Ich bin Charlotte Simmons von Tom Wolfe
Aus dem »Lexikon der Nobelpreisträger« zitiert Wolfe zu Beginn seines dritten großen Romans die Entdeckung »kultureller Parastimuli« durch den amerikanischen Dupont-Lehrer Viktor Ransome Starling.
Der Forscher hatte Laborkatzen die Amygdala entfernt, das ist der Teil des Großhirns, der bei höheren Säugetieren Gefühle steuert. Darauf gerieten die von dem Eingriff betroffenen Tiere in extreme sexuelle Erregung und begannen, ohne Unterbrechung ekstatisch zu kopulieren. Als nach einigen Wochen Käfige mit im selben Raum isoliert gehaltenen, unbehandelten Katzen geöffnet wurden, stürzten sich die normalen Tiere ebenfalls aufeinander. Sie waren durch die wochenlange Beobachtung ihrer entfesselten Artgenossen derart stimuliert, dass sie jedes normale, gesunde Verhalten ablegten und sich ebenso verhielten.
Im seinem auf diesen kurzen Wissenschaftsbericht folgenden Prolog lässt Wolfe zwei betrunkene Stundenten der Dupont-Elite-Universität von Pennsylvania durch den Park der Hochschule torkeln und dabei versehentlich den Gouverneur von Kalifornien beobachten, der sich von einer Studentin im Mondlicht des Campus befriedigen lässt. An dieser Uni geht es offenbar zu wie bei den amygdalektomierten Katzen.
Charlotte Simmons, ein blasses Landei aus bescheidenen Verhältnissen, wird aufgrund ihrer ausgezeichneten Leistungen ausgewählt, die Dupont-Uni zu besuchen und erhält ein Stipendium. Die Hochschule präsentiert sich als Kaderschmiede reicher und schöner Teen und Twens, für die Sex zur Atemluft gehört wie Stickstoff und Sauerstoff.
Charlotte prallt vollkommen unvorbereitet auf eine Umgebung, in der Gorillatestosteron in der Luft liegt. Sie spürt zum ersten Mal in ihrem Leben etwas von der Macht, die eine Frau über die monomanischste, triebhafteste aller Kreaturen haben kann — den Mann. Fühlt sie sich ihren Kommilitonen aufgrund ihres Fleißes und ihrer Intelligenz, denn »Ich bin Charlotte Simmons«, haushoch überlegen, scheitert sie im zwischenmenschlichen Bereich und erlebt herbe persönliche Niederlagen.
Wolfe, der Begründer des »New Journalism«, zeichnet in seinem voluminösen Meisterwerk eine schüchterne und unerfahrene junge Frau, die schon im Umgang mit gemischten Toiletten und Waschräumen Schweißausbrüche bekommt. Wie mit einem Skalpell deckt Wolfe dabei Schicht für Schicht der amerikanischen Gesellschaft auf und zerlegt sie mit seinem bislang unerreichten Reportagestil. Treffsicher setzt er sich mit Jugendmoden und Campussprache auseinander und beschreibt den psychologischen Krieg zwischen den Vertretern des neokonservativen und des liberalen Amerika.
»Ich bin Charlotte Simmons« ist ein Meisterwerk amerikanischer Gegenwartsliteratur, das in sprachlicher und stilistischer Hinsicht ebenso wie in der Farbigkeit der Schilderung der Charaktere und ihrer Hoffnungen, Träume und Empfindungen wie ein leuchtender Stern am Literaturhimmel strahlt. Absolut lesenswert!
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Genre: RomaneIllustrated by Heyne München