Die geheimste Erinnerung der Menschen

 

L’art pour l’art

Als Ritterschlag in der französischen und frankophonen Literatur gilt der Prix Goncourt, der 2021 an den senegalesischen Schriftsteller Mohamed MBougar Sarr für seinen Debütroman «Die geheimste Erinnerung des Menschen» verliehen wurde. Im Mittelpunkt dieses autobiografisch inspirierten Bildungsromans steht der ebenfalls afrikanische Autor T.C. Elimane, der 1938 mit seinem schon bald als Kultbuch angesehenem «Labyrinth des Unmenschlichen» vom Feuilleton als ‹Schwarzer Rimbaud› überschwänglich gefeiert wurde. Der allerdings rassistisch angefeindete Autor war dann nach einem Plagiatsskandal untergetaucht und blieb, wie bald auch sein Buch, spurlos verschwunden. Genau dieses Buch fällt Diégane, dem jungen Ich-Erzähler des vorliegenden Romans, 2018 durch Zufall in die Hände. Und es fasziniert ihn so, dass er sich spontan auf die Suche macht und rastlos den wenigen Spuren des verschollenen T.C. Elimane folgt, während er seinerseits ein Buch schreibt. Der komplizierte Plot mit seinen elf trickreich ineinander verschachtelten Kapiteln hat folglich eine klassische Buch-im-Buch-Struktur.

Die Literatur als Kunstform spielt die Hauptrolle in diesem Roman, der mit unterschiedlichsten Erzählformen aus unterschiedlichsten Perspektiven um das Leben des verschollenen Autors und um das sagenhafte Buch kreist. Es ist nicht gerade leicht, den diversen Erzählebenen mit ihrer Thematik von Kolonialgeschichte, afrikanischer Identitätssuche und den vielschichtigen Problemen des Erinnerns zu folgen. Stilistisch unverkennbar ist dabei der Einfluss der postmodernen Erzähltheorie. Roland Barthes, aber auch Jean-Paul Sartre stehen Pate, und es wird immer wieder auch sehr ausführlich zitiert. Auskunft darüber gibt am Ende des Buchs eine Liste mit Nachweisen von Zitaten und längeren «Anleihen». Genannt sind dort die deutschen Übersetzungen von Roberto Bolaño, Aimé Césaire, Franz Fanon, Victor Hugo, Milan Kundera, Stephane Mallarmé und Thomas Sankara. Einige der Namen dürften prosaorientierten Romanlesern kaum geläufig sein, – aber da hilft ja das Internet weiter!

Ohne Zweifel spricht aus dem Erzählstoff des unkonventionellen Romans eine beachtliche Belesenheit des Autors, der in seinem Text dann auch immer wieder darauf hinweist, dass Lesen, und zwar viel lesen, die unabdingbare Voraussetzung für das Schreiben ist. Es werden aktuelle Diskurse zum Thema Identität – und zwar afrikanische – in den Erzählstoff einbezogen. In dem vielstimmigen Chor der Ich-Erzähler sind in Form von Notizen, Interviews, datierten Tagebuch-Einträgen und inneren Monologen zudem unzählige literarische Verweise enthalten. Der eigenwillige Autor lässt allerdings Vieles auch im Ungewissen, im Mysteriösen, sogar bei seinem komplexen Spiel mit Identitäten und Erinnerungen. Er regt so, immer wieder neu, die Phantasie seiner Leser an!

Jedem Romanleser, der einigermaßen belesen ist, dürfte klar sein, dass es den ‹Roman der Romane›, den einmaligen, alle Erwartungen weit übertreffenden Idealroman nicht gibt, man denke nur an die Vielstimmigkeit des Feuilletons! Aber gerade diese Schimäre ist das Thema von Mohamed MBougar Sarr, dessen Protagonist bei seiner abenteuerlichen Suche an den verschiedensten Schauplätzen unbeirrt einem Phantom nachjagt. Abgesehen von solch irrealer und damit zunehmend langweiligerer Thematik führt die fragmentarische Erzählweise in ein literarisches Labyrinth ohne Ausgang, in dem man ziemlich hilflos umherirrt. Es fehlt ganz einfach der Rote Faden in dieser Geschichte voller Verästelungen, deren Humor ebenso fragwürdig ist wie das Frauenbild, das hier machohaft gezeichnet wird. Fragwürdig sind auch die philosophischen Erkenntnisse und ‹Weisheiten›, die hier in vielen völlig sinnfreien Sätzen artikuliert werden und über die nachzudenken ebenfalls eine Sackgasse ist. Man hat den Eindruck, dass der senegalesische Autor, der in Frankreich Literatur und Philosophie studiert hat, stolz all sein akademisches Wissen in diesem Roman unterbringen wollte, wobei aber leider keine sinnstiftende Struktur erkennbar ist, – als Literatur mithin nur l’art pour l’art!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Die Erweiterung

 

Googeln sinnlos

Mit «Die Erweiterung» hat der österreichische Schriftsteller Robert Menasse nach fünf Jahren den zweiten Band seiner als Trilogie geplanten, großen EU-Erzählung vorgelegt. Der Roman stellt keine Fortsetzung des 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Erfolgsromans «Die Hauptstadt» dar. Er befasst sich vielmehr, worauf schon der Buchtitel hinweist, mit EU-Beitrittswünschen von Ländern des Westbalkans, hier speziell von Albanien. Insbesondere Polen lehnt aber die Aufnahme eines muslimischen Landes in die Europäische Union vehement ab. Nach Brüssel, Zentrale dieses aberwitzigen Bürokratie-Molochs, liegt jetzt also der Fokus des europäisch engagierten Autors auf den Außenrändern der Gemeinschaft. Für die anstehenden Erweiterungen hat die EU eine eigene Behörde geschaffen, der Moloch wächst also munter weiter.

Der umtriebige albanische Ministerpräsident verfolgt für die Verhandlungen mit Brüssel eine nationalistische Strategie. Er will ein ‹Groß-Albanien› schaffen mit den mehrheitlich albanischen Regionen im Kosovo, West-Mazedonien und anderen Randgebieten, quasi eine albanische Gemeinschaft von Regionen innerhalb der Europäischen Union. Symbol für ‹Groß-Albanien› soll der Helm des albanischen Volkshelden Skanderbeg werden, der aber leider im Besitz eines Museums in Wien ist und dort ausgestellt wird. Restitutions-Ansprüche wurden geltend gemacht, blieben aber erfolglos. Um Druck in Brüssel zu machen weist der albanische Ministerpräsident ferner darauf hin, dass China großes Interesse an den wertvollen, seltenen Bodenschätzen Albaniens zeigt und auch den wichtigsten Handelshafen bei Durrës kaufen will, – als Teil seines Seidenstraße-Projekts. Da müssten doch bei der EU die Alarmglocken klingeln und der albanische Beitritt nur noch eine reine Formsache sein, glauben der Ministerpräsident und seine engsten Berater!

Der ‹dicke› Gesellschaftsroman überrascht mit einem spannenden Plot, der den Leser von Anfang an regelrecht hineinsaugt in das aberwitzige Geschehen, das bei aller Übertreibung doch auch einen Einblick in die realen Usancen eines gigantischen Verwaltungs-Apparates bietet. Robert Menasses sorgfältig durchdachte Geschichte wird rasant in diversen Handlungs-Strängen erzählt, seine Figuren agieren glaubwürdig in den häufig wechselnden Szenen. Sogar eine transnationale Liebesgeschichte fehlt nicht. Die albanische Dame erzählt ihrem deutschen Verehrer, wie sie zu ihrem seltsamen Vornamen gekommen ist: Ihr Vater hat eine zeitlang in Deutschland gearbeitet, in München, und war seither ein glühender Fan des FC Bayern München. «Er wollte, dass ich so heiße wie sein geliebter Fußballclub … Der Standesbeamte schrieb den Namen so, wie er ihn hörte, in mein Geburtsdokument: Baia Muniq.» Es gibt immer wieder Gelegenheit zum Schmunzeln, aber der oft ironisch, teils sogar sarkastisch erzählte Roman vermittelt auch ein sorgsam recherchiertes Bild von den Vorgängen im aufgeblähten Brüsseler Apparat mit all seinen politischen Ränkespielen und nationalen Animositäten. Die Robert Menasse nicht müde wird anzuprangern, nicht nur in seinen Romanen, sondern auch in Essays, Vorträgen und Interviews, – er ist nun mal ein glühender Europäer.

«Die Erweiterung» enthält in ihrem eng an die Realität angelehnten und in der Gegenwart angesiedelten, politischen Erzählstoff auch Kriminalistisches oder Historisches. Die Fülle von fremdsprachigen Einschüben, geschichtlichen Anspielungen oder europäischen Verstrickungen erfordert beim Lesen sehr häufig eine Internet-Recherche. Man hört aber schon bald auf zu googeln und liest ohne Verständnis-Probleme einfach über diese Stellen hinweg. Sehr ärgerlich hingegen ist allerdings der chaotische Schluss, bei dem der Autor wohl keine Lust mehr hatte und seine Geschichte einfach sinnfrei, regelrecht klamaukartig ausklingen lässt. Das Lesevergnügen wird jedenfalls brutal abwürgt. Es fehlt diesem Roman also ein der übrigen Textmasse adäquates, gut durchdachtes Finale. Was für ein ärgerliches Manko für einen ansonsten erfreulichen Roman!

Fazit: lesenswert


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Geschichte eines Kindes

 

Grandios daneben gelungen

Der neue Roman von Anna Kim beruht auf einem wahren Fall. Ihre «Geschichte eines Kindes» erinnert in seinem zweisträngigen Aufbau an Ursula Krechels «Landgericht». Ging es bei Krechel um Judenverfolgung, geht es bei der in Südkorea geborenen und dann in Deutschland und Österreich aufgewachsenen Autorin um Rassen-Diskriminierung. Die ihr selbst biografisch nachempfundene Ich-Erzählerin Franziska folgt im Januar 2013 einer Einladung und geht als ‹Writer in Residence› in den Mittleren Westen der USA, nach Green Bay im Bundesstaat Wisconsin. Sie flieht schon bald aus dem kalten Zimmer, das ihr das College zugewiesen hat, und landet als Untermieterin bei der Ehefrau des im Krankenhaus liegenden Daniel. Anna Kim wie auch Ursula Krechel klagen die Ausgrenzung ethnischer Minderheiten an, hier erzählerisch dargestellt durch wahrhaft aberwitzige Protokolle über die Recherchen von Sozialdienst, Diözese und Polizei, – erzählt wird von «Rassismus und Segregation», wie es im Klappentext heißt. Der soziologische Fachbegriff steht für Entmischung, deren Ziel es ist, bei der gesetzlich vorgeschriebenen, rigorosen Rassentrennung keinerlei rassische Vermischung zuzulassen im «weißen» Distrikt, immer streng nach dem Motto «wehret den Anfängen»!

Im Jahr 1953 wird in der amerikanischen Kleinstadt Green Bay ein uneheliches Kind geboren, erhält von seiner Mutter den Namen Daniel und wird von ihr sofort zur Adoption freigegeben, – sie will das Kind, auch später niemals sehen. Anzumerken ist, dass die Rassentrennung in den USA erst 1964 mit dem «Civil Rights Act» aufgehoben wurde. Der Sozialdienst der Erzdiözese beginnt sogleich mit der Klärung aller in derartigen Fällen erforderlichen Details. Es scheint den Betreuerinnen, dass der zunächst im Geburtskrankenhaus und anschließend in einem Pflegeheim untergebrachte kleine Daniel negroide Gesichtszüge aufweist. Carol, seine zwanzigjährige Mutter, verweigert aber hartnäckig jede verifizierbare Auskunft über den Vater. Deshalb wird eine Sozialarbeiterin speziell damit beauftragt, den Kindsvater zu ermitteln, außerdem wird auch ein Arzt zur Bestimmung der Rasse des Babys herangezogen.

Gleich zu Beginn des Romans wird auf fünfzig Seiten protokollartig, mit Datum versehen und mit  Schreibmaschinen-Schrift in Flattersatz grafisch deutlich abgehoben, über die aberwitzigen Versuche zur Bestimmung der Rasse von Klein-Daniel berichtet. Es sei kaum möglich, für ihn Adoptiveltern zu finden, wenn er nicht eindeutig und nachweisbar der weißen Rasse angehöre, heißt es. Selbst wenn den weißen Pflegeeltern die Rasse egal wäre, bestehe in dem ausnahmslos weißen Distrikt die Pflicht zur Segregation, denn die Entmischung der Rassen sei hier nun mal soziologisch geboten. Daniel sollte also auch nicht von weißen Pflegeeltern adoptiert werden, denen die Rasse egal ist, Eltern und Adoptivkind seien sonst lebenslang von schmerzlichen gesellschaftlichen Ausgrenzungen bedroht.

Die Autorin bleibt seltsam distanziert zu ihrer berührenden Geschichte, deren zweisträngiger Aufbau verwirrend ist, weil jede Verbindung zwischen den zeitlich sechzig Jahre auseinander liegenden Erzählsträngen fehlt. Das «Kind» aus der Adoptionsphase und der abwesende Ehemann Daniel, der nach einem Schlaganfall im Pflegeheim liegt, werden in mehreren Abschnitten, im Wechsel und recht unvermittelt, einander gegenüber gestellt, – es scheinen zwei verschiedene Romanfiguren zu sein. Die in den Protokollen durchaus gebotene sprachliche Nüchternheit hat leider auch auf die Story der Ich-Erzählerin abgefärbt, die emotional unterkühlt bleibt. Man fragt sich außerdem auch, inwieweit denn Daniels Leben durch seine nichtweiße ethnische Herkunft tatsächlich beeinträchtigt war. Den Leser erwartet ein schwer zu lesender Text mit einer als Ballast empfundenen Fülle von Details, mit minutiösen Personen-Beschreibungen zum Beispiel, die nichts zum Verständnis beitragen und mit der Zeit zunehmend ermüden. Der Stoff dieses Buches hätte mehr hergegeben, so aber ist dieser Roman nur einfach grandios daneben gelungen, – schade!

Fazi: miserabel


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Unser Deutschland Märchen

 

Unser Deutschland Märchen

Der autofiktionale Debütroman des bisher mit seiner Lyrik bekannt gewordenen Schriftstellers Dinçer Güçyeter trägt den deskriptiven Titel «Unser Deutschland Märchen». Vielstimmig beschreibt der am Niederrhein in Nettetal, also in Almanya geborene Autor in seiner Familiengeschichte, wie die Einwanderer aus Anatolien mit der harten Realität konfrontiert wurden in dem gelobten Land, «wo das Geld an den Bäumen hängt und man es nur zu pflücken braucht». Der mit etlichen Fotos der Familie collageartig angereicherte Roman wurde 2023 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. «Traditionell wie innovativ queer erzählt, reißt einen diese Einwanderer-Geschichte mit ihrer Emotionalität und großen politischen Bedeutung von Anfang an mit» heißt es in der Begründung der Jury.

Dinçer Güçyeter erzählt in 68 kurzen, mit oft amüsanten Überschriften beginnenden Kapiteln chronologisch und in Form von Rückblicken seine Familiengeschichte. Meistens wird aus der Sicht des Autors selbst erzählt, sehr häufig berichtet im Wechsel auch seine Mutter Fatma, die Erzählerstimme wird jeweils benannt. Eher selten treten zudem weitere Figuren als Erzähler auf, und das reicht bis hin zur Urgroßmutter, die das erste Kapitel bestreitet und schon fast lapidar von der Gesellschaft in Anatolien anfangs des vorigen Jahrhunderts berichtet. Fest verwurzelt mit den archaischen Traditionen, Sitten und Gebräuchen geraten die von Deutschland dringend benötigten Einwanderer in Konflikte mit der ihnen fremden Gesellschaft. Sie scheitern an den Herausforderungen der modernen Arbeitswelt, beherrschen die Sprache nicht, werden als billige Gastarbeiter ausgenutzt.

Viele fristen in Almanya als Hilfsarbeiter, Handlanger oder Putzfrauen ein hartes Leben, das ihnen alles abverlangt. Fatma arbeitet in der Fabrik, macht oft zwei Schichten hintereinander, fährt nach Feierabend aufs Land und schuftet noch bis zur Dunkelheit als Erntehelferin. Tragisch ist für sie, dass ihr Mann ein fauler Nichtsnutz ist, der mit seiner gepachteten Kneipe nicht nur nichts verdient, er lässt großzügig anschreiben, verjubelt das Geld oder leiht es großzügig seinen fragwürdigen Kumpels und sieht es dann nie wieder. Und Fatma erträgt das alles geduldig, sie ist ja nur die Ehefrau und steht eine Stufe unter ihm, beugt sich widerspruchslos den archaischen Konventionen. Ihr Sohn aber soll es mal besser haben, dafür schuftet sie und ebnet ihm den Weg, beschafft ihm eine Lehrstelle als Mechaniker in ihrer Fabrik. Dinçer jedoch merkt schon bald, dass er so nicht leben möchte, er fühlt sich zur Literatur hingezogen, liest viel und schreibt Gedichte. Seine Mutter kann die Vorstellung des inzwischen Dreißigjährigen vom erfüllten Leben nicht verstehen. Zu der Tragik mit ihrem nichtsnutzigen Ehemann kommt nun auch noch die Enttäuschung über den Sohn hinzu, der mit seiner künstlerischen Neigung beruflich auf eine brotlose Kunst hinsteuert, also nach ihrer Ansicht scheitern wird. Denn der für ihn erhoffte Aufstieg, der ersehnte Wohlstand sei so nicht zu erreichen, wirft sie ihm entsetzt vor!

Der Zusammenprall westlicher und östlicher Kultur, der deutschen und der anatolischen, wird in diesem Roman in einem äußerst eigenwilligen Stil aus Monologen, Gedichten, Briefen, Theaterdialogen, Träumen und gebetsartigen Einschüben thematisiert, selbst ein «Lied der Huren» ist dabei. Das Buch bekommt durch die Problematik der Migration und die islamistischen Demonstrationen, die in der absurden Forderung nach einem Kalifat in Deutschland gipfeln, gerade jetzt eine ganz unerwartete Aktualität. Es gelingt dem Autor in bewundernswerter Weise, auch mit poetischen Mitteln, eindringlich die Unvereinbarkeit der konträren Moral-Vorstellungen und Gesellschafts-Systeme zu verdeutlichen. Das Lob für diesen eigenwilligen, stilistisch jenseits aller Konventionen stehenden Roman werden allerdings viele Leser, die geläufige Prosa erwarten, partout nicht nachvollziehen können!

Fazit: mäßig


Genre: Roman
Illustrated by mikrotext

Der Freund

Memoir über die Trauer

Die US-amerikanische Autorin Sigrid Nunez wollte schon als Kind Schriftstellerin werden, aber erst in ihrem 44ten Lebensjahr erschien 1994 ihr Debütroman. Nach sechs weiteren Veröffentlichungen gelang ihr 2018 mit «The Friend» schließlich der literarische Durchbruch. In deutscher Übersetzung erschien das Buch unter dem Titel «Der Freund», vom Verlag als Roman bezeichnet, was manche Kritiker beanstandet haben. Denn es handelt sich unverkennbar um ein Memoir, also ein aus der Ich-Perspektive erzähltes Sachbuch. Thematisiert wird darin der Verlust, den der Suizid eines geliebten Menschen bedeutet, wobei hier neben der trauernden Erzählerin auch der plötzlich herrenlos gewordene Hund ihres besten Freundes zutiefst leidet. Sie nimmt die achtzig Kilo schwere Deutsche Dogge notgedrungen bei sich auf, obwohl Hunde laut Mietvertrag nicht erlaubt sind und sie damit rechnen muss, ihr preiswertes kleines Appartement in New York City zu verlieren.

Es kann kaum überraschen, dass die namenlos bleibende, einsame Ich-Erzählerin eine akademisch gebildete Schriftstellerin und Dozentin für «Creative Writing» ist – und dass auch ihr lebensmüder Freund Schriftsteller war. Er hat, was jeden Freitod für Hinterbliebene besonders schmerzlich macht, keine Zeile über die Beweggründe für seine Verzweiflungstat hinterlassen. Es waren wohl bekannt gewordene, sexuelle Eskapaden mit seinen Studentinnen, darf vermutet werden. In einer essayistisch knappen und sachlichen Sprache schildert die Autorin die Annäherung der vom Schicksal aneinander gefesselten Zufallsgemeinschaft, die ihre Trauer auf tierische und menschliche Weise verarbeitet. So bleibt es nicht aus, dass der Leser tief hineingezogen wird in die Nöte des Hundes, der mit seinem Herrchen die Leitfigur verloren hat. Dieses nonverbale Leiden der Kreatur wird an vielerlei Beispielen immer wieder aufs Neue thematisiert, zunehmend ergänzt und ersetzt durch die behutsame Annäherung der tierliebenden Erzählerin an ihren neuen Lebensgefährten.

Auffallend wenig erfährt man über die Beziehung der Schriftstellerin zu ihrem einstigen Freund. Zwar ist von Liebe die Rede, aber der Verlust scheint auf der menschlichen Ebene eher unbedeutend zu sein. Es fehlt zwar der Gesprächspartner und auch der Mentor in literarischer Hinsicht, aber Liebesschmerz oder Sehnsucht wird allenfalls angedeutet. Dafür glänzt dieses Memoir mit einer Fülle von geistreichen Zitaten, Anekdoten und Hinweisen auf die Literatur, eine oft auch humorvolle Kritik an dieser speziellen Branche selbst und an ihren Irrtümern und Schwächen. Leser also, die sich, den literarischen Kern ihrer Passion betreffend, als «belesen» bezeichnen können im wahrsten Sinne des Wortes, kommen hier voll auf ihre Kosten! Es wimmelt nur so von Textauszügen, aber auch von subtilen Andeutungen, die nur versteht, wer viele der Klassiker gelesen hat, die diese US-Amerikanerin in ihren Kanon aufgenommen hat und die sie zu Recht als wichtig ansieht.

Sigrid Nunez wendet sich zumeist im inneren Monolog an den toten Freund, Vieles ist außerdem tagebuchartig oder essayistisch erzählt. Nach dem Motto «Sex sells» ist mit dem ungehemmten Liebesleben des promiskuitiven Freundes überflüssiger Weise auch noch abstoßende Verbalerotik eingestreut in diesen «Roman ohne Plot». Das assoziative Erzählen erschließt dem Leser auf subtile Art die eigentliche Thematik des Buches, Trauer und das Zusammenstehen in seelischer Leere. Stilistisch ist neben dem Assoziativen die episodische Anlage des Textes kennzeichnend, er besteht im Wesentlichen aus aneinander gereihten Reflexionen und Erzählschnipseln. Sie bilden bunt gestreut und zumeist ohne erkennbaren Zusammenhang den Erzählstoff, das Poetische vermischt sich hier manchmal unvermittelt mit dem Poetologischen. Dazu gehören denn auch Passagen, in denen die Autorin über die Entstehung des Textes selbst reflektiert, ihre Schreibarbeit also mit einbezieht in ihr Memoir.

Fazit: lesenswert


Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin

Das liebestolle Krokodil

KI am deutschen Bücherhimmel

Der soeben erschienene, schmale Band «Das liebestolle Krokodil» des literarischen Tausendsassas Ruprecht Frieling aka Prinz Rupi trägt die Bezeichnung «Eine Groteske», was durch das ebenso bunte wie lustige Titelbild wirkungsvoll unterstrichen wird. Der Buchrücken informiert darüber, dass diese «stürmische Groteske … der erste mittels KI (Künstlicher Intelligenz) geschriebene und illustrierte Text am deutschsprachigen Bücherhimmel» sei. Spätestens da wird klar, dass hier «etwas vollkommen Neues, technisch nie Dagewesenes» auf den neugierig gewordenen Leser wartet. Weiterlesen


Genre: Groteske
Illustrated by Belle Époque Verlag

Die Tschechow-Leserin

Traumverlorene Selbstreflexion

Der Titel des Debütromans der italienischen Literatur-Wissenschaftlerin Giulia Corsalini lässt aufhorchen, «Die Tschechow-Leserin» dürfte zumindest die an gehobener Literatur interessierten Leser neugierig machen. Die vierzigjährige Ich-Erzählerin und Protagonistin Nina stammt aus Kiew. Sie hat einen Ruf als Spezialistin für Tschechow, lebt aber mangels beruflicher Chancen mit ihrem pflegebedürftigen Mann und der achtzehnjährigen Tochter Katja in prekären Verhältnissen. Um ihre finanzielle Lage zu verbessern und vor allem der Tochter ein Medizinstudium zu ermöglichen, verlässt sie die Ukraine und nimmt in Italien eine Stelle als Pflegerin bei einer alten Dame an.

Die gleichförmige, wenig erfreuliche Arbeit und ihre Einsamkeit in der Universitätsstadt Macerata weckt in ihr wieder die Leidenschaft für Literatur, die lange Zeit unter dem Druck der widrigen Lebensumstände verdrängt war. Sie sucht in ihrer freien Zeit die Universitäts-Bibliothek auf, beginnt sich wieder intensiv mit Tschechow zu befassen und lernt im Institut für Slawistik den Professor De Felice kennen. Der bietet ihr schon bald einen befristeten Lehrauftrag an, den sie neben ihrem Putzfrauenjob in einem Supermarkt ausüben kann. Mit den Studenten untersucht sie in ihren Vorlesungen den Einfluss Tschechows auf die italienische Erzähl-Literatur und erfüllt zur Zufriedenheit aller die Erwartungen an ihre Dozentur. Ihre Beziehung zu dem zwanzig Jahre älteren Russisch-Professor bleibt, obwohl sie sich auch privat etwas näher kommen, rein intellektueller Natur, man zollt sich gegenseitig höchsten Respekt, auch wenn es manchmal scheint, als wäre da mehr. Als sie die Nachricht erhält, dass es ihrem Mann deutlich schlechter geht, beschließt sie, endgültig nach Kiew zurückzukehren. Dabei vertraut sie dem Freund ihrer Tochter, der Arzt ist, dass mit einem schnellen Ableben aber nicht zu rechnen sei, und schiebt ihre Abreise um zwei Wochen hinaus. Ihr Mann stirbt jedoch überraschend schon drei Tage später, sie ist also nicht mehr rechtzeitig an sein Sterbebett gekommen, was ihr die Tochter sehr übel nimmt.

Im zweiten Teil des Romans erzählt die Autorin, dass Nina in Kiew geblieben ist, dort eine Stelle am Institut für russische Sprache und Kultur angenommen und sich allmählich auch mit ihrer Tochter ausgesöhnt hat, die inzwischen selbst Mutter geworden ist. Acht Jahre nach ihrer überstürzten Abreise erhält sie aus Macerata die Einladung, auf einer dreitägigen Tschechow-Konferenz den Einführungs-Vortrag zu halten. Innerlich zerrissen widmet Nina sich dort aber einer ukrainischen Pflegekraft, die junge Frau ist im Umgang mit den Behörden völlig hilflos. Die Veranstaltung endet im Fiasko, sie lässt sich bei der Konferenz nicht blicken. Im Epilog wird geschildert, wie sie ein halbes Jahr später die Tochter besucht und die Nachricht erhält, dass De Felice gestorben ist. «Ich war eine leidenschaftliche Tschechow-Leserin: Es ist, als hätte ich dies alles schon immer vorausgeahnt», heißt es am Schluss.

Neben dem Thema Migration, welches im zweiten Teil einen breiten Raum einnimmt und ja auch die Protagonistin selbst betrifft, steht in diesem distanziert erzählten Roman aber vor allem Ninas innere Abkehr von ihrem ursprünglichen Leben im Blickpunkt. Ihr entgleiten die Dinge, sie tut nicht das, was sie eigentlich tun wollte und befindet sich am Ende in einer seelischen Vorhölle. Ein schicksalhafter Auflösungs-Prozess, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint. Es ist die permanente Selbstreflexion, die hier im Blickpunkt steht, als Romanfigur bleibt Nina auffallend blass, ihre Gefühle sind kaum zu entschlüsseln. Über allem liegt stilistisch die für Tschechow typische, traumverlorene Melancholie, und wie dieser belässt auch Giulia Corsalini vieles im Ungefähren und verzichtet auf psychologische Deutungen. Unpassend jedoch ist leider der Schluss des Romans, bei dem alle Dissonanzen zwischen Mutter und Tochter kurzerhand weggebügelt werden.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by nonsolo.Verlag

Zukunftsmusik

Aus der Kommunalka

Als Roman einer Zeitenwende beschreibt «Zukunftsmusik» von Katerina Poladjan den Beginn einer neuen Ära in Russland, die sich in diesem Fall ungewöhnlich exakt auf ein genaues Datum fixieren lässt, den 11. März 1985. Aber ebenso exakt lässt sich mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine der Tag für das Ende dieser Ära benennen, der 24. Februar 2022. Natürlich konnten die Menschen im Roman nicht ahnen, was sich mit der Wahl von Michail Gorbatschow zum ZK-Generalsekretär für sie verbessern würde, sie haben es allenfalls gespürt. So wie wir Heutigen noch nicht ahnen, was Putins Wahn letztendlich bedeutet.

Handlungsort ist eine unbenannte Stadt tausend Werst östlich von Moskau, wo sich in einer aus unterschiedlichsten Mitgliedern bestehenden, WG-ähnlichen Kommunalka mit sechs Mietparteien die Protagonisten des Romans eine Wohnung teilen. Da leben in einem der Zimmer auf engstem Raum Großmutter Warwara, pensionierte Hebamme, die aushilfsweise noch in der Klinik arbeitet und an diesem Tag einem Kind auf die Welt hilft. Mutter Maria arbeitet als Aufseherin im Museum und ist in Matwej verliebt. Ihre Tochter Janka schließlich arbeitet in Nachtschicht in der Glühlampenfabrik und will am Abend in der Küche ein Kwartirnik veranstalten, ein zur Umgehung der Zensur von jungen Leuten einfach in den Privathaushalt verlegtes Konzert. Der Ingenieur Matwej von nebenan hat einen schlechten Tag, denn einer der Probanden bei den von ihm betreuten Versuchen zur Aufhebung der Schwerkraft stirbt. Er hat die Marotte, alles aus seinem Leben in kleinen Kästchen aufzubewahren, deren Inhalte er geradezu zwanghaft ständig umsortiert. Der hoch angesehene alte Professor ist selten zu sehen, bei der Feier zu dessen letztem Geburtstag nutzte Ippolit, Schaffner bei der Eisenbahn, die Gelegenheit und flüsterte Warwara zu, «er sei schon lange hinter ihr her, ihre Verbindung sei durch die Vorsehung bestimmt, und nun sei es an der Zeit, sich dem Schicksal zu ergeben. Warwara ließ ihn wissen, sie werde über sein Ansinnen nachdenken und ihn bezüglich ihrer Entscheidung in Kenntnis setzen». Sie hat ihn erhört!

Bezeichnend für die Verhältnisse ist eine Szene, in der sich Maria an diesem 11. März spontan in einer Schlange mit anstellt, die bis weit auf die Straße hinaus reicht. «Was glauben Sie, was uns erwartet»? fragt sie den Mann vor ihr. «Am Anfang dieser Schlange erwarten uns feine, rosa glänzende Krakauer Würstchen, und wenn wir Pech haben, erwartet uns das Nichts. Und bis wir an der Reihe sind, ist uns die Möglichkeit gegeben zu überlegen, ob wir das, wofür wir anstehen, überhaupt brauchen». Zwischen Resignation und Aufbruch in bessere Zeiten strahlen die Figuren des Romans eine innere Unruhe aus, die sich bereits von der Gegenwart gelöst zu haben scheint und einem Gefühl Platz gibt, das vielleicht ja doch alles besser werden könnte. Wobei die Befreiung aus den beengten Wohnverhältnissen auf ihrer Prioritätenliste ganz oben steht.

Der für den Leipziger Buchpreis nominierte Roman enthält viele Anspielungen auf die russische Literatur, wobei besonders Zitate von Tschechow teils wörtlich übernommen werden. Deutliche Bezüge gibt es aber auch auf Bulgakow, dessen ins Surreale weisender Stil sich bei Katarina Poladjan in ihrem ins Fantastische übergehenden Schluss wiederfindet. Da öffnet sich der Flur plötzlich ins Freie, ohne das sich jemand daran stört. In der kleinen Küche tummeln sich unglaublich viele Leute, obwohl Janka selbst gar nicht auftritt. In Anspielung auf den «Kirschgarten» werden jede Menge kleine Bäumchen aus der Küche durch den Flur getragen, Menschen steigen aus dem Fenster und fliegen davon. Auffallend ist auch die Diskrepanz zwischen den geschliffenen Dialogen aller Bewohner, man siezt sich natürlich, und dem eher proletarisch anmutenden Leben in der beengten Wohnung. Dieser im Stil des Magischen Realismus ohne Larmoyanz geschriebene Roman aus einer Kommunalka ist eine bereichernde, aber auch amüsante Lektüre.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Rombo

Eine Geschichte, die partout keine sein will

Der das Thema des neuen Romans von Esther Kinsky bereits andeutende Titel «Rombo» steht im Italienischen mythisch für das dumpfe, mehr spür- als hörbare Grollen aus der Tiefe, welches heftigen Erdbeben vorauszugehen scheint. Es geht hier um die verheerenden Erdbeben, die am 6. Mai 1976 im Bereich des Monte San Simeone im Friaul begannen und denen im September gleichen Jahres weitere schwere Erdbeben folgten. Bis zum Herbst jenes Jahres zerstörten die gewaltigen Erschütterungen zehntausende Häuser und forderten fast tausend Tote. Wie schon in «Hain», ihrem letzten Roman, dienen auch hier ausufernde Beschreibungen von Natur und Landschaft als stimmungsmäßige Grundierung für das eigentliche Thema. Es geht um das menschliche Trauma bleibender Erinnerungen an zerstörerische Naturgewalten, das in Worte zu fassen nicht so einfach ist. Ähnlich traumatische Erfahrungen von 9/11, nicht weniger schrecklich, zeugen davon.

Jedes der sieben Abschnitte des Romans wird durch ein kurzes Zitat aus verschiedenen wissenschaftlichen Werken zur Geognosie eingeleitet, wie die Lehre von Aufbau und Struktur der Erdkruste im neunzehnten Jahrhundert noch hieß. Ebenso fachkundigen Ehrgeiz verwendet die Autorin auf ihre eigenen, minutiösen Schilderungen der zerklüfteten Landschaft des betroffenen Gebietes. Mit großer sprachlicher Präzision beschreibt sie die Eigenarten von Flora und Fauna der rauen Bergregion mit ihren oft extremen Wetterlagen. Die krempeln im Verein mit den häufigen Erdbeben die geologischen Verhältnisse manchmal derart um, dass quasi neues Gelände entsteht. Meist durch Felsstürze oder plötzliche Schneeschmelze verursacht, werden unversehens Flüsse und Bäche in ein entferntes Bett umgelenkt. Oder durch Fels und Geröll verursachte Aufstauungen lassen an anderer Stelle neue Tümpel und Teiche entstehen. – und nichts ist mehr, wie es mal war.

Wenn es im Roman heißt, «die Erinnerungen, das sind wir selbst», dann ist das ein Hinweis auf die sieben Dorfbewohner, die zum Teil als Ich-Erzähler in meist kurzen Erinnerungs-Schnipseln über sich selbst und ihre persönlichen Lebensumstände, vor allem aber über ihre Beobachtungen und Erlebnisse vor, beim und nach dem Erdbeben berichten. Allesamt Einwohner des armseligen Bergdorfes Venzone, das sich mangels Arbeitsplätzen zusehends entvölkert und immer mehr ins Abseits gedrängt wird. «Die Erinnerung ist ein Tier, das aus vielen Mäulern bellt», merkt der alte Anselmo zum Thema an. Esther Kinsky verwendet ihre fiktiven Protokolle nicht dokumentarisch, sondern schiebt sie in scheinbar bunter Folge in ihre thematisch nur bruchstückhaft zusammen gefügten Natur-Betrachtungen ein. Angereichert wird dieses Pendeln zwischen den Erzähl-Gegenständen durch immer wieder mal eingeschobene Mythen wie die von «Rombo», dem seismischen Unglücksboten. Es gibt aber auch Legenden und Sagen, wie sie zum Beispiel im Lied von der «Riba Faronika», dem pharaonischen Fisch, in der Region weiterleben als eigenständige Schöpfungs-Geschichte.

Mit ihrem verstörenden Mix aus Natur, Trauma und Mythen stellt die Autorin dem äußeren Chaos ein poetologisches gegenüber, eines der Sphären und Wörter, wohl um das Unfassbare sichtbar zu machen. Insoweit kann man ihren artifiziellen Roman als metaphorisch angelegten Versuch über das Erinnern lesen. Und natürlich steckt darin auch die alte Frage der Theodizee, wie kann Gott das zulassen? Durch ihre peniblen Natur-Beschreibungen festigt sie zunehmend den Eindruck, dass aber alles richtig ist, wie es ist. All diesen vielen geologischen und biologischen Exkursen, den Berichten ihrer blutleer bleibenden Figuren, den knappen, auktorialen Ergänzungen über Land und Leute fehlt jedoch ein narrativer Überbau, der die nicht weniger als 142 disparaten Textblöcke zu einer als Roman überzeugenden Prosa mit erkennbar rotem Faden zusammen bindet. Denn so bleibt kaum was haften nach der Lektüre einer Geschichte, die nun mal partout keine sein will.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Serge

Schade eigentlich

Wen wundert’s, dass auch «Serge», Yasmina Rezas neuer Roman, eher wie ein Drama in Prosaform wirkt. Er lebt sprachlich von seinen funkelnden Dialogen, mit denen die französische Schriftstellerin in ihren Theaterstücken ja ebenfalls brilliert. Hier nun kreuzen die Mitglieder einer jüdischen Familie verbal die Klingen. Der titelgebende Sohn Serge ist ein nichtsnutziger Aufschneider, der von seinem jüngeren Bruder Jean, dem Ich-Erzähler, maßlos bewundert wird. Jean selbst ist ein unscheinbarer Typ ohne Charisma, ein Leisetreter, der im Hintergrund bleibt und außer seiner Funktion als Protokollant auch kaum in das Geschehen hineinwirkt. Nana, die von allen geliebte Tochter der Poppers, hat einen nach Ansicht der Familie unpassenden Mann geheiratet. Sie ist aber im Beziehungs-Chaos der diversen anderen Familien-Mitglieder als einzige wirklich glücklich. Die nicht praktizierende jüdische Familie ist innerlich gespalten durch den Antisemitismus-Vorwurf, den der verstorbene Vater regelmäßig in die Debatte warf, wenn es um Israel und seine Politik ging. Wer diesen Staat kritisiert, ist gegen die Juden, so seine felsenfeste Überzeugung!

Das verkrachte Genie Serge, ein unsympathischer Kotzbrocken, ist als Sechzigjähriger auf der ganzen Linie gescheitert. Seine ominösen Geschäfte als Berater sind nur noch reine Luftnummern, die er sich aber unverdrossen schönredet, auch wenn er finanziell völlig am Ende ist. Seine Ehen sind ebenfalls gescheitert, um seine Kinder kümmert er sich kaum, sie leben bei den Müttern, Auch seine Beziehungen halten nicht lange, er vermasselt es jedes Mal. Als plötzlich auch die achtzigjährige Mutter stirbt, stellen die Geschwister fest, dass sie von ihren Vorfahren und deren Schicksal so gut wie nichts wissen, zum Fragen ist es nun aber zu spät. Auf Vorschlag der Tochter von Serge starten sie zu einem gemeinsamen Besuch nach Auschwitz. Wie zu erwarten ist auch hier Serge der Störenfried, er weigert sich, die wichtigen Stationen der Gedenkstätte zu betreten, zeigt keinerlei Interesse an dem, wovon doch auch seine eigene Familie betroffen war. Jean protokolliert, ebenfalls wenig beeindruckt, das abstoßende touristische Umfeld. Erstaunt stellt er fest, er habe noch nie eine so mit Blumen herausgeputzte Stadt wie Auschwitz gesehen. Was als Versuch gedacht war, das nach dem Tod der Mutter auseinander zu brechen drohende Familiengefüge zu erhalten, erweist sich als Illusion. «Nach unserer Rückkehr aus Auschwitz haben Nana und Serge übereinstimmend und ohne Absprache beschlossen, nie wieder miteinander zu reden».

Das zentrale Thema der Erinnerung wird hier weitgehend im Desaster einer tragikkomischen Reise behandelt, wobei die eigentlichen Motive der Suche nach familiären Spuren und nach Wahrheit völlig in den Hintergrund geraten. Mit ihrer genauen Beobachtungsgabe und der ungenierten Art, Figuren sezierend kühl zu beschreiben, gleichzeitig aber auch noch warmherzig auf sie zu blicken, bewirkt die Autorin eine zuweilen unfreiwillig komisch wirkende, sprachliche Ambivalenz. Und auch der aus diesem Blickwinkel beschriebene Auschwitz-Besuch erscheint als kühnes Unterfangen und wirft die drängende Frage nach einem angemessenen Umgang mit der unsäglichen historischen Vergangenheit auf.

Hervorzuheben sind die brillanten, oft sarkastischen und zuweilen sogar witzigen Dialoge in diesem Roman. Misslungen ist zweifellos die von Anfang an fragwürdige, nebulöse Erzählerfigur des Jean, der im Text eher selten auftritt und mangels klarem eigenen Profil kaum erkennbar ist. Wenn er als Ich-Erzähler dann aber zuweilen auch noch in die Position eines auktorialen Erzählers rückt, weil er Dinge und Vorgänge beschreibt, die er als Akteur gar nicht wissen kann, ist man als Leser vollends irritiert. Dieser illusionslose Roman, der ohne Moralisieren ein schwieriges Thema behandelt, liefert weder neue Erkenntnisse, noch ist er, abgesehen von den Dialogen, besonders unterhaltsam. Schade eigentlich!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Eine andere Epoche

Rädchen im Getriebe

Man ist unwillkürlich an Koeppens «Treibhaus» erinnert bei dem neuen Roman von Ulf Erdmann Ziegler, der unter dem Titel «Eine andere Epoche» vom Parlamentarismus in Deutschland erzählt. Hier geht es um weniger dramatische Ereignisse als 1953, wo in Bonn die Wiederbewaffnung zur Abstimmung anstand. Handlungsort ist nun natürlich Berlin, Handlungszeit sind die Jahre 2011 bis 2014, die SPD befand sich damals in der Opposition. Eine parteinahe Politikberaterin konstatierte lapidar: «Dass die SPD überhaupt einen Kanzler-Kandidaten aufstelle, zeuge von Wunderglauben». Auch wenn viele politische Akteure mit Klarnamen benannt sind, kann man das Buch durchaus als Schlüsselroman lesen.

Wegman Frost ist Büroleiter des SPD-Bundestags-Abgeordneten Andi Nair, der schon viermal das Direktmandat für seinen Wahlkreis nahe Hannover gewonnen hat, sein alter Freund aus Jugendtagen. Zu der damaligen Clique gehörte auch Flo Jansen, der einst als Kind aus Saigon gerettet wurde, nach dem Studium bei der FDP gelandet ist und nun als Wirtschaftsminister und Vizekanzler am Kabinettstisch sitzt. Erzählt wird aus der Perspektive Wegmans, der sich scherzhaft als ‹Indianer› bezeichnet, weil er aus einer Reservation in Idaho stamme, er wurde aber in Deutschland bei Pflegeeltern aufgezogen. Die Drei haben sich in Schaumburg-Lippe kennengelernt, nahe von Gerhard Schröders Geburtsort.

In der politischen Chronik jener Jahre gibt es einige markante Ereignisse, die der Autor strikt aus dem Blickwinkel seiner Figuren heraus schildert. Da ist vor allem der Rücktritt des Bundespräsidenten Christian Wulff, den die gegen ihn gerichtete Medien-Kampagne zur Aufgabe des Amtes bewogen hat. Später wurde er jedoch wegen des Vorwurfs der Vorteilsnahme vor Gericht freigesprochen. Ein großes Thema jener Jahre war auch die NSU-Affäre, die in einem Untersuchungs-Ausschuss unter dem Vorsitz von Andi Nair natürlich nicht aufgeklärt werden konnte. Alle Zeugen aus den Reihen von Polizei und Staatsschutz haben ‹gemauert›, um ihr eigenes Unvermögen und ihre hanebüchenen Fehler zu vertuschen. Ein Kollege aus der SPD Bundestags-Fraktion gerät wegen Besitz von Crystal Meth in die Schlagzeilen, und ganz zum Schluss verlässt einer der Protagonisten wegen offensichtlich berechtigter, schwerer Vorwürfe fluchtartig den Reichstag.

Kennzeichnend für Zieglers Erzählweise ist, dass er gerade den karriere- und bedeutungsmäßig am wenigsten hervorstechenden Wegman Frost in den Mittelpunkt stellt. Er ist Angestellter seines Freundes Andi Nair und arbeitet ihm zu, schreibt Reden für ihn und hält ihn auf dem Laufenden über die politische Stimmungslage hinter den Kulissen. Auch privat ist er eher eine unscheinbare Figur ohne Charisma, ein Wunder geradezu, dass sich die toughe Immobilien-Maklerin Marion mit ihm einlässt, ihn sogar bald schon in ihre noble Wohnung einziehen lässt. Deren altkluge Tochter Elli, in der man Uwe Johnsons Marie Cresspahl zu erkennen glaubt, versteht sich von Anfang an sehr gut mit Wegman und verwickelt ihn wissbegierig in manchmal allerdings gar zu tiefsinnig erscheinende Debatten zu Themen jenseits der Politik. Auffallen ist, dass Marion und auch ihre elfjährige Tochter als Charaktere ziemlich blass bleiben. Was übrigens auch für alle anderen, fast durchweg politischen Akteure gilt, deren Privatleben weitgehend ausgeklammert ist. Einzig Wegmans häufige Tagträume enthalten für ihn produktive Aspekte über die Tretmühle des politischen Alltags hinaus. Der Autor schreibt in einer angenehm lesbaren, klaren Sprache aus Sicht seines Helden, wobei er sich aber jeder moralischen Wertung enthält. Wegman Frost agiert als kleines Rädchen im Getriebe der großen Politik, er ist lediglich ein auf kleinste Details achtender Berichterstatter mit einem untrüglichem Sinn für politische Stimmungen. Und dass er sich am Ende sogar vornimmt, jetzt unbedingt mal Hannah Arendts Werk «Über die Revolution» zu lesen, ist fast schon ein revolutionärer Akt für ihn.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Zebra im Krieg

Der Pisser

Mit dem Zusatz «Nach einer wahren Begebenheit» hat der österreichische Schriftsteller Vladimir Vertlib für seinen neuen Roman «Zebra im Krieg» auf einen realen Bezug hingewiesen. Durch die offizielle Bagatellisierung der aggressiven Kämpfe im Roman als «erweiterte Polizeiaktion gegen Terroristen» wird überdeutlich auch auf den Ukrainekonflikt verwiesen. Es geht in diesem Roman um politischen Totalitarismus, dem heute mit seiner digitalen Variante im Internet eine nicht minder gefährliche, mediale Spielart als weiteres Lügenbabel zur Seite steht.

In einem quasi rechtsfreien Raum toben sich Hassprediger aller Couleur aus, so auch der arbeitslose Flugzeug-Ingenieur Paul Sarianidis. Der weiß mit seiner vielen Freizeit nichts Besseres anzufangen, als sich in einschlägigen Internet-Foren herumzutreiben und als Blogger seine Meinung in die Welt hinaus zu posten. In seiner nicht benannten balkanischen Hafenstadt tobt ein Bürgerkrieg, die multiethnische Einwohnerschaft sitzt in der Falle, man kann die umzingelte Stadt nicht mehr verlassen, die Rebellen haben sie vorübergehend in ihre Gewalt gebracht. Und ausgerechnet gegen den charismatischen Führer dieser Aufständischen hat Paul einen Hass-Kommentar geschrieben, in dem er ihn auf das Übelste beschimpft. Prompt stehen plötzlich Milizionäre vor der Tür des Mitte-Dreißigjährigen, die ihn zum Verhör mitnehmen. Dort trifft er auf sein verbales Opfer, den Rebellenführer Boris Lupowitsch, der ihn nun seinerseits beschimpft und derart bedroht, dass Paul sich vor Angst in die Hosen macht. All das wird mit zwei Kameras akribisch gefilmt und anschließend ins Netz gestellt. Paul erntet Hohn, Spott und eine traurige Berühmtheit als «Der Pisser». Dieses Begebnis ist nach Aussage des Autors übrigens authentisch. Der mit einer Ärztin verheiratete, mit Tochter und der eigenen Mutter zusammenlebende Paul wird nun auch zu Hause gescholten. Er hat die ganze Familie blamiert, was ihm besonders seine über alles geliebte, zwölfjährige Tochter Lena sehr übel nimmt.

Dieser dystopische Roman ist als Persiflage auf die Vorgänge in der Ost-Ukraine angelegt. Das Augenmerk des Autors liegt allerdings nicht auf dem politischen Machtpoker, sondern auf den dämonischen Kräften in den Köpfen der Bevölkerung, die sich im Internet eine Bühne suchen, um dort ihre vorgefassten Meinungen weiter anzuheizen, statt an einem Konsens mitzuwirken, um die Gegensätze zum Wohle aller zu überwinden. Als stadtbekannte Figur wird «Der Pisser» bei einem seiner ruhelosen Streifzüge durch die zerschossenen Straßen von einem grölenden Mob, zusammen mit der Intendantin des Theaters, symbolisch in einer vor Deck starrenden Bio-Mülltonne ‹entsorgt›. Pauls Versuche, sich mit Hilfe zweier PR-Spezialsten von seinem peinlichen Image zu befreien, scheitern kläglich, er wird nur finanziell ausgenommen von ihnen. «Ich will einmal im Leben das Richtige tun», beschießt der Antiheld und kümmert sich fortan um die alten jüdischen Hausnachbarn, die abgeholt worden sind. Es gelingt ihm tatsächlich, das Paar frei zu bekommen. Sie vertrauen ihm daraufhin ihren bescheidenen Schatz an, neben persönlichen Erinnerungsstücken vor allem 3000 Dollar, die er nach ihrem Tod der in den USA lebenden Tochter zukommen lassen soll, ehe sie der korrupte Staat kassiert.

Pauls multikulturelle Heimatstadt, ein Schmelztiegel aus griechischen, ukrainischen und koptischen Vorfahren sowie Russen, Armeniern, Türken, Juden und anderen Ethnien mehr, hat seinen Status als kosmopolitischer Sehnsuchtsort längst verloren. Nachdem in den Kämpfen auch der Zoo zerstört wurde, laufen plötzlich exotische Tiere durch die Stadt, so das titelgebende Zebra als Symbol für Friedfertigkeit. Die vom Autor als geharnischte Kritik an der Enthemmung in den sozialen Medien samt ihren Folgen angelegte Geschichte bleibt in der Form leider fragwürdig. Sie ist weder als Satire noch als Gesellschaftskritik wirklich überzeugend und wirkt in ihrer Slapstickartigkeit oft einfach nur albern.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Residenz Verlag

Der Silberfuchs meiner Mutter

Wahrheit gibt es ja sowieso nicht

In seinem neuen Roman «Der Silberfuchs meiner Mutter» erzählt der österreichische Schriftsteller Alois Hotschnig eine berührende Geschichte. «Dieses Buch gäbe es nicht ohne die Begegnung mit dem Schauspieler Heinz Fitz, der es mir erlaubt hat, entlang seiner Lebensgeschichte diesen Roman frei zu entwickeln», erklärt er in seiner Danksagung. Ich-Erzähler des Romans ist, wenig originell, Heinz Fritz, ebenfalls Schauspieler, der erst als Sechzigjähriger seinen richtigen Vater kennengelernt hat und zeitlebens auf den äußerst dürftigen Spuren seiner Herkunft das Schicksal seiner Mutter Gerda aufzuklären sucht.

Der einzige konkrete Beleg ist ein Dokument der Lebensborn-Organisation der SS, die in ihrem Arierwahn seine norwegische Mutter mit ihrem Sohn über Oslo, Kopenhagen, Berlin, München nach Hohenems in Vorarlberg geschickt hat, zur Familie seines Vaters. Der war Anfang 1942 als Obergefreiter verwundet nach Kirkenes im Norden Norwegens gekommen, sie war Krankenschwester dort und hatte sich mit dem Feind eingelassen. Das äußere Symbol ihrer Verbundenheit war der Silberfuchs, den Anton ihr dort geschenkt hat. Als sie dann schwanger wurde, hat ein Teil ihrer Familie sie als «Nazi-Hure» brüsk verstoßen. Aber auch in Hohenems ging es ihr nicht besser, die schöne Frau wurde von der österreichischen Familie ihres Geliebten als «Norweger-Hure» zunehmend abgelehnt, teils spielten allerdings auch religiöse Gründe eine Rolle dabei. Und sogar der leibliche Vater distanzierte sich plötzlich von ihr. Das Kind sei nicht von ihm, behauptete er, sondern von einem Russen, der ertrunken sei. Sie musste sich also allein durchschlagen, ein Zurück nach Norwegen gab es für sie als Kollaborateurin nun nicht mehr. Ende 1942 kam dann Heinz zu Welt, aus gesundheitlichen Gründen brachte sie ihn bei einem Bauern unter und sah ihn erst 4 Jahre später wieder. Als seine Mutter wieder heiratet, leidet Heinz sehr unter dem übergriffigen, sadistischen Stiefvater. Seinen leiblichen Vater aber hat er nur zweimal im Leben kurz gesehen, er hat jeden Kontakt abgelehnt.

Dieser Roman ist der breit angelegt Versuch des Ich-Erzählers, aus den offensichtlichen Lügen, ungeheuren Begebenheiten und aus den allerkleinsten Erinnerungs-Fetzen seine eigene Biografie zu rekonstruieren. Nicht nur seine Mutter, auch er selbst kommt in seelische Abgründe, begeht sogar unbeholfene Suizid-Versuche. Gleichwohl verbinden sie die Bücher, die Mutter liest ihm aus «Peer Gynt» vor, später auch aus «Andorra», und weckt damit sein Interesse an Literatur. Begeistert spielen sie einzelne Szenen nach, womit der berufliche Lebensweg von Heinz bereits vorgezeichnet ist. Er strebt eine Laufbahn als Schauspieler an und bereitet sich mit Hilfe seiner diversen Brot- und Butter-Jobs auf die Schauspiel-Schule vor.

«Bis ich mit sechzig Jahren, erst mit sechzig meinen richtigen Vater kennengelernt habe, diesen Anton Halbsleben in Hohenems, durch einen Theaterportier, der auch aus Hohenems war.» Unbekümmert um Grammatik verwendet Alois Hotschnig schon im ersten Satz eine holperige, häufig stockende, monologische Sprache. Die ist dazu angetan, dem Denken seines wurzellosen Helden einen Möglichkeits-Raum zu schaffen, um moralische und ethische Grenzen zu überwinden. «Wen lässt der Autor sprechen und wie» ist für Hotschnig die entscheidende stilistische Frage. In diesem düsteren und beklemmenden Psychogram geht es um die verzweifelte Suche eines zutiefst zerrissenen Menschen nach Liebe. Das Einzige übrigens, was zählt, denn Wahrheit gibt es ja sowieso nicht. Prompt wird das dann bestätigt, wenn ganz am Ende mit dem plötzlichen Auftauchen von Briefen der Mutter einige der bisherigen Gewissheiten ins Wanken kommen. Neben dem sperrigen Stil stören auch die seltsam blutleer bleibenden Figuren bei der Lektüre, was übrigens auch für beide Protagonisten gilt, vor allem aber ist ein nur rudimentäres Handlungsgerüst das größte Manko für den enttäuschten Leser.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Heimatlos

Die Deutschen als Opfer

Wie schon der Titel «Heimatlos» andeutet, handelt es sich bei dem neuen Roman der ungarischen Schriftstellerin Judit Kovats um eine Geschichte vom Verlust der Heimat. Als ihr erster ins Deutsche übersetzter Roman beschreibt er die mit dem Rückzug der deutschen Besatzer beginnende Vertreibung der Karpaten-Deutschen aus der Stadt Kesmark, die zur traditionellen Landschaft Zips in der nordöstlichen Slowakei gehört. Die Geschichte ist aus der Perspektive der zu Beginn 17jährigen Schülerin Lili erzählt.

Nach dem Partisanen-Aufstand 1944 marschiert die deutsche Wehrmacht in die Slowakei ein, alle deutschen Kinder werden im Rahmen der Kinderland-Verschickung von den Nazis zwangsweise nach Österreich geschickt. Später werden sie dann weiter nach Bad Reichenhall verlegt, Lilis Vater aber holt sie schon bald dort wieder ab, weil er befürchtet, sie in den zunehmenden Kriegswirren aus den Augen zu verlieren. Er bringt sie zu Verwandten im mährischen Olmütz, wo sie sicherer aufgehoben sei. Seit die neue Regierung jedoch per Dekret die Kollektivschuld aller Deutschen an den Untaten der Nazis festgestellt und sogar das Tragen einer Armbinde mit aufgenähtem «N» verbindlich vorgeschrieben hat, werden sie auch dort verfolgt. Denn den so geschaffenen rechtsfreien Raum nutzen vor allem die Partisanen, die voller aufgestauter Wut nur noch auf Rache sinnen und morden und brandschatzen. Lilli und ihre Familie müssen sich verstecken, werden sogar von ihren früheren Mitbürgern drangsaliert, obwohl doch dort im friedlichen multikulturellen Miteinander nicht selten «ein Satz auf Deutsch begonnen, auf Slowakisch fortgesetzt und auf Ungarisch beendet» wurde. Schließlich wird die Familie enteignet, in einem Sammel-Lager interniert und von dort zwangsweise nach Deutschland deportiert.

Dieser erste Teil des Romans berichtet von unsäglichen Massakern, beschreibt die odyssee-artige Vertreibung über viele Stationen hinweg Richtung Deutschland. Erzählt wird von geradezu viehischen Bedingungen, unter denen die Vertriebenen zu leiden haben und an denen viele von ihnen, unterernährt, von Ungeziefer befallen, unter hygienisch desaströsen Verhältnissen und ohne jede ärztliche Hilfe, elendig sterben. Diese leitmotivisch allzu häufig wiederkehrenden Schilderungen dominieren inhaltlich die erste Hälfte des Buches, sie erweisen sich aber mit der Zeit als langweilig und irgendwann sogar störend. Der Krieg schlägt gewaltige Breschen in die Gemeinschaft der Zipser Deutschen, Lilis Vater sitzt in einem Internierungslager und stirbt nach seiner Entlassung früh an den Folgen der Arbeit in einem Uranbergwerk, ihr Schwager gilt lange als im Krieg verschollen. Im zweiten Teil nimmt die Geschichte Fahrt auf, die Familie ist zu guter Letzt in Dachau gelandet, sie bewohnen als Flüchtlinge das ehemalige KZ. Auch hier warten zunächst Hunger und Entbehrung auf sie, aber auch wohlmeinende Amerikaner, die helfen. Mit der Zeit rappelt man sich auf, findet Arbeit, Lili verlobt sich mit einem angehenden Arzt, nimmt Klavierunterricht, die Mutter eröffnet eine Nähstube, man bekommt eine bescheidene Wohnung und kann das primitive Lagerleben hinter sich lassen.

Das Besondere an diesem Roman ist die selten anzutreffende, sudetendeutsche Perspektive, aus der er erzählt wird, wie einst die Juden sind jetzt die Deutschen Opfer. Mit Lili spricht eine naive junge Frau aus dem Volke, deren Augenmerk auf die eher profanen Dinge des Alltags gerichtet ist, die großen historischen Umwälzungen werden nicht thematisiert. Was aber nicht bedeutet, dass ihr die Schrecken der Vergangenheit nicht ‹in den Knochen› stecken. Selbst Jahre nach Kriegsende hat sie nämlich ständig den gepackten Rucksack bereit stehen, den sie seinerzeit schon bei ihrer Flucht benutzt hat. Er enthält Kleidung, Hygieneartikel und Konserven, und einmal im Jahr öffnet sie ihn am Karfreitag in einem feierlichen Ritual, wechselt die Kleidung gegen frische aus und ersetzt abgelaufene Konserven durch neue.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Nischen Verlag

Die Geschichte von der 1002. Nacht

Ein verhängnisvoller Besuch

Mit seinem 1939 posthum erschienenen Roman «Die Geschichte von der 1002. Nacht» hat Joseph Roth der morgenländischen Sammlung von Erzählungen eine ironische Ergänzung hinzugefügt. Das Buch wurde von Peter Beauvais 1969 für das Fernsehen verfilmt und gehört heute zu den zahlreichen Klassikern aus der Feder des österreichischen Autors, der für seinen vom Journalismus geprägten Erzählstil bekannt ist.

Mit großem Gefolge reist der Schah von Persien nach Wien, besucht also ein aus seiner Sicht exotisches Land. Auf einem zu seinen Ehren veranstalteten Ball entdeckt er unter den illustren Gästen eine wunderschöne blonde Frau. Der über einen Harem von 365 Frauen verfügende Potentat gibt seinem Großwesir den Auftrag, ihm diese Schönheit noch heute Nacht zuzuführen. Gräfin W. ist eine verheiratete Dame, die von allen Männern verehrt wird. Undenkbar für den entsetzten Polizeipräsidenten, an den sich der Großwesir gewandt hat, der Dame ernsthaft einen solchen Wunsch vortragen zu lassen. Stattdessen wendet er sich ratsuchend an Baron Taittinger, ein zur besonderen Verwendung bei Hofe abgestellter Rittmeister. Dem gelingt es zunächst, Graf und Gräfin W. zum sofortigen Verlassen des Balls zu bewegen. Eine ehemalige Geliebte von ihm hat eine frappante Ähnlichkeit mit der Gräfin, sie könnte deren Zwillings-Schwester sein. Die einfältige Mizzi arbeitet im Kurzwarengeschäft ihres Vaters und gelegentlich auch noch in einem anrüchigen Etablissement, also die Idealbesetzung für das von Taittinger vorgeschlagene Täuschungs-Manöver. Der Polizeipräsident ist begeistert, kümmert sich um alles weitere, und der Schah ist nach der ersehnten Liebesnacht so zufrieden, dass er seiner blonden Bettgefährtin eine sündhaft teure Perlenkette als Geschenk zukommen lässt, sie ist über Nacht eine reiche Frau.

Damit nimmt das Unglück seinen Lauf. In einer gekonnt angelegten, turbulenten Handlung beschreibt Joseph Roth das Unheil, welches sowohl bei Mizzi als später auch bei Taittinger, von dem sie ein missratenes Kind hat, und bei vielen weiteren Figuren durch dieses monströse Geschenk ausgelöst wurde. Ein mieser Schreiberling der Zeitung versucht aus der peinlichen Geschichte Profit herauszuschlagen, ein Betrüger schmeichelt sich bei Mizzi ein und wird nicht nur ihr Liebhaber, sondern auch ihr Geschäftspartner. Er verkauft in ihrem Laden gefälschte Brüsseler Spitzen, überredet auch Mizzis geldgierige Bordellmutter, sich finanziell zu beteiligen und plündert die kleine Firma planmäßig aus. Als schließlich alles auffliegt, landet auch Mizzi im Gefängnis. Und sogar auf Taittiger fallen die Schatten der Affäre zurück, er muss den Dienst quittieren. Leichtsinnig wie er ist, hat er zudem sein Gut sträflich vernachlässigt, ist überschuldet und findet sich auch im Privatleben nicht mehr zurecht. Als er sich Jahre später für eine Rückkehr in den Dienst bewirbt, wird bekannt, dass der Schah einen weiteren Besuch in Österreich plant, die deshalb hervorgeholten, alten Akten werden ihm nun erneut zum Verhängnis.

Die Ende des 19ten Jahrhunderts angesiedelte Geschichte ist eine ironische Gesellschafts-Studie der k. u. k-Monarchie mit ihrer Doppelmoral. Geld allein macht nicht glücklich, ist die Devise von Joseph Roths letztem Roman. Als großer Moralist seziert er die Verstrickungen der damaligen Gesellschaft und ihre typischen Verhaltensmuster, wobei seine Ironie nicht ins Amüsante abgleitet, sondern eher melancholisch die bedauernswerten Zustände beleuchtet. Die berechtigte Frage manch männlichen Lesers, was den Schah so an den Frauen seiner Gastgeber gereizt habe, wird im Roman sehr einleuchtend beantwortet: «Jede einzelne war lockender als ein ganzer Harem, angefüllt mit 365 rätsellosen, geheimnislosen, gleichgültigen Leibern. […] Welch vertrackte Raffiniertheit, die Gesichter der Frauen nicht zu verhüllen! […] Jede einzelne ein behüteter Edelstein». Dieses Buch mit dem originellen Titel ist auch heute noch eine lohnende Lektüre!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Anaconda