Rubinsteins Versteigerung

seligmann-1Ad infinitum

Mit seinem 1988 erschienenen Romandebüt «Rubinsteins Versteigerung» hat Rafael Seligmann ein autobiografisch geprägtes Werk vorgelegt, Henryk M. Broder etwa hat damals ganz selbstverständlich dessen Ich-Erzähler Jonathan Rubinstein als Decknamen des Autors angesehen. Viele biografische Details des zwölf Jahre nach dem zweiten Weltkrieg mit seinen Eltern aus Israel nach Deutschland eingewanderten Seligmann sind jedenfalls in diesen Roman eingearbeitet, von dem heute kaum noch Notiz genommen wird. Ein Schicksal, dass er mit unendlich vielen anderen Prosawerken teilt, oft sehr zu Unrecht, wie sich an diesem Beispiel mal wieder zeigt. Denn dieser Roman enthält alles, was eine lesenswerte Lektüre ausmacht: Er ist bereichernd und auf amüsante Art unterhaltend.

Sein Thema nämlich, um mit dem Bereichern zu beginnen, ist das schwierige Verhältnis der Deutschen und Juden zueinander, als studierter Politikwissenschaftler und Historiker sei dies seine «Mission», wie Seligmann es einmal formuliert hat. Dabei kritisiert er beide Seiten schonungslos, entblößt gegenseitige Vorbehalte als Überheblichkeit und in der Regel auch als grenzenlose Dummheit. Er polarisiert damit zwangsläufig bei dem Versuch, wenn nötig durch Streit die schreckliche Vergangenheit aufzuarbeiten, weil akademische Debatten allein seelische Verletzungen bei Tätern, Opfern und auch bei deren Nachkommen nicht heilen könnten. Der nichtjüdische Leser bekommt ungewohnte Einblicke in die Mentalität und Denkweise deutscher Juden der Nachkriegszeit, insbesondere verkörpert durch «Esel», wie Jonathan seine unbeirrbar orthodox denkende Mutter mit Kosenamen nennt, die allem Deutschen mehr als skeptisch gegenübersteht und damit ständigen für böse ausufernden Streit sorgt.

Bei seinem Romanerstling hat der Autor diese Thematik in eine Handlung eingebaut, die in lockerer Weise verschiedene Facetten des problematischen Verhältnisses aufzeigt, äußerst geschickt und unaufdringlich gespiegelt an den Schul- und Liebesnöten seines Helden. Er beschreibt dessen Erlebnisse in München, wenige Monate vor seinem Abitur im Jahre 1969. Es beginnt gleich virtuos und witzig, als Jonathan seinen Platz im Stuhl-Halbkreis direkt neben der unkonventionellen neuen Deutschlehrerin an seine Mitschüler versteigert, das Höchstgebot liegt am Ende bei hundert Mark. «Rubinsteins Versteigerung» ist nicht nur titelgebend für diese turbulente Geschichte, sie ermöglicht ihm auch seinen ersten Bordellbesuch, wobei die erhoffte Initiation des immerhin schon 21jährigen scheitert, wegen Ladehemmung, könnte man sagen. «Umsonst im Puff» ist deshalb dieses zweite von 34 Kapiteln des relativ kurzen Romans überschrieben. Es schließen sich weitere missglückte Versuche des testosterongesteuerten Jünglings mit standhaft bleibenden, jüdischen Mädchen an, denen von ihren Eltern Keuschheit vor der Ehe als höchstes Gut so nachhaltig eingetrichtert worden ist, dass all sein Charme nichts ausrichten kann. Sogar seine Deutschlehrerin wäre beinahe schwach geworden bei ihm, aber eben nur beinahe. Bis er endlich im Englischen Garten ein deutsches Mädchen kennenlernt, mit dem seine Mannwerdung dann glücklich gelingt.

In einem Extemporale beim Deutschunterricht schreibt Jonathan mal sehr lakonisch: «Die Aussagen des Romans ‚Der Untertan’ von Heinrich Mann sind heute ebenso aktuell wie vor sechzig Jahren». Und weiter: «…wessen Wille gebrochen wurde, kann selber nur gehorchen oder befehlen. In diesem Sinne wird in Deutschland eine Generation nach der anderen zu guten Untertanen erzogen – ad infinitum». Die Schatten der Vergangenheit werden schließlich auch beim überraschenden Ende übermächtig, ein sehr geschickter Handlungsaufbau, wie ich meine, mehr will ich hier aber nicht verraten, der Spannung wegen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Taschenbuch Berlin

Das kurze Leben

onetti-1Klug hinterfragtes Ich

Santa María heißt die fiktive Stadt, in der ein Romanzyklus des uruguayischen Schriftstellers Juan Carlos Onetti beheimatet ist, dessen erster Band den Titel «Das kurze Leben» trägt. Der 1950 erschienene Roman ist das wichtigste Werk dieses der klassischen Moderne zugerechneten Autors, der innerhalb der südamerikanischen Literatur als Avantgardist angesehen werden kann, ihr erster namhafter Vertreter war. Der vorliegende Roman belegt dies deutlich, man ahnt schon recht bald beim Lesen, dass hier nicht gängige Leseerwartungen an einen südamerikanischen Roman á la Llosa oder Marquez erfüllt werden, dass hier kein pralles Leben in buntem Lokalkolorit thematisiert wird mit all den Ingredienzien, die solcherart Lektüre so angenehm mühelos konsumierbar macht. Onettis äußerst anspruchsvoller Roman demgegenüber ist ein gewagtes Spiel mit Identitäten, seine Figuren sind nicht festgefügter Bestandteil eines stringenten Plots, ihre Existenzen bleiben vage, scheinen austauschbar, sind «bloße Verkörperung der Idee» ihrer selbst, wie der Autor schreibt, ein Spiel mit dem Ich.

Aus unverkennbar männlicher Sicht wird hier im Kern das Verhältnis der Geschlechter thematisiert, wobei mich die machohafte Perspektive des Autors ziemlich gestört hat. Ich-Erzähler Juan María Brausen, von Entlassung bedrohter Werbetexter, kommt nicht darüber hinweg, dass seiner Frau die linke Brust amputiert werden musste, seine erst fünf Jahre dauernde Ehe scheitert daran. Durch die dünne Wand zur Nachbarwohnung hört er die Prostituierte Queca, die dort ihre Freier empfängt. Er wird ebenfalls ihr Kunde, bleibt aber anonym, sie weiß nicht, dass er ihr Nachbar ist. Als Ernesto sie erwürgt, identifiziert Juan sich mit ihm, der nur das getan habe, was er selbst tun wollte, er organisiert und begleitet dessen Flucht. Die Morphiumampullen seiner Frau bringen Juan auf eine Idee, er installiert den Arzt Días Grey als Hauptfigur seines neu zu schreibenden Drehbuchs, dessen Fortentwicklung wir als Leser quasi miterleben, – es ist im Wesentlichen der zweite Handlungsstrang. Grey begehrt heftig Elena Sala, die attraktive Frau von Señor Lagos, die Morphium von dem Arzt verlangt, ihm im Sprechzimmer ihre prallen Brüste präsentiert, sich ihm letztendlich aber versagt, weil sie dem schönen, geheimnisvollen Oscar zugeneigt ist. Nach Elenas Tod wird Grey immer mehr in kriminelle Rauschgiftgeschäfte verwickelt, und er begehrt erneut eine Frau, die Lagos begleitet, eine mysteriöse Geigerin. Das Ganze endet im Karneval, von dem auch schon zu Beginn kurz die Rede ist, die Figuren verwandeln sich beim Kostümverleiher in ein anderes Ich, sie verschwinden somit geradezu in der Fiktion, werden unsichtbar, verlöschen.

In den beiden Handlungssträngen, die stark ineinander verwoben in den 41 Kapiteln des zweiteiligen Romans erzählt werden, entwickelt der Autor seine metaphysischen Betrachtungen, verdeutlicht menschliches Bewusstsein, indem er seine Figuren in andere Identitäten schlüpfen lässt, sie aus verschiedenen Blickwinkeln zeigt. Für mich stärkste Passage war dabei die Bischoffszene, wo er den hochwürdigsten Monsignore zum Beispiel an einer Stelle sagen lässt: «Nur Gott ist ewig. Ein jeder ist nur ein möglicher Augenblick; und das entwürdigende Bewusstsein, das ihnen erlaubt, auf der launischen, zerstückelten und selbstgefälligen Sinneswahrnehmung, die sie Vergangenheit nennen, festzustehen, die ihnen erlaubt, Hoffnungsleinen auszuwerfen, und Fehler in dem zu berichtigen, was sie Zeit und Zukunft nennen, ist, wenn man es annimmt, nur ein persönliches Bewusstsein».

Wer den Fehler macht, einen in jeder Hinsicht literarisch so hochklassigen Roman wie diesen als Strandlektüre lesen zu wollen, der muss natürlich kläglich scheitern an einer derartigen gedanklichen Dichte. Kontemplativ veranlagten, aufnahmebereiten Lesern hingegen wird eine zum Weiterdenken anregende, bereichernde Weltsicht dargeboten, die das Ich ausgesprochen klug hinterfragt.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Süddeutsche Zeitung München

Amerika, Amerika

kazan-1Ein Filmskript mutiert zum Roman

Allen Cineasten dürfte bei Titeln wie «Endstation Sehnsucht», «Die Faust im Nacken» oder «Jenseits von Eden» sofort der amerikanische Regisseur griechischer Abstammung Elia Kazan einfallen, dessen Filmkarriere durch viele Oscars gekrönt wurde, unter anderem auch für sein Lebenswerk. Wegen seiner Haltung während der McCarthy-Ära verschiedentlich angefeindet, unter anderem von Arthur Miller, hatte er sich seit den siebziger Jahren zunehmend auf die Schriftstellerei als künstlerischem Ausdrucksmittel zurückgezogen, aus seiner Feder stammen neben seiner Autobiografie sieben Romane. Einer davon ist «Amerika Amerika», zunächst eigentlich als Filmskript geschrieben, von ihm dann aber doch als Roman veröffentlicht, sein Spielfilm «Die Unbesiegbaren» basiert auf diesem Stoff.

Ein Zufall hatte mich zu diesem Buch gebracht, und die Neugier dann zum Lesen, denn diesen Titel hatte ich erst kürzlich in meiner Leseliste verzeichnet, in einem Wort zwar, «Amerika» also, von niemand Geringerem als von Franz Kafka geschrieben. In beiden Romanen geht es um die Sehnsucht nach dem «Land der unbegrenzten Möglichkeiten», bei Kafka allerdings als Geschichte, die schon vor Ort passiert, während Kazans Roman ausschließlich den Weg dorthin beschreibt, mit der ungeheuren Anziehungskraft dieses Landes als mächtiger Triebfeder der gesamten Handlung.

Seine Herkunft vom Filmskript merkt man Kazans Roman schon im ersten Satz an, er beschreibt einen Berg in Anatolien, dann hört man ein Lied und Stimmen. Es folgt die Schilderung einer Szene, die sich auf einem Eisfeld am Hang des Berges abspielt, zwei Männer zerhacken Eis in handliche Stücke. Nicht nur diese Eingangsszene, der ganze Roman ist im Präsens geschrieben, in seiner Sprache stilistisch einem Bühnenstück sehr ähnlich, also äußerst dialogreich, außerdem streng linear erzählt ohne Rückblenden, immer vorandrängend. Der griechischstämmige Protagonist Stavros hat viel durchzumachen, bevor er unbeirrbar sein Traumziel erreicht, und auf dem Weg dorthin führt Kazan den Leser tief hinein ins türkisch beherrschte Anatolien Anfang des 20. Jahrhunderts mit seinen griechischen und armenischen Minderheiten und den daraus folgenden ethnischen Konflikten. Das ist interessant und den eigenen Horizont erweiternd zu lesen. Manchmal wird es sogar lustig, wenn man zum Beispiel schmunzelnd miterlebt, wie kunstvoll und trickreich dort Ehen gestiftet wurden und ja wohl heute noch werden. Am Ende turbulenter Ereignisse ist Stavros als Schuhputzer endlich in New York gelandet und kann seiner erwartungsfrohen Familie die ersten Dollars schicken, deren Herkunft aber sein Geheimnis bleibt, es ist dies nämlich der Liebeslohn für sein amouröses Verhältnis mit einer etwas älteren, verheirateten Dame während der Schiffspassage nach Amerika.

Die punktgenaue, schnörkellose Erzählweise bewirkt, dass diese nette Geschichte mit ihren überraschenden Wendungen schon nach knapp hundertdreißig Seiten beendet ist. Manche Leser mögen es ja so, ein schnelles Lesevergnügen mithin, bei dem der Plot überaus deutlich im Mittelpunkt steht. Theodor Fontane hätte seinen kompletten «Stechlin» auf fünfzig Seiten unterbringen können mit einer vergleichbar komprimierten Erzählweise. Das Interessanteste dürfte also der besondere sprachliche Stil Kazans sein, den man nicht so häufig findet in der Literatur, der aber durchaus seinen Reiz hat.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Knaur München

Katz und Maus

grass-3Ritterkreuz und Adamsapfel

Für manche Kritiker markiert die Danzig-Trilogie von Günter Grass als Frühwerk bereits den Höhepunkt seines literarischen Schaffens. Der Mittelteil dieser Hommage an seine Heimatstadt ist die in Jahre 1961 publizierte Novelle «Katz und Maus». Wegen einer als obszön angesehenen Onanierszene sollte das Buch damals auf den Index gesetzt werden, was eine Protestwelle auslöste und dann doch unterblieb. Aber auch gegen die Verächtlichmachung des Ritterkreuzes in dieser pikarischen Novelle wurde aus rechten Kreisen heftig protestiert, Grass behandelt hier den Zweiten Weltkrieg nämlich in einer bis dato ungewohnten Weise, indem er Stilmittel des Schelmenromans einsetzt. Er erzählt seine Geschichte aus einer unbekümmert privaten, zutiefst menschlichen Sicht vor dem Hintergrund schicksalsschwerer historischer Ereignisse, deren Bedeutung er damit relativiert, sie stehen nicht im Mittelpunkt und werden allenfalls beiläufig und zudem noch ironisch distanziert behandelt.

«Was tut mein Vorname zur Sache” fragt Pilenz rhetorisch, vornamenlos bleibender Ich-Erzähler und Schüler eines Danziger Gymnasiums, der hier über seine Zeit mit einem ganz besonderen Mitschüler erzählt. Joachim Mahlke, Halbwaise und Außenseiter, mit einem überdimensionalen Adamsapfel gesegnet, der der titelgebenden Katze zu Maus wurde, lernt spät das Schwimmen und kann sich dann endlich einer Schülerclique anschließen, die immer wieder zu einem versenkten polnischen Minensuchboot hinausschwimmt, das mit den Aufbauten noch aus dem Wasser ragt. Mahlke erweist sich als überragender Taucher, der am längsten unten bleibt, er entdeckt einen nur unter Wasser zugänglichen Funkraum, zu dem er als Einziger tauchen kann. Sein Ruhm wird noch gesteigert, als er in der Schule einem Offizier das Ritterkreuz stiehlt, er ist fortan nur noch «Der große Mahlke» für die Clique. Obwohl Pilenz ihn grenzenlos bewundert, entwickelt sich doch nie eine richtige Freundschaft zwischen den Beiden, ihre Beziehung bleibt distanziert und ambivalent. Mahlke interessiert sich auch nicht für Mädchen, er liebt ausschließlich und inbrünstig die Jungfrau Maria in einer grotesk naiven Frömmigkeit, Gott existiert nicht für ihn. Als er im Krieg selbst das Ritterkreuz erhält und auf Fronturlaub einen Vortrag in seiner alten Schule halten will, wird ihm das wegen der alten Diebstahlsgeschichte verwehrt. Grenzenlos enttäuscht desertiert er daraufhin, versteckt sich im Schiffswrack, will auf einem Schiff nach Schweden flüchten. Pilenz aber gewährt ihm nicht die versprochene Hilfe, er sieht ihn dann auch nie wieder, seine späteren Nachforschungen verlaufen ergebnislos.

Indem Pilenz beim Erzählen mehrfach in die Du-Form wechselt, wird die Ungewissheit über Mahlkes Schicksal verdeutlicht, er könnte ja noch leben. Seinerzeit als zum Teil obszön und blasphemisch angesehen, markiert diese geradezu klassische Novelle mit ihrer bildstarken Erzählweise, die ohne Umwege direkt zum Kern der Sache vorstößt, einen der Höhepunkte in der Sprachkunst von Günter Grass. Äußerst komprimiert werden hier in wenigen treffenden Worten Ereignisse und Szenarien beschrieben, für die andere Autoren viele Sätze, manche sogar mehrere Seiten benötigen würden, ohne jedoch mehr auslösen zu können im Kopfkino des Lesers. Ironisch, fast zynisch schildert Grass den albernen Katholizismus seiner Schlüsselfigur, den «Großen Mahlke» damit auf Zwergmaß zurechtstutzend, und entlarvt außerdem den schlechten Charakter seines zwielichtigen Ich-Erzählers Pilenz.

Obwohl einige Male ein Dreijähriger mit Blechtrommel auftaucht, ist «Katz und Maus» eine eigenständig zu lesende Erzählung. Die Pubertät seiner zwei ungleichen Jungengestalten wird überaus stimmig geschildert, man ist gespannt als Leser, wie es denn ausgeht mit den Beiden, deren Psychogramme uns da vor Augen geführt werden. Und die subtile Einbindung des furchtbaren Krieges, ganz am Rande sozusagen, kann man durchaus als literarischen Meilenstein bezeichnen.

Fazit: erfreulich

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Genre: Novelle
Illustrated by dtv München

Die Ballade vom traurigen Café

mccullers-1Die Parabel von den drei Krüppeln

Mit der 1951 erstmals in Buchform herausgegebenen Novelle «Die Ballade vom traurigen Café» hat die aus den Südstaaten stammende US-amerikanische Schriftstellerin Carson McCullers ein Werk geschrieben, das in der literarischen Fachwelt als ihr bedeutendstes angesehen wird. Vom Format her unwillkürlich an ein Gesangsbuch erinnernd, macht das schmale Büchlein schon rein äußerlich deutlich, dass es sich dabei um eine hoch verdichtete Prosa handeln muss. Und tatsächlich bestätigt sich dem Leser dieser erste Eindruck schon nach wenigen Seiten. Geradezu idealtypisch für die literarische Gattung wird hier eine in sich geschlossene Geschichte in straffer Form und in einem einsträngigen Plot erzählt, die Story treibt überdies deutlich erkennbar auf einen finalen Kulminationspunkt zu.

«Die Stadt selbst ist trostlos; da ist nicht viel außer der Baumwollspinnerei, den zweiräumigen Hütten für die Arbeiter, ein paar Pfirsichbäumen, einer Kirche mit zwei bunten Glasfenstern und einer schäbigen Hauptstraße von knapp hundert Metern Länge» lautet der erste Satz. An Faulkner erinnernd wird hier eine typische Kleinstadt in den Südstaaten beschrieben. Im Mittelpunkt steht Miss Amelia, eine maskuline Frau, die nicht nur von der stattlichen Körpergröße her alle überragt. Sie betreibt einen Kaufladen, ist überaus tüchtig, scheinbar auch ziemlich reich, aber geizig. Ihre Ehe mit dem kriminellen Tunichtgut Marvin dauert nur zehn Tage, dann wirft sie ihn aus dem Haus. Eines Tages taucht plötzlich ein zerlumpter Buckliger auf, der sich als ihr Cousin ausgibt. Das sonst so resolute, unnahbare Mannweib entwickelt ganz allmählich ein liebevolles Verhältnis zu ihm, und ihm zuliebe wandelt sie auch ihren Laden in ein Café um, das schnell zur einzigen Attraktion der armseligen Kleinstadt wird. Als aber Marvin nach langer Haftstrafe aus dem Gefängnis entlassen wird, bahnt sich eine Katastrophe an.

McCullers autobiografisch geprägter Existentialismus findet in dieser schwermütigen Novelle seinen Ausdruck einerseits in den einseitigen, unerfüllten Liebesbeziehungen der drei Protagonisten, andererseits aber auch in der erfolglosen Identitätssuche und der unheilvollen Isolation ihrer Figuren, eine Folge von deren wahrhaft beklemmenden Sprachlosigkeit. Die Hauptfiguren sind alle drei abnorm, Miss Amelia ist gefühlsmäßig verkrüppelt, der bucklige Cousin körperlich und Marvin charakterlich. Diverse Nebenfiguren bevölkern als skurrile Gestalten das Café, sie treten zumeist aber als schweigende Zaungäste auf. Die Autorin beschreibt ihre Figuren wenig empathisch, fast distanziert, und sie erzählt in einer Sprache, der jede feminine Note abgeht, die klar und sachlich, aber in keiner Weise elegant ist. Ein Duktus übrigens, die mich unwillkürlich an Märchen erinnert hat mit ihrer leicht nachvollziehbaren, sequenziellen Erzählweise, die in dieser Novelle zuweilen sogar poetisch ist, aber sprachlich uninspiriert bleibt, konsequent zielgerichtet eben und sehr sparsam gestaltet.

Zweifellos gehört Carson McCullers zu den großen Südstaaten-Schriftstellern. Heinrich Böll hat, wie uns der Klappentext verrät, über sie geäußert: «Bleibt die McCullers nicht eine große Autorin, auch wenn ihre Bücher kaum gekauft werden? Ich könnte mir vorstellen, dass jeder soeben geborene Leser, wenn er erst einmal fünfzehn Jahre geworden ist, sich eines ihrer Bücher aus dem Ramschkasten fischt und bei der Lektüre vom Fieber ergriffen wird». Nun bin ich zwar ein großer Böll-Verehrer, muss ihm hier aber die Gefolgschaft verweigern. Fieber hat mich wahrlich nicht ergriffen bei dieser Lektüre, dafür war mir der Text zu holzschnittartig, der Plot zu simpel konstruiert, das Ganze zu sehr als Parabel angelegt. Vielleicht ist diese Novelle ein Klassiker, aber einer, den man ehrfürchtig zur Hand nimmt und dann ernüchtert wieder weg legt.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Willkommen in Wellville

boyle-3Autointoxikation allenthalben

Der 1993 veröffentlichte Roman «Willkommen in Wellville» ist typisch für den US-amerikanischen Autor T. C. Boyle, dessen Werke durch ihre zumeist originellen Inhalte die Kreativität eines Erzählers unterstreichen, der nicht, wie viele seiner Kollegen, ans Autobiografische gebunden ist in seiner Thematik. Was bedeutet, dass viel Recherchearbeit nötig wird; man merkt sie dieser Geschichte jedenfalls an, denn außer dem Namen Kellog, der uns vom Supermarktregal her vertraut ist, dürfte vielen Lesern herzlich wenig bekannt sein aus dem speziellen Milieu, von dem Boyle uns hier erzählt.

Im Zentrum steht der Arzt Doktor John Harvey Kellog, der sich nach heftigem Streit mit seinem Bruder aus dem Geschäft mit Cornflakes zurückgezogen hat und ein Sanatorium betreibt, welches, seinen Vorstellungen von gesunder Ernährung folgend, schnell zu einem Mekka wird für mehr oder weniger hypochondrische, in jedem Fall aber reiche Patienten. Eigentlich sogar eher Jünger, die ihm als selbstherrlichem Guru bedingungslos folgen, einer verschworenen Sekte ähnlich. Zeitlich Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts angesiedelt, erleben wir in parallelen Handlungssträngen die Geschichte eines Fabrikantensohns und seiner Frau Eleanor, die im Sanatorium Heilung suchen, ferner die eines zwielichtigen Glücksritters, der ins boomende Geschäft mit den Frühstücksflocken einsteigen will, und natürlich auch die turbulenten Ereignisse, die der missionarisch unbeirrbare Doktor Kellog während des wenige Monate umfassenden Plots in Battle Creek, Michigan zu überstehen hat.

Der Gesundheitswahn seiner Patienten, deren unreflektierte Medizingläubigkeit zumal, sind ein hervorragender Nährboden für Kellogs obskures Sanatorium, in dem es zugeht wie in einem Gruselkabinett. Das Klistier ist im Dauereinsatz, lebensgefährliche Apparate werden eingesetzt, Sex ist streng verboten, weil gesundheitsschädlich, die strikt vegetarische Ernährung spottet jeder Beschreibung. Alle Patienten sind einer permanenten Gehirnwäsche ausgesetzt, werden mit pseudo-wissenschaftlichem Hokuspokus in durchaus auch betrügerischer Absicht manipuliert. Boyle hat aus dem Vollen geschöpft bei seiner ausufernden Geschichte, die leicht lesbar den geneigten Leser unterhält über sehr viele Seiten hinweg. Zu viele allerdings, es stellen sich bald quälende Längen ein, insbesondere was die endlose Aufzählung von Diäten oder medizinischen Behandlungen anbelangt, die immer den gleiche Nonsens enthalten. Ebenso überzogen ist der Handlungsstrang des Möchtegern-Unternehmers, die handelnden Figuren sind ähnlich wie Kellogs Patienten als Volltrottel dargestellt, sie agieren auf Dick und Doof-Niveau. Dass schließlich die übereifrige Eleanor einem Scharlatan in die Hände fällt, und zwar buchstäblich, der ihre Beschwerden mittels «Handhabungstherapeutik» oder, konkreter, Unterleibsmanipulation zu heilen verheißt, fügt dem ansonsten jugendfreien Plot eine für US-amerikanische Autoren erstaunliche, aber durchaus gelungene, erotisch aufgeladene Episode hinzu, – Sex sells, das gilt übrigens auch für das Buchcover.

Mit dem Zauberberg, das sei noch angemerkt, hat Boyles Roman nur den Handlungsort gemeinsam. Wo bei Thomas Mann feine Ironie im Spiel ist und viel tiefgründig Philosophisches, wartet Boyle mit slapstickartiger Satire auf, maßlos überzogen bis an die Grenze des Erträglichen. Und was das sprachliche Können beider Autoren anbelangt, darüber hüllen wir Boyle zuliebe gnädig den Mantel des Schweigens. Seine Groteske über Gesundheitsapostel, Vegetarier, Nudisten, Alkohol- und Sex-Abstinenzler, allesamt vergiftet durch falsche Ernährung, wie Kellogs Standarddiagnose «Autointoxikation» behauptet, mag ja für manche Leser durchaus unterhaltsam sein. Boyle folgt hier konsequent seinem Credo, das da heißt: «Literatur kann in jeder Hinsicht großartig sein, aber sie ist nur Unterhaltung». Wer den Roman «Der Zauberberg» liest, wird allerdings feststellen, dass sie auch Kunst sein kann!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke

kaestner-1Risiken und Nebenwirkungen unbekannt

Beim Stichwort Erich Kästner dürften vielen Lesern als erstes die Kinderbücher dieses vielseitigen Schriftstellers einfallen, er war aber auch als Drehbuchautor, Publizist, Rezensent und Verfasser humorvoller Gedichte erfolgreich und benutzte dabei nicht selten auch verschiedene Pseudonyme. Als kritischer Geist, mit sozialdemokratisch engagiertem Vater, war er politisch ein scharfer Beobachter, lehnte die restaurativen Tendenzen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ab, wandte sich als Antimilitarist insbesondere gegen die deutsche Wiederbewaffnung und den Vietnamkrieg. Neben Hörfunk und Kabarett machten ihn seine kritischen Reden, Aufsätze, Reportagen, Glossen, Kabarett-Nummern, Lieder und Hörspiele, aber auch seine Gedichte schon früh sehr bekannt. Seine berühmteste Gedichtsammlung unter dem Titel «Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke» musste er im Jahre 1936, nach der Machtübernahme durch die ihn ablehnenden Nazis, zunächst in der Schweiz erscheinen lassen.

Kästner wird als ein typischer Vertreter der «Verlorenen Generation» in der Weimarer Republik der «Neuen Sachlichkeit» zugerechnet, jener in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen aufkommenden Tendenz zu einer resignativ sachlichen, ernüchterten, illusionslosen Literatur. Seine Gedichte zählen nach einem von Bertolt Brecht geprägten Begriff zur «Gebrauchslyrik», er ist wie dieser und neben Kurt Tucholsky einer ihrer wichtigsten Vertreter. Kennzeichnend für deren Stil ist die Zweckbestimmtheit des Textes, der Leser soll durch die Lektüre auf Probleme, Widersprüche, Missstände direkt hingewiesen werden und sofort seinen Nutzen daraus ziehen. Dabei steht also stets die leichte Verständlichkeit im Vordergrund, alle Gedichte sind dementsprechend sprachlich einfach formuliert und ohne komplizierte Versformen aufgebaut, sie sollen ihre Wirkung sofort, unmittelbar entfalten.

In der vorliegenden Anthologie, die im Gegensatz zu vorhergehenden Gedichtbänden von Kästner völlig unpolitisch ist, hat der Autor im Vorwort angemerkt: «Es war seit jeher mein Bestreben, seelisch verwendbare Strophen zu schreiben». Er definiert folglich seine Sammlung als »Ein Nachschlagewerk, das der Behandlung des durchschnittlichen Innenlebens gewidmet ist». Und erläutert: «Die Formulierung, die Verallgemeinerung, die Antithese, die Parodie und die übrigen Variationen der Maßstäbe und der Empfindungsgrade, alles das sind bewährte Heilmethoden». Er stellt den Gedichten eine Gebrauchsanweisung voraus, in der er für 36 verschiedene mentale Wehwehchen die jeweils hilfreichen der insgesamt 119 Gedichte als lindernde Medizin verschreibt. In dieser literarischen Apotheke findet man also für jede seelische Beschwerde die darauf abgestimmte Therapie, schon Marcel Reich-Ranicki hatte im Warschauer Getto darin Trost gefunden, berichtet er in seiner lesenswerten Autobiografie.

Lyrik, sei hier gestanden, lasse ich als Leser strikt außen vor bei meinen Streifzügen durch die belletristische Literatur, – Gereimtes à la Kästner allerdings bildet da die Ausnahme. Kein Prosawerk kann so kurz und bündig, so ironisch auf den Punkt gebracht, Zeitkritik üben, menschliche Marotten entlarven, skurrile Situationen aufzeigen, den Alltag demaskieren. Buchstäblich jedes von Kästners Gedichten gäbe Stoff her für einen veritablen Roman, nichts Alltägliches ist seinem wachen Geiste fremd. Seine Reime sind allerdings nicht immer überzeugend gelungen, es ist kein eleganter Stil, den er da schreibt, verglichen mit anderen Lyrikern seiner Zeit. Gleichwohl, mal lustig, albern sogar, mal traurig, immer bissig, bitterböse zuweilen, zeigt uns Kästner als Moralist unsere Welt augenzwinkernd aus kritischer Distanz. Und das mit einem selten anzutreffenden Wortwitz, der das Lesen dieses humorvollen Ratgebers zum puren Vergnügen werden lässt. Zu Risiken und Nebenwirkungen befragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker, – oder ihren Buchhändler!

Fazit: lesenswert

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Genre: Lyrik
Illustrated by dtv München

Das Buch der Illusionen

auster-2Das Buch der Slapsticks

In seiner Heimat USA ist der Schriftsteller Paul Auster erstaunlicher Weise weniger erfolgreich, werden weniger seiner Bücher verkauft als in Deutschland und Frankreich, wo er eine große Fangemeinde hat. Das mag an seiner sehr speziellen Erzählweise liegen, für die der Roman «Das Buch der Illusionen» ein typisches Beispiel ist. Auch hier finden sich wieder Männer als kauzige Außenseiter in der Gesellschaft nicht zurecht, suchen nach Identität, auch hier schreibt der Protagonist wie ein Alter Ego des Autors Bücher, gibt es reichlich Intertextualität, bestimmt der pure Zufall das Geschehen in einem komplizierten Plot.

Bei einem Flugzeugabsturz verliert der Literaturprofessor David Zimmer seine Frau und beide Söhne, er versinkt in Depressionen, verfällt dem Alkohol. Zufällig sieht er im Fernsehen einen Stummfilm von Hector Mann, der ihn zum Lachen bringt, zum ersten Mal nach langer Zeit. Er beginnt mit Nachforschungen zu dem 1927/28 sehr erfolgreichen Stummfilmstar, der dann auf mysteriöse Weise plötzlich spurlos für immer verschwand, und schreibt schließlich sogar ein Buch über ihn, das 1987 herauskommt. Anschließend zieht er sich wieder in die Einsamkeit seines Hauses in Vermont zurück. Ein früherer Kommilitone bietet ihm einen Auftrag für die Übersetzung von François-René de Chateaubriands « Mémoires d’outre-tombe» an, der an seiner Autobiografie 35 Jahre gearbeitet und verfügt hatte, sie erst 50 Jahre nach seinem Tode zu veröffentlichen, er wolle aus dem Grabe sprechen. Zimmer macht sich an die Arbeit, kurz darauf erhält er einen Brief aus New Mexiko, Hector Mann lebe noch, habe sein Buch über ihn gelesen und würde ihn gerne sehen. Er zögert, glaubt an einen Schabernack, bis Wochen später plötzlich Alma, eine junge Frau mit einem entstellenden Muttermal im Gesicht, vor seiner Tür steht und den Zögernden auffordert, mitzukommen zu Hector Mann, der im Sterben läge. Sie zieht sogar eine Pistole, um ihn notfalls zu zwingen, die beiden landen aber schließlich noch in der gleichen Nacht zusammen im Bett. Er kann den Stummfilmstar dann tatsächlich noch für wenige Minuten in seinem Krankenzimmer sprechen, am anderen Morgen aber ist Hector tot, und seine Frau macht sich unbeirrbar daran, seine sämtlichen Filme zu verbrennen, wie er es verfügt hat. Bei einem Streit mit Alma, die zu David ziehen will, stürzt die Witwe unglücklich und stirbt, Alma nimmt sich daraufhin das Leben.

Der hier nur knapp umrissene Plot ist prall gefüllt mit Geschichten, Rückblenden zumeist, geschickt aus verschiedenen Perspektiven erzählt, wobei mich insbesondere die Passagen über Filme angesprochen haben. Auster, der reichlich Filmerfahrung mitbringt, versteht es, einen Film derart plastisch zu schildern, sämtliche Einstellungen und Kameraschwenks so detailliert zu beschreiben, dass man ihn im Kopfkino wahrhaftig sieht, – und sich dabei natürlich auch sofort an den brillanten Spielfilm «The Artist» erinnert. Raffiniert verschachtelt der Autor seine zwei Erzählebenen, die turbulente, mitreißende Geschichte von Hector nach dessen spurlosem Verschwinden beispielsweise lässt er Alma während des Fluges nach New Mexiko erzählen.

Sind wir Menschen dem Zufall ausgeliefert, ist unsere Selbstbestimmtheit nur Illusion, wie der programmatische Titel suggeriert, in einem ziellosen Chaos? Ist immer Transzendenz im Spiel oder hilft womöglich das Schreiben, Ordnung ins unstrukturiert Immanente hinein zu bringen? Paul Auster variiert auch in diesem Roman wieder seine Themen: Männer in der Krise, Zufall, Schicksalsschläge, Einsamkeit, Schuld, Identität, kurz gesagt die Existenz des uns Verborgenen, und er stellt das alles vor einen dramatischen Hintergrund, die Unbedingtheit des Todes. Mit seiner überbordenden Themenfülle erscheint der gekonnt erzählte Roman ziemlich überfrachtet, der Plot wirkt geradezu slapstickartig mit seinen vielen Wendungen bis hin zum kitschigen Ende des Buches im Buch. Gut unterhalten aber wird man allemal!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Venedig

venedig

Als seine Mutter stirbt, findet ein Mann in ihrem Nachlass eine hübsch lackierte Briefschatulle, in der handgemalte Postkarten und alte Fotos mit Motiven aus Venedig aufbewahrt worden sind. „Ein Foto vom Markusplatz hat es mir besonders angetan“ – weswegen die Hauptfigur beschließt, auf den Pfaden seiner Mutter und seinen Großeltern durch Venedig zu reisen.

„Der Aufbruch ist nichts anderes als der Beginn einer Reise nach Hause.“ Dieser in Italienisch an eine Hauswand gepinselte Spruch ist der Schlüsselsatz des neuesten Mangas von Jiro Taniguchi, der einen japanischen Mann auf der (Spuren-)Suche nach den eigenen Wurzeln zeigt. So heißt es denn auch: „Ich folge den Spuren meiner Großeltern“, genauer denen seines Großvaters, denn über seine Großeltern und die Jugend seiner Mutter weiß die Hauptfigur nichts. Die Suche nach den Wurzeln ist gleichzeitig eine Selbstfindungsreise, wie sie Taniguchi z.B. auch in „Der spazierende Mann“ thematisiert hat: „Ich […] schlendere ziellos durch die Gegend“. Aber genau deshalb fügen sich die Puzzleteile seiner Vergangenheit und damit seines Selbst zusammen, denn gerade dieses Schlendern ermöglicht ihm neben überraschenden Momenten Schlüsselerlebnisse, um tiefer in das Leben seines Großvaters einzutauchen. Die Hauptfigur macht einen zufriedenen, ja glücklichen Eindruck, in Venedig zu sein: „Es hat eine gewisse Magie für mich, hier zu sein.“ Immer wieder mischen sich die alten Bilder und Postkarten mit den neuen Eindrücken, die ebenfalls wie Postkartenmotive, Gemälde oder Schnappschüsse anmuten und das Leben des neuen Venedig neben das des alten stellen. Es werden Impressionen gezeigt, Augenblicke, keine zusammenhängende Geschichte, die noch viele Fragen offenlassen, aber dennoch Einblicke in die Familiengeschichte der Hauptfigur geben. Wasserspiegelungen als Spiegel der Realität, aber auch des Selbst. Möwen, die ein Panel füllen und aus dem gegenüberliegenden herauszufliegen scheinen. Eine Szene, die eine Erinnerung auslöst. Essensszenen, die an „Der Gourmet“ erinnern. Das Gemalte unterstreicht wie immer die Geschichte vorzüglich. „Du bist hier, drum bin ich auch hier, das weiß ich nun.“, heißt es gegen Ende des Mangas, der die Suche mit einem emotionalen Brief seines Großvaters an seine Frau abschließt.

Eingestimmt werden die LeserInnen mit großformatigen Venedig-Gemälden. Sind das Bilder des Großvaters? Man erfährt es nicht, zumal diese Bilder zeitlos wirken. Entlassen wird man mit Erklärungen, welches Panel welchen Ort in Venedig zeigt und mit einem Nachwort Taniguchis, in dem er die Entstehungsgeschichte seines neuesten Werks nachzeichnet. Einziger Wermutstropfen gerade für weibliche Leser: Taniguchi erzählt aus der Sicht des Mannes; Frauen haben, wie meist in seinen Werken, leider nur eine nachrangige Bedeutung. Man erfährt kaum etwas über die Ehefrau der Hauptfigur, man erfährt nicht, warum er sie nicht nach Venedig mitgenommen hat, ob sie diese Reise billigt oder ob sie (wie in „Der Spazierende Mann“) keine Gelegenheit hat, aus Rollenklischees und Alltag auszubrechen. Das macht fast nur der Mann. Schade.

Insgesamt aber empfehlenswert, denn der Manga bietet wie immer Tiefgründigkeit im Alltag und lässt Spielraum für die eigene Fantasie der Leser/innen.


Illustrated by Carlsen Verlag Hamburg

Lucky Luke: Das gelobte Land (Bd. 95)
by Achdé

lucky-luke-das-gelobte-land

Jack Loser bittet seinen Freund Lucky Luke, seine jüdische Familie auf ihrem Weg nach Montana zu begleiten und zu beschützen. Gleich nach der Ankunft merkt Lucky Luke, dass die strenggläubige Familie nicht so recht in den rauen wilden Westen passen will. Allein die Verköstigung, die alles andere als koscher ist, stellt den hartgesottenen Cowboy mitten in der Prärie vor ungeahnte Herausforderungen, ganz zu schweigen von den “gefilte Fisch” der Mame, von denen Luke Alpträume bekommt. Als wäre das nicht genug, muss sich Luke gegen die Heiratsabsichten der Sterns wehren, die ihn mit ihrer Enkelin verkuppeln wollen. Last but not least heften sich Banditen auf Lukes Fersen, die den Schatz der Sterns rauben wollen. Aber es gibt auch erfreuliche Momente, die die Sterns mit dem Wilden Westen versöhnen: Die Begegnung mit den Kri-Indianern verläuft so harmonisch, dass die Sterns glauben, einen der verlorenen Stämme Israels wiedergefunden zu haben.

Der neue Band wartet nicht nur mit einer amüsanten, sondern auch einer interessanten Geschichte auf, die voller hintersinniger Anspielungen steckt und den jüdischen Glauben (sowie dessen Geschichte) den LeserInnen gleichzeitig näher bringt, diesen aber auch (zusammen mit den rauen Sitten des Wilden Westens) liebevoll konterkariert. Da streckt unverhofft Albert Einstein als Auswandererkind seinem Hintermann die Zunge raus, die deutsche Übersetzung ist voll von jiddischen Wörtern, Juden als das “Volk des Buches”, jiddisches Liedgut – all das wird wie nebenbei eingebaut und verfehlt seine (herzlich-humorige) Wirkung nicht. Der neue Szenarist Jul hat ganze Arbeit geleistet; hoffentlich ist er auch bei den kommenden Bänden dabei. Als kleines Extra bietet der Band kurze Infos zu Lucky-Luke-Erfinder Morris und zu den Juden im Wilden Westen.

Fazit: Uneingeschränkt empfohlen!


Illustrated by Egmont Ehapa

Proust zum Vergnügen

fischer-1Amüsantes aus dem literarischen Olymp

Zehn Jahre hat der Sprachwissenschaftler Bernd-Jürgen Fischer an seiner Neuübersetzung des siebenbändigen Jahrhundertromans «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» vom Marcel Proust gearbeitet. Der erste Band dieser übersetzerischen Großtat ist 2013 erschienen, sechzig Jahre nach der bis heute gültigen, kanonisch gewordenen Übersetzung von Eva Rechel-Mertens, und inzwischen liegen auch die anderen sechs Bände vor. Nun hat Fischer als Herausgeber dem von ihm in ein moderneres, weniger betuliches Deutsch übersetzten Romanriesen, als eine Art literarisches Amuse-Gueule sozusagen, noch das Reclam-Büchlein «Proust zum Vergnügen» folgen lassen, eine Sammlung von 14 Textfragmenten, die zum einen Teil aus der «Recherche» stammen, andererseits aus diversen Briefen, das alles außerdem noch ergänzt um einige Gedichte und etliche Abbildungen.

Es geht auch gleich amüsant zu Sache, im Faksimile abgedruckt ist im ersten Abschnitt unter dem Titel «Notgroschen» ein Brief vom Donnerstag, 17. Mai 1888 an den Großvater von Marcel Proust, der mich als nichts ahnender Recherche-Leser denn doch verblüfft hat, denn er lautet auf Deutsch: «Mein lieber, guter Großpapa, ich möchte Deiner Liebenswürdigkeit die Summe von 13 Francs abschwatzen, […] Und zwar aus folgendem Grund. Ich musste so dringend eine Frau aufsuchen, damit ich meine schlechte Gewohnheit, zu masturbieren, ablege, dass Papa mir 10 Franc für einen Besuch im Bordell gegeben hat. Aber 1. habe ich in meiner Aufregung einen Nachttopf kaputt gemacht, sind 3 Franc, und 2. konnte ich wegen der gleichen Aufregung nicht mehr vögeln. […], und darum habe ich gehofft, dass Du mir unter diesen Umständen zu Hilfe kommen würdest, von denen Du ja weißt, dass sie nicht nur außergewöhnlich, sondern auch einzigartig sind: das passiert nicht zweimal im Leben, dass man zu aufgeregt ist, um vögeln zu können …»

In den kurzen Passagen aus der – weit weniger anzüglichen – «Recherche» werden exemplarisch einige Protagonisten vorgestellt, beginnend mit Tante Léonie und dem Dienstmädchen Françoise (Bd.1 Swann), deren Gespräche brüllend komisch sind, weil an Banalität kaum zu überbieten. Der Diplomat Monsieur de Norpois (Bd.2 Mädchenblüte), ein «Gemeinplatz auf zwei Beinen», sei politisch überlegen allein durch seine ständigen Wiederholungen, er befindet sich permanent im Propaganda-Modus. Weitere vorgestellte Figuren sind Monsieur de Charlus (Bd.3 Guermantes) sowie Albertine und Bergotte (Bd.5 Gefangene). Als scharfer Beobachter entlarvt Proust – durchaus auch selbstironisch – die Eliten der damaligen Gesellschaft in ihrer Unredlichkeit und grenzenlosen Selbstüberschätzung. Köstliche Beispiele für den Witz von Marcel Proust finden sich vor allem in seinen hier abgedruckten originellen Briefen an die verschiedensten Adressaten, in denen er sich nicht scheut, zuweilen regelrecht albern zu sein, was auch für seine gelegentlichen lyrischen Versuche gilt, die ihn eher als Witzbold denn als Dichter erscheinen lassen.

Wer dem Olymp der allerbesten Romanciers angehört wie Marcel Proust, dem traut man Albernheiten kaum zu. Als profunder Menschenkenner aber sind ihm die moralischen Verfehlungen der dekadenten Oberschicht durchaus einen entlarvenden Seitenhieb wert, er selbst habe beim Vorlesen seiner Manuskripte oft am meisten gelacht, wird über ihn berichtet. Uns heutigen Lesern dürfte zuweilen der Erfahrungshintergrund fehlen, um seine subtilen Anspielungen auf Zeitgenossen und Geschehnisse immer nachvollziehen zu können, was aber dem Lesevergnügen kaum abträglich ist bei diesem faszinierenden Jahrhundertroman. Ihn wenigstens in Teilen zu lesen ist ein Muss, habe ich in meinem Essay «Auf der Suche nach dem guten Buch» zur «Recherche» angemerkt, denn «man schwimmt regelrecht mit auf einem Meer von wohlgesetzten Worten in einem traumhaften Prozess des Erinnerns». Und genau dazu will auch dieses mit vielen informativen Anmerkungen ergänzte Büchlein seine Leser ermuntern.

Fazit: lesenswert

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Genre: Sachbuch
Illustrated by Reclam Stuttgart/Dietzenbach

Saturday Night Biber

BiberSie lässt sich in Österreichs Bergen schockfrosten beim Hirsch-Watching, reist alternden Ameisenbären durch halb Europa hinterher und domestiziert eine Kakerlaken-Gang samt des berüchtigten Anführers Schabi Alonso: Anja Rützel ist die geborene Tierflüsterin (auch wenn man sich bisweilen nur schwer des Eindrucks erwehren kann, dass einige ihrer Patienten kurzerhand den Spieß umdrehen um ihrerseits als Rützel-Flüsterer zu reüssieren).

Mit einer kräftig wohltuenden Portion Empathie berichtet die Autorin über ihre Erfahrungen und Begegnungen mit der Fauna und beschränkt sich dabei nicht auf die leicht zu liebenden Tiere wie Hunde, Katzen oder Goldhamster; sie hat stets auch die Entrechteten und Zukurzgekommenen im Blick, seien es Molche, Kühe oder eben die besagten Schaben. Die geschliffene Sprache und der großartige Wortwitz machen dieses Buch zu einem echten Kleinod der Nischenliteratur, das Ganze solide unterbaut durch Zitate kompetenter (Tier-)Philosophen. Dem Werk wohnt eine beinahe verstörende Magie inne, die beispielsweise den Rezensenten dazu nötigte, sich noch während der Lektüre schnurstracks in den nächstgelegenen Zoo zu begeben um Alpakas zu beobachten.

Autorin Anja Rützel hatte bereits eine Stelle beim Landratsamt Main-Spessart sicher, doch sie besann sich (zum Glück für die Leser) eines Besseren und wechselte zur schreibenden Zunft. Einem breiten (sic!) Publikum ist sie bekannt als zuverlässig kompetente Berichterstatterin von Fremdschäm-TV-Events u.a. bei Spiegel Online, daher auch ihr ebenso lesenswerter Erstling »Trash-TV«.


Genre: Humor und Satire, Sachbuch
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Der Ekel

sartre-1Vom philosophischen Olymp

Wenn man von Intellektuellen spricht, drängt sich der Name des französischen Dichters und Denkers Jean-Paul Sartre unwillkürlich als erster auf, – weniger bekannt ist er als Romancier. Während seines für ihn unerfreulichen Aufenthalts als Lehrer in Le Havre entstand sein Debütroman «Melancholia», der vom Verlag Gallimard zunächst abgelehnt wurde und 1938 dann mit erheblichen Kürzungen und Änderungen unter dem Titel «Der Ekel» herauskam. Seine depressive Krise während dieser Zeit der Sinnsuche und Selbstfindung, die ihn für kurze Zeit sogar in eine Psychiatrische Anstalt brachte, bestimmt im Wesentlichen die Thematik in diesem belletristischen Erstling. Dessen Erfolg hat ihn dann darin bestärkt, Romancier zu werden, letztendlich hat er auch dazu beigetragen, ihm seinen Platz in der Literaturgeschichte zu sichern. Als ihm dann 1964 der Nobelpreis für Literatur zuerkannt wurde, hat er als bisher einziger Preisträger – freiwillig – die Annahme abgelehnt, um sich, wie er sagte, seine Unabhängigkeit zu bewahren.

Auch Antoine Roquentin, Alter Ego des Autors im Roman, durchlebt eine quälende Daseinskrise. Er ist ein krasser Außenseiter, ständig auf der Suche nach dem Grund für den Ekel, den ihm seine Umgebung anfallartig beschert. Immer wieder sind es insbesondere die Menschen um ihn herum, aber auch die Dinge, tote und lebendige Materie, die in ihm Abscheu und Verzweiflung auslösen, ihn zum Kotzen bringen, ihn in eine tiefe Daseinskrise stürzen. Sartres hier in Romanform artikulierte existentialistische Philosophie läuft im Wesentlichen darauf hinaus, dass der durch puren Zufall auf die Welt gekommene Mensch den Sinn seiner Existenz selbst herausfinden, ihn ganz individuell für sich definieren muss. Der Protagonist ist in der fiktiven Hafenstadt Bouville, – was so viel bedeutet wie «Schlammstadt» -, mit der Arbeit an einem historischen Werk über den Diplomaten Rollebon beschäftigt, er sieht darin die einzige Rechtfertigung für seine Existenz. In der Sprache allein erkennt der Autor das Werkzeug, die Welt zu verstehen, hinter dem Existierenden das Sein zu entdecken. Hinter seiner Figur Roquentin als «Existenz» schimmert für ihn also als «Sein» dessen Studienobjekt Rollebon durch, was letztendlich bedeutet, dass wir es hier mit einer ersten Ausprägung eines Antihumanismus á la Sartre zu tun haben. «Die Existenz kommt vor dem Wesen» lautet seine Definition, anders gesagt: Der auf die Welt geworfenen menschlichen Existenz folgt als Essenz sein Tun.

Der dreißigjährige Ich-Erzähler Roquentin berichtet in einer tagbuchartigen Sammlung von Beobachtungen, Erlebnissen und Reflexionen über seinen Ekel an der Welt, der ihn oft in tiefe Depressionen stürzt. Dann vermag nur der Jazztitel «Some Of These Days» ihn aus seiner lethargischen Stimmung zu befreien, aus dem Gefühl seiner Bedeutungslosigkeit. Sein ebenso freudloses wie einsames Dasein führt ihn in endlosen Streifzügen durch die Hafenstadt, in die immer gleichen Restaurants und Bars, in die Bibliothek vor allem. Dort trifft er den seltsamen Autodidakten, der seit vielen Jahren in alphabetischer Reihenfolge die komplette Buchsammlung liest und mit dem er zuweilen ins Gespräch kommt, ohne dass eine engere Beziehung zwischen ihnen entsteht. Die Wirtin seines Stammlokals geht ohne Bezahlung mit ihm ins Bett, die Beiden kommen sich aber nicht näher, sie bleiben unpersönlich beim Sie. Auch der Besuch seiner alten Freundin Anni endet im Frust, sie haben sich völlig entfremdet.

Sartre erweist sich als scharfer Beobachter, in einer ebenso präzisen wie eleganten Sprache erfasst er selbst kleinste Details, feinste Regungen seiner Figuren. Seine elegische Geschichte ist als Plot ereignisarm, der Lesegenuss liegt allein in der Gedankenwelt, die da vor dem Leser ausgebreitet wird, – die aber nicht immer leicht zu verstehen ist und viel Mitdenken erfordert.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Berlin Alexanderplatz

doeblin-1Ein verhängnisvolles Milieu

Als ein «Gründungsdokument der literarischen Moderne» wurde der berühmteste Roman von Alfred Döblin, sein Epos «Berlin Alexanderplatz» bezeichnet, ein so bis heute nicht mehr da gewesener, literarisch hoch stehender Großstadtroman, mit «Ulysses» und «Manhattan Transfer» auf Augenhöhe. Als futuristisches Werk wurde der 1929 erschienene Roman begeistert aufgenommen, er gilt als Markstein des Expressionismus in der Literatur und gehört unangefochten zum Kanon Maßstäbe setzender Epik.

Nach vier Jahren Gefängnis wegen Totschlags an seiner Geliebten wird Franz Biberkopf entlassen, er hat den festen Vorsatz, künftig anständig zu bleiben. Er schlägt sich als Straßenverkäufer am Berliner Alexanderplatz durch, bis ihm ein Kumpan seine Freundin abspenstig macht. Aus Frust beginnt er wieder zu saufen, hadert mit der Welt und gerät zunehmend auf die schiefe Bahn, wird Mitglied einer Einbrecherbande. Als sein misstrauischer Kumpel Reinhold ihn bei einem missglückten Einbruch auf der Flucht aus dem fahrenden Auto stößt, verliert er seinen rechten Arm. Biberkopf empfindet den Verlust als gerechte Strafe und nähert sich der brutalen Bande wieder an, er findet in dem attraktiven Straßenmädchen Mieze auch eine neue Freundin, die ihn innig liebt. Der Weiberheld Reinhold jedoch versucht Mieze für sich zu gewinnen und ermordet sie, als sie sich gegen eine Vergewaltigung wehrt, – nach seiner Verhaftung verleumdet er Biberkopf als Täter. Der bricht unter der Last dieser Schicksalsschläge zusammen, landet im Irrenhaus, entgeht dort knapp dem Tod und kommt als gebrochener Mann schließlich ins Leben zurück, er wird Hilfspförtner in einer Fabrik.

Neben seiner Bedeutung als Zeitzeugnis zeichnet sich dieser ausschließlich im proletarischen Milieu angesiedelte Roman durch seine gewagte Stilistik aus, zu deren Besonderheiten der – den Leser zunächst ziemlich verstörende – Berliner Dialekt in der ordinären Ausprägung des Ganoven- und Gossenjargons gehört. Diese spezielle Diktion findet sich nicht nur in den lebensechten Dialogen, sie wird auch in der Erzählung selbst angewendet, – man gewöhnt sich aber schon nach kurzer Zeit daran. Virtuose Perspektivwechsel, häufig variierte Wiederholungen, der den ganzen Roman prägende innere Monolog, weite Strecken mit erlebter Rede oder Bewusstseinsstrom, eine ausgeklügelte Leitmotivik, die Hervorhebung des Kollektivs als Handlungsträger zu Lasten des einzelnen Protagonisten, vor allem aber seine Montagetechnik als zentrales Stilprinzip, all dies weist «Berlin Alexanderplatz» als innovatives episches Kunstwerk aus. Unzählige Bezüge zu antiker Literatur, Religion, Philosophie, Medizin, Geschichte, Politik und anderes mehr, aber auch banalstes Alltagsgeschehen, Werbesprüche, amtliche Verlautbarungen, Kinderlieder, Gassenhauer, Kurioses also allenthalben, üben, als Versatzstücke in den Erzählfluss integriert, eine überwältigende suggestive Wirkung aus.

In jeweils bänkelsängerartig angekündigten Kapiteln umfasst der neunteilige Roman eine Erzählzeit von etwa eineinhalb Jahren um 1928/29. Aus der Fülle des Erzählten ragt für mich die Schlachthof-Episode als verstörende Metapher für Gewalt besonders heraus, sehr nachdenklich machend ist aber auch der Auftritt des Todes im Irrenhaus Berlin-Buch, als Biberkopf zwangsernährt werden muss, weil ihn die Ärzte partout nicht sterben lassen wollen. Dieser tragische Mensch kann als eine Art Jedermann verstanden werden, der thematisch ungemein dichte, vielseitige Roman bietet jedenfalls Möglichkeiten der Interpretation zuhauf, er ist Gegenstand vieler wissenschaftlicher Abhandlungen und beschäftigt die literarische Fachwelt bis heute. Was da erzählt wird, kann wohl niemanden kalt lassen, man wird, wenn man sich erstmal eingelesen hat, unweigerlich ganz tief hineingezogen in das schicksalhafte Geschehen. Und angemerkt sei auch: Dieser Jahrhundertroman erschließt sich wie kein anderer in allen seinen vielen Facetten erst nach mehrmaliger Lektüre!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Deutsche Wortarbeit

sydow-1Ein Buch für Querdenker

Multitalent René Sydow versucht verzweifelt, «den Leuten klar zu machen, dass Literatur nicht dort ist, wo am lautesten gelacht wird, sondern wo am lautesten gedacht wird», wie er in seiner unter dem beziehungsreichen Titel «Deutsche Wortarbeit» erschienen Textsammlung an einer Stelle schreibt. Wie wahr, ich kann ihm nur beipflichten. Mir erscheint dieses Statement wie ein Vorwurf an die Szene des Poetry Slam, zu der seit kurzem auch er gehört, mit großem Erfolg sogar. Denn bei den Spoken-Word-Schriftstellern hat die Performance des Vortrags einen oft viel zu hohen Stellenwert, Show und auch Komik sind den Jurys nicht selten wichtiger als literarische Qualitäten. Nun liegt unzweifelhaft für den auch als Schauspieler und Regisseur tätigen René Sydow gerade darin eine Art künstlerischer Heimvorteil, seine Vortragskunst ist jedenfalls auf sehr hohem Niveau, wie ich auf einer Veranstaltung in München kürzlich erleben konnte. Der Leser kann das übrigens auf der dem Buch beiliegenden CD selbst nachvollziehen.

Wer den Band mit Kurzprosa und Gedichten liest, wird feststellen, dass seine literarischen Qualitäten ebenfalls beachtlich sind. Schon der Titel des Buches weist ja darauf hin, dass hier sprachliche Kompetenz im Mittelpunkt steht, René Sydow erweist sich als ein Wortakrobat im wahrsten Sinne des Wortes. Mit seinen kreativen Wortschöpfungen verblüfft er immer wieder aufs Neue seine Leser, so wenn er zum Beispiel von «semantischen Paralympics» spricht und damit die Leute meint, wie sie tagtäglich im Fernsehen auftreten. «Die begehen alle Mundraub, das heißt sie beklauen die deutsche Sprache, und was davon übrig bleibt, ist ein Deutsch für Dummys». Was auch nicht weiter verwundert bei einem vorwiegend denkfaulen Publikum, eine kaputte Welt, wie er meint, «wenn schon die Bildungsministerin ihre Doktorarbeit abschreiben muss». Und er fügt hinzu: «Übrigens war ihr Thema ‚Das Gewissen’, interessant, nicht?»

Der Autor ist ein messerscharfer Beobachter des alltäglichen Wahnsinns um uns herum, den er scharfzüngig kritisiert, wobei er auf seinen unerschöpflich scheinenden «Wortschatz aus dem Silbensee» zurückgreift. An anderer Stelle resümiert er über seine Berufswahl als Schauspieler, nachdem die guten Jobs alle schon weg wären: «Kunstmäzen, Fußballlegende, Lottofee». Für seine Berufskollegen kommt er zu dem so gar nicht schmeichelhaften Schluss: «Die sind alle eingesperrt, im ausbruchssichersten Gefängnis der Welt: dem Ego». Seine selbstbewusste, analytische Gesellschaftskritik zielt gleichermaßen auf Politik und Medien, Sydow nennt Namen, unbeeindruckt von Prominenz, er moralisiert beharrlich und macht den Leser immer wieder nachdenklich.

Solche kurzen Texte stellen eine eigene, neue Literaturgattung dar, die man als Bühnenliteratur bezeichnet, sie sind pointiert und meist auch humorvoll, ziemlich unangepasst und oft sogar ausgesprochen frech, ein Bindeglied zur Comedy darstellend, von den renommierten Literaturkreisen (zu Recht?) bisweilen scheel angesehen. Zu meinem Erstaunen habe ich beim Anhören der CD noch viele Feinheiten herausgehört, die ich einfach überlesen hatte, was ja durchaus für die Gattung des Hörbuchs spricht. Überhaupt ist einiges an Wissen erforderlich, will man all die vielen subtilen Anspielungen und feinsinnigen Pointen verstehen in diesen sprachlich dichten Texten, wobei Fußnoten und ein Glossar dem Leser dabei helfen. Bei aller Lesefreude kamen mir aber doch einige der Texte als ziemlich «daneben gelungen» vor, ganz abgesehen von der Lyrik, die mich allerdings generell abschreckt, nicht nur bei René Sydow. Zusammenfassend könnte man von einem Buch für Querdenker sprechen, dass auch in kleinsten Häppchen genossen mit seinen 48 kurzen Texten gute Unterhaltung verspricht.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Sachbuch
Illustrated by Periplaneta Berlin