Eine Entmystifizierung
Alain de Botton versucht in seinem Buch «Wie Proust Ihr Leben verändern kann», das den deskriptiven Untertitel ‹Eine Anleitung› trägt, bei seinen Lesern eine Art literarische Bewusstseins-Erweiterung zu bewirken. Nicht zuletzt dürfte er damit aber auch den Zweck verfolgen, das siebenbändige, monumentale Werk des französischen Jahrhundert-Schriftstellers, den Romanzyklus «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit», zu entmystifizieren. Und natürlich auch einem größeren Leserkreis die Angst vor der schieren Textmasse zu nehmen. Der erste Band von «À la recherche du temps perdu» erschien 1913, der letzte dann 1927.
In neun Kapiteln, deren Überschriften alle mit ‹Wie› anfangen, destilliert Alain de Botton all die Erkenntnisse, die man aus der Lektüre der ‹Recherche› ziehen kann. Dabei geht es um das Unglücklichsein ebenso wie um richtiges Lesen und um das Problem, genügend Zeit für die Lektüre zu erübrigen. Das vierte Kapitel widmet er den tatsächlichen oder vermeintlichen Leiden des ewigen Hypochonders, der seine Zeit am liebsten im Bett verbracht hat und an allem litt, was von außen in sein hermetisch abgeschlossenes Zimmer eingedrungen ist, Licht, Lärm und Gerüche. Proust hasste auch jedwede sprachliche Gedankenlosigkeit, seien es gestelzte Modeworte oder gedankenlose Phrasen und Plattitüden. Es folgt ein Kapitel über die Art, Freundschaften zu pflegen, in dem man erfährt, wie rücksichtsvoll Proust sich stets verhalten hat, selbst wenn ihm sein Gegenüber eher unsympathisch war. Bezeichnend dafür ist ein Festbankett, wo er nach der Uraufführung von Strawinskys Ballett ‹Reinecke Fuchs› auf James Joyce traf. Die beiden berühmten Schriftsteller hatten sich rein gar nichts zu sagen! Egal wie sich Proust auch bemüht hat, mit ihm ins Gespräch zu kommen, Joyce hat ihn immer nur stumm angestarrt.
Unterschiedlicher als ‹Ulysses› und ‹Recherche› können Romane ja auch kaum sein, wen wundert es da, dass ihre Autoren sich fremd blieben. Dem extrem fragmentarischen, äußerst vielschichtigen und assoziationsreichen Bewusstseinsstrom von Leopold Bloom bei seinem Streifzug durch Dublin steht bei Proust eine ausufernd detaillierte, alle denkbaren Aspekte eines Gegenstandes oder Ereignisses akribisch ausleuchtende Beschreibungskunst gegenüber, die man negativ auch als Beschreibungswut bezeichnen könnte. Alain de Botton verdeutlicht auf eindrucksvolle Weise, dass es wohl keinen Schriftsteller gibt, der genauer hinsieht als Proust. Der es ja fertigbrachte, das Kirchenfenster einer Kathedrale auf dutzenden von Seiten bis zum letzten Farbschimmer zu beschreiben. Vor dieser Sprachvirtuosität hat dann sogar Virginia Woolf kapituliert, wie wir im Buch erfahren. Denn als sie sich nach Jahren erstmals an die Lektüre der ‹Recherche› herangewagt hat, hätte das zunächst mal eine veritable Schreibblockade bei ihr ausgelöst. Wenig überzeugend ist Proust als Berater in Sachen Liebe, wie wir im achten Kapitel erfahren, seine eher asexuelle Vita wie auch sein ebenso asexuelles Opus magnum prädestiniert ihn jedenfalls nicht als Experten, auf dessen Rat man in diesen Dingen hören sollte. Als Ratgeber ergiebiger ist da das letzte Kapitel, in dem die Vorzüge des Lesens beschrieben und die Grenzen einer Lektüre aufgezeigt werden.
Bleibt die Frage, was man als Leser aus diesem Buch mitnehmen kann für künftige Leseabenteuer. Die lockere, amüsante Art, mit der Alain de Botton sich dem verwöhnten Muttersöhnchen nähert, garantiert einige vergnügte Lesestunden. Außerdem erfährt man en passant nicht nur manche Details aus dessen Leben, sondern auch über Zeitgenossen, die zum Teil als Vorlage für seine Figuren dienten. Erhellt werden zudem einige reale Hintergründe für die ‹Recherche›, angefangen bei der berühmten, einen Erinnerungsschub auslösenden ‹Madeleine› als Teegebäck bis hin nach Combray, einem der Handlungsorte. Zu dem pilgern heute die Proust-Jünger, um Tante Leonies Haus zu besuchen und im Ort die ‹originalen› Madeleines zu kaufen.
Fazit: lesenswert
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