötzlich einen sehr großen Leserkreis erreicht. Zu groß scheinbar, denn wie die Rezeption des Buches zeigt, sind viele Leser darunter, die mit dem Roman offensichtlich überfordert sind, die hohe Zahl negativer Laienkritiken ist jedenfalls ein unübersehbares Indiz dafür. Umso mehr ist deshalb die Entschlossenheit der diesjährigen Buchpreis-Jury zu loben, unbeirrt auch heuer wieder ein literarisch hochstehendes, ambitioniertes Werk auszuzeichnen.

Wenige Tage nach der Inthronisierung eines «Linken» zum thüringischen Ministerpräsidenten ist die DDR-Vergangenheit derzeit Thema vieler Diskussionen. Seilers Geschichte ereignet sich während der letzten Monate dieses üblen Unrechtsregimes, sie liefert fernab der Politik ein beklemmendes Bild der unsäglichen Bedingungen, unter denen die Menschen dort jahrzehntelang gelitten haben, unfrei in einem Riesengefängnis lebend. Hiddensee, die Insel in der Ostsee, kaum fünfzig Kilometer von der verlockenden Küste Dänemarks entfernt, ist als Schauplatz des Romans ein geheimer Fluchtpunkt von Aussteigern, Gestrandeten, Verzweifelten. Aus eigenem Erleben schöpfend schildert der Autor, wie sein Protagonist Ed, nach dem Unfalltod seiner Freundin völlig aus der Bahn geworfen, dort in der Touristen-Gaststätte «Zum Klausner» als Saisonkraft unterkommt und schon bald Teil einer verschworenen Gemeinschaft wird. Sein Mentor ist Alexander Krusowitsch, genannt Kruso, Spiritus Rector dieser exotischen Kaste von Intellektuellen, die nicht ins sozialistische System passen, die ihren ganz eigenen Regeln und Wertvorstellungen folgen. Die zwölfköpfige Mannschaft im systemfernen Refugium des Klausners erscheint wie ein aberwitziges Panoptikum von wundervoll beschriebenen, ebenso markanten wie sympathischen Figuren, allesamt Gestrandete auf einer Arche namens Hiddensee, dem vermeintlichen Schlupfloch in die Freiheit.

Seilers Robinsonade währte, anders als bei Defoe, nur wenige Sommermonate bis zur sogenannten Wende im November 1989. Die politischen Ereignisse dieser Zeit sind im Roman weitgehend ausgeblendet, sie klingen nur im Hintergrund an, aus dem Lautsprecher der Viola nämlich, jenem permanent eingeschalteten Radioapparat, aus dem rund um die Uhr das Programm des Deutschlandfunks erschallt. Die Ritter der Klausner-Tafelrunde versammeln sich täglich um sieben Uhr früh zum gemeinsamen Frühstück am Persotisch, dessen zentrale Rolle im Roman der Autor durch eine beigefügte Handzeichnung am Ende des Buches betont. Nach und nach allerdings lichten sich dort die Reihen, verschwindet spurlos einer nach dem anderen, der Untergang des politischen Systems wird hier gekonnt am Exodus der Saisonkräfte gespiegelt. Bis schließlich nur noch Ed übrig bleibt, und als der das seit Tagen defekte Radio wieder repariert hatte, wusste er eine Weile lang nicht, ob er begriff, was er da hörte: «Alle Grenzen waren offen. Offen seit Tagen».

Mich hat die eigenständige, poetische Erzählform Seilers unwillkürlich an James Joyce erinnert. Der magische Realismus des Romans ignoriert die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Mythos, lässt Fakten und Irreales gleichberechtigt nebeneinander bestehen, kombiniert sie meisterhaft, ein Märchen für Erwachsene. In einem beklemmenden Epilog berichtet Ed als Ich-Erzähler von seinen hartnäckig verfolgten Recherchen nach den verschollenen Flüchtlingen, nach den unbekannten Toten, denen er damit ein Denkmal setzen will. Das ist spannend zu lesen wie ein Krimi und lässt den Leser tief betroffen zurück. Dieser grandiose Roman hat in vielerlei Hinsicht das Zeug dazu, ein Klassiker zu werden in der deutschsprachigen Literatur.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Eins im Andern

schwitter-1Wahrlich nichts Neues

Mit ihrem zweiten Roman «Eins im Andern» hat die Schweizer Schriftstellerin Monique Schwitter sich dem vermutlich beliebtesten Genre der Belletristik zugewendet, dem Liebesroman. Wie die Rezeption zeigt, durchaus erfolgreich, ihr Buch wurde mit dem Schweizer Buchpreis 2015 ausgezeichnet und schaffte es unter die Finalisten des Deutschen Buchpreises. Man merkt ihrer Prosa die ehemalige Regisseurin an, ihr Plot ist einem Bühnenstück ähnlich inszeniert, alle Details sind wohlüberlegt so gefügt, dass sie ineinandergreifend, «Eins im Andern» also, etwas bewirken sollen im Leser. Was nicht leicht ist bei einem literarisch derart überstrapazierten Thema wie der Liebe. Die Ich-Erzählerin ist hier übrigens identisch mit der Autorin. Sie habe, wie sie in einem Interview erklärte, sich für das Verhältnis von Leben und Schreiben interessiert, die Verschränkung von Erinnerung und Gegenwart, außerdem habe sie die Herausforderung gereizt, das eigene Leben in Echtzeit zu erzählen.

Der Leser ist also permanent Zeuge bei Schwitters Schreibprozess, der damit beginnt, dass sie im Internet nach ihrer ersten Liebe sucht und erschrocken feststellt, das Petrus sich vor fast fünf Jahren schon durch einen Sprung aus dem Fenster das Leben genommen hat. In zwölf den Aposteln entsprechenden Kapiteln handelt die Autorin im Folgenden ihre Beziehung zu zwölf Männern ab, deren letzter, wie könnte es anders sein, ihr Ehemann ist, Vater ihrer beiden Kinder, der mit seiner krankhaften Spielsucht die Familie ruiniert hat auf lange Zeit. Ein Liebesreigen also, in dem sie alle Männer in ihrem Leben Revue passieren lässt, Geschichten erzählt über Freunde, Flirts und ehemalige Liebhaber. Es sind wunderliche Gestalten darunter wie der Selbstmörder Petrus, der sie mit ihrer besten Freundin betrogen hat, dessen Bruder Andreas, den eine Ratte in die Lippe beißt, Thomas, der nach einer Lesung per E-Mail Kontakt mit ihr aufnimmt und sich als Masochist entpuppt, der zwei Datingseiten im Internet unterhält, aber auch der verlebte alte Regisseur, den sie im Restaurant sieht, was sie an die Sadomaso-Spiele erinnert, die er einst mit ihr getrieben hat, als sie noch Studentin war. Es gibt auch harmlose Flirts wie der mit einem siebzehnjährigen, adonisartigen Schüler oder die rein freundschaftliche Beziehung zu Nathanael, dem homosexuellen Freund der Familie. Im letzten Kapitel erfahren wir schließlich, dass ihre größte Liebe ihr an Krebst verstorbener Bruder war.

Wer als Leser nun erwartet, dass die Autorin mit Hilfe dieses Liebeskarussells den Bindekräften der Liebe im engeren Sinne, also der zwischen Mann und Frau, auf die Spur kommt, dem Ganzen eine Essenz abzugewinnen vermag, der wird leider enttäuscht. Ihre weibliche Sicht auf die Männer bringt keine Klarheit darüber, was diese denn auf Frauen anziehend macht, sieht man vom Sexuellen ab, das in diesem jugendfreien Roman allerdings ausgeblendet ist, wie auch die Romantik einer Liebesbeziehung nicht thematisiert wird. Die Autorin schildert stattdessen immer wieder das innige Verhältnis zu ihrem Hund, was man dahingehend deuten mag, der Hund sei ihr letztendlich der bessere Freund, dem Manne insoweit überlegen.

Erzählt ist Schwitters Geschichte in einer humorfreien, sachlichen Sprache, im Stil wechselnd bei den Rückblenden auf die relevanten Episoden ihres Lebens, in denen auch der Tod seinen Platz hat. Die Psyche ihrer Figuren ist glaubwürdig dargestellt, im Streben nach biografischer Authentizität schleichen sich allerdings Banalitäten ein, die in dem leitmotivisch eingebauten Schuhthema gipfeln, der Vorliebe der Autorin für hohe Riemenpumps, das sich vom Winterspaziergang im ersten Kapitel bis hin zum kitschigen Schluss des Romans erstreckt. Bei dem sie dann wieder, mit Hund natürlich, einen Winterspaziergang macht, diesmal allerdings in robusten Stiefeln. «Ich habe gehen gelernt» heißt es im letzten Satz. Wahrlich nichts Neues, was man bis dorthin gelesen hat zu einem uralten Thema.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Droschl

Das goldene Notizbuch

lessing-1

Existenzerhellung nach Karl Jaspers

Spät wurde der dieser Tage verstorbenen, englischen Schriftstellerin Doris Lessing im Jahre 2007 der Nobelpreis zuerkannt, «der Epikerin weiblicher Erfahrung, die sich mit Skepsis, Leidenschaft und visionärer Kraft eine zersplitterte Zivilisation zur Prüfung vorgenommen» habe, wie das Komitee etwas gestelzt formuliert hat. Und wie so oft gab es auch hier Stimmen, die sich skeptisch geäußert haben, Marcel Reich-Ranicki gehörte dazu. Ihr literaturwissenschaftlich als Hauptwerk angesehener Roman «Das goldene Notizbuch» erschien 1962, in Deutschland dann erst 1978, ein Klassiker des Feminismus, wie behauptet wird. Lessing hat sich vehement gegen dieses Etikett gewehrt, schon im Vorwort von 1971 schreibt sie, sie wolle sich nicht feministisch vereinnahmen lassen.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Anna, eine erfolgreiche, politisch engagierte, intellektuelle und emanzipierte Schriftstellerin (sic!) mit temporärer Schreibblockade. Sie ist geschieden, hat eine schulpflichtige Tochter, ist alleinerziehend, zeitweise Mitglied der Kommunistischen Partei, versteht sich als «Ungebundene Frau», und so lauten denn auch die Überschriften der fünf Hauptkapitel, die in vier ebenfalls gleichnamige Unterkapitel gegliedert sind, betitelt das rote, schwarze, gelbe und blaue Notizbuch. Im Roten schreibt sie über ihr politisches Leben, das in Afrika begann, und über ihre allmähliche Desillusionierung, was den Kommunismus anbelangt. Das Blaue ist mehr ein Tagebuch, dort hält sie ihre Gefühle fest, es dient aber auch als literarische Stoffsammlung, im Gelben sind vorläufige Texte und Geschichten enthalten, im Schwarzen finden sich eher praktische, alltägliche Notizen, alles das aber ziemlich überlappend, also nicht immer streng abgegrenzt, wie sie selbst anmerkt. Diese Protagonistin erlebt allerlei Abstürze, nicht nur was ihre Schriftstellerei anbelangt, sondern auch bei ihrem politischen Engagement, vor allem aber in ihren problematischen Beziehungen zu Männern. Wobei schnell klar wird, dass alle diese persönlichen Debakel zusammenhängen, sich sogar gegenseitig bedingen.

Man kann von Geschlechterkampf sprechen, der da stattfindet in diesem Roman, die Gleichberechtigung, die Emanzipation der Frau ist sein Generalthema. «Ungebundene Frauen» aber, der neue weibliche Typus, wie Lessing ihn nennt, scheitern darin grandios, sind aber unverdrossen immer wieder erneut auf der Suche nach einem beständigen Partner, nach wahrer Liebe. Sie finden stattdessen Liebhaber auf Zeit, schnellen Sex mit verheirateten Männern, sie müssen immer wieder erkennen, dass sie, anders als die Männer, nicht in der Lage sind, Liebe und Sexualität zu trennen. Beide Geschlechter, Frauen wie Männer, wirken nicht gerade glücklich bei diesem Spiel, Lösungen für deren Probleme bietet die Autorin jedoch nicht, – wie denn auch, die gibt es ja selbst heute noch nicht, nicht mal ansatzweise! Nur der berühmte erste Satz – hier lautet er «Die beiden Frauen waren allein in ihrer Londoner Wohnung.» – eröffnet zum Schluss hin, im Kapitel «Das goldene Notizbuch», einen kleinen Lichtblick.

Doris Lessing erzählt ihre Geschichte strikt aus weiblicher Perspektive, ist dabei aber absolut fair und unparteilich. Sie entwickelt in ihrem voluminösen Roman ein facettenreiches Szenario der archetypischen Mann/Frau-Problematik, wie es in der Weltliteratur ohne Beispiel ist. Ihr Text ist sprachlich auf hohem Niveau, aber unkompliziert, leicht lesbar mit einfacher Syntax, ohne sprachliche Mätzchen. Der Roman ist in Teilen unübersehbar autobiografisch, über das Fiktionale hinaus aber sicher auch oft dokumentarisch – und damit den Horizont erweiternd. Schon vom Umfang her setzt der Roman die Bereitschaft beim Leser voraus, sich dem komplexen Thema geduldig zu stellen, sich in die virtuos erzählte Geschichte zu vertiefen und deren Aussagen intensiv auf sich wirken zu lassen. Das Ergebnis dieser Lektüre dürfte dann eine «Existenzerhellung» sein, ganz im Sinne von Karl Jaspers.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Am Gletscher

laxness-1Deshalb lesen wir doch Romane

Island kann sich einer reichen literarischen Tradition rühmen, begründet durch bedeutende, in Prosa geschriebene Sagas und andere Dichtung. Als berühmtester, mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichneter Schriftsteller gilt Halldór Laxness, der den Preis 1955 verliehen bekam für die « lebendige epische Kraft seiner Prosa, die die großartige isländische Erzählkunst zu neuer Blüte geführt hat». Zu seinem Spätwerk, in dem er sich von gesellschaftlichen und sozialen Themen abwendete und wieder den einzelnen Menschen in seiner Sinn- und Glückssuche in den Mittelpunkt stellte, zählt der 1975 erstmals in der DDR auf deutsch erschienene Roman «Seelsorge am Gletscher», der in der neueren, vorliegenden Ausgabe «Am Gletscher» betitelt ist. Schon nach den ersten Zeilen dieses Romans findet sich der Leser erstaunt in einem Sog nach ‚mehr-davon’ wieder, der seine Erwartungshaltung angesichts der offensichtlich isländischen, mutmaßlich also unvertrauten und womöglich drögen Thematik auf das Schönste konterkariert, und das auch noch in amüsanter Form.

Handlungsort ist eine kleine evangelische Gemeinde am Snæfellsjökull, einem Gletschervulkan in der isländischen Provinz, und wie schnell klar wird, steht dieser wahrhaft gottverlassene Ort stellvertretend für die ganze Welt. Es beginnt ganz lapidar: «Der Bischoff ließ Unterzeichneten gestern Abend zu sich kommen. Er bot mir eine Prise an. ‚Danke, davon muss ich niesen’, sagte ich». Der höchste Geistliche in Reykjavik beauftragt den jungen, unerfahrenen Theologen, die Zustände in dieser weit abgelegenen Gemeinde zu untersuchen. Die Seelsorge am Gletscher sei in Gefahr, der dortige Pfarrer halte keinen Gottesdienst ab, taufe die Kinder nicht und beerdige nicht die Toten, er habe seit zwanzig Jahren sein Pfarrgehalt nicht abgeholt. Eher er sich versieht, ist Vebi, Vertrauter des Bischofs, Unterzeichneter, der Ich-Erzähler also, auf der Reise zum Gletscher. Mit seiner unbeholfen wirkenden Erzählhaltung, dem häufigen Wechsel zwischen nüchterner Berichtsform und personalem Erzähler, erzeugt der Autor eine harmlos naive Stimmung, die das ungläubige Staunen des jungen Theologen verdeutlicht und unterstreicht.

Denn was der erlebt auf seiner Erkundungsreise, ich will das hier bewusst nicht weiter ausbreiten, das sprengt alle Vorstellungskraft in seiner Absurdität. «Wer nicht in der Poesie lebt, überlebt hier auf der Erde nicht», davon ist der unbotmäßige Pfarrer überzeugt. Ironisch, witzig, bauernschlau werden nacheinander die verschiedenen Protagonisten eingeführt, jeder ein in metaphysischen Sphären schwebendes Unikum, rational nicht fassbar in seinem Wesen. In all den ebenso urigen wie skurrilen Gestalten aber steckt eine tief wurzelnde Botschaft, werden philosophische Thesen hinterfragt, ist zeitlose Lebensweisheit erkennbar. Gerade in seinen vielen spirituellen Aspekten steckt eine Stärke dieses Romans, und auch wenn Laxness seine manchmal fast ausufernd üppige Phantasie mit deutlicher Ironie und viel Humor gewürzt in Text umsetzt, erreicht den laut lachenden Leser doch immer wieder auch der subtile Hintersinn der seltsam grotesken Handlung.

Am Ende der Geschichte, die natürlich, wen wundert’s, ebenso irrwitzig endet wie sie begonnen hat, findet sich der Held des Romans, auf der Rückreise von seiner Mission, mutterseelenallein in einer weglosen Ödnis wieder: «Ich hoffte, die Straße wiederzufinden», lautet kurz und bündig der letzte Satz. Nach all den mysteriösen Vorfällen ist auch der Leser so tief in ein wundersames Geschehen einbezogen, dass er seinerseits ein wenig Zeit brauchen dürfte, die Realität wiederzufinden. Aber genau deshalb lesen wir doch Romane, oder?

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Steidl Göttingen

Teufelsbrück

kronauer-1Im Prinzip Ja

Fast alle Werke der Belletristik schmücken sich heute spätestens im Stadium der Taschenbuchausgabe verkaufsfördernd mit Zitaten des Feuilletons auf dem Umschlag, die, manchmal trickreich aus dem Gesamttext einer Rezension oder aus einem Interview herausgelöst, einen Kauf des Buches dringend nahelegen. Die ehemalige Deutschlehrerin Brigitte Kronauer trat nach langen Jahren im literarischen Untergrund 1980 erstmals mit einem Roman an die breite Öffentlichkeit und hatte dann 1983 mit «Berittener Bogenschütze» ihren literarischen Durchbruch, die Zahl der Ehrungen seither ist ebenso beeindruckend wie ihr vielschichtiges Œuvre. Über den schon zum Alterswerk zählenden, im Jahre 2000 erschienenen Roman «Teufelsbrück» schrieb die ZEIT: «Dieser Roman wird Literaturgeschichte machen». Der Literaturpapst seliger Zeiten MRR wird kurz und bündig im Klappentext zitiert: «Brigitte Kronauer ist die beste Prosa schreibende Frau der Republik». Stimmt das alles, grübelt man resümierend, nachdem man, neugierig geworden, das Buch glücklich zu Ende gelesen hat. Im Prinzip Ja, würde ich wie Radio Eriwan antworten, aber …

Der Roman ist in die drei Kapitel «EEZ», «Holunderburg» und «Schnee» eingeteilt, die jeweils wieder in drei durchnummerierte und mit «Abend» betitelte Unterkapitel gegliedert sind. Damit wird zeitlich die Erzählsituation umrissen, die Ich-Erzählerin Maria Frauenlob spricht an jenen neun Abenden zu einer imaginären Zuhörerin, deren Identität sich dem Leser erst ganz am Ende erschließt. Es geht um die Liebe zu einer Art Traummann, auf den Maria an einem äußerst profanen Ort trifft, im Konsumtempel des Elbe-Einkaufs-Zentrums. Leo verkörpert für sie das Idealbild eines Mannes mit einer maskulinen Ausstrahlung, der sie rauschhaft verfallen ist. Ihre Romanze erreicht den Höhepunkt auf einer gemeinsamen Reise nach Heidelberg, kühlt dann aber, einem Naturgesetz? folgend, allmählich ab und endet schließlich, ein für Maria langer mentaler Prozess, im Gebirge, in Fels, Eis und Schnee. So weit und so profan die Story, die wir auswendig kennen, so oft haben wir sie schon gelesen, da ändern auch zwei Tote und ein erfolgloser Selbstmörder nichts dran!

Gleich auf den ersten paar Seiten wird dem Leser klar, dass hier nicht der Plot im Mittelpunkt stehen wird, dass er es vielmehr mit der geradezu manischen Beschreibungswut einer kreativen Schriftstellerin zu tun hat, deren Phantasie und Wortgewalt in der Tat ihresgleichen sucht in der deutschen Literatur. Hier geht es nicht um Realität oder Plausibilität, hier wird ausnahmslos der inneren Wirklichkeit gehuldigt ohne Rücksicht auf zeitliche, räumliche oder logische Gesetze. Wir befinden uns hier im märchenhaften Reich der Poesie und Phantasie, im Zentrum von Marias romantischer Gedankenwelt, die sie genüsslich vor ihrer imaginären Zuhörerin ausbreitet. Das Alles ist durchtränkt von Anspielungen, Wahrnehmungen, Sehnsüchten aus Marias Innerstem, dem Unterbewussten. Die üppige Symbolik dieses Romans beginnt schon bei der Namensgebung der Figuren, sie bezieht deren berufliche Tätigkeiten ebenso mit ein wie den besonderen Charakter der Handlungsorte oder die grenzenlos ausschweifenden Exkursionen in Flora und Fauna, die selbst kleinste Details nicht aussparen und ihnen, geradezu beflügelnd, metaphysische Bedeutungen zuweisen.

Um auf Radio Eriwan zurückzukommen bleibt die Erkenntnis, dass dieser Roman in der Tat ein glänzendes Stück Prosa ist, weit über den Niederungen massentauglicher Romanproduktion schwebend, aber genau damit nun wirklich nur eine äußerst kleine, aufnahmefähige und –bereite Leserschaft erreichend, die elitär der «hohen» Literatur huldigt. Das ist nicht jedermanns Sache, dafür braucht man auch mehr als nur Spaß am Lesen, am angenehm unterhalten werden, man braucht Entdeckergeist auf der Suche nach neuen Horizonten, nach dem, was als in der Regel unsagbar in den Köpfen anderer vorgeht, so wie hier als berauschende Illusion in dem von Maria Frauenlob.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Landgericht

krechel-1Auch posthum eine tragische Gestalt

Oh Gott! Schon das Coverbild erzeugt Unbehagen, man riecht ja förmlich das Bohnerwachs. Soll man so einen Roman lesen, aus dem Gerichtsmilieu auch noch, ist denn die Nachkriegszeit nicht schon hinreichend thematisiert worden von Koeppen, Böll, Schlink und vielen anderen? Nein, ist sie nicht! Aber das weiß man erst, wenn man dieses Buch gelesen hat. Worum geht es? Ein hoffnungsvoller junger Richter wird als Jude Opfer des Naziterrors. Er verliert seine Stellung, muss seine beiden halbjüdischen Kinder nach England in Sicherheit bringen und schließlich selbst ins Exil nach Kuba flüchten. Seine nichtjüdische, als Unternehmerin in der Kinowerbung erfolgreiche Frau bleibt allein in Berlin zurück, wo man ihr mit Drohungen ihre Firma zum Schandpreis abtrotzt. Das Paar ist aus der Bahn geworfen worden, sie versuchen nach dem Ende dieses Albtraums in die bürgerliche Existenz zurückzufinden, die auseinander gerissene, sich fremd gewordene Familie wieder zu vereinen. Daran scheitern sie gründlich, und dieses Scheitern ist eine einzige Tragödie.

Ursula Krechel erzählt in Rückblenden von den glücklichen Berliner Jahren des Ehepaares, vom Exil des Protagonisten in Kuba, wo er unter demütigenden Umständen bei einem schmierigen Rechtsanwalt arbeitet, eine Geliebte findet und mit ihr ein Kind hat, das er aber nie sehen darf. Alles in Kornitzers Leben ist von Brüchen gekennzeichnet, er ist und bleibt ein Aus-der-Bahn-Geworfener, der sich nach Rückkehr und beruflicher Wiedereingliederung allmählich immer mehr in einen aussichtslosen Kampf mit der Bürokratie hineinsteigert, damit sogar seine Gesundheit ruiniert, nur um seine legitimen Ansprüche auf Wiedergutmachung durchzusetzen. Aber auch hierbei scheitert er letztendlich und stimmt schließlich resigniert einem Vergleich zu. Das eigentliche Leben hat er total versäumt, hat wertvolle Jahre sinnlos vertrödelt bei der Suche nach Gerechtigkeit in eigener Sache. Hier liegt für mich das eigentliche Dilemma Kornitzers, dieses überkorrekten Juristen, der an der kalten Logik von Gesetzen und Vorschriften scheitert, die er selbst, als Richter, akkurat und folgerichtig angewendet hat.

Was ist nun das Besondere an diesem Buch? Diese Geschichte geht einem unter die Haut, mir jedenfalls, und zwar wie schon lange keine andere mehr. Man ist tief betroffen, denn es gelingt der Autorin mühelos, einem die Protagonisten sehr nahe zu bringen, fast schon zu nahe. Es ist die Ohnmacht des Menschen vor den geschichtlichen Ereignissen, die Ironie des Schicksals, die bitteren Erfahrungen und Enttäuschungen, die dieses Leben begleiten, und alles das wird hier in einer unspektakulären, ruhigen, fast juristisch sachlichen Sprache erzählt, der man gleichwohl die Empathie anmerkt, mit der die Figuren geradezu liebevoll beschrieben werden. In dieser schönen Prosa hat für mich des Öfteren die Lyrikerin durchgeschimmert, deren Sprache mir fast ein wenig zaghaft erscheint, indem sie zum Beispiel sehr häufig fußnotenartig in Klammern gesetzte Anmerkungen, Relativierungen, auch Zweifel in den Text einschiebt, sehr häufig mit einem Fragezeichen endend. Genau dieses Fragezeichen aber setzt beim Leser die Bereitschaft voraus, mitzudenken und auch weiterzudenken.

Noch eine Anmerkung zum Schluss des Romans: Kornitzer ist gestorben, da erhält Sohn George ein Schreiben mit dem Briefkopf «Biografisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933», das die Bitte enthält, einige Angaben zu Lebensdaten seines verstorbenen Vaters beizutragen, damit er in die geplante Enzyklopädie aufgenommen werden kann. Der von seinem Vater völlig entfremdete George aber bleibt merkwürdig untätig, zum Entsetzen seiner Frau, die absolut nicht verstehen kann, warum er ihm diese letzte Ehre nicht erweist. Das Handbuch erscheint schließlich, aber Dr. Richard Kornitzer kommt darin nicht vor, und so bleibt er auch posthum eine tragische Gestalt.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by btb Verlag

Widerfahrnis

kirchhoff-2Überambitioniert erzählter Kitsch

Den Deutschen Buchpreis 2016 hat Bodo Kirchhoff mit «Widerfahrnis» gewonnen, einer Novelle um das Thema Liebe, für das der Autor als Experte gilt. Man sah ihn als solcher schon in einer Talkshow sitzen, wofür damals vermutlich der Roman «Die Liebe in groben Zügen» Anlass war. Es handelt sich um eine Roadnovel, ein dem Roadmovie entsprechendes literarisches Genre. Der insoweit typische Plot handelt von einer spontanen Autoreise an ein zunächst nicht näher bestimmtes Ziel, wobei auf dem Weg allerlei Unvorhergesehenes passiert.

Diese dreitägige Fahrt ins Blaue widerfährt dem ehemaligen Kleinverleger Reither und Leoni Palm, vordem Besitzerin eines Hutladens, beide im Pensionsalter, Bewohner eines Seniorenheims in Oberbayern, die Beiden kennen sich nicht. Der Zufall, ein von ihr anonym geschriebenes Buch, bringt sie unvermutet zusammen, sie möchte seine Meinung wissen. Man trinkt Rotwein miteinander, und Leoni schlägt ihm übermütig eine mitternächtliche Spritztour mit ihrem BMW Cabrio vor, das eingeschneit auf dem Parkplatz steht. Der spontane nächtliche Ausflug endet drei Tage später auf Sizilien, wo sie auf ein verwahrlostes kleines Mädchen treffen, das sich vermutlich illegal dort aufhält. Sie kümmern sich um die Kleine, lassen sie in ihrem Appartement übernachten. Auf der Fähre bei der Rückfahrt aber flüchtet sie in panischer Angst aus dem Auto, Leoni läuft ihr nach. Reither, der bei dieser Flucht verletzt wurde, bleibt allein zurück und verlässt auch allein die Fähre. Er wird von einem Nigerianer verarztet, der mit Frau und Säugling auf der Flucht nach Deutschland ist. Reither will die Familie dorthin mitnehmen, durch Zufall trifft er Leoni wieder, und sie gibt ihm die Schlüssel für ihre Wohnung, die Nigerianer könnten bei ihr wohnen, sie will allein weiterreisen durch Italien.

Die beiden Protagonisten eint ihr Scheitern, sie sind aus der Zeit gefallen wirtschaftlich, ihr Ruhestand ist unfreiwillig. Natürlich kommen sich die munteren Frührentner allmählich näher, ohne allerdings allzu viel von sich preiszugeben. Sie sind sich sympathisch, eine späte Liebe keimt auf zwischen ihnen, in Sizilien, wo sie nach zwei Übernachtungen im Auto erstmals ein festes Quartier nehmen, landen sie dann auch prompt im Bett miteinander. Kirchhoffs Geschichte wirkt wie am Reißbrett konstruiert, allzu forsch und selbstverliebt werden da offensichtliche Altmännerphantasien, traumatische Verlusterfahrungen, bedrückende Flüchtlingsschicksale und arrogante Überlegenheitsgefühle des wie ein Alter Ego erscheinenden Helden unmotiviert miteinander verwoben. Vieles ist an den Haaren herbeigezogen, nicht nur die Geschichte als solche. Der Nigerianer aus Lagos zum Beispiel, ein Fischer, näht Reithers tiefe Wunde an der Hand mit nicht weniger als zehn Stichen, auf offener Straße, die Utensilien dafür hat er im Fluchtgepäck, in einer Blechbüchse. Gefühlte hundert Mal zünden Reither und die bis dato nicht rauchende Leonie sich eine Zigarette an, ein kultische Handlung geradezu, die ich seit Hemingway so extensiv nicht mehr beschrieben fand, und auch der Rotwein gehört immer dazu.

Kirchhoff erzählt seine pathetische Geschichte vom verpassten Lebensglück überambitioniert, wie ein – zur Verdeutlichung übertreibendes – Lehrstück für kreatives Schreiben, in das allzu viel hineingepackt ist. Darauf deuten auch seine häufigen Anmerkungen zum Schreibprozess selbst hin, als auktorialer Erzähler lässt er den Leser an der Suche nach der richtigen Formulierung teilnehmen, was ebenfalls peinlich aufgesetzt wirkt, man fühlt sich in einen seiner Schreibkurse am Gardasee versetzt. Der Plot selbst aber ist hanebüchen, gut erzählter Kitsch, der sich schamlos der Flüchtlingsproblematik bedient. Wenn man nicht wüsste, dass Kirchhoff es besser kann, würde man diese überladene, geradezu gespreizt erzählte Geschichte kopfschüttelnd zur Seite legen und den Autor vergessen. So aber fragt man sich, wie er zu dem Preis gekommen ist.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Frankfurter Verlagsanstalt

Hoppe

hoppe-1Auf eigene Gefahr!

Schon der Buchtitel weckt Neugier. Man stelle sich nur mal «Walser» vor als Romantitel bei Martin Walser, da reibt sich doch jeder Bücherfreund verdutzt die Augen. Originalität also schon auf dem Cover, – und die Geschichte? Ebenfalls originell, soviel sei vorab schon gesagt. Irritierend dürfte es jedenfalls nicht sein für den Leser, dass die Autorin über eine gewisse Felicitas Hoppe schreibt in ihrem Roman, den man ebenso als fiktionale Autobiografie bezeichnen könnte. Auch wenn Denis Scheck «vor Freude einen Flickflack» schlägt bei diesem Roman, wozu ihn sprachlich die Pose des Titelfotos animiert haben mag, erweist sich das Feuilleton doch als ziemlich gespalten, zwischen Jubel und Verriss, und nicht anders auch die Leserkritiker. Das macht einen doch neugierig, mich jedenfalls!

Nahezu schrankenlos wird fabuliert in diesem unkonventionellen Roman der Postmoderne, der gegen so ziemlich alle Konventionen verstößt als grandiose Parodie der literarischen Gattung Autobiografie, deren Prinzip hier total auf den Kopf gestellt wird. Eigentlich ist diese Eulenspiegelei nichts anderes als eine amüsante Suche nach der Identität der Protagonistin. Treffend hat die Jury des Büchnerpreises dazu bemerkt: «In einer Zeit, in der das Reden in eigener Sache die Literatur immer mehr dominiert, umkreist Felicitas Hoppes sensible und bei allem Sinn für Komik melancholische Erzählkunst das Geheimnis der Identität.» Sie lügt wie gedruckt in diesem Schelmenstück, das in vielem an Don Quijote erinnert, ein frecher Parforceritt dieser überaus kreativen Autorin durch ihre imaginierte Lebensgeschichte. «Ihre Phantasie vertextete erbarmungslos alles» schreibt sie über Hoppe, die «in die eigenen Zweifel verliebt» ist, aber auch ironisch anmerkt: «Kröne dich selbst, sonst krönt dich keiner».

In einem virtuosen Spiel mit Identitäten erlebt der Leser diese literarische Wunderwelt jenseits der Realität, folgt Hoppe als begnadeter Hockeyspielerin, Musikerin, Erfinderin, Komponistin und Schriftstellerin von Hameln nach Kanada, Australien und bis hin nach Las Vegas, in «die schönste und prächtigste Stadt der Welt». Dabei begegnet er unter anderem Glenn Gould, Franz Kafka, Pippi Langstrumpf, Pinocchio, und dem Zauberer von Oz, erfährt von Hoppes genialen Erfindungen wie dem «leuchtenden Puck» für Hockeyspieler oder dem «Lakenwender», mit dem sich ein uraltes Menschheitsproblem sehr einfach lösen lässt. All das wird erzählt in einem verblüffenden Mix aus eigener Erzählung, Tagebucheinträgen, Interviews und Gesprächsnotizen, ergänzt durch häufige Anmerkungen (der Autorin /fh) und fiktiven Zitaten kritischer Rezensenten, denen sie auf diese Weise elegant den Wind aus den Segeln nimmt. Was prompt einige der echten Rezensenten, wie man überall nachlesen kann, denn auch gehörig verärgert zu haben scheint, man kann also auch literarisch ein Eigentor schießen.

Authentizität, soviel dürfte klar sein, ist kein Thema in Hoppes ebenso intelligentem wie amüsantem Roman voller origineller sprachlicher Finessen, sie hat sich ironisch eine turbulente Lebensgeschichte zusammen fantasiert, die den Leser förmlich mitreißt, sofern er nicht zur Gattung der mit roter Tinte schreibenden Kritikaster gehört. Den aufnahmefähigen und sprachsensiblen Leser hingegen erwarten einige beflügelnde Stunden mit «Hoppe», die mancher sogar spontan mit einem echten Flickflack krönen dürfte (auf eigene Gefahr /bo).

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Pfaueninsel

hettche-2Ein leises Buch

Als (schon etwas älteres) Berliner Kindl hat mir der Romantitel «Pfaueninsel» schöne und ferne Erinnerungen an ein beliebtes Ausflugsziel wachgerufen, die ich mit dem neuen Roman von Thomas Hettche nicht nur wieder auffrischen, sondern auch um viele interessante Details ergänzen konnte. Der Mythos der Insel in der Havel dient dem Autor als exotischer Hintergrund seiner Biografie des kleinwüchsigen Schlossfräuleins Marie. Die Vorlage für seine Protagonistin bildet die historisch belegte Schlossjungfer Marie Strakow (1805-1878), deren Grabstein sich auf dem Friedhof Nikolskoe in Berlin-Wannsee befindet.

Marie Strakon, wie sie im Roman heißt, kommt als Kind mit ihrem kleinwüchsigen Bruder auf die Insel und verbringt dort ihr ganzes Leben, ohne sie je wieder zu verlassen. Nur an einem einzigen Tage ist sie, als ältere Frau schon, zu einem kurzen Besuch in Berlin, einer frisch aufgeflackerten Liebe wegen, die sich aber als Illusion erweist. Schockierend und sie ihr ganzes Leben verfolgend ist gleich zu Beginn der Geschichte eine überraschende Begegnung ihres Bruders mit Königin Luise, die ihm auf der Suche nach einem verschlagenen Ball im Wald plötzlich gegenübersteht und ihn erschrocken «Monster» schimpft.

Den preußischen Königen diente die Pfaueninsel als Refugium, das sie zu einem künstlichen Paradies umgestalten ließen nach den naiven Vorstellungen der damaligen Zeit. Dazu gehörten denn auch neben den dort angesiedelten Pfauen und einer Vielzahl anderer freilebender Tiere eine Bepflanzung mit exotischen Gewächsen aus aller Welt sowie eine Menagerie. Hettche schildert in seiner auf umfangreichen Recherchen basierenden Geschichte die stetige Fortentwicklung dieser Insel im Neunzehnten Jahrhundert, erzählt von den Mühen und Rückschlägen bei dem Unsummen verschlingenden Versuch, mit Gewalt der Natur ins Handwerk zu pfuschen.

All dies ist eng mit der Lebensgeschichte von Marie verwoben, die als Zwerg zusammen mit ihrem Bruder ebenso zu der Kuriositätensammlung des Königs gehört wie ein Riese und ein Mohr. Es ist beklemmend zu lesen, wie Marie ihr Leben lang unter dem Fluch des bösen Wortes der Königin steht, als «Monster» eine Sonderrolle einnimmt. Als sie vom Neffen ihres Ziehvaters schwanger wird und einen gesunden Buben zur Welt bringt, muss sie enttäuscht erleben, wie sie allein gelassen wird, später wird ihr sogar das Kind weggenommen. Es gelingt Thomas Hettche, das subtile Beziehungsgeflecht seiner vielen, anschaulich geschilderten Figuren einfühlsam darzustellen, sie alle erscheinen geradezu leibhaftig vor dem Auge des Lesers.

Flora und Fauna nehmen einen breiten Raum ein in diesem ruhig erzählten Entwicklungsroman, in dem es um Naturfrevel, Schönheit, Menschenwürde und Seelenleben, aber auch um das Verrinnen der Zeit geht. Hettches minutiöse Naturbeschreibungen dürften allerdings nicht jedermanns Sache sein, und besonders langatmig wirken detaillierte Inventarlisten des Zoos mit Arten, die allenfalls Biologen etwas sagen. Absolut überflüssig aber und als Fremdkörper wirkend sind meiner Meinung nach die Gott sei Dank wenigen voyeuristischen Passagen, inzestuöse Spiele zwischen den beiden Zwergen zum Beispiel oder eine Orgie beim König, der sich mit Fellatio beglücken lässt. Das prächtige Palmenhaus der Pfaueninsel ist am Ende Schauplatz für den Tod der achtzigjährigen Marie. Sie trifft dort ein letztes Mal auf Peter Schlemihl, jener Figur von Chamisso gleich, dem Mann ohne Schatten, im Bunde mit dem Teufel. Ein verheerendes Feuer bricht aus, in dem Marie umkommt. Hettches Prosa lässt den Leser bei seinem Ausflug in eine fremde Welt ziemlich betroffen zurück, aber auch auf angenehme Weise bereichert von einem so wunderbar «leisen» Buch.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by btb Verlag

Eine Jugend

modiano-3Genese einer humanitären Befreiung

«1945 geboren zu sein, nachdem Städte zerstört und ganze Bevölkerungen verschwunden waren, das muss mich, wie andere meines Alters, sensibler für die Themen Erinnerung und Vergessen gemacht haben» hat Patrick Modiano 2014 in seiner Nobelpreisrede erklärt. Und so steht auch sein 1985 auf Deutsch erschienener Roman «Eine Jugend» unter der Maxime einer «Pflicht der Erinnerung», mit der Übersetzung und Protektion von Peter Handke wurde der Schriftsteller dann einem breiteren deutschen Publikum bekannt. Trotz hoher literarischer Ehrungen aber blieb die Rezeption seines beachtlichen Œuvres eher verhalten, ein Schicksal, welches er mit vielen anderen großen Schriftstellern teilt.

«Die Kinder spielen im Garten, und bald ist es Zeit für die tägliche Schachpartie». Mit diesem Satz beginnt der Roman, geschildert wird eine Familienidylle in den Bergen. Es ist der Tag vor Odiles 35ten Geburtstag. In dem Chalet von Louis und seiner Frau haben sie bislang ein Kinderheim betrieben, sie wollen es jetzt aber allein benutzen, eventuell einen Schuppen zum Restaurant umbauen. «In Saint-Lô, in jenem Herbst vor fünfzehn Jahren, regnete es tagelang» heißt es dann nach zehn Seiten, der gesamte Rest des Romans ist ein Rückblick auf ihre gemeinsame Zeit in Paris.

Nach dem Militärdienst in Saint-Lô lernt Louis den deutlich älteren Jean-Claude Brossier kennen, der ihm Arbeit bei seinem Freund in Paris vermittelt, einem zwielichtigen Geschäftsmann namens Bejardy. Louis arbeitet als Aufsicht in dessen Garage und macht Botendienste für ihn. Eines Tages lernt er Odile kennen, eine angehende Sängerin, die nach dem Selbstmord ihres Förderers Bellune völlig aus der Bahn geworfen wird. Durch seine Protektion wurden Chansons für sie geschrieben und eine Schallplatte aufgenommen, mit der sie sich bei den Plattenfirmen bewerben konnte. Als die Neunzehnjährige – nach dem Recht der 1960er Jahre eine Minderjährige – nachts von der Polizei aufgegriffen wird, verlangt der Kommissar von ihr, der Polizei als Lockvogel bei der Verhaftung eines gesuchten Vergewaltigers zu helfen. Schließlich findet sie auch einen Musikagenten, der ihre Probeaufnahmen anhört und ihr eine Anstellung im Varieté vermittelt. Als er sie darauf – als Gegenleistung sozusagen – in seinem Büro auszieht, wehrt sie sich nicht, ist ihm zu Willen. Nachdem Louis und Odile ein Paar geworden sind, verschafft Brossier ihnen eine Wohnung und stellt ihnen seine schöne äthiopische Freundin vor, eine Studentin, mit der er auf dem Campus wohnt. Schließlich erhalten sie von Bejardy den Auftrag, eine halbe Million Franc nach England zu schmuggeln, getarnt als Mitglieder einer Reisegruppe Jugendlicher zu einem Englischkurs im Seebad Bournemouth. Als sie zurückkommen, erfahren sie von Brossier, dass er sich mit Bejardy überworfen habe. Von dessen Freundin hören sie, er werde sich in Kürze nach Argentinien absetzen. Durch Zufall lernen Louis und Odile in einer Café einen Künstler kennen, in dessen ehemaligem Atelier sie jetzt wohnen, und der erzählt ihnen, Bejardy sei als Mörder verhaftet gewesen, mangels Beweisen aber freigesprochen worden. Als letzten Auftrag – Bejardy hat seine Wohnung bereits aufgelöst – sollen Louis und Odile für ihn wieder eine halbe Million Franc schmuggeln, diesmal nach Genf. Sie aber besteigen den Zug nach Nizza.

Bruchstückhaft wird in diesem kurzen Roman der Erinnerung über soziales Alleinsein erzählt, über eine nebelhafte Zeit der Selbstfindung, dem Leser wird reichlich Gelegenheit für eigene Reflexionen und Phantasien gegeben. Der auktoriale Erzähler zeigt seine jugendlichen Protagonisten auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt. Dabei stellt er sie wie emotionslose Statisten auf seine atmosphärisch dicht beschriebene, literarische Bühne. Er enthält sich jedweder psychologisierenden Deutung, charakterisiert seine Figuren vielmehr ausschließlich über das äußere Geschehen, die hindernisreiche Genese einer humanitären Befreiung.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Eden Summer

Eden Summer“Wenn wir Eden nicht finden, werde ich mir nie, nie verzeihen, was letzten Samstagabend passiert ist.” Obwohl die schüchterne Jess und die allseits beliebte Eden so unterschiedlich sind wie Tag und Nacht, kann nichts die beiden trennen. Bis Eden eines Tages spurlos verschwindet! Die Suche nach der vermissten Freundin konfrontiert Jess bald mit dunklen Kapiteln ihrer eigenen Vergangenheit, und dann ist da noch Liam, Edens Freund, mit dem Jess mehr verbindet als sie wahrhaben will.

Die 15 jährige Jess und ihre beste Freundin Eden sind extrem unterschiedlich und trotzdem wie Pech und Schwefel. Während Eden mit Ihrer großen und schlanken Figur, der gebräunten Haut und den langen blonden Haaren eher einem Model ähnelt, ist Jess klein, mager und bleich. Sie wechselt ständig ihre Haarfarbe z.b von blau zu knallrot, hat Piercings und ist tätowiert.

Eines Morgens erreicht Jess die schreckliche Nachricht dass Eden nicht nach Hause gekommen und spurlos verschwunden ist. Was ist passiert? Wo ist Eden?

Die Geschichte wird in verschiedenen Zeitebenen aus Jess´ Ich-Erzählperspektive erzählt. Während die Hauptebene chronologisch abläuft und mit dem Tag nach Edens verschwinden beginnt, werden Kapitelweise immer wieder Rückblicke der letzten Jahre eingestreut.

In diesen Kapiteln erfährt man viel über Jess´ und Edens Freundschaft und man erfährt auch was für schlimme Dinge beide bereits durchleben mussten. Diese Dinge bekommt man von der Autorin allerdings sehr gekonnt nur häppchenweise serviert, so dass die Geschichte immer spannender wird und man unbedingt wissen möchte was den beiden wiederfahren ist und ob diese Ereignisse mit Edens Verschwinden im Zusammenhang stehen…

An dieser Stelle möchte ich auch unbedingt noch auf das Erscheinungsbild des Buches eingehen denn eigentlich ist mir das Cover und die Aufmachung eines Buches immer völlig egal denn es kommt ja schließlich auf den Inhalt und nicht auf die Aufmachung an, aber diesmal möchte ich doch etwas dazu sagen.

Das Cover ist einem freundlichen und hellen Blau gehalten, es zeigt eine Kinderzeichnung und der Innenteil des Buches ist knallig grün. Alles deutet auf eine leichte Jugendgeschichte hin und auch der Titel „Eden Summer“ lässt nicht wirklich auf den Inhalt schließen.

Die Gestaltung des Buches steht nämlich im ziemlichen Kontrast zur Geschichte (was ich wirklich klasse finde, ist auf jeden Fall mal eine interessante und ungewöhnliche Idee) denn die Geschichte ist eher düster, schwermütig und melancholisch. Das Buch ist für Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren gedacht und dieser Altersempfehlung kann ich gut zustimmen, nur sollte man keine flockig leichte Jugendliteratur erwarten.

Bei diesem Buch handelt es sich um einen Jugendthriller über Freundschaft, Trauer, Hoffnung, Liebe, Loyalität, Werte, Individualismus und noch einiges mehr. Eine sehr vielschichtige Geschichte die ich auf jeden Fall empfehlen kann!

Ein wirklich gutes Buch!

Liz Flanagan hat in verschiedenen Positionen, in diversen Kinderbuchverlagen gearbeitet. Sie promoviert zurzeit in  Creative Writing an der Leeds Trinity University und lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in West Yorkshire.

 


Genre: Kinder- und Jugendbuch
Illustrated by Aladin

Rainbow Days 1-3

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Inhalt Band 1-3: Natsuki möchte seiner Freundin gefallen und gibt für sie viel Geld aus. Aber zu Weihnachten stellt er fest, dass er ihr nur etwas Günstiges kaufen kann. Er entscheidet sich für einen preiswerten, aber schicken Schal. Der aber kommt bei ihr leider gar nicht gut an. In seiner Trauer über den misslungenen Heiligabend schenkt er den Schal einer Fremden – und stellt ein paar Tage später fest, dass sie ihn trägt und auch noch an derselben Schule ist, die er besucht! Seitdem ist Natsuki an ihr interessiert, aber da seine Angebetete recht kühl und unnahbar ist und er außerdem ein paar peinliche Auftritte bei ihr hinlegt, läuft es erstmal nicht so gut. Trotzdem gibt Natsuki nicht auf, denn er will bei Anna unbedingt einen guten Eindruck hinterlassen. Außerdem kann er auf die Unterstützung seiner Freunde zählen, die ihn immer wieder aufmuntern. Währenddessen findet Frauenaufreißer und Schönling Tomoya Annas Freundin Mari süß. Da er gewohnt ist, dass die Mädchen ihn toll finden, rüttelt ihn Maris aggressives Verhalten Jungen gegenüber wach. Er will wissen, warum sie so ist und ihr näherkommen. Das ist bei Maris Kratzbürstigkeit aber alles andere als einfach. Außerdem scheint sich Mari in Anna verliebt zu haben. Natsuki hat derweil Ärger mit einem Jungen, der ihn schon früher drangsaliert hatte. Außerdem steht das Schulfest an, das auch in Liebesdingen geplant sein will. Weil Natsuki schlecht nein sagen kann, muss er jetzt an einen Wettbewerb teilnehmen, an dem sich Jungen und Mädchen als das jeweils andere Geschlecht verkleiden. Der Haken: So kann er seine Verabredung mit Anna nicht einhalten. Als endlich die Sommerferien da sind, werden diese doch nicht so entspannt wie gedacht, denn Natsuki, Tomoya und Keiichi müssen wegen ihrer schlechten Noten in den Förderunterricht gehen. Als Belohnung für all den Stress wollen sie sich einen Tag am Meer gönnen. Tsuyoshis Freundin Yukiko bekommt Wind davon und will mit ihren Freundinnen mit ans Meer kommen. Das wirbelt die Planungen der Jungen ganz schön auf. Natsuki allerdings will die Gelegenheit nutzen, Anna ein Liebesgeständnis zu machen, aber wie immer läuft alles schief. Bei Keiichi scheint es besser zu laufen: Er begegnet endlich einem Mädchen, das seine speziellen Vorlieben in Liebesdingen teilt.

Dieser Shojo-Manga ist insofern ungewöhnlich, als dass er die Liebes- und Freundschaftsgeschichten aus der Sicht der Jungen erzählt (und damit auch für eine männliche Leserschaft interessant wird). Der etwas rauere Umgangston zwischen Jungs nach dem Motto „hart aber herzlich“ ist gut getroffen. Situationskomik kommt auch nicht zu kurz (z.B. die Verkleidung als das jeweils andere Geschlecht). Andeutungen über weibliche Homosexualität gibt es auch, da Mari Anna offensichtlich anhimmelt und eifersüchtig auf jeden Jungen reagiert, der sich ihr annähert. Leider baut der Manga ein ärgerliches Klischee ein, das es auch in Mangas über homosexuelle Liebe zwischen Frauen gibt: Mari verlegt sich deshalb auf Frauen, weil sie schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht hat. Homosexualität wird damit nicht als etwas Natürliches gesehen (sie kommt seit Menschengedenken und sogar im Tierreich vor), sondern als etwas, das sekundär ausgelöst worden ist. Damit wird eine mindestens verfremdende, eigentlich schon falsche Sicht auf Homosexualität geboten. Sehr schade. Mal abgesehen davon ist der Manga aber gelungen, denn er zeichnet ein heiteres Bild der Schulzeit und der ersten Liebe, ohne die Problem(chen), die dabei auftauchen, zu verschweigen. Damit bietet er Identifikationspotential für seine LeserInnen. Extras: Sticker, Zusatzmangas, Kalender (dieser stimmt bzgl. der Tage im Monat März nicht).


Illustrated by Egmont Ehapa

Kikaninchen Magazin

Kikaninchen_Cover
Das neue Magazin „Kikaninchen“ (Ausgabe 1) für Kinder im Alter zwischen 3 und 6 Jahren entspricht im Großen und Ganzen den Erwartungen, die man als Eltern an ein solches Magazin stellt. Das als Extra beigelegte und teilweise auszuschneidende Angelspiel war für meinen Sohn (5 Jahre) sofort interessant, wobei er es (in diesem und jüngerem Alter typisch) ein wenig entfremdet hat. Nicht schlimm, Hauptsache, es macht Spaß, zumal die Mama mitmacht.

Eigentlich ist das sogar ein Pluspunkt, denn je multifunktionaler Spielzeug ist, desto vielfältiger, interessanter und anregender ist es auch. Nur für Kleine ist das Angelspiel zu diffizil; es würde wahrscheinlich bei deren grobmotorischen Fähigkeiten schnell kaputtgehen. Die Geschichte vom Laster und Schneemann fand ich persönlich nicht so gut, aber mein Sohn wollte, dass ich sie ihm mehrmals vorlese, von daher in Ordnung. Rätsel macht er eigentlich auch ganz gern, aber momentan ist er in einer Phase, in der ihn die Vorschulsachen nicht so interessieren. Das könnte auch damit zusammenhängen, dass er jetzt ein Vorschulkind ist, im Kindergarten genug dergleichen gemacht wird und er zuhause solche Sachen nicht auch noch machen will. Zum Singen ist er zuhause eher selten zu bewegen, weshalb die Lieder im Magazin komplett uninteressant für ihn waren. Er singt allerdings in der Frühförderung, weshalb er zuhause darauf wohl auch keine Lust hat. Die Bastelsachen sind für ihn ebenfalls uninteressant; er hat auf Basteln und Malen nur im Alter zwischen 2 und 3 Jahren Wert gelegt, seitdem macht er das nur noch im Kindergarten, wenn er dazu aufgefordert wird. Für ihn fehlen mir im Heft Bewegungsangebote, denn die macht er sehr, sehr gern, da er definitiv ein Bewegungskind ist. Die Rätsel an sich sind für diese Altersspanne schwer zu planen, denn für die ganz Kleinen sind sie noch zu schwer (aber mithilfe der Eltern, die sie für ihre Kinder vereinfachen, zu lösen), für die Größeren schon zu einfach. Insgesamt ist das Magazin aber gelungen. Man kann ja nicht jedes Kind erreichen, dafür sind die Kinder zu unterschiedlich. Außerdem picken sich die Kleinen sowieso das raus, was ihnen am meisten gefällt.

Fazit: Das Magazin könnte mehr Bewegungsspiele (v.a. im Sinne der Psychomotorik) beinhalten, aber ansonsten ist die Mischung recht vielseitig, sodass eigentlich jedes Kind das ein oder andere gut finden wird.


Vielleicht Esther

petrowskaja-1Google sei Dank

Die in Kiew geborene, russischsprachige Autorin Katja Petrowskaja hat mit «Vielleicht Esther» ein Buch vorgelegt, das ausdrücklich nicht als Roman firmiert, sondern der Rubrik «Geschichten» zugeordnet ist. Mit der gleichnamigen Geschichte aus diesem Band hat sie 2013 das Wettlesen um den renommierten und hochdotierten Ingeborg-Bachmann-Preis der Stadt Klagenfurt gewonnen. «Ich habe alles so aufgeschrieben, wie es passiert ist. Es ist leider eine wahre Geschichte» erklärte die seit 1999 in Berlin lebende Autorin, die mit ihrer Kolumne «Die west-östliche Diva» in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung als Journalistin bekannt geworden ist.

Es geht in ihrem Debüt um ihre Herkunft und Biografie, um die Geschichte ihrer Familie, die sich unversehens zu einem ergreifenden Spiegelbild einer ganzen Epoche erweitert, dem unheilschwangeren zwanzigsten Jahrhundert, dem Säkulum der Massenmorde. In einer hartnäckig verfolgten Recherche, die sie in Berlin beginnend nicht nur nach Warschau, Moskau und Kiew führt, sondern auch nach Auschwitz und Mauthausen, stöbert sie, alle modernen Mittel der Kommunikation nutzend, nimmermüde entfernte Verwandte und Zeitzeugen auf, ehemalige Nachbarn, Kollegen, Mithäftlinge, durchforscht staubige Archive ebenso wie das Internet. «Google sei Dank» heißt denn auch gleich die Überschrift der als Einleitung fungierenden ersten Geschichte, die sich am Berliner Hauptbahnhof abspielt. «Manchmal ist es gerade die Prise Dichtung, welche die Erinnerung wahrheitsgetreu macht» schreibt sie an einer Stelle, und in der Tat, die Erinnerungen sind brüchig nach so vielen Jahren und bedürfen fiktionaler Ergänzung.

So erinnert sich ihr Vater nicht mehr genau an den Namen der Urgroßmutter. «Vielleicht Esther» sagt er, und die Autorin erzählt die beklemmende Geschichte, wie die von ihrem Vater nur Babuschka genannte Greisin 1941 bei der Flucht vor den deutschen Truppen, weil sie dafür schon zu gebrechlich war, ganz allein in der Wohnung in Kiew zurückgelassen werden musste. Und wie «Vielleicht Esther» dann dem Aufruf der Besatzer zum Abtransport nachkommen wollte, einen Soldaten auf Jiddisch ansprach und gleich auf offner Straße erschossen wurde, während alle anderen ihren Tod in Babi Jar fanden. Es waren 33.771 Juden, die in dieser Schlucht am 29. und 30. September erschossen wurden, wie die Nazis mit groteskem buchhalterischem Eifer notierten. In dem aufsehenerregenden Roman «Die Wohlgesinnten» von Jonathan Littell, sei hierzu noch angemerkt, wird das schreckliche Geschehen dort aus der Täterperspektive beschrieben. Und nicht minder grauenvoll sind die Untaten während der Ära Stalins, von denen Katja Petrowskaja auch berichtet. Damals hätte man eifrig versucht, erfahren wir, durch Pfropfen neue Apfelsorten zu züchten, «gleichzeitig wurde zielstrebig an der Reduzierung der Menschentypen gearbeitet». Ihr Großonkel verübte 1932, dem Herostratos-Syndrom erliegend, ein Attentat auf einen deutschen Botschaftsrat in Moskau, der aber nur verletzt wurde. Nach einem gut dokumentierten Prozess wurde der meschugge Onkel zum Tode verurteilt, die wahren Hintergründe aber wurden nie aufgeklärt. Ein Urgroßvater wiederum gründete in Warschau ein Waisenhaus für taubstumme jüdische Kinder, über mehrere Generationen hinweg waren deshalb viele Vorfahren der Autorin als Lehrer solcher Kinder tätig.

In sechs Kapiteln mit 72 erfreulich schnörkellosen Geschichten entsteht das mosaikartige Familienbild einer eifrigen Ahnenforscherin, die klug und mit fein durchscheinender Ironie aus dem Abstand vieler Jahrzehnte erzählt, was eigentlich unerzählbar ist. Und ernüchtert feststellt: «Geschichte ist, wenn es plötzlich keine Menschen mehr gibt, die man fragen kann, sondern nur noch Quellen». Man folgt der Autorin gerne bei ihren spannenden Recherchen, sie zieht darüber hinaus ihre Leser mit einer assoziationsreichen Sprache in Bann, die noch lange nachklingt.

Fazit: erfreulich

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Illustrated by Suhrkamp Taschenbuch Verlag