Die Nibelungen

Uns ist in alten mæren wunders vil geseit

Die Büchner-Preisträgerin Felicitas Hoppe hat mit ihrem neuen Buch «Die Nibelungen» ein weiteres originelles Werk vorgelegt, das Mythen auf eine ganz eigene Art erzählt. Waren es bisher die Jungfrau von Orleans oder der Rattenfänger von Hameln, so ist es nun das in Worms beginnende Heldenepos, ein deutscher Stummfilm, wie es im Untertitel heißt, welches die Autorin auf ihre Weise neu bearbeitet hat. Sie bietet damit einen ungewöhnlichen Zugang zu dem mythologischen Stoff, dessen Inhalt sie als bekannt voraussetzt. Sie sei inspiriert worden «von dem verqueren Wunsch, ihn noch einmal ganz von vorn, bis hinein in die Gegenwart aufzurollen, jenseits von Aktualisierung und Kitsch, den größten Feinden der Rezeption eines Mittelalters, von dem wir nach wie vor wenig wissen», hatte sie vorab in einem ‹Werkstattbericht› erläutert.

In drei Kapiteln wird die sattsam bekannte, kanonische Geschichte in groben Zügen nacherzählt, unterbrochen jeweils von einem Kapitel «Pause». Zur Erläuterung der einzelnen Szenen werden, quasi als Reminiszenz an den Stummfilm, viele erläuternde Texttafeln zwischengeschaltet, was die Orientierung in der manchmal slapstickartig turbulenten Handlung durchaus erleichtert. Das mythische Geschehen selbst wird als alljährliches Festspiel in Worms unter freiem Himmel aufgeführt, ein wichtiges, touristisches Event. In den beiden langen Pausen werden die zahlreichen Darsteller, in einem erfrischend witzigen Plauderton, zu ihrer Rolle und ihrer Haltung zu dem Epos befragt. Als «Zeuge im Beiboot» beobachtet die im Abspann als Drehbuchautorin aufgeführte Felicitas Hoppe das kitschig inszenierte Schauspiel aus einer kritischen Distanz. Der vielbeschäftigte Tod wird dabei von einem «Laien aus Worms in einem Trainingsanzug von Woolworth» verkörpert, die Begleitmusik liefert der örtliche Männer-Gesangsverein, der Drache ist aus Pappmaschee. Mit «Die goldene Dreizehn» als Metapher bezeichnet die Autorin den im Rhein versenkten Schatz, der sich als ständig mutierender, unentwegt herum streunender Algorithmus erweist. Er ist der eigentliche Mittelpunkt in diesem blutrünstigen Tanz ums Goldene Kalb, denn darauf laufe es letzten Endes ja immer hinaus, macht uns die Autorin deutlich.

Sie benutzt dafür sehr virtuos drei Erzählebenen: Zum einen die Wormser Freilichtbühne mit ihrer massentauglichen, modernen Inszenierung der uralten Sage, die von ihr kräftig durch den Kakao gezogen wird, ferner der Stummfilm als dialogloser, künstlerisch anspruchsvoller Plot mit den Fakten sowie, kontemplativ besonders ergiebig, die schlagfertigen Pausen-Interviews, in denen auch das Theaterleben als solches karikiert wird. In einer Mischung aus intellektuell höchst anspruchsvollen Reflexionen mit immer wieder eingestreuten Späßen und Albernheiten brennt die Autorin ein erzählerisches Feuerwerk ab, das seinesgleichen sucht in der deutschsprachigen Literatur. Basis für Zitate ist die 2006 erschienene Übertragung des Nibelungenliedes von Uwe Johnson, szenisch wird auf den künstlerisch unerreichten Stummfilm von Fritz Lang Bezug genommen, der als einziger kitschfrei mit dem Stoff umgeht.

Stilistisch wortmächtig, thematisch anspruchsvoll, zugleich aber auch wohltuend albern, gelingt diesem Buch das Kunststück, mit fließenden Grenzen der abgedroschenen Sage nicht nur eine neue Sichtweise abzugewinnen, sondern auch auf witzige Art angenehm zu unterhalten. Alles in allem also ein raffiniert angelegtes literarisches Vergnügen, das im Nebeneffekt auch so manchen Leser dazu animieren dürfte, erstmals, oder mal wieder, entweder zum Original zu greifen oder diese Sage in moderner Übertragung nachzulesen, notfalls auch als Sachbuch. Und dabei stößt er womöglich dann auf den in Mittelhochdeutsch geschriebenen, ersten Satz des handschriftlich überlieferten Textes, den man früher in der Schule sogar auswendig gelernt hat: «Uns ist in alten mæren wunders vil geseit, von helden lobebæren, von grôzer arebeit».

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Mein Lieblingstier heißt Winter

Morbide Philosophie-Groteske

Es ist sein erster, dieser Roman, «Mein Lieblingstier heißt Winter». Schreibt sonst Theaterstücke, der Ferdinand Schmalz da, Dramatiker aus Österreich. Hat den Bachmannpreis gewonnen 2017, mit dem Kern seiner Geschichte, in Kleinschrift natürlich. Das bleibt ihm erspart, dem Leser heute, immerhin! Ist ein ziemlich schräger Roman draus geworden inzwischen, nominiert für den Frankfurter Buchpreis. Ob preisverdächtig, kann man schwer nur voraussagen, massentauglich wohl kaum, der Sprache wegen. Obwohl, nicht schwer zu lesen, gewöhnt man dran ziemlich schnell sich. Kann man ja gleich ausprobieren hier!

Ein Triceratops wird am Anfang da, im verlassenen Saurierpark, sauber geschrubbt. Soll wieder eröffnet werden, der Park. Die Firma Schimmelteufel hat den Auftrag, reinigt alles, Saurier und Tatorte. Der Schlicht wiederum, Verkaufsfahrer für Tiefkühlkost, bekommt ein makabres Angebot. Von dem Schauer, krebskranker Stammkunde, immer Rehragout 14tägig. Will sich in die Tiefkühltruhe legen, Suizid begehen drinnen. Er, Schlicht, soll die Leiche in den Wald verbringen dann, die Nachkommen zu schonen, absolut diskret, wird auch gut bezahlt dafür. Ist aber leer, die Truhe dann, nicht wie vereinbart, muss also die Leiche er suchen, der Schlicht. Und trifft dabei auf allerlei komische Leute. Auf den Ingenieur zuerst. Der hat sich, verbarrikadiert hat der sich regelrecht, Selbstschuss-Anlage, die Fenster zugemauert. Trifft auch auf die Tatortreinigerin Schimmelteufel. Und auf den Ministerialrat, hohes Tier, einflussreich, nur dass er Weihnachts-Schmuck sammelt, von den Nazis allerdings. Sehr merkwürdig das, ist doch erpressbar geworden dadurch. Und sie schließt sich an, dem Schlicht, bei der Suche, Schauers Tochter, die Astrid, muss doch Gewissheit haben.

Allesamt eine eng ineinander verstrickte Gesellschaft das, sumpfig, in Schmutz und Blut sich suhlend. Ein kleines Ensemble morbider Figuren, Sinnbild für ein vor sich hingammelndes Österreich, die Todessehnsucht zuhause dort. Also Nestbeschmutzung, literarisch ja typisch dorten, häufig zumindest. Es ist das alles, diese Geschichte vom Tod, ziemlicher Nonsens, aber lustig. Alle stecken unter einer Decke, wie er bald merkt, der mit dem treffenden Namen, der Schlicht, der Eismann also. Und halten zusammen da in ihrem Selbstmordclub, selbstbestimmtes Sterben als Zweck. Macht dann aber doch nicht jeder mit, hält sich einfach nicht dran, kommen nämlich schon mal Frauen dazwischen. Wie die Astrid, als Sadomaso-Gespielin von dem Ministerialrat, mit dem Codewort «Rehragout» für den Not-Ausstieg. Hat sich’s halt anders überlegt deshalb, der Suizid-Kandidat, macht ja doch richtig Spaß, so was. Trifft die Putzteufel auch, der Schlicht, dieses skrupellose Weib, Erpressung war bei der im Spiel sogar. Und der Tiefkühl-Fahrer dann landet im Sarg, zuletzt, lebendig begraben. Nicht ein Nervenkitzel nur, sondern eine verhängnisvolle Verwechslung, beinahe tot schon. Und der Anatom kommt auch noch ins Spiel jetzt, da im Seziersaal drinnen, mit dem scheintoten Schlicht obendrauf auf dem metallenen Arbeitstisch.

Trotz aller Theatralik darin, bei dem Autor kaum verwunderlich, ist dieser aberwitzige Plot vom Leben und Sterben, ist er tatsächlich doch ziemlich dialogarm geraten. Stilistisch wird eine eigentümliche Kunstsprache benutzt dabei, die zunächst abschreckend wirkt auf nichtsahnende Leser dann. Hat man ja so nicht so oft. Erzählt wird äußerst metaphernreich, allerdings auch recht eintönig mit der Zeit, ermüdend, ohne sprachliche Variationen darin. Eine dem Dialekt nahe Kunstsprache ist das, eine verquere Syntax nutzend, invertierte Satzstellungen vor allem. Häufige Wort-Wiederholungen und dem Subjekt vorangestellte Pronomen benutzt der Schmalz hier. Einem dem Mündlichen nahe kommenden Rhythmus folgend, verwendet er seine ureigene Diktion. Und die wirkt doch arg holzschnitt-artig, mit einer morbiden Komik obendrein, als Philosophie-Groteske unterhaltsam, mehr aber nicht.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Blaue Frau

MeToo

Acht Jahre lang hat Antje Ravik Strubel an ihrem neuen Roman mit der Titel «Blaue Frau» gearbeitet, wie sie im Nachwort schreibt, und das hat sich offensichtlich gelohnt, denn er wurde jüngst in die Shortlist für den Deutschen Buchpreis aufgenommen. Man darf spekulieren, was dafür ausschlaggebend war, die hochaktuelle Thematik oder das variationsreiche Roman-Konstrukt, welches «aufwühlend in einem großen Spannungsbogen» von einer Gewalterfahrung und ihren fatalen Folgen berichtet, wie die Jury zu ihrer Entscheidung verlauten ließ.

Adina, letzter Teenager in einem zunehmend entvölkerten Dorf im tschechischen Riesengebirge, verlässt 2006 nach dem Schulabschluss ihre Heimat, um in Berlin einen Intensiv-Sprachkurs zu absolvieren und anschließend dort ein Studium der Geowissenschaften aufzunehmen. Sie trifft auf eine Fotografin aus der Boheme, der sie Modell sitzt und der es gelingt, in den Fotos ihr zweites, männliches Ich, «den letzten Mohikaner», ans Licht zu holen. Sie hatte dieses Pseudonym für ‹Rio›, ihren bevorzugten Chatroom im Internet, ausgewählt, ein Symbol für ihr aussterbendes Dorf und ihre bedrückende Verlorenheit in der Fremde. Die lesbische Fotografin ist es dann auch, die ihr eine Praktikanten-Stelle in einem neuen Kulturzentrum auf einem Landgut in der Uckermark vermittelt. Dort wird sie von einem europäischen Kulturpolitiker, der zu Gesprächen über Fördergelder eingeladen ist, brutal vergewaltigt. In Panik flieht sie und landet nach einer abenteuerlichen Odyssee schließlich in Helsinki. Als Illegale arbeitet sie dort in einem Hotel, wo sie Leonides, einen estnischen EU-Abgeordneten und hochangesehenen Professor, kennen lernt, der sich vornehmlich der Menschenrechts-Thematik widmet. Als Adina anderthalb Jahre später auf einem Empfang, zu dem sie Leonides begleitet, ihren Peiniger wiedersieht, flüchtet sie Hals über Kopf und versteckt sich in einer eiligst angemieteten, möblierten Wohnung. Niemand weiß, wo sie abgeblieben ist, bis sie sich einer Aktivistin für Frauenrechte anvertraut, die ihr helfen soll, ihren Peiniger vor Gericht zu bringen.

«Blaue Frau» ist ein ambitionierter Roman nicht nur über Gewalt an Frauen und den dornenreichen Weg aus dem inneren Exil, in das sich seine Heldin geflüchtet hat, er widmet sich auch engagiert den politischen Abgründen Europas, dem unwürdigen Gezerre der Mitgliedsstaaten um Subventionen und kulturelle Fördertöpfe. Wobei die Ost/West-Differenzen ebenso eine Rolle spielen wie die unterschiedliche Stadt/Land-Lebensweise oder die DDR-Vergangenheit, die in der Person des skrupellosen Kulturzentrum-Gründers, einem ehemaligen NVA-Offizier mit nützlichen Seilschaften, exemplarisch zum Ausdruck kommt. Stilistisch ist der Roman durch seine kunstvoll ineinander verflochtenen Handlungs-Stränge geprägt, ferner durch eine immer wieder eingestreute, atmosphärisch stimmige und zum Geschehen passende Beschreibung der Natur, sei es im Riesengebirge, in der Uckermark oder in Finnland. Auch das quirlige Berlin ist mit seinem Flair und dessen Wirkung auf das tschechische ‹Landei› wunderbar treffend beschrieben.

Mit erstaunlichem Einfühlungs-Vermögen wird das Innere der Protagonistin tief ausgelotet, werden minutiös ihre Wahrnehmungen in der fremden Umgebung beschrieben. Andererseits belässt die Autorin das seelisch Verletzte ihrer Heldin in einer diffusen Ungewissheit, indem sie ihr beispielsweise, neben dem Kraft symbolisierenden ‹Mohikaner›, mit Adina, Nina und Sala drei mental nicht immer deckungsgleiche Namen gibt. Dazu trägt aber auch die titelgebende «Blaue Frau» selbst mit bei, eine der Protagonistin in kurzen Auftritten erscheinende, mystische Figur, die mit der Autorin identisch zu sein scheint und im Prozess des Schreibens die poetologische Linie vorgibt. Mit dieser Methode hält sie den Leser salopp gesagt bis zuletzt ‹bei der Stange› und bietet ihm reichlich Raum für eigene Interpretationen. Eine literarisch hochstehende Lektüre wartet hier auf anspruchsvolle Leser!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Daheim

Artifizielle Unbehaustheit

Sieben Jahre nach dem Erstling ist kürzlich unter dem Titel «Daheim» der zweite Roman von Judith Hermann erschienen. Die für ihre Kurzgeschichten hoch gelobte Schriftstellerin erzählt hier von einer Frau, die alles hinter sich lassend von der Stadt in die Einsamkeit Nordfrieslands zieht. Auf die Interview-Frage, was ‹Daheim› denn eigentlich sei, hat die Autorin geantwortet: «Ein utopistischer, märchenhafter Ort», das Wort tauche übrigens im Text nur ein einziges Mal auf, fügte sie noch hinzu.

Die namenlose, 47jährige Ich-Erzählerin erinnert sich im Rückblick an ihre dreißig Jahre zurückliegende Begegnung mit einem Zauberer. An der Tankstelle wurde sie von einem älteren Herrn angesprochen, der sie als Assistentin für seine Show mit der zersägten Jungfrau auf einem Kreuzfahrtschiff nach Singapur engagieren wollte. Aber sie hatte sich damals anders entschieden, hat Otis geheiratet, eine Tochter bekommen und sich, nachdem Ann das Elternhaus verlassen hat, von ihrem Mann getrennt. Nun lebt sie einsam in einem kleinen Haus an der Küste gleich hinterm Deich, kellnert bei ihrem Bruder in einer schäbigen Touristen-Kaschemme und versucht, in der Fremde heimisch zu werden. Ihre Tochter, die mit ihrem Freund irgendwohin unterwegs ist, meldet sich nur ganz selten mal per Skype und sagt nicht von wo. Mit ihrem Ex-Mann tauscht sie sich ab und zu brieflich aus. Allmählich freundet sie sich mit ihrer burschikosen Nachbarin Mimi an, der ehemaligen Freundin ihres Bruders. Der lebt jetzt mit der vierzig Jahre jüngeren, chaotischen Nike zusammen. Auf dem benachbarten Bauernhof betreibt Mimis wortkarger, eigenbrötlerischer Bruder Arild eine Schweinezucht, die Beiden haben schon bald ‹unverbindlich› Sex miteinander.

Von einer Handlung kann man eigentlich kaum sprechen in diesem Roman, der von psychotischen Sonderlingen bevölkert ist, die als typische Einzelgänger kontaktarm und emotional verkümmert neben einander her leben. Der lebensuntüchtige, aber angeberische Bruder der Erzählerin ist Kneipier geworden, seine Mesalliance mit Nike endet tragisch. Der Ex-Mann ist ein Musterexemplar von einem Messi, der in seinem angesammelten Müll zu ersticken droht. Arild lebt geradezu asketisch allein auf dem von seinen Eltern übernommen Bauernhof, in einer schon fast pathologisch peniblen Ordnung und Sauberkeit. Gemeinsam sind dem ambivalenten Figuren-Ensemble die Versagensängste und ihre verschiedenartig ausgeprägte Unbehaustheit. Die verhaltensgestörte Nike wurde von der Mutter oft tagelang in eine Kiste eingesperrt, ein Leitmotiv dieses Romans. Es findet sich in der Kiste des Zauberers, aber auch in einer Marderfalle wieder, die Arild aufstellt, als es nachts im Dachgestühl der Erzählerin andauernd rumort. Sie und ihr Bruder hatten als Kinder keinen Wohnungs-Schlüssel und mussten im Treppenhaus warten, bis die alleinerziehende Mutter nach Hause kam, manchmal bis zum frühen Morgen.

Leere und Fülle, Nähe und Distanz sind die bestimmenden Pole dieses erzählerischen Kosmos. Sprachlich suggeriert die für Judith Hermann symptomatische Parataxe zusammen mit den spröden Dialogen ein Bild unbedingter Realität, Seelisches wie Emotionen, Träume, Leidenschaften und Lebensfreude haben da partout keinen Platz. Die als Handlungsort gewählte, karge Landschaft ‹hinterm Deich› betont diese Intention wirkungsvoll. Auch Klimawandel und Massentierhaltung werden am Rande thematisiert in diesem Roman. Vieles aber bleibt offen, wird nur angedeutet und der Fantasie des Lesers überlassen, so auch der kryptische Schluss. Ein Effekt dieses artifiziellen Stils ist zudem, dass man schon wenige Tage später kaum noch weiß, worum es denn überhaupt ging in diesem Buch, es hinterlässt keine Bilder, die sich eingeprägt hätten, und keine Figuren, die einem ans Herz gewachsen wären. Dieser Roman dürfte für viele Leser eine herbe Enttäuschung sein, sie werden das Buch am Ende erleichtert zur Seite legen, wenn sie denn überhaupt so lange durchgehalten haben!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Chronik eines angekündigen Todes

Mord und Moral

Zu den bekanntesten Werken des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel Garcia Márquez gehört der 1981 erschienene Roman «Chronik eines angekündigten Todes». Die Geschichte geht auf eine wahre Begebenheit zurück. Im Stil des Magischen Realismus geschrieben, zu deren wichtigsten Vertretern der ein Jahr später mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Autor zählt, gehört der schmale Band inzwischen zu den südamerikanischen Klassikern.

«An dem Tag, an dem sie ihn töten sollten, stand Santiago Nasar um fünf Uhr dreißig morgens auf, um das Schiff zu erwarten, mit dem der Bischoff kam». In diesem ersten Satz steckt bereits ein Teil der beißenden Kritik des Autors, Bischoff und Töten werden in einem Atemzug genannt, Ursache und Wirkung also einer rigiden katholischen Sexualmoral, die dem fragwürdigen Ehrenkodex einer naiven, dörflichen Bevölkerung zugrunde liegt. Es ist die Geschichte einer pompösen Hochzeitsfeier und ihrer Folgen. Der erst vor wenigen Monaten in das Dorf gekommene, reiche und charismatische Bräutigam hat sich spontan ein schönes, junges Mädchen zu Braut erwählt. Die ist aber gar nicht begeistert, da sie ihn kaum kenne und nicht liebe. «Auch die Liebe lässt sich lernen», hält ihr die resolute Mutter entgegen, die Eltern stimmen der geplanten Ehe erfreut zu. Als die Schöne ihrer Mutter gesteht, dass sie keine Jungfrau mehr sei, werden ihre Bedenken dahingehend zerstreut, es gäbe da einschlägige Hebammen-Tricks, um dem meist ja ziemlich betrunkenen Bräutigam die geforderte Unberührtheit vorzugaukeln. Die Sache geht schief, nach der Hochzeitsnacht bringt der Bräutigam seine Braut zu den Eltern zurück, als Reklamation quasi. Die wütende Mutter prügelt aus ihr den Namen des Verführers heraus, Santiago Nasar sei es gewesen, ein arabisch-stämmiger junger Mann aus der Nachbarschaft. Die Zwillingsbrüder der Braut führen sich verpflichtet, die Familienehre wieder herzustellen, indem sie den Verführer töten. Der Skandal ist da, jeder im Dorf weiß davon, und jeder weiß auch, was nun geschehen wird.

Der Ich-Erzähler kommt 27 Jahre später in sein Heimatdorf zurück und spricht mit vielen Beteiligten über das noch fest in der gemeinsamen Erinnerung verankerte Geschehen von damals. Die aus seiner Perspektive erzählte Geschichte erscheint nicht nur im Nachhinein völlig grotesk, es bleiben auch viele Fragen offen. Niemand habe das ahnungslose Opfer nachdrücklich vor den auf ihn lauernden Zwillingen gewarnt, keiner habe versucht, die Tat zu verhindern, die meisten aber nahmen die Drohung überhaupt nicht ernst. Die journalistisch knappe Erzählweise klammert beispielsweise die Vorgeschichte der Entjungferung ebenso aus wie das Geschehen in der Hochzeitsnacht. Nur vage wird angedeutet, dass der mit einer andern Frau verlobte Santiago Nasar mutmaßlich nicht der Verführer gewesen sei, was seine Sorglosigkeit erklärt, als er wenige Minuten vor dem Mord doch noch von der Drohung der Zwillinge erfährt.

Garcia Márquez legt den Fokus seiner Erzählung konsequent auf die Umstände vor der Tat, er blendet also alle für die Tat selbst nicht relevanten, voraus gegangenen Geschehnisse bewusst aus. Eine puristische, auf jegliche Spannung verzichtende Erzählweise, die den religiös indizierten, moralischen Irrwitz, der hier geradezu satirisch thematisiert wird, genau deshalb umso deutlicher bloßlegt. Dazu tragen insbesondere auch seine allesamt recht einfältig wirkenden Figuren bei, deren oft verschrobene, undurchsichtige Charaktere er nicht beschreibt, sondern durch ihr irreales Handeln verdeutlicht. Selbst die beiden Täter haben Zweifel an ihrer vermeintlichen Ehrenpflicht. Sie tun alles, um ihr zu entgehen, indem sie ihre Absicht lautstark ankündigen in der Hoffnung, jemand würde beherzt eingreifen und sie vom Tatzwang befreien. Ein fast kammerspielartiges Setting macht diesen kleinen Roman zu einem nachwirkenden Leseerlebnis, dessen offene Fragen den Leser noch lange beschäftigen, gerade weil sie so abstrus erscheinen.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Johanna

Verquer, aber emotional anregend

«Johanna», der 2006 erschienene dritte Roman von Felicitas Hoppe, widmet sich der französischen National-Heldin Jeanne d’Arc, die am 30. Mai 1431 auf dem Marktplatz von Rouen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Doch ist dies mitnichten ein historischer Roman, das kurze Leben der 1920 heiliggesprochenen, von vielerlei Mythen umwobenen Jungfrau von Orleans dient hier lediglich als Gegenstand einer Dissertation. Der 2012 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichneten, literarisch vielseitig tätigen Schriftstellerin eilt der Ruf einer begnadeten Fabuliererin voraus. «In einer Zeit, in der das Reden in eigener Sache die Literatur immer mehr dominiert, umkreist Felicitas Hoppes sensible und bei allem Sinn für Komik melancholische Erzählkunst das Geheimnis der Identität», begründete die Darmstädter Jury die Preisvergabe. Der vorliegende Roman ist ein typisches Beispiel dafür.

Die namenlose Ich-Erzählerin geht als Doktorandin eigene Wege. Indem sie Johanna als Gottes Tochter ansieht, deutet sie deren Passion abseits historischer Überlieferungen als traumhafte Angstbewältigung. Sie versucht also, den dichten mythischen Nebel um diese Heldin des französischen Freiheitskampfes mit poetischen Methoden zu lüften, indem sie das von so disparaten Mitteln wie Schwert und Gebet geprägte Geschehen intuitiv in seelische Kategorien umsetzt. Die von Offenbarungen angetriebene Jungfrau scheiterte bekanntlich an eben diesen, von der Inquisition als anmaßend bezweifelten und als ketzerisch verworfenen, göttlichen Botschaften. Die Autorin ignoriert in ihrer Erzählung radikal alle bisherigen literarischen Interpretationen, seien sie tendenziell religiös, politisch, moralisch oder sozialkritisch, negiert aber auch jeden nationalen Ansatz. Sie misst also auch dem Hundertjährigen Krieg zwischen Engländern und Franzosen keine Bedeutung zu. All diese literarischen Versuche werden als «verschrobene Knappenprosa» bespöttelt, die hoffnungslos am Kern vorbeigehe, dem Phänomen der historischen Figur also in keiner Weise gerecht werde.

Begleitet wird die Studentin bei ihren Forschungen von einem jungen, bereits promovierten Historiker, der ihrem emotionalen Ansatz skeptisch gegenübersteht, ihn als unwissenschaftlich ablehnt. Der immer wieder als furchteinflößendes Leitmotiv benutzte Rauch des Scheiterhaufens in Rouen findet seine Entsprechung im Rauchgestank, den die Kleidung ihres Doktorvaters penetrant verströmt. Eine weitere Analogie findet sich in der Angst. Johannas Angst vor der Inquisition entspricht der Angst der Doktorandin vor ihrer Prüfung, bei der sie wohl ebenfalls scheitert, aber das ist dann auch kaum noch wichtig. Denn weder die Romanfigur noch die Autorin selbst bieten eine neue Deutung der Mythen um Jeanne d’Arc an. Alle ihre Bemühungen dienen lediglich der vollständigen Aneignung und einer allfälligen Neuordnung dieses berühmten historischen Stoffes.

Der surreale Roman strotzt mit seinen zahlreichen Verästelungen nur so von Anspielungen, Zitaten, Vieldeutigkeiten und Rätseln, er erzeugt am laufenden Band die verschiedenartigsten Assoziationen. Und er führt den Leser als raffiniertes Traumspiel ganz bewusst ins undurchdringliche Dickicht der blühenden Phantasie seiner unkonventionellen Autorin. Vieles wird da nur vage angedeutet, so gut wie nichts wird rational verständlich ausgeführt oder gar erklärt. Alles erfordert vielmehr ein Weiterdenken, man muss den Faden jeweils selbst zu Ende spinnen, das wundersam Erscheinende durch eigenes Fabulieren ergänzen. Bei alldem ist eine gewisse Geschichtskenntnis unabdingbare Voraussetzung für den Lesegenuss, denn erklärt wird nichts, schon aus Prinzip nicht. Wer Handlung sucht ist hier jedenfalls auf dem Holzweg, es gibt keine. Dafür gibt es sprachliche Brillanz wie sonst selten, ein in postmoderner Prosa realisiertes virtuoses Spiel mit der existentiellen Unsicherheit. Als Roman ziemlich verquer, emotional aber wohl gerade auch deshalb äußerst anregend.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Wie Proust Ihr Leben verändern kann

Eine Entmystifizierung

Alain de Botton versucht in seinem Buch «Wie Proust Ihr Leben verändern kann», das den deskriptiven Untertitel ‹Eine Anleitung› trägt, bei seinen Lesern eine Art literarische Bewusstseins-Erweiterung zu bewirken. Nicht zuletzt dürfte er damit aber auch den Zweck verfolgen, das siebenbändige, monumentale Werk des französischen Jahrhundert-Schriftstellers, den Romanzyklus «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit», zu entmystifizieren. Und natürlich auch einem größeren Leserkreis die Angst vor der schieren Textmasse zu nehmen. Der erste Band von «À la recherche du temps perdu» erschien 1913, der letzte dann 1927.

In neun Kapiteln, deren Überschriften alle mit ‹Wie› anfangen, destilliert Alain de Botton all die Erkenntnisse, die man aus der Lektüre der ‹Recherche› ziehen kann. Dabei geht es um das Unglücklichsein ebenso wie um richtiges Lesen und um das Problem, genügend Zeit für die Lektüre zu erübrigen. Das vierte Kapitel widmet er den tatsächlichen oder vermeintlichen Leiden des ewigen Hypochonders, der seine Zeit am liebsten im Bett verbracht hat und an allem litt, was von außen in sein hermetisch abgeschlossenes Zimmer eingedrungen ist, Licht, Lärm und Gerüche. Proust hasste auch jedwede sprachliche Gedankenlosigkeit, seien es gestelzte Modeworte oder gedankenlose Phrasen und Plattitüden. Es folgt ein Kapitel über die Art, Freundschaften zu pflegen, in dem man erfährt, wie rücksichtsvoll Proust sich stets verhalten hat, selbst wenn ihm sein Gegenüber eher unsympathisch war. Bezeichnend dafür ist ein Festbankett, wo er nach der Uraufführung von Strawinskys Ballett ‹Reinecke Fuchs› auf James Joyce traf. Die beiden berühmten Schriftsteller hatten sich rein gar nichts zu sagen! Egal wie sich Proust auch bemüht hat, mit ihm ins Gespräch zu kommen, Joyce hat ihn immer nur stumm angestarrt.

Unterschiedlicher als ‹Ulysses› und ‹Recherche› können Romane ja auch kaum sein, wen wundert es da, dass ihre Autoren sich fremd blieben. Dem extrem fragmentarischen, äußerst vielschichtigen und assoziationsreichen Bewusstseinsstrom von Leopold Bloom bei seinem Streifzug durch Dublin steht bei Proust eine ausufernd detaillierte, alle denkbaren Aspekte eines Gegenstandes oder Ereignisses akribisch ausleuchtende Beschreibungskunst gegenüber, die man negativ auch als Beschreibungswut bezeichnen könnte. Alain de Botton verdeutlicht auf eindrucksvolle Weise, dass es wohl keinen Schriftsteller gibt, der genauer hinsieht als Proust. Der es ja fertigbrachte, das Kirchenfenster einer Kathedrale auf dutzenden von Seiten bis zum letzten Farbschimmer zu beschreiben. Vor dieser Sprachvirtuosität hat dann sogar Virginia Woolf kapituliert, wie wir im Buch erfahren. Denn als sie sich nach Jahren erstmals an die Lektüre der ‹Recherche› herangewagt hat, hätte das zunächst mal eine veritable Schreibblockade bei ihr ausgelöst. Wenig überzeugend ist Proust als Berater in Sachen Liebe, wie wir im achten Kapitel erfahren, seine eher asexuelle Vita wie auch sein ebenso asexuelles Opus magnum prädestiniert ihn jedenfalls nicht als Experten, auf dessen Rat man in diesen Dingen hören sollte. Als Ratgeber ergiebiger ist da das letzte Kapitel, in dem die Vorzüge des Lesens beschrieben und die Grenzen einer Lektüre aufgezeigt werden.

Bleibt die Frage, was man als Leser aus diesem Buch mitnehmen kann für künftige Leseabenteuer. Die lockere, amüsante Art, mit der Alain de Botton sich dem verwöhnten Muttersöhnchen nähert, garantiert einige vergnügte Lesestunden. Außerdem erfährt man en passant nicht nur manche Details aus dessen Leben, sondern auch über Zeitgenossen, die zum Teil als Vorlage für seine Figuren dienten. Erhellt werden zudem einige reale Hintergründe für die ‹Recherche›, angefangen bei der berühmten, einen Erinnerungsschub auslösenden ‹Madeleine› als Teegebäck bis hin nach Combray, einem der Handlungsorte. Zu dem pilgern heute die Proust-Jünger, um Tante Leonies Haus zu besuchen und im Ort die ‹originalen› Madeleines zu kaufen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Sachbuch
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Schachnovelle

Zeitloses Lesevergnügen

Als typisches Werk der Exilliteratur wurde die «Schachnovelle» von Stefan Zweig 1942 posthum erstmals in Kleinstauflage in Buenos Aires veröffentlicht. Im argentinischen Exil geschrieben, gilt sie heute als bekanntestes Buch dieses Schriftstellers, das inzwischen weit über eine Millionen Mal verkauft wurde. Anfang der siebziger Jahre wurde diese Novelle auch in Deutschland wiederentdeckt, sie gilt seitdem als zeitloser Bestseller. Als geradezu exemplarisches Werk gehört sie mit ihrem ausgefeilten Plot inzwischen nicht nur zum literarischen Kanon, sie wird immer wieder auch als Schullektüre herangezogen, wie die vielen angebotenen Lektüreschlüssel belegen.

Auf einem Passagierdampfer nach Buenos Aires erfährt der Ich-Erzähler, ein österreichischer Emigrant, dass sich der amtierende Schachweltmeister Czentovic ebenfalls an Bord befindet. Der aus einfachen Verhältnissen stammender Waise war von einem Pfarrer großgezogen worden, blieb trotz aller Bemühungen jedoch ein ungebildeter, verstockter Bursche. Bis er sich durch Zufall als Schachgenie erweist, in kurzer Zeit bis in die Profiwelt aufsteigt und als Zwanzigjähriger sogar Weltmeister wird. Dabei zeigt er sich als besonders geldgierig, zudem ist er als Mensch schroff und unsympathisch. Ein mitreisender amerikanischer Millionär fordert den Weltmeister spontan zu einem von ihm fürstlich honorierten Spiel heraus und verliert natürlich. Es kommt zu einer Revanche, bei der jetzt jeder mit dem Millionär zusammen als Gruppe gegen den Champion antreten darf, eine große Zahl an Zuschauern verfolgt gebannt das Spiel. Nach einigen Zügen greift, als die Gruppe sich auf einen Zug geeinigt hat, unvermittelt einer der Zuschauer ein und empfiehlt einen ganz anderen Zug, der wenigstens ein Remis erzwingen würde, – und so kommt es auch! Eine weitere Partie lehnt der Unbekannte aber ab, er habe ja seit seiner Zeit als Pennäler vor keinem Schachbrett mehr gesessen.

Dem neugierig gewordenen Ich-Erzähler berichtet Dr. B. nun davon, wie er nach dem Anschluss Österreichs von den Nazis in Isolationshaft genommen wurde, um Informationen über seine anwaltliche Tätigkeit für den Klerus aus ihm herauszupressen. Um der immer unerträglicher werdenden psychischen Folter des absoluten Alleinseins und Nichtstuns zu entgehen, nutzt Dr. B. eine Gelegenheit und entwendet ein Buch, das sich als Sammlung meisterlicher Schachpartien erweist. Zunächst mit improvisiertem Brett und aus Teig gekneteten Figuren füllt er nun seine Zeit mit Schach, wobei das Spiel schon bald nur noch in seinem Kopf stattfindet. Er tritt als Ich-Schwarz gegen sich selbst als Ich-Weiß an. Mit der Zeit gerät er in einen wahnhaften Zustand, den er selbst als ‹Schachvergiftung› bezeichnet. Er erleidet durch die permanente Aufspaltung seiner Persönlichkeit schließlich einen Tobsuchtsanfall, wird wegen Unzurechnungsfähigkeit entlassen und zur Ausreise ins Exil gezwungen.

Stefan Zweig lässt in seiner spannenden Geschichte zwei Figuren aufeinander treffen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Da ist der einseitig begabte, ungehobelte, maulfaule Czentovic, der seine Tourneen als Schach-Weltmeister lediglich des Geldes wegen unternimmt, teilnahmslos am Brett sitzt und äußerst rücksichtslos und brutal seinen Vorteil sucht. Er ist ein Naturtalent, das mit seiner Inselbegabung bei gleichzeitig autistischer Unbeholfenheit typische Merkmale eines Savant aufweist. Dr. B. hingegen ist ein intelligenter, eloquenter Jurist, der sich als Anwalt des Klerus bei der Rettung von Vermögen vor den Nazis selbst in große Gefahr begibt. Die Isolationsfolter, der er ausgesetzt wird, war damals noch eher ungewöhnlich, der Autor hat damit prophetisch in die Zukunft gedeutet. Diese nach goethescher Definition geradezu archetypische Novelle ist in einer angenehm lesbaren, nüchternen Sprache geschrieben, die geschickt zwei Innengeschichten über die Figuren in die maritime Rahmenhandlung integriert. Ein zeitloses Lesevergnügen!

Fazit: erstklassig

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Genre: Novelle
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Faserland

Pop-Trash

Der 1995 erschienene Debütroman «Faserland» des Schweizer Schriftstellers Christian Kracht hat damals nicht nur ein kontroverses mediales Echo ausgelöst, er hat auch eine ausufernde Debatte um seine Interpretation angestoßen. Vordergründig eine Roadnovel, im Kern allerdings ein kultur-pessimistisches Werk der Pop-Literatur. Auch wenn sein Autor diesen Begriff für sein Buch ablehnt, wurde es euphorisch als vermeintliches Gründungs-Phänomen einer sich abzeichnenden Renaissance genau dieser Literaturgattung bezeichnet.

Die zentrale Thematik der Selbstzerstörung in diesem Roman lässt verschiedene Interpretationen zu, man kann sie als pathologisch deuten oder aber als zynisch entlarvend. Der namenlose Ich-Erzähler ist ein etwa dreißigjähriger, ebenso arroganter wie dümmlicher Schnösel mit scheinbar unerschöpflichen Geldmitteln, der von einer Party in die nächste taumelt. Er verkörpert eine Sonderform des nichtsnutzigen Flaneurs, dessen Dasein von Sex, Drugs and Rock `n` Roll geprägt ist. Seine Reise von Sylt nach Zürich ist ziellos und von spontanen Launen bestimmt. Bekannte und Freunde, die er dabei trifft, sind ebenso skurrile Figuren wie er selbst. Es vergeht kein Tag ohne Alkohol- und Drogenexzesse, und wenn er nicht selber kotzt, dann kotzt einer seiner Freunde, das Kotzen gehört nun einfach mal dazu in diesem Roman.

Die Rolle des Protagonisten beschränkt sich auf das Zuschauen, er wird hineingezogen in das obskure Geschehen, ohne je dessen Initiator zu sein. Eine erzählwürdige Handlung existiert nicht wirklich in diesem langweiligen Zeitgeist-Roman. Das Wenige, das geschieht, wird in einer einfältigen, fast kindlichen Sprache geschildert und hat in seiner Absurdität Ähnlichkeit mit der spätrömischen Dekadenz. Wie die antike Oberschicht, die sich auf ihren Fressgelagen per Gänsefeder zum Kotzen gebracht hat, um danach munter weiter völlern zu können, so dröhnt sich hier der Antiheld aus dem gleichem Grund mit Alkohol voll. Er verkörpert quasi eine Art ‹Lustkotzer›, dem genau das Spaß zu machen scheint, er legt es jedenfalls bewusst darauf an. Die Freundschaften, die er pflegt, sind brüchig, mit Mädchen kann er scheinbar gar nichts anfangen, er weicht ihnen aus, den Sex haben immer die anderen, wenn sie nicht zu besoffen dafür sind. «Faserland» ist zudem das Fanal eines Konsum-Fetischismus, bei dem besonders Kleidung im Vordergrund steht als ästhetische Trivialität. Unzählige Produkt- und Markennamen wie auch angesagte Bars, Hotels und andere Locations ‹bereichern› den Erzählfluss des jugendlichen Müßiggängers. Dieser Markenwahn ist ein beredter Hinweis auf die sich Anfang der 90er Jahre bereits abzeichnende Entwicklung Deutschlands hin zu einer wohlstands-verwahrlosten Spaßgesellschaft. Während all dieser geschilderten Nichtigkeiten sinniert der Protagonist immer wieder über banale Kindheits-Erlebnisse und äußert zu allem und jedem seine naiv-dümmliche Meinung fernab jedweder intellektueller Reflektion.

Als Leiden an einer zur Kommunikation unfähigen Welt versinkt der Antiheld in einem bedrohlichen Sinnvakuum. Die aus seiner Identitätskrise resultierende Verzweiflung kann er nur unzureichend durch sein betont lässiges Verhalten kaschieren. Schließlich eskaliert seine lethargische Teilnahmslosigkeit am Zürichsee in einem Strudel von Selbstmitleid, das in keiner Weise gerechtfertigt ist. Vom teuersten Hotel der Stadt, in dem er Logis genommen hat, lässt er sich im Taxi nach Kilchberg zum Friedhof fahren. Dort befindet sich bekanntlich das Grab von Thomas Mann, das er aus einer Laune heraus besuchen will. In der Dämmerung findet er es aber nicht und geht zu Fuß zurück an den See. Für zweihundert Franken bringt er dort jemanden dazu, ihn im Dunkeln mit dem Ruderboot auf die andere Seite des Sees zu rudern. «Bald sind wir in der Mitte des Sees. Schon bald.» heißt es weihevoll am Schluss. Diesem Kultbuch soll nächstes Jahr eine Fortsetzung unter dem Titel «Eurotrash» folgen, allen Kracht-Fans sei es gegönnt!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Malé

Wenn ihr so weitermacht

Das neue Buch von Roman Ehrlich mit dem Titel «Malé» erinnert daran, dass der Menschheit neben dem weltweiten Corona-Desaster auch noch die Klimakatastrophe bevorsteht, ein weitaus schlimmeres Menetekel, dessen Auswirkungen unser Leben gründlich umkrempeln wird. In seinem Albtraum-Roman greift der Autor einen unübersehbaren Aspekt der vom Menschen verursachten Erderwärmung auf, das Ansteigen der Meeresspiegel. Und dessen verheerende Auswirkungen legt er am Beispiel von Malé, der Hauptstadt der Malediven, seinem dystopischen Roman als Szenario zugrunde. Darin ist der einstige touristische Sehnsuchtsort, als Staat längst untergegangen, von der Bevölkerung verlassen und dem Verfall preisgegeben, zum Zufluchtsort von allerlei Aussteigern geworden.

Der zeitlich in einer nahen Zukunft angesiedelte Roman handelt von Abenteurern, Utopisten, Weltverbesserern, Zivilisations-Flüchtlingen und auch von Verfolgten, die sich aus vielerlei Gründen dort verstecken, ein Whistleblower ist auch dabei. Dabei ist die Insel als nach außen abgeschlossener Raum ein bevorzugter Platz für Aussteiger und Realitäts-Flüchtige, die in den verfallenen Gebäuden ein alternatives Leben führen wollen. Einige von ihnen hätten, wie sie bekennen, gerne auch im Berlin der Nachwendezeit gelebt, wo bauliche Leerstände zeitweilig zur illegalen ‹Zwischennutzung› dienten. Er könne diesen Eskapismus gut verstehen, hat der Autor im Interview erklärt. Und hinzugefügt: «Die eigentliche Sehnsucht ist die Einschließung. Man will eingekapselt sein und alles an einem Ort haben, um dann Herr über diesen Ort sein zu können. Viele erhoffen sich das auch von der Insel – und je kleiner sie ist, desto besser».

Die Regierung ist durch einen Putsch von bewaffneten Milizen hinweggefegt worden, die «Eigentlichen» haben ihr Hauptquartier auf einem stillgelegten Kreuzfahrtschiff eingerichtet und sind in der Stadt fast nie zu sehen. In dem breit angelegten Figuren-Ensemble gibt es einen Vater, der auf der Insel nach seiner angeblich tot aufgefundenen Tochter sucht, eine bekannte Schauspielerin. Die hatte dort mit einem deutschen Lyriker eine Affäre. Inzwischen ist der Poet aber verschwunden und wird von einer amerikanischen Literatur-Wissenschaftlerin für ihre Forschungen dringend gesucht. Zum skurrilen Personal gehört ferner ein Professor, der als von allen respektierter Führer der Aussteigerclique gilt und in der Wohnung über der Bar «Blauer Heinrich» wohnt. Der Grill «Hühnersultan» dient als beliebter Treffpunkt der auf Malé Gestrandeten. Es gibt ferner eine athletische schwedische Schwimmerin, die nach einem Suizidversuch von ihrem platonischen Verehrer rundum bewacht wird. Sie träumt davon, aus dem am Strand reichlich angeschwemmten Plastikmüll die Basis für schwimmende Inseln zu schaffen, die künftig als Ersatz für die versunkenen Inseln des Archipels dienen sollen.

So lobenswert die Thematik des Romans ist, so zweifelhaft ist dessen narrative Umsetzung. Durch ständige Wiederholungen nerven die Beschreibungen des unsäglichen Chaos auf der Insel schon bald. Müll, Dreck, Ungeziefer, Leichen, Verwesung, Überflutung, und keine der vielen Matratzen in dem Buch ist nicht ‹versifft›. Auch die abenteuerlich benannten Figuren sind grotesk überzeichnet, ihre pathetisch vorgetragenen Lebensgeschichten sind es nicht minder. Halbe Seiten lange Passagen werden zudem wortwörtlich wiederholt, man reibt sich verwundert die Augen, weil man merkt, dass man genau das doch schon mal gelesen hat! Ein Plot ist nicht vorhanden, die Szenen sind fragmentarisch aneinandergereiht. Und alles bleibt vage, nichts wird zu Ende erzählt. Mit seiner eigenwilligen Erzählweise bleibt Roman Ehrlich immer kühl distanziert, man könnte hinter seiner apokalyptischen Szenerie sogar eine versteckte Ironie vermuten, frei nach dem Motto: ‹So könnte es euch gehen, wenn ihr so weitermacht›. Für Ironie aber gibt es keine Anzeichen, er meint es so, wie er es schreibt!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Alle unsere Gestern

Beten hilft nicht

Zu den frühen Werken der italienischen Schriftstellerin Natalia Ginzburg gehört «Alle unsere Gestern», ihr dritter Roman. Mit «Tutti i nostri ieri», wie er im Original heißt, hatte sie 1952 ihre literarische Kariere eingeleitet, seither zählt sie zu den Großen ihrer Zunft in Italien. Dem Buch vorangestellt hat sie ein Motto aus dem ‹Macbeth› von William Shakespeare, auf das sich auch der Buchtitel bezieht: «All of our yesterdays have lighted fools the way to dusty death». Ein resignatives Zitat aus dem Monolog des lebensmüden Tyrannen nach dem Tod seiner Frau, das man sinngemäß mit ‹Alle unsere Gestern haben Narren den Weg geleuchtet zum schmutzigen Tod› übersetzen kann. Es passt optimal zur düsteren Thematik dieses Romans, der das wechselvolle Leben einer italienischen Familie vor und im Zweiten Weltkrieg beschreibt. Dabei sind autobiografische Bezüge unverkennbar. Die auch politisch stark engagierte Grande Dame der italienischen Literatur wurde 1940 selbst in ein Dorf in den Abruzzen verbannt, das dem Handlungsort im zweiten Teil ihres Romans ähnelt.

Diese Geschichte einer Familie, die mit engen Freunden als Nachbarn in der Nähe von Turin wohnt, erzählt aus der Zeit des Faschismus. Dem Vater der heranwachsenden Kinder Anna, Concettina, Giustino und Ippolito gehört eine Seifenfabrik, die Familie lebt komfortabel in großbürgerlichen Verhältnissen. Weil er partout nicht einverstanden ist mit dem Faschismus und dem sich abzeichnenden Kriegseintritt Italiens, schreibt der Patriarch schon seit Jahren verbissen an einem Buch, mit dem er die tyrannischen neuen Machthaber entlarven will. In einem Anfall von Weitsicht verbrennt er schließlich aber sein Manuskript und stirbt dann, kurz vor dem von ihm befürchteten Kriegseintritt Italiens. Zur Familie gehört als Haushälterin auch Tante Maria, bei der als Faktotum alle familiären Fäden zusammenlaufen. Die älteste Schwester Concettina nimmt, nach all den vielen Verlobten, die sie schon hatte, ein opportunistisches ‹Schwarzhemd› als Mann. Über ihrem Ehebett hänge jetzt bestimmt ein Bild von Mussolini, wird gelästert. Ihre Brüder und viele der Freunde betätigen sich derweilen als Verschwörer im antifaschistischen Untergrund, einige landen sogar im Gefängnis.

Heimliche Heldin des Romans aber ist die eher unscheinbare, stille Anna, die als sechzehnjährige Schülerin von einem älteren Mitschüler schwanger wird, weil sie mit ihm «in die Büsche gegangen ist». Der 48jähriger Cenzo Rena, ein alter Freund der Familie, der ihr spontan seine Unterstützung bei der geplanten Abtreibung angeboten hat, macht ihr dann aber überraschend einen Antrag. Der erste Teil des Romans endet mit der Heirat Annas, sie folgt ihrem so deutlich älteren Mann in sein abgelegenes Bergdorf. Dort erweist sich, im zweiten Teil, Annas charismatischer Ehemann als absolut dominante Figur in seinem Dorf. Er kennt jeden, hat nicht zuletzt auch durch sein Geld großen Einfluss, alle sind ihm gewogen, vom einfachen Bauern bis zum Carabiniere und Bürgermeister. Im Privaten zeigt er sich als liebevoller Vater des nicht von ihm gezeugten Kindes. Als der Krieg schließlich das Dorf erreicht und mit ihm das Chaos, hilft ihm seine Weltgewandtheit, er spricht fließend Deutsch und Englisch.

Natalia Ginzburg hat in ihrer melancholischen Chronik des italienischen Alltagslebens im frühen 20. Jahrhundert dessen Auf und Ab in vielerlei Aspekten beleuchtet. Sie berichtet sensibel vom Schrecken ebenso wie von der puren Daseinsfreude. Ihre Figuren müssen sich am Leben abarbeiten und gehen nicht selten gestärkt aus den vielen Zumutungen hervor. «Beten hilft nicht», hatte der Patriarch früher immer gesagt, «wenn es einen Gott gibt, dann weiß er schon, was zu tun ist». Lakonisch, in einer geradezu minimalistischen Sprache, erzählt sie ihre Geschichte und legt damit Zeugnis ab von dieser unseligen historischen Epoche. Allein durch ihre unbedarft wirkende, den Figuren angepasste Sprache gibt es dabei auch viel zu Schmunzeln.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

1000 Serpentinen Angst

Dreifach diskriminiert

Im Themenspektrum zeitgenössischer deutscher Belletristik hat inzwischen auch die Rassismus-Problematik einen festen Platz, Olivia Wenzel liefert mit ihrem Romandebüt «1000 Serpentinen Angst» einen vielbeachteten Beitrag dazu. Die junge, künstlerisch vielseitig tätige Schriftstellerin, als ‹Afrodeutsche› in Weimar geboren, bezeichnet ihren autofiktionalen Roman im Interview mit der taz als «Coming-out als Nicht-Weiße». Ein Entwicklungsroman also, dessen Protagonistin nicht sie selber sei, sondern eine «düstere Variante» von ihr, mit der sie allerdings die titelgebende ‹Angst› gemeinsam habe. Nachdem sie aus Thüringen weggezogen sei, spüre sie deutlich eine Entspannung, im Bus schaue sie sich nicht mehr «die ganze Zeit um, ob irgendwo Nazis sitzen. Und ich schaue auch nicht, wer mit mir aussteigt».

Dieser Roman behandelt die Konsequenzen, die sich aus der dreifachen Diskriminierung als Farbige, Frau und Ossi für die namenlose, 35jährige Protagonistin ergeben. Ihr Vater musste die DDR verlassen und ist nach Afrika zurückgegangen, es besteht nur ein loser Kontakt mit ihm per E-Mail. Einmal hat sie ihn in Angola besucht, als erfolgreicher Geschäftsmann unterstützt er sie seit einiger Zeit auch finanziell. Die Mutter hatte als aufmüpfige Punkerin im sozialistischen Arbeiter- und Bauernparadies viele Probleme, sie hat mehrfach versucht, ihre Zwillingskinder wegzugeben und auszureisen. Auch heute steckt sie scheinbar immer noch in nicht genannten Schwierigkeiten, jedenfalls versteckt sie sich vor irgendwem. Der Zwillingsbruder nahm sich 17jährig das Leben, die einst linientreue Großmutter hat sich politisch nach rechts orientiert und wird bei der nächsten Wahl ‹die Rechten› wählen. Nach diversen heterosexuellen Affären und Beziehungen hat die Protagonistin in der Vietnamesin Kim eine lesbische Lebensgefährtin gefunden, und zu guter Letzt wird sie dann auch noch schwanger und ist damit ziemlich überfordert.

All dies ist nicht in einen als Handlung zu bezeichnenden Plot eingebettet, der dreiteilige Roman berichtet vielmehr extrem fragmentarisch davon, und zwar in einer an das Theater erinnernden, dialogischen Erzählform. Diese Gedankensplitter sind weder chronologisch noch thematisch geordnet, sie folgen eher der chaotischen Weise, in der verschiedenste Reflexionen gedanklich spontan verarbeitet werden. Leitmotivisch erscheint dabei häufig ein Verkaufsautomat, der einerseits die materielle Gier des Kindes nach Kaugummis oder irgendwelchem Tinnef ausdrückt, den man mittels Taschengeld aus dessen Schublade entnehmen kann. Die Ich-Erzählerin imaginiert ihn aber auch in den verschiedensten Träumen als einen Zufluchtsort vor den Bedrohungen der Welt, in den sie sich dann immer wieder verkriecht. Wegen ihrer Angstpsychose ist sie bei drei verschiedenen Therapeuten in Behandlung, ohne dass man ihr wirklich helfen kann. Ihre Probleme lägen ja nicht in der Vergangenheit, heißt es, sondern sind gegenwärtig. «Sie sind in unserem Land eben eine Minderheit» lautet lapidar die wenig hilfreiche Diagnose.

Stilistisch ungewöhnlich ist die verhörartige Erzählweise, mit der die Autorin ihr Thema rassistischer Ausgegrenztheit literarisch umsetzt, eine der Stimmen stellt immer wieder übergriffige Fragen. Die Sprache dabei ist lässig, ein flippiger, betont heutiger Jugendslang, der häufig mit englischen Einschüben angereichert ist und in seiner Lakonie oft zum Schmunzeln Anlass gibt. Wer da jeweils spricht bei diesen funkelnden Wortgefechten, das ist ungewiss, die Stimme aus dem Off beeinträchtigt jedoch weder Lesefluss noch Verständnis. «Woran denke ich, was unterschlage ich?» ist alles, was die Autorin vermitteln will. Und sie findet dafür in einer Art Katharsis eine versöhnliche Formel, indem sie bekennt, dass es ihr gut geht in Berlin und auch, dass sie ihre Identität keinesfalls verdrängen darf. Also versucht sie selbstbewusst, sich gesellschaftlich zu emanzipieren, – ihr als Leser dabei zu folgen, lohnt sich.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Bukowski Fuck Machine

Bukowski Fuck Machine. „Erections, Ejaculations, Exhibtions and General Tales of Ordinary Madness 1967-1972“ war der Titel des Sammelbandes in denen Charles Bukowskis unzählige Kolumnen aus diversen Undergroundzeitschriften erstmals als Buch erschienen. Aber Bukowski schrieb auch Gedichte und Romane und insgesamt umfasst sein Werk mehr als 40 Bücher. Am 16. August wäre er 100 Jahre alt geworden, ein guter Vorwand für eine Re-Lektüre.

Chronist des White Trash

Auch in „Fuck Machine“ folgt Bukowski dem bereits mehrmals bewährten Rezept: es muss vom F… die Rede sein, damit die Leute seine Stories lesen. Das behauptet zumindest er selbst in einer der Geschichten mit dem Titel „Zwölf fliegende Affen, die nicht richtig kopulieren wollen“. In dieser in „Fuck Machine“ enthaltenen Geschichte beschreibt er seinen Arbeitsstil in seiner bekannt ironischen Weise und veräppelt sich quasi selbst.

Aber es geht auch brutaler zu in seinen Stories, etwa in „Die kopulierende Nixe von Venice, Kalifornien“, wenn zwei abgewrackte Typen Gangstern eine Leiche klauen und diese dann missbrauchen. Dabei haben sie ohnehin ihr ganzes Leben lang tote Frauen gefickt, wie einer dem anderen vorwirft.

Der Chronist des White Trash, Bukowski, macht auch nicht davor halt, sich in zwei Schwulenhasser einzufühlen, die in „Die Ermordung des Ramon Vasquez“ ihr Unwesen treiben. Eine kleine Fußnote macht darauf aufmerksam, dass der Autor keinem seiner Mitgeschöpfe wehtun, zu nahe treten oder Unrecht tun möchte. Denn auch diese Geschichte ist Fiktion, auch wenn sich bei Bukowski oft Facts und Fiction zu Faction mischen.

Bukowski Fuck Machine

Sein Saufkumpel Jeff ist ein brutaler Kerl, der auch schwangere Frauen die Treppen runterschmeisst, erst als eine Gruppen Chinesen ihn festhält, kapiert der Protagonist, dass auch er etwas gegen seinen Freund unternehmen muss. In „Der weiße Bart“ vergnügt sich der Protagonist und zwei seiner Freunde mit einer Minderjährigen, „Abstammung unbekannt“. Aber auch seine Boxergeschichte „Kid Stardust im Schlachthof“ und die Titelgeschichte, „Fickmaschine“, haben es in sich.

Unvergessen bleibt bei jedem Leser aber „Fünfzehn Zentimeter“, eine Geschichte, die man nie mehr vergisst. Charles Bukowski verstand es wie kein anderer, die harte Realität des amerikanischen Albtraums in einfache, aber treffende Worte zu fassen und mit seinem lakonischen Humor abzufedern.

Durch Übertreibungen und Wiederholungen machte er aus der Kehrseite des American Dream ein Leben, das sich hauptsächlich in Slums, Absteigen, Bars, Hurenhäusern und Schlachthöfen abspielte. Oder bei Boxkämpfen und Pferderennen. Bestimmt aber im Bett mit einer jener Frauen, die die Reichen übrig ließen: „Wir kriegen die Mädchen, wenn die mit den Mädchen Schluss gemacht haben und es keine Mädchen mehr sind – wir kriegen die benutzten, die versauten, die kranken und kaputten. Wenn man nach ‘ner Weile aus zweiter, dritter und vierter Hand mehr will, gibt man’s auf; oder man will es wenigstens aufgeben. Trinken hilft.“

Charles Bukowski
Fuck Machine. Stories
Übersetzt von: Wulf Teichmann
2019, 176 Seiten, Taschenbuch
ISBN: 978-3-596-52236-1
12,00 €
FISCHER Taschenbuch


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen, Short Stories
Illustrated by Fischer Verlag

Kaputt in Hollywood

Kaputt in Hollywood: Zum 100. Geburtstag des geliebten Skandal-Autors Charles Bukowski ist in der FISCHER Taschenbibliothek „Kaputt in Hollywood“ eine Neuausgabe als gebundenes Buch mit 192 Seiten erschienen. Dieser Rezension liegt die Taschenbuchausgabe von 2018 mit 121 Seiten vor. Die beiden Ausgaben unterscheiden sich inhaltlich meines nur durch die Druckgröße der Buchstaben. Alles zehn Stories sind eine Auswahl aus dem unter dem amerikansichen Original erschienenen Sammelband „Erections, Ejaculations, Exhibitions and General Tales of Ordinary Madness, 1967-1972“. Bukowskis Geschichten waren vor 1972 in diversen Undergroundzeitschriften erschienen und unter diesem Titel erstmals gesammelt veröffentlicht worden. Die deutsche Erstveröffentlichschung übernahm damals der Maro-Verlag im Jahre 1976. Im Anhang zu dieser Ausgabe findet sich ein Interview von Thomas Kettner mit dem Autor.

Der amerikanische Zelluloid-Traum

„Deutschland war einfach ein Schimpfwort, etwas Unanständiges…“, erzählt Bukowski in diesem Interview dem eigens aus Frankfurt angereisten Journalisten. Er erzählt ihm von seiner ersten Kurzgeschichte, die er mit 13 Jahren schrieb in der ein Deutscher alles abknallt, was sich bewegt. Also Sohn deutscher Einwanderer wurde Bukowski oft gehänselt und das war seine Art, an seinen Mitschülern Rache zu nehmen. In diesem Sinne könnte man auch sein ganzes weiteres Werk verstehen, denn Schriftsteller wurde Bukowski wahrscheinlich vor allem deswegen, weil sein Vater ihn mißhandelt hatte. Davon erzählt er in seinem Jugendroman, aber ab und an auch in seinen Kurzgeschichten. In „Kaputt in Hollywood“ ist der Autor schon um die 50 und beschreibt den American Way of Life als das was er ist: Zelluloid. Für sich selbst findet er brauchbare Worte, die ich hier gerne in voller Länge zitiere: „(…)eine merkwürdige Type, eine seltsame Kreatur, die plötzlich auftaucht und eigenartige Töne von sich gibt, wie man sie bis dahin eigentlich nicht so gehört hat. Nichts Außergewönliches, aber irgendwie interessant, auf eine merkwürdig kaputte musikalische verrückte Art. (…) Ich bin eine störende Mißbildung.“ Wer Bukowski nach dieser Selbstbeschreibung noch nicht liebt, wird es spätestens, wenn er eine der zehn Kurzgeschichten in diesem Band aufschlägt.

Kaputt in Hollywood: Love it or Leave it

„Shit, man brauchte mindestens 150 Jahre, um in Harvard als Klassiker eingestuft zu werden“ (aus: „Zen-Hochzeit“). So etwa „Geburt, Leben und Tod einer Untergrundzeitung“ in der er seine Beziehung zu einer solchen mit Namen „Open Pussy“ beschreibt. Ein Verhör mit Beamten bei der Post, bei der er zu dieser Zeit arbeitete wird darin ebenso verhöhnt, wie der Herausgeber und dessen Frau Cherry. Denn die Obszonität seiner Texte sorgte schließlich dafür, dass die Zeitung aus dem Verkehr gezogen wurde. Oder war es doch das Foto einer nackten Pussy auf der Titelseite? Bukowskis lakonischer Humor zeigt, dass das Ganze Love & Peace Gerede von damals auch nur ein Verkaufsschmäh war, denn als der Verleger der Hippie-Zeitung entdeckt, dass seine Frau ihn betrügt, kauft er sich als erstes eine Pistole. In der Titelgeschichte packt der Protagonist seine Frau in ihr Klappbett und beschreibt sie als Brathähnchen mit Pferdezähnen während ein Typ in ein Longdrink-Glas Leber onaniert. In „Love it or Leave it“ wird er krankenhausreif geschlagen, weil er auf einem Autofriedhof jede Nacht in einem anderen Auto nächtigte. Aber Bukowski beschreibt auch den Arbeitsalltag normaler Arbeiter, denen oft keine andere Wahl bleibt, als zur Flasche zu greifen, ob überhaupt einen Halt zu finden. Es folgen immer wieder Slapstickeinlagen im Suff, etwa wenn er auf das Pflaster knallt, aber die Flasche dann doch heil bleibt. Der Kopf aber nicht. Besonders lesenswert ist auch die Zoo-Geschichte von Gordon und Crazy Carol in der er sein ganzes erzählerisches Talent zeigt. In „Eine verregnete Weibergeschichte“ schreibt er: „Während mein Alter Tag für Tag die Scheiße aus mir rausschlug, wollte ich 80 Jahre alt werden und das Jahr 2000 erleben.“ Das hat er nicht ganz geschafft. Bukowski starb im Jahr 1994.

Bukowski zum 100. Noch 50 Jahre also, bis auch er von Harvard als Klassiker der amerikanischen Literatur eingestuft wird.

Charles Bukowski

Kaputt in Hollywood. Stories

Übersetzt von: Carl Weissner

2018, Taschenbuch, 121 Seiten

ISBN: 978-3-596-90512-6

12,00 €

Fischer Verlag


Genre: Short Stories
Illustrated by Fischer Verlag

Die rechtschaffenen Mörder

Prinz Vogelfrei

In seinem neuen Roman «Die rechtschaffenen Mörder» stellt Ingo Schulze einen ebenso kauzigen wie charismatischen Antiquar in den Mittelpunkt. Ein Setting also, das bei einer ‹literarischen› Leserschaft durchweg angenehme Assoziationen auslösen dürfte, dreht sich hier doch alles um anspruchsvolle, klassische Literatur. Handlungsort ist Dresden, zeitlich ist der Roman vor und nach der Wende angesiedelt, soziales Milieu ist das Bildungsbürgertum. Neben dem Preisträger der diesjährigen Leipziger Buchmesse, Lutz Seilers «Stern 111», ist dies von den fünf Büchern der Shortlist ein zweiter Roman mit Wende-Thematik, die auch nach dreißig Jahren literarisch noch längst nicht abgearbeitet ist.

Im ersten, knapp zwei Drittel des dreiteiligen Romans umfassenden Teil wird die Geschichte von Norbert Paulini erzählt, stimmig beginnend mit den Worten «Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar …» Von seiner früh verstorbenen Mutter hatte Norbert nicht nur die Leidenschaft für Bücher geerbt, sondern auch den umfangreichen Bestand ihres Antiquariats. Nach einer Buchhändlerlehre eröffnet er 1977 mit dem sorgsam gehüteten Bücherschatz, der ihn schon als Kind ans Lesen gebracht hat, in der elterlichen Wohnung sein eigenes Antiquariat. Schnell wird er in den einschlägigen bibliophilen Kreisen bekannt und erwirbt sich durch seine immense Belesenheit einen geradezu legendären Ruf. Zu welchem nicht wenig auch sein literarischer Salon beiträgt, der regelmäßig Intellektuelle aller Couleur zu Lesungen und zum Fachsimpeln bei ihm versammelt. Nach der Wende bricht der Markt für seine antiquarischen Schätze schlagartig zusammen, die Geschäfte laufen schlecht, er muss Gelegenheitsjobs annehmen und zieht schließlich sogar in die sächsische Provinz. Seinem Metier jedoch bleibt er unbeirrt treu, er stellt sich ganz auf Internethandel um. Der eigensinnige Kauz vereinsamt immer mehr und zieht sich verbittert in die innere Emigration zurück. Am Ende befragen ihn zwei Kriminalbeamte, wobei vage ein rechtsradikaler Hintergrund angedeutet wird, Verhör und erster Teil enden dann aber mitten im Satz, alles bleibt offen. Der bisher kaum erkennbare personale Erzähler tritt im zweiten Teil dann deutlich als Ich-Erzähler namens Schultze (sic) auf, – mit tz allerdings! Er berichtet jetzt aus dieser neuen Perspektive über den Eigenbrödler, erzählt von der Entstehung seiner Paulini-Novelle, von seinen Gesprächen mit dem Antiquar und von seiner Liaison mit dessen Lebensgefährtin. Anschließend erzählt im kurzen dritten Teil Schultzes Lektorin von ihren eigenen Recherchen über den Helden der noch nicht veröffentlichten Novelle, eine zweifache Metafiktion also.

Diese kunstvolle Verschachtelung dreier Erzählebenen und ebenso vieler Genres, vom Bildungsroman zum Künstlerroman bis zum Krimi, hebt «Die rechtschaffenen Mörder» deutlich ab vom konventionellen Erzählgestus. Norbert Paulini erinnert als Figur an den Magister Tinius, Inbegriff der Bibliomanie, auf den auch eine Romanfigur namens Gräbendorf hinweist. Eine der Stärken dieses Buches ist jedenfalls seine üppige Intertextualität, wobei mich, soviel Anekdotisches sei erlaubt, gleich zu Beginn die Erwähnung von Gottfried Kellers «Der grüne Heinrich» erfreut hat, den ich unmittelbar zuvor gelesen und rezensiert habe. Paulini nämlich weist in einem Gespräch darauf hin, Thomas Mann habe damit einige Schwierigkeiten gehabt, weil ihm nicht bewusst war, dass es zwei Fassungen davon gibt, in denen er wohl abwechselnd immer wieder mal gelesen hat.

Ärgerlich ist auch hier mal wieder der Klappentext, der vom Revoluzzer spricht und von fremdenfeindlichen Ausschreitungen. Prinz Vogelfrei, wie Paulini sich nach dem Gedicht Nietzsches selbst nennt, liefert nämlich für den Rechtsruck in Ostdeutschland keinerlei Erklärung. «Die Dichter müssen lügen» ist Paulinis Credo, der intertextuell ambitionierte Roman über ihn aber scheitert, grandios überdeterminiert, an seiner eher verwirrenden Vieldeutigkeit.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag