Power

Allegorie auf das Verschwinden

In ihrem zweiten Roman mit dem irreführenden Titel «Power» thematisiert die Schriftstellerin Verena Güntner nichts, was irgendwie mit ‹Kraft› assoziiert werden könnte, sondern das Verschwinden und seine gesellschaftlichen Vorbedingungen. Der soeben erschienene Band ist für den diesjährigen Leipziger Buchpreis nominiert, wobei die Jury ihre Wahl folgendermaßen begründet: «In zarter und sicherer Sprache schichtet Verena Güntner Ebene auf Ebene, demontiert Geschlechter-Zuschreibungen, hält sich fern vom Klischee. Und zeigt, welchen Erzählsog die Suche nach einem verschwundenen Haustier entwickeln kann.»

Nach einem irritierenden, unverständlichen Prolog, der den Schluss des zweiteiligen Romans zumindest atmosphärisch vorwegnimmt, glaubt man sich anfangs in einer Pippi-Langstrumpf-artigen Geschichte. Deren nicht minder vorlaute, selbstbewusste, elfjährige Heldin hört auf den schönen Namen ‹Kerze› als Symbol des Lichts, welches sie ins Dunkle bringt. Weniger symbolisch trägt der verschwundene Hund ihrer Nachbarin, der alten Hitschke, den Namen ‹Power›, ein eher profaner Einfall seines Frauchens. Als die nämlich überraschend nach dem Namen des noch ungetauften Welpen gefragt wurde, fiel ihr Blick zufällig auf eine Kaffeemaschine, deren Einschalttaste so beschriftet war. Dieser inzwischen ebenfalls elfjährige Hund ist eines Tages verschwunden, und Kerze verspricht der untröstlichen Alten, ihn zu finden. Was folgt ist eine intensive Suchaktion des Mädchens im angrenzenden Wald, der sich, die großen Ferien haben gerade begonnen, nacheinander auch sämtliche Kinder des 200-Seelen-Dorfes anschließen. Was wie ein kindliches Abenteuerspiel beginnt, nimmt schon bald geradezu kafkaeske Züge an: Die Kinder kommen nicht mehr nach Hause, bleiben wochenlang im Wald, bewegen sich auf allen Vieren, beginnen zu bellen, ja sie basteln sich sogar einen Schwanz, den sie sich umbinden und mit dem sie wedeln, wie ein Hunderudel hausen sie zusammen in einem tiefen Bombentrichter im Wald. Die alte Hitschke kocht ihnen aus Dankbarkeit täglich ein Essen, das sie in aller Herrgottsfrühe heimlich am Waldrand abstellt. Kein Erwachsener darf sich ihnen nähern, sämtliche Rückhol-Aktionen ihrer genervten Eltern scheitern kläglich, die Kinder weichen ihnen geschickt aus und bleiben unauffindbar.

Um den eher banalen Kern dieser chronologisch erzählten Geschichte herum entwickelt sich in parallelen Handlungssträngen, durch Rückblenden angereichert, ein nachdenklich machendes Szenarium der Radikalisierung, als deren Ursache sich die erschreckende Kontaktarmut erweist. Das Leitmotiv des spurlosen Verschwindens wiederholt sich auch bei den Menschen, der Mann der alten Hitschke war eines Tages ebenso plötzlich nicht mehr da wie die Frau des Huberbauern von nebenan, beide Male ausgelöst durch ein geradezu abnormes Fehlen jedweder emotionaler Bindung, das sich in gleicher Weise dann auch auf den Sohn des Bauern erstreckt. Und auch die alte Frau verlässt klammheimlich für immer ihr Haus und das Dorf, dessen Bewohner «Hitschke-raus» skandieren und sie mit Wandschmierereien zunehmend terrorisieren, weil sie mit ihrem verschwundenen Hund letztendlich für das unerklärliche Verhalten der Kinder verantwortlich sei. Insoweit ist der Roman eine exemplarische Studie der grassierenden gesellschaftlichen Verrohung, hochaktuell also!

Sprachlich uninspiriert, zuweilen etwas holprig – wenn beispielsweise von «hektarlangen» Getreidefeldern die Rede ist – entwickelt Verena Güntner ihre verstörende Geschichte eines kindlich naiven Ausbruchs aus dem profanen Alltag als Allegorie auf das nur äußerlich wohlgeordnete soziale Gefüge einer eng benachbarten Dorfgemeinschaft. Die dabei entstehende Gruppendynamik ist psychologisch nachvollziehbar und anschaulich dargestellt, der Plot mündet allerdings, nachdem das Ganze völlig aus dem Ruder gelaufen ist, abrupt in ein leider allzu voraussehbares Ende, das dann doch wieder an Bullerbü erinnert.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by DuMont