Geständnisse eines Touristen: Ein Verhör

Wer „Atlas eines ängstlichen Mannes“ gelesen hat, ist unweigerlich verloren. Verloren im Universum der Literatur-Droge namens Christoph Ransmayr. Wie es in Selbsthilfegruppen üblich ist, nennt man seinen Namen und gesteht: „Ich bin süchtig“. Weiterlesen


Genre: Erinnerungen, Erzählung, Gesellschaftsroman, Kurzgeschichten und Erzählungen, Politik und Gesellschaft, Reisen
Illustrated by Fischer Verlag

Die Projektoren

Masse und Komplexität als Manko

Der mit einigem Abstand ‹gewichtigste›, für den diesjährigen Deutschen Buchpreis nominierte Roman ist «Die Projektoren» von Clemens Meyer, acht Jahre habe er daran gearbeitet, lies er verlauten. Dass Masse nicht vor Klasse steht konstatierten die Juroren überdeutlich, indem sie Martina Hefters vergleichsweise «schmalbrüstigen» Roman gegenüber den 1041 Seiten von Meyers Epos literarisch höher bewertet und folglich auch mit dem Preis bedacht haben. Was dann zum Eklat bei der feierlichen Preisverleihung im Frankfurter Römer führte, wo Meyer lautstark den Preis für sich reklamierte, eine höchst peinliche Szene von Unbescheidenheit, die bei ihm aber nicht ganz ungewöhnlich ist. Schade, denn die Feuilletons sind sich im Lob einig wie selten. Man konnte lesen, dass der Roman «Die Projektoren» das Zeug zum Klassiker habe, ja sogar eine Wegmarke der deutschen Literatur dieses Jahrzehnts darstelle. Ist er darin gar dem «Zauberberg» vergleichbar, wie ein Kritiker euphorisch geschrieben hat?

Der Roman umfasst die Zeit vom Zweiten Weltkrieg bis in die Jetztzeit hinein. Örtlich ist er im Balkan angesiedelt, in Novi Sad im damaligen Jugoslawien, in dessen Kino sich die titelgebenden Projektoren befinden, die erzählerisch wiederum zu den dort gezeigten Filmen und deren Darstellern hinleiten. Die Eingangs-Szene bildet ein Gespräch in einer Leipziger Irrenanstalt, an dem ein Patient namens Dr. May beteiligt ist, dessen Romane und Verfilmungen wiederum auf die deutsch-jugoslawischen Western verweisen, die an dortigen Schauplätzen gedreht wurden, Winnetou lässt grüßen! Dazu passt denn auch, dass sich der Haupt-Erzählstrang um die Figur eines immer nur «Cowboy» genannten, ehemaligen Partisanen dreht, der den Widerstands-Truppen des späteren Präsidenten Josip Broz Tito angehört hat. Zusammenfassend geht es in diesem ungewöhnlich vielschichtigen Roman um das Thema Gewalt, um deren Kontinuität vor allem. Erkennbar ist dies auch in Ostdeutschland, wo sie mit dem beängstigenden Erstarken der politischen Rechten eine Rolle spielt, und brutaler noch auch im Irak zur Zeit des Islamischen Staates.

Alles greift ineinander in diesem ungewöhnlichen, immer für Überraschungen sorgenden Roman, der alle Dimensionen des Schreibens zu sprengen scheint. Zeiten und Orte überlappen sich ständig, Figuren tauchen unerwartet wieder auf, sorgen für neue Impulse in dem turbulenten Plot und verschwinden dann ebenso unerwartet wieder, geben Raum für neue Akteure. Das Figuren-Ensemble des Autors besteht zum Teil aus sehr skurrilen Typen wie den geistig zurück gebliebenen Schäfer, bei dem der Cowboy sich ungefragt einquartiert. In seiner Komplexität übertrifft dieser Roman so ziemlich alles, was derzeit im Fokus des lesenden Publikums steht. Und er überfordert es unübersehbar, Gesetze von Zeit und Raum außer Kraft setzend, vor allem aber in seiner immer wieder verblüffenden Rätselhaftigkeit.

«Die Projektoren» ist ein herausfordernd erzähltes, fast grenzenloses Epos voller Sprachgewalt, voller Lust am Fabulieren, narrativ unbekümmert hin und her springend, aber virtuos auch wieder aneinander anknüpfend. Sehr beeindruckend ist natürlich der Recherchefleiß des Autors, der noch in den kleinsten Verästelungen seines Plots mit vielen Details aufwartet und dadurch sehr bereichernd wirkt. Entspannt zu lesende Lektüre kann man angesichts der Themenfülle und der akribischen Detailverliebtheit des Autors natürlich nicht erwarten, man muss sich geduldig einlassen auf dieses Epos, in dem häufig auch psychologische Aspekte behandelt werden. Sprachlich originär, oft leichtfüßig, ebenso oft amüsant, zuweilen ins Irreale abgleitend, ist dies ein unbeirrt eigenwilliger Text eines großen Erzählertalents. Mit der schieren Textmasse und deren Komplexität hat sich Clemens Meyer allerdings selbst ein Bein gestellt, was sich nicht nur im Urteil der Buchpreisjury niedergeschlagen hat, sondern durchaus erwartbar auch im geringen Interesse und den auffallend vielen negativen Kommentaren des Lesepublikums!

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Die Passagierin

Dystopische Zeitreise

Nach zehn Jahren hat der Schriftsteller Franz Friedrich seinen zweiten Roman veröffentlicht, der dann, wie schon sein Debüt, ebenfalls für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 ausgewählt wurde. Es ist die ebenso originelle wie gewagte Kombination einer Dystopie mit einer sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft springenden Zeitreise für ausgesuchte Menschen. Ort der Handlung ist eine nach der antiken Landschaft Kolchis benannte, kleine Gemeinde am Meer, quasi ein Kurort für Zeitreisende. In dem befinden sich viele mit wunderlichen Namen benannte Sanatorien, die den, aus ihrer jeweils persönlich erlebten Zeit dorthin evakuierten Menschen eine neue Heimstatt bieten. Sie sind durch ihre Zeitreise ihrem historischen Schicksal entkommen und sollen jetzt auf ihr neues, besseres Leben vorbereitet werden. «Es ist ein großer Wartesaal, abgeschirmt wie unter einer Glocke, seiner Zeit entrückt», hat der Autor dazu erklärt.

Protagonistin und Ich-Erzählerin der Geschichte ist Heather, eine Frau aus der ehemaligen DDR, die dort groß geworden ist und dann 1989 die «Wende» miterlebt hat. Als Teenager war sie schon mal nach einer Zeitreise in Kolchis, nun kehrt sie als Erwachsene zurück. Heather leidet seit damals an «Phantom-Erinnerungen» und hofft, ihre innere Ruhe wiederzufinden und dem Schmerz der Einsamkeit zu entfliehen. Nun will sie nach etlichen Jahren ein paar Tage dort verbringen, – aber aus den Tagen werden Wochen. Ihr ehemaliges «Sanatorium 9» ist verfallen, nur wenige Räume sind noch bewohnbar, und das gilt auch für all die anderen Sanatorien und Gebäude in Kolchis, wie sie feststellen muss, alles ist scheinbar verlassen und dem langsamen Verfall anheim gegeben. Die Bewohner, die dort noch leben, stammen alle aus einer anderen historischen Epoche, dem Spätmittelalter zum Beispiel, der Zeit der Kolonialreiche, der Weltkriege, bis hinein in unsere Gegenwart. Sie alle warten auf eine Evakuierung, die sie aus Kolchis wieder wegbringen soll. Was aber niemand von ihnen ahnt: Die Rettungs-Missionen des Evakuierungs-Programms gibt es gar nicht mehr!

In täglichen Sitzungen mit wechselnder Besetzung diskutieren die Bewohner ‹über Gott und die Welt›, meist aber über ihre ganz persönlichen Geschichten. Es werden dabei natürlich auch die großen philosophischen Fragen verhandelt, speziell die nach der persönlichen Schuld. Dabei freundet sich Heather mit Matthias an, einem aus dem Mittelalter stammenden, verbitterten Landsknecht, der als ehemaliger Söldner hier offenbar den idealen Platz für sich gefunden hat. Im Interview hat der Autor sein ungewöhnliches narratives Konzept erklärt: «Die Idee treibt mich schon lange um: die Vorstellung einer Flucht aus der einen Zeit, der Rettung in eine andere. Sobald man länger darüber nachdenkt, wird man merken, dass es nicht reicht, Einzelne zu holen, aber alle? Als besonders tragisch erschien mir immer das Konzept einer nicht mehr veränderbaren Vergangenheit, einer Geschichte, die man zwar bereisen kann, aber einfach geschehen lassen muss, so grausam sie auch ist. Was würde das mit einer Gesellschaft machen, würde sie das hinnehmen? Oder würde sie nicht trotzdem versuchen, ihre historischen Katastrophen zu verhindern, so gering die Chancen auf einen Erfolg auch wären.»

Aus dem Gesagten kann man unschwer erkennen, dass man von diesem Roman Plausibilität nicht erwarten kann. Seine Figuren sind durch tragische Schicksale gekennzeichnet, wie vergessene Selbstmörder zum Beispiel oder Opfer kollektiver Gewalt. Nicht jeder wird dem in diesem Roman zum Ausdruck kommenden eigenwilligen Humanismus des Autors folgen können und wollen. Bei alledem verzichtet der Autor nämlich auch noch auf eine konkrete Beschreibung seiner kafkaesken Welt. Er setzt damit für eine bereichernde Lektüre eine allzu große Fantasie voraus, deutlich zu viele, naheliegende Fragen bleiben einfach offen. Das Gros seiner Leser dürfte, erheblich überfordert, daran kläglich scheitern, – einige wenige Distopie-Fans ausgenommen!

Fazit:  miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Mister Weniger

Literarisch hochstehender Schwulenroman

Der Roman «Mister Weniger» des US-amerikanischen Schriftstellers Andrew Sean Greer wurde 2018 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. «Ein großzügiges Buch, musikalisch in seiner Sprache und weit ausgreifend in seiner Struktur. Es handelt vom Älterwerden und von Wesen und Natur der Liebe» heißt es in der Begründung der Jury. Der Roman zählt zum Genre der autofiktionalen Erzählungen, bei dem Protagonist und Autor nicht immer klar zu trennen sind, eine sich bei heutigen Schriftstellern wachsender Beliebtheit erfreuende Erzählform. In deutschen Kommentaren zu diesem hierzulande «weniger» erfolgreichen Buch wurde als Gattung der Begriff «Schwulenroman» geprägt, andere schreiben von einem Liebesroman. Im Schwulsein, im Alter von Anfang fünfzig und im Beruf des Schriftstellers ähnelt Arthur Weniger, der Protagonist des Romans, seinem Schöpfer mehr als deutlich. Nur dass Greer mit dem Pulitzerpreis für den vorliegenden Roman in den Olymp der amerikanischen Belletristik aufgestiegen ist, sein Held aber, nomen est omen, im Mittelmaß stecken blieb. Er hat letztendlich in Allem «weniger», auch im literarischen Erfolg.

Es beginnt damit, dass der Don Quichote-artige Arthur Weniger eine schriftliche Einladung zur Hochzeit seines langjährigen, jüngeren Geliebten erhält, von dem er sich vor fünf Jahren getrennt hat. Ein Dilemma für ihn! Denn wenn er teilnimmt, werden alle hinter seinem Rücken über ihn tuscheln, bleibt er aber fern, ist das für sein Image äußerst schlecht. Dort werden sich nämlich alle wichtigen Leute aus der Branche versammeln, man muss also auch dabei sein, sonst droht das Verschwinden in der Bedeutungslosigkeit. Als Arthur seinen chaotischen Schreibtisch aufräumt, findet er etliche Einladungen zu verschiedenen anderen Events. Er soll für seinen Verlag eine Lesereise absolvieren, an einer Podiumsdiskussion mit einem berühmten Kollegen teilnehmen, als Gastdozent antreten, auf einer Preisverleihung die Laudatio halten und andere literaturbezogene Aktivitäten mehr. Damit wäre er auf längere Zeit beschäftigt, was ihm gleichzeitig auch als zweifelsfrei wichtige Begründung für sein Fernbleiben bei der Hochzeit dienen würde. Und weil er sich damit auch vor seinem drohenden 50. Geburtstag drücken, sein sinkendes literarisches Image aufpolieren und zudem auch noch sein bedenklich leeres Bankkonto schonen könnte, sagt er kurz entschlossen überall zu. Denn so kann er vielleicht, ‹last but not least›, auch seinen immer noch anhaltenden Liebeskummer überwinden!

Arthur Weniger tritt also wohlgemut seine fluchtartige Reise an, die ihn von Los Angeles über Italien nach Frankreich, Deutschland, Marokko und Japan führt. Dabei tritt er in alle Fettnäpfchen, die da irgendwo aufgestellt sind, er blamiert sich oft bis auf die Knochen. So zum Beispiel in Berlin, wo er als vermeintlich perfekt deutsch Sprechender an der Universität in einem stümperhaften Deutsch doziert, oder in Japan, wo er sich mit japanischem Essen beschäftigen soll, von dem er rein gar nichts versteht. Auf allen seinen Stationen hat er kurze Affären mit oft jüngeren Männern, und dadurch beschäftigt er sich auch immer wieder mit der Frage, ob man als Fünfzigjähriger denn überhaupt noch schwul sein kann, oder ob man sich nur noch blamiert mit seinem vom Alter deutlich gezeichneten Körper. Einzig dass er von Aids verschont geblieben ist, das verbucht er als positiv in seiner Lebensbilanz.

Als Tollpatsch und Hypochonder ist «Weniger» eine sympathische Figur, die der Autor stilistisch brillant, stets spöttelnd und humorvoll beschreibt. Als zunehmend rätselhafter werdender Erzähler bleibt Greer seiner literarischen Figur eng verbunden, bis hin zum überraschenden Ende dieser an Metaphern reichen und kontemplativ anregenden Geschichte, zu der auch die immer wieder ironischen Seitenhiebe auf den Literaturbetrieb gehören. Dezidiert homophob veranlagten Lesern sei abgeraten, für andere ist «Mister Weniger» eine durchaus empfehlenswerte, weil literarisch hochstehende und amüsante Lektüre.

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Die Wurzeln des Lebens

Staunend am Mammutbaum

In seinem Epos «Die Wurzeln des Lebens» verknüpft der US-amerikanische Schriftsteller Richard Powers seine Figuren mit den Bäumen, deren kommunizierendes Wurzelgeflecht im Boden einen Wald bildet. Seine Protagonisten sind auf ganz unterschiedliche Weise individuell und positiv mit Bäumen verknüpft, schätzen sie als äußerst wichtig ein für das Wohlergehen der Menschheit. Die aber steht ihnen im besten Fall ziemlich gleichgültig gegenüber, im schlimmsten jedoch geradezu feindlich. Mit kapitalistischer Gier werden dem Staat Wälder abgekauft, die dann in kürzester Zeit abgeholzt werden, weil sie Profit bringen. Nicht nur dass Holz als Rohstoff vermarktet wird, die Kahlschlag-Flächen werden anschließend renditeträchtig in landwirtschaftliche Flächen umgewandelt. In mehreren parallelen Handlungs-Strängen agieren die im Westen der USA angesiedelten, recht unterschiedlichen Roman-Figuren in ihrem privaten und beruflichen Umfeld, wobei sie alle auf besondere Weise mit Bäumen und Wald verbunden sind.

Da ist zum Beispiel der Sohn eines norwegischen Einwanderers, der sechs Kastanienbäume gepflanzt hat, die alle, bis auf einen, den aus Asien eingeschleppten Parasiten zum Opfer fallen. Der Vater und nach ihm Sohn und Enkelsohn fotografieren seither einmal im Jahr diesen überlebenden Baum aus der immergleichen Perspektive, ein familiäres Ritual. Eine Ingenieurin, deren chinesischer Vater einen Maulbeerbaum pflanzt, Symbol für die Zukunft, muss erleben, dass der Vater, als der Baum von Bakterien befallen wird und die Familie sich auflöst, sein Leben durch einen Pistolenschuss beendet. Die schwierige Beziehung eines Juristen mit seiner Frau erfährt eine Wende, als sie nach einem Unfall mit dem Auto beschießen, zum Dank für den glimpflichen Ausgang jedes Jahr zu ihrem Hochzeitstag einen Baum zu pflanzen.

Im Vietnamkrieg wird ein Soldat mit dem Flugzeug abgeschossen und landet in einem Feigenbaum, dessen Zweige seinen Absturz abbremsen. Als Veteran findet er schließlich seine Erfüllung als Waldarbeiter, auf einer gerodeten Fläche pflanzt er Tausende von Douglasien an. Ein Digital-Nativ macht eine kometenhafte Karriere als Programmierer von Computer-Spielen, die immer leistungsfähiger werden und ihn zum Millionär machen. Er bekommt Zweifel, wo das noch hinführen soll mit den lebensecht auf Zuwachs und Gewinn ausgerichteten Spielen. Auf dem Campus der Stanford Universität entdeckt er schließlich, wie inspirierend Bäume sein können, und er beschließt spontan, die Natur zum Gegenstand seiner Spiele zu machen. Eine Forscherin entdeckt, dass Bäume bewusst über ein biochemisches Netzwerk miteinander kommunizieren, und erregt damit in der Wissenschaft einiges Aufsehen. Sie wird aber schon bald heftig von Kollegen kritisiert, bis sie im Wald auf eine Gruppe Gleichgesinnter stößt und wissenschaftlich rehabilitiert wird. Eine Studentin der Mathematik mit wildem Vorleben bekommt kurz vor ihrer Abschlussprüfung einen Stromschlag, der zum Herzstillstand führt. Sie überlebt und bildet mit anderen Protagonisten eine Gruppe von Umweltaktivisten, die durch Baumbesetzungen und zuletzt auch Brandanschläge auf das schreiende Unrecht hinweisen, das dem Wald angetan wird.

Der Autor vermittelt einen umfassenden Einblick in die Zusammenhänge der Natur und prangert deren Gefährdung durch den Menschen an, ohne jedoch indoktrinierend zu sein. Leider wirkt das Ganze doch arg konstruiert, zuweilen auch pathetisch und ins Visionäre abgleitend. Ohne Zweifel aber ist der Roman auch deutlich überdimensioniert, einerseits was die schiere Textmasse anbelangt, andererseits durch gefühlt Tausende von verschiedenen Bäumen, denen man als Nicht-Biologe hilflos gegenüber steht. Die Begeisterung der Protagonisten, von denen jeder seine Baum-Geschichte hat, ist durchaus mitreißend für Naturfreunde. Staunend am Mammutbaum zu stehen wird dann vielleicht manchem Leser ein vertrautes Gefühl geworden sein

Fazit:  erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Atlas eines ängstlichen Mannes

Schicken Sie Ihre Phantasie auf Reisen oder testen Sie einfach nur Ihre Geografiekenntnisse, indem Sie Nadeln in eine imaginäre Weltkarte stecken. Osterinsel, China, Brasilien, Kalifornien, Marokko, Andalusien, Island, Griechenland, Wien, Neuseeland, Neu Delhi, Nepal, Bolivien, Mexiko, Juan Fernandez Archipel, Irland, Laos, Nordpol, Ontario, Kambodscha, Yokohama, Valparaiso, Pitcairn, Jemen, Sydney, Irland. Stopp! Das sind nur etwa die Hälfte der Orte und Ziele, die Christoph Ransmayr in seinem Atlas eines ängstlichen Mannes wie auf einer geografischen Perlenkette auffädelt. Weiterlesen


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen, Memoiren, Reisen
Illustrated by Fischer Verlag

Das Archiv der Gefühle

Nach der vorausgehenden Lektüre von Orhan Pamuk, Richard Powers und Jonathan Franzen kann man den Schweizer Autor Peter Stamm mit Fug und Recht als echtes Kontrastprogramm bezeichnen. Nach Büchern mit einer blumigen bis schwülstigen Sprache, bunten und detaillierten Bildern, feinsinnig gerankten bis langatmigen Familiengeschichten und teilweise aufwühlenden Emotionen ist die Umstellung zu „Das Archiv der Gefühle“, als hänge man Pieter Bruegel den Älteren neben Mondrian.

Aber – im einen wie im anderen Fall – absolut wohltuend und bereichernd. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Erzählung, Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Zukunftsmusik

Aus der Kommunalka

Als Roman einer Zeitenwende beschreibt «Zukunftsmusik» von Katerina Poladjan den Beginn einer neuen Ära in Russland, die sich in diesem Fall ungewöhnlich exakt auf ein genaues Datum fixieren lässt, den 11. März 1985. Aber ebenso exakt lässt sich mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine der Tag für das Ende dieser Ära benennen, der 24. Februar 2022. Natürlich konnten die Menschen im Roman nicht ahnen, was sich mit der Wahl von Michail Gorbatschow zum ZK-Generalsekretär für sie verbessern würde, sie haben es allenfalls gespürt. So wie wir Heutigen noch nicht ahnen, was Putins Wahn letztendlich bedeutet.

Handlungsort ist eine unbenannte Stadt tausend Werst östlich von Moskau, wo sich in einer aus unterschiedlichsten Mitgliedern bestehenden, WG-ähnlichen Kommunalka mit sechs Mietparteien die Protagonisten des Romans eine Wohnung teilen. Da leben in einem der Zimmer auf engstem Raum Großmutter Warwara, pensionierte Hebamme, die aushilfsweise noch in der Klinik arbeitet und an diesem Tag einem Kind auf die Welt hilft. Mutter Maria arbeitet als Aufseherin im Museum und ist in Matwej verliebt. Ihre Tochter Janka schließlich arbeitet in Nachtschicht in der Glühlampenfabrik und will am Abend in der Küche ein Kwartirnik veranstalten, ein zur Umgehung der Zensur von jungen Leuten einfach in den Privathaushalt verlegtes Konzert. Der Ingenieur Matwej von nebenan hat einen schlechten Tag, denn einer der Probanden bei den von ihm betreuten Versuchen zur Aufhebung der Schwerkraft stirbt. Er hat die Marotte, alles aus seinem Leben in kleinen Kästchen aufzubewahren, deren Inhalte er geradezu zwanghaft ständig umsortiert. Der hoch angesehene alte Professor ist selten zu sehen, bei der Feier zu dessen letztem Geburtstag nutzte Ippolit, Schaffner bei der Eisenbahn, die Gelegenheit und flüsterte Warwara zu, «er sei schon lange hinter ihr her, ihre Verbindung sei durch die Vorsehung bestimmt, und nun sei es an der Zeit, sich dem Schicksal zu ergeben. Warwara ließ ihn wissen, sie werde über sein Ansinnen nachdenken und ihn bezüglich ihrer Entscheidung in Kenntnis setzen». Sie hat ihn erhört!

Bezeichnend für die Verhältnisse ist eine Szene, in der sich Maria an diesem 11. März spontan in einer Schlange mit anstellt, die bis weit auf die Straße hinaus reicht. «Was glauben Sie, was uns erwartet»? fragt sie den Mann vor ihr. «Am Anfang dieser Schlange erwarten uns feine, rosa glänzende Krakauer Würstchen, und wenn wir Pech haben, erwartet uns das Nichts. Und bis wir an der Reihe sind, ist uns die Möglichkeit gegeben zu überlegen, ob wir das, wofür wir anstehen, überhaupt brauchen». Zwischen Resignation und Aufbruch in bessere Zeiten strahlen die Figuren des Romans eine innere Unruhe aus, die sich bereits von der Gegenwart gelöst zu haben scheint und einem Gefühl Platz gibt, das vielleicht ja doch alles besser werden könnte. Wobei die Befreiung aus den beengten Wohnverhältnissen auf ihrer Prioritätenliste ganz oben steht.

Der für den Leipziger Buchpreis nominierte Roman enthält viele Anspielungen auf die russische Literatur, wobei besonders Zitate von Tschechow teils wörtlich übernommen werden. Deutliche Bezüge gibt es aber auch auf Bulgakow, dessen ins Surreale weisender Stil sich bei Katarina Poladjan in ihrem ins Fantastische übergehenden Schluss wiederfindet. Da öffnet sich der Flur plötzlich ins Freie, ohne das sich jemand daran stört. In der kleinen Küche tummeln sich unglaublich viele Leute, obwohl Janka selbst gar nicht auftritt. In Anspielung auf den «Kirschgarten» werden jede Menge kleine Bäumchen aus der Küche durch den Flur getragen, Menschen steigen aus dem Fenster und fliegen davon. Auffallend ist auch die Diskrepanz zwischen den geschliffenen Dialogen aller Bewohner, man siezt sich natürlich, und dem eher proletarisch anmutenden Leben in der beengten Wohnung. Dieser im Stil des Magischen Realismus ohne Larmoyanz geschriebene Roman aus einer Kommunalka ist eine bereichernde, aber auch amüsante Lektüre.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Das Gleichgewicht der Welt

Auch wenn das Buch von Rohinton Mistry, einem kanadischen Autor indischer Herkunft, irgendwann zwischen 1966 und 1984 angesiedelt ist, hat seine Szenerie mit Sicherheit bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Es handelt von Zeiten, in denen Indira Gandhi (die nicht mit Mahatma Gandhi verwandt war) in Indien zwei längere Perioden als Premierministerin amtierte. Zeiten, in denen diese versuchte, dem fortwährenden politischen und humanitären Chaos des Subkontinents Herr/Frau zu werden.

In dieser Kulisse erschafft Mistry vier Protagonisten, deren teilweise schockierende Einzelschicksale sie für eine kurze, aber glückliche Zeit zusammenführen, bevor ökonomische, politische und menschliche Zwänge dazu führen, dass sich ihre Wege zum Teil wieder trennen.

Das Buch ist kein Werk für Liebhaber von Happy Ends, von rosaroten Brillen oder des „Eigentlich ist doch alles gar nicht so schlimm“-Slogans. Will man das alltägliche Leben in Indien beschreiben, ist dafür auch kein Platz. Die Realität ist Existenzkampf pur, der tägliche Kampf ums nackte Überleben. Ab Geburt das permanente Bestreben, nicht in die gnadenlose Maschinerie der politischen Willkür oder der Kasten-Fehden zu geraten. Jeder für sich unter 1,4 Milliarden anderen Indern.

Seine vier exemplarischen Lebensläufe baut Mistry gut auf und aus. Das gesellschaftliche Stimmungsbild ist hervorragend koloriert. Allerdings leidet der Gesamteindruck sehr stark unter seiner Liebe zu schier nicht enden wollenden Dialog-Passagen. Das ermüdet und lässt das Panoptikum an emotionalen Bildern gelegentlich verblassen.

Eine Frage begleitet den Leser durch das monumentale Werk. Bei all dem Elend, bei all den Schicksalsschlägen, bei all den menschlichen Katastrophen – wo ist denn nun das Gleichgewicht bei seinen Figuren oder gar auf dieser Welt?

Dazu muss man wissen, dass Rohinton Mistry der ethnischen Gruppe der Parsen angehört, die Anhänger der Lehre des Zoroastrismus sind. Der religiöse Glaube des Zoroastrismus bewertet die Schöpfung des Gottes Ahura Mazda prinzipiell erst einmal als gut. In dieser Welt ringt das Gutsein aber beständig zwischen den guten und den bösen Mächten, versucht also zwischen beidem ein Gleichgewicht zu erreichen. Beides und auch der permanente, alltägliche Kampf sind Inhalt des Lebens, das ob seines göttlichen Ursprungs genau so zu akzeptieren ist.

Neben der ein oder anderen Anspielung auf den Buchtitel im Text, legt Rohinton Mistry nur an einer Stelle einem Protagonisten eine schon eher erklärende Analogie in den Mund:“ … es sei alles Teil des Lebens, dass das Geheimnis des Überlebens darin bestehe, ein Gleichgewicht zwischen Hoffnung und Verzweiflung zu finden, sich auf Veränderungen einzulassen.“

Ein monumentales Werk, dass einen ein Stück weit in einer Stimmung der Erschütterung, der Hilflosigkeit und der Ausweglosigkeit zurücklässt. Oder kann die eine oder andere Figur im Roman Mistry’s mit ihrer existentialistischen Reduktion auf das Lebensminimum im Vergleich zu einer westlichen Gesellschaft mit ihrer permanenten Sinn- und Singularitätssuche auch Vorbildfunktion haben oder zumindest als relativierender Weckruf verstanden werden?


Genre: Belletristik, Erzählung, Kulturgeschichte, Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Americanah

Dieses Buch ist anders. Aber genau deshalb kam es ja in die Auswahl. Warum nicht einmal ein Buch aus einem ganz anderen Kulturkreis lesen.

Die junge Autorin Chimamanda Ngozi Adichie ist Nigerianerin, hat viele Jahre ihres Lebens in den USA verbracht und pendelt auch heute noch zwischen den Welten. So trägt ihr Roman unverkennbar autobiografische Züge. Und bei diesem Lebenslauf ist sie eine, die – gesegnet mit einer herausragenden Wahrnehmung und verbalen Treffsicherheit – besser als manch anderer beurteilen kann, was es heißt, hier oder dort zu leben und zu lieben. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Rauschzeit

Redundanter Lebensgefühls-Roman

Das Opus magnum des Büchner-Preisträgers Arnold Stadler mit dem Titel «Rauschzeit» ist ein Roman ohne Plot, der allein von seinem eigenwilligen Stil lebt und genau damit eine sehr konträre Rezeption in Feuilleton und Leserschaft erzeugt hat. Am Beispiel eines Paares in der Beziehungskrise wird hier resignierend eine illusionslose Weltsicht thematisiert, die ihr Vorbild in Jean Paul hat, auf den der Autor in seinem intertextuell reich ausgeschmückten Roman häufig Bezug nimmt.

Der Buchtitel spielt auf die begrenzte Paarungszeit der Wildschweine an, die ihre Entsprechung findet im Sexualverhalten von Alain und Mausi, die eigentlich Irene heißt. Das in Berlin lebende, kinderlose Ehepaar, beide vierzigjährig und als Übersetzer tätig, hat sexuell seine «vegetarische Zeit» erreicht, sie beschimpft ihn, nicht ganz zu Unrecht, als «Waldschrat». Die sich über zwei Mittsommer-Tage, den 25. und 26. Juni 2004, erstreckende Handlung ist schnell erzählt: Alain reist zu einem Symposium nach Köln und trifft dort zufällig nach langer Zeit erstmals wieder auf seine Jugendliebe Babette. Mausi hat von Freunden eine Karte für ‹Toska› geschenkt bekommen und fiebert schon dem Opernabend entgegen, die zweite Karte ging nämlich an einen ihr unbekannten Dänen, der dann ja neben ihr sitzen wird. Und wie vorauszusehen finden Alain und Babette wieder zueinander, und Mausi und der blonde Däne werden ebenfalls ein Paar. So weit, so profan, – denn mehr ist da nicht! Der Autor hält sich an Mark Twain, den er häufig mit dem bezeichnenden Satz aus «Huckleberry Finn» zitiert: «Persons attempting to find a plot in will be shot». Also Vorsicht, verehrter Leser!

Dem Roman ist mit «Wir wissen wenig voneinander» ein Zitat von Georg Büchner vorangestellt. Und Arnold Stadler selbst beginnt seinen sechsteiligen Roman mit den sinnigen Worten: «Was ist Glück? Nachher weiß man es», den er später immer wieder mal zitiert und variiert. In oft kurzen, mit ihrem Namen überschriebenen Kapiteln lässt er jeweils abwechselnd seine zwei Protagonisten zu Wort kommen, Alain als Ich-Erzähler, die Mausi-Kapitel werden auktorial erzählt. Nur im vierten Teil schildert Alain unter dem Titel «Ma vie» auf fast zweihundert Seiten ohne jede Gliederung sein Leben. Das Besondere daran sind jedoch nicht die Inhalte, die erzählerisch wenig hergeben, es ist der alle Konventionen negierende Stil, in dem da erzählt wird. Er ist, typisch für Stadler, gekennzeichnet durch eigenwillige Sprachbilder, häufige Selbstzitate und Wiederholungen, aphoristische Irrwege oder Sackgassen und oft ins Groteske verzerrte Figuren. Und deren ständiger Begleiter auf ihrer unentwegten Suche nach Glück und Lebenssinn ist der Schmerz, der in ständigen Vor- und Rückblenden und mit vielen, meist wörtlichen Wiederholungen thematisiert wird. Besonders der mutmaßliche Freitod von Mausis bester Freundin, der trucksüchtigen Fotografin Elfi Rauschzeit (oh wie sinnig, dieser Nachname!) wächst sich im Roman schon fast zu einer Art Totenklage aus.

Erzählt wird in einer an Neologismen reichen Sprache, in der das unbekümmerte Wortspiel tragendes Element ist sowie die ungehemmte Lust am Verschieben von Buchstaben oder das eifrige Variieren zusammengesetzter Wörter mit phonetisch ähnlichen. Ein gleichartiges Spiel wird auch mit ganzen Sätzen veranstaltet, was zu bestenfalls komischen, aber auch zu oft völlig sinnlosen Aussagen führt. Befremdlich wirken zudem viele der vom Autor eingestreuten Aphorismen aus eigener Feder, deren tieferer Sinn sich oft nicht erschließt. «Mein Leben war eine Vermeidungsstrategie, damit es glückte» wird da verkündet, oder, ebenso sinnig: « Ich? Ein Joint Venture aus Schmutzfink und Sprachgitter». Als alles beherrschendes Formschema aber bläht ausufernde Redundanz die Textmasse des Romans unnötig auf und ärgert den geplagten Leser. Als stilistisch holperiger Lebensgefühls-Roman spricht «Rauschzeit» allenfalls einen äußerst kleinen, esoterischen Leserkreis an!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
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Komm, gehen wir

Unvergesslich?

Mit dem Titel seines Romans «Komm, gehen wir» spielt Arnold Stadler auf dessen Eingangs-Kapitel an, das geradezu symptomatisch ist für den Anfang dieser Geschichte. Es geht darin um eine ungewöhnliche, gemischt hetero-homosexuelle Ménage à trois, die in Italien ihren Anfang nimmt. Einen Hinweis auf autobiografische Bezüge bietet der Name des Protagonisten Roland, der als Anagramm den Vornamen des Autors enthält, es gibt zudem weitere Gemeinsamkeiten, die solche Schlüsse zulassen, wie Stadler in einer Stellungsnahme bestätigt hat. Seine vor allem auch von katholischen Einflüssen geprägte Geschichte behandelt, narrativ unbeirrt von vielerlei Banalitäten, das Thema Liebe und die daraus folgenden Seelen-Zustände.

Der Hochzeits-Termin von Roland und Rosemarie steht fest, die beiden 23jährigen Studenten haben den 22. November 1978 gewählt und verbringen im August ihre «vorgezogene Hochzeitsreise» auf der italienischen Trauminsel Capri. Am Vortag ihrer Abreise liegen sie nackt an einem illegalen FKK-Strand, als ein gutaussehender, junger Amerikaner, der sich als Jim aus Florida vorstellt, sie um einen Schluck Wasser bittet. Sie kommen ins Gespräch, «und nach zwei weiteren Stunden wissen sie schon so viel von einander, dass Roland zu ihm sagt: ‹Come on, let’s got!›», aber verwirrt «go» meint, «Komm, gehen wir!». Denn Jim hat keine Bleibe für die Nacht, also laden sie ihn in ihre Pension ein. Beide sind fasziniert von ihm und nehmen ihn dann auch mit nach Deutschland. Aber schon bald beginnt es auch zu kriseln. Als beispielsweise Rosemarie ihre beiden Lover nackt auf dem Bett erwischt, wie sie sich ein Pornoheft ansehen, schreit sie wütend: «Ich fasse es nicht – was seid ihr doch für Drecksäue!». «Das war Rolands ungewaschene Erinnerung an die Liebe», heißt es im Roman, der Student träumt nun wieder davon, Schriftsteller zu werden, «um alles festzuhalten und das Unbeschreibliche zu beschreiben».

Es geht hier um drei Lieben, jede mit anderen Anziehungs-Kräften, Sehnsüchten und Erwartungen, jede mit ihrem eigenen Glücks- und Unglücks-Potential. Roland hatte sein Studium der Agrarökonomie nach einem Semester abgebrochen, und über eine anschließende Ballettausbildung, die seine Eltern nicht ganz zu Unrecht ziemlich beunruhigt hat, heißt es im Roman: «Tanzen hieß zu Hause soviel wie: Er lässt sich jetzt ficken». Aber auch diese Karriere ist mangels Talent gescheitert, und als ihn eine Fahrt an Tübingen vorbeiführt, geht es ihm durch den Kopf: «Aus jeder Klasse war der Oberspinner nach Tübingen gegangen, um entweder Philosophie oder Theologie, Psychologie oder Soziologie zu studieren, um nach zwanzig Semestern entweder als Professor, Taxifahrer oder Politiker zu enden». Und untüchtig wie er ist endet Roland als Studienabbrecher der Philosophie und versucht sich lange vergeblich als Schriftsteller. Von allen drei Protagonisten erzählt der Autor auch ausführlich ihre jeweilige Vorgeschichte. Rosemarie macht später eine steile Karriere als Ärztin, Jim verschwindet wieder in die USA und fristet dort eine fragwürdige Existenz, der Kontakt zu ihm wird immer spärlicher. Und für alle geht auch in der Liebe alles schief, was schiefgehen kann.

Mit vielen Abschweifungen erzählt Arnold Stadler eine wenig plausible Geschichte voller Leerstellen und ins Nichts führender Gedankengänge. Da liest man zu Beispiel, dass die Liaison seines Trios gerade mal so lange gedauert habe wie das Pontifikat von Johannes Paul I., was in diesem Zusammenhang nicht nur befremdlich, sondern auch völlig unmotiviert wirkt. An anderer Stelle erwischt eine Mutter in Amerika ihren Sohn und Jim, den sie bei sich aufgenommen hat, am 6. Juni 1978 – «dem 103. Geburtstag von Thomas Mann» – in flagranti und wirft Jim hinaus. Was für eine geradezu an den Haaren herbei gezogene Assoziation! Und es gibt mehr, was den Leser verstört zurücklässt. Wenn also im Buch die Frage «Woran erkenne ich ein Kunstwerk?» beantwortet wird mit «Daran, dass es unvergesslich ist», dann liegt hier wahrlich kein Kunstwerk vor!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Das Jahr, in dem ich aufhörte …

Unvereinbar konträre Welten

Schon der epische Titel «Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen und anfing zu träumen» des post-kapitalistischen Romans von Thomas von Steinaecker weist auf eine positive Entwicklung hin. Was als realistische Beschreibung des Turbo-Kapitalismus beginnt, endet in einem futuristischen Vergnügungspark in Samara, der seine Besucher zum Träumen einlädt und seine Ich-Erzählerin schließlich dazu bringt, das Buch zu schreiben, das wir in Händen halten.

Die 42jährige Renate, alleinstehend und kinderlos, erfolgreiche Versicherungs-Agentin, wird zur Key-Account-Managerin befördert und von Frankfurt nach München versetzt. Sie befindet sich gerade in einer emotional schwierigen Phase, ihre Mutter ist erst vor kurzem verstorben und ihr verheirateter Chef und Lover hat sie kürzlich eiskalt abserviert. Der Roman beginnt mit ihrem ersten Arbeitstag am 1. Oktober 2008, kurz nach der Pleite von Lehman Brothers. Die emotional vereinsamte Frau stürzt sich mit vollem Elan in die Arbeit, sie gewinnt auch sehr schnell einen neuen Premium-Kunden. Und dann ist auch noch eine interne Revision angesetzt, wobei der Controller Renate als Beisitzende zu den Einzelgesprächen mit der Belegschaft hinzuzieht. Schließlich vermittelt ihr der zufriedene Premium-Neukunde einen Riesenauftrag, ein russischer Großkonzern will in München einen ultramodernen Vergnügungspark errichten und bei ihr versichern. Sie fliegt zu einem ersten Gespräch nach Samara in die Firmenzentrale und besichtigt den dortigen Park. Von ihrem Chef aus München erhält sie am nächsten Tag telefonisch die Nachricht, dass die ganze Abteilung aufgelöst wird und alle Mitarbeiter ab sofort den Arbeitsplatz verlieren.

Mit genauem Blick für Details schildert der Autor die moderne Arbeitswelt in der Assekuranz mit ihrem ständigen Zwang zu Wachstum, mit neidischen Kollegen und oft schwierigen Kunden. Die müssen mit ausgeklügelten psychologischen Tricks nicht nur zum Abschluss überredet, sondern möglichst auch noch dazu gebracht werden, durch unrealistische Risiko-Analysen überhöhte Prämien für die jeweilige Police zu akzeptieren. All das vollzieht sich in einem abstoßend desillusionierenden Fachjargon. In diesem technokratischen Milieu entwickelt die emotional unterentwickelte, aber gut bezahlte Heldin permanent neue Absturzängste, gegen die auch ihre vielen Psychopharmaka kaum noch helfen. Das artikuliert sich in ihrem mehr als peinlichen Zwang zum Pfandflaschen-Sammeln in öffentlichen Abfallkörben. Mit dem Vergnügungspark setzt der Autor dem bedingungslos auf Rationalität getrimmten Versicherungs-Milieu eine märchenhafte Traumwelt entgegen, die in ihrer Nutzlosigkeit den Alternativ-Entwurf darstellt für eine menschlichen Urbedürfnissen gerecht werdende Lebensweise. Dazu gehört dann auch, dass die Heldin in Samara bleibt, sich eine bescheidene Unterkunft sucht und anfängt, ihre Geschichte aufzuschreiben. Sie tut das mit Bleistift, eine nicht nur symbolische Rebellion gegen den nervenden Technologie-Druck.

Thomas von Steinaecker lässt seine extrem rationale Romanheldin resigniert aus ihrer zermürbenden, ausschließlich dem schnöden Mammon gewidmeten Erwerbswelt aussteigen. Animiert durch die Traumwelten des Vergnügungsparks widmet sie sich nunmehr einer kontemplativen, dem eigenen Seelenheil dienenden Beschäftigung, dem Schreiben über das eigene Leben. Ein Akt der Selbstvergewisserung und der psychischen Gesundung, welcher, Authentizität vortäuschend, durch in den Text eingestreute Bilder aus dem Nachlass der Mutter illustriert wird. Zu dieser toughen Heldin gewinnt man allerdings keine emotionale Nähe als Leser, und auch die anderen Figuren wirken seltsam blutleer. Vieles an der anfangs mitreißenden Geschichte ist zudem zweifelhaft oder bleibt offen. Die konträren Welten des Romans stehen ohne jede Verbindung für sich allein, als Abbild der Widersprüche unserer modernen Gesellschaft ist dieser Roman jedenfalls ziemlich misslungen.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Das verlorene Paradies

Verklärte historische Sicht

Der im Original 1994 erschienene, in der deutschen Übersetzung «Das verlorene Paradies» betitelte Roman hat dem in Sansibar geborenen und in England lebenden Schriftsteller Abdulrazak Gurnah den Durchbruch gebracht. «Für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten» wurde 2021 sein Œuvre mit dem Nobelpreis geehrt. In Deutschland löste die Preisvergabe ziemliche Beschämung aus, war doch hierzulande selbst den Insidern weder der Preisträger noch sein Werk bekannt, vieles davon war auch nie ins Deutsche übersetzt worden. Mit einer eiligst nachgedruckten Neuauflage ist der erfolgreiche Entwicklungs-Roman nun wieder auf Deutsch erhältlich. In seiner Reise-Episode habe dieser Roman deutliche Bezüge zum «Herz der Finsternis» von Joseph Conrad, hat das Nobel-Komitee konstatiert. Er habe zudem, vor dem Hintergrund der Kolonisation in Ostafrika Ende des 19ten Jahrhunderts, Anklänge an die Geschichte von Yusuv aus dem Koran.

In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg muss der zwölfjährige Yusuf, dessen Vater sich bei einem reichen Araber Geld geliehen hat, welches er nicht zurückzahlen kann, sein armseliges Elternhaus verlassen. In der fernen Stadt soll er bei ‹Onkel Aziz› so lange in dessen Krämerladen arbeiten, bis diese Schulden abgetragen sind. Angeleitet von seinem Kollegen Khalil, der für den Laden verantwortlich ist, wird der aufgeweckte Junge wegen seiner Menschen-Freundlichkeit bei allen Kunden schnell sehr beliebt. Insbesondere bei den Frauen, von denen einige schon bald ein Auge auf den schönen Jüngling geworfen haben. Der hinter dem Haus des Händlers gelegene Garten erscheint Yusuf mit seinen exotischen Pflanzen und dem Teich in der Mitte wie ein Paradies. In seinem epikureischen Denken sieht er sich, innerlich frei, als glücklicher Mensch. Wie sich schließlich herausstellt, sind sowohl Khalil als auch der alte Gärtner wie er ebenfalls quasi Eigentum von Aziz. Sie arbeiten als Sklaven für ihn, ohne sich ein anderes Leben auch nur vorstellen zu können.

In größeren Abständen unternimmt Aziz ausgedehnte Handelsreisen ins Landesinnere, er treibt mit den dort lebenden Völkern einen lukrativen Tauschhandel. An einer solchen Handels-Karawane in besonders entfernte, unbekannte Länder muss schließlich auch Yusuf teilnehmen. Er wird dabei mit unsäglichen Strapazen, Krankheit und Tod konfrontiert, aber auch mit unsäglichen Grausamkeiten. Seine naiv unbeschwerte Jugend endet abrupt, seine innere Freiheit geht verloren. Diese letzte Reise wird auch finanziell ein Fiasko, Aziz hat größte Mühe, seine Leute zu bezahlen und die an der erfolglosen Expedition beteiligten Geldgeber zu vertrösten. Der von prophetischen Träumen geplagte Yusuf verliebt sich schließlich in Anima, die einst als Mädchen mit Khalil zusammen ins Haus von Aziz gekommen war und von ihm als blutjunge zweite Frau geheiratet wurde. Wie oft bei Abdulrazak Gurnah gibt es aber auch hier kein versöhnliches Ende. Die Kolonial-Mächte verändern brutal das Leben der unterdrückten Völker, der traditionelle Tauschhandel kommt zum Erliegen. Damit verschwindet auch das bisher friedliche, ausbalancierte Nebeneinander der verschiedenen Ethnien, Religionen und des in munterem Durcheinander gesprochenen Kisuaheli und Arabisch.

Das Besondere des Romans ist die Perspektive der Unterdrückten, aus der heraus, mit elegischer Grundstimmung, illusionslos erzählt wird. Ziemlich ungewohnt für westliche Leser ist ferner auch die religiöse Bezugnahme auf den Koran statt auf die Bibel. In bunten Bildern wird hier einerseits ein Paradies genügsamer Menschen geschildert, die sich allen Zumutungen resigniert unterwerfen, andererseits gibt es aber auch keine Grausamkeit, keinen Gewaltexzess, keinen Ekel, den der Autor seinen Lesern erspart. Seine einseitig verklärte Sicht auf die historische Realität trübt den positiven Eindruck von diesem Roman zudem beträchtlich.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Diese Fremdheit in mir

Knapp 600 Seiten Print- oder 5.200 KB eBook – ein gewaltiges Werk, das wahrscheinlich schon per se einen Literatur-Nobelpreis wert wäre, hätte man diesen dem türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk nicht bereits 2006 verliehen. Diese “Fremdheit in mir” erschien erst 2014, also 6 Jahre nach der Aufnahme in den Literatur-Olymp.
Erscheinungsdatum wirklich 2014? Man stutzt und will es kaum glauben. So jung? Eigentlich doch so zeitnah und modern, aber…? Aber der Reihe nach.

Pamuks Buch ist eine Familien-Saga mit allem, was dazu gehört. Ein Epochen übergreifender Generationen-Roman mit der zentralen Figur des Boza-Verkäufers Mevlut (Wiki: „Boza ist ein leicht alkoholisches, süßlich-prickelndes Bier, ursprünglich aus Hirse, das auf dem Balkan und in der Türkei, in Zentralasien und im Nahen Osten konsumiert wird“).
1954 kommt Mevlut, wie so viele, als kleiner Junge mit seinem Vater aus Anatolien nach Istanbul. 60 Jahre lang begleitet der/die LeserIn Mevluts Schicksal und das seiner Eltern, Onkel, Tanten, Cousins, Frau(en), Schwiegereltern, Töchter, Schwiegersöhne, Enkel, SchwägerInnen, Freunde. Und das alles vor dem Hintergrund der türkischen Historie und insbesondere der Entwicklung Istanbuls. Da bedarf es in der Tat schon einer vierseitigen Chronologie im Anhang, um den Über- und Durchblick nicht zu verlieren. Vor allem, wenn man ins Kalkül zieht, dass man Pamuks Schreibstil durchaus als detailverliebt bezeichnen darf.
Das Positive an dem Buch lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Es ist ein relativ authentisches Spiegelbild der türkischen Gesellschaft über sechs Jahrzehnte und insbesondere der vielen einfachen Menschen vom Land, die in der Metropole Istanbul ihr Glück versuchen.
Lässt man allerdings auch nur ein wenig literarische Kritik walten, handelt es sich um eine türkische Telenovela, die in jedem TV-Kanal nach vier Wochen abgesetzt würde. Zu zähflüssig, zu langweilig, zu vorhersehbar ist die von einem türkischen Mann konstruierte Handlung. Das Geschriebene plätschert vor sich hin, man erfährt nichts, was man bei halbwegs ausgebildeter Beobachtungsgabe nach zwei bis drei Türkei-Urlauben nicht eh schon wüsste. Selbst literarische „Kunstkniffe“, wie der Wechsel vom außenstehenden Erzähler zum Monolog agierender Darsteller, laufen ins Leere, da es Pamuk versäumt, in diesen Passagen den Erzählstil zu ändern und zu profilieren.
Orhan Pamuk ist der vielleicht beliebteste und erfolgreichste, männliche türkische Schriftsteller unserer Zeit. Die türkisch-maskuline Weltsicht sprießt so auch aus allen Poren. Ein Mann ist der Hauptdarsteller, Männer dominieren den Alltag, die Sicht auf die Frauen ist männlich-traditionell. Und genau deshalb wieder der ungläubige Blick auf das Erscheinungsdatum. Bei aller Liebe zur authentischen Darstellung der Realität – wo bleibt die wenigstens angedeutete Kritik zum Beispiel an der Stellung und Rolle der Frau in dieser gesellschaftlichen Umgebung? Dürfte man das 2014 von einem Nobelpreisträger nicht verlangen? Warum durchgehend diese rosarote Wolke, diese naive Zufriedenheit, die sich vom Protagonisten auf die ganze Atmosphäre des Romanes überträgt? Selbst wenn Armut und Leid geschildert werden, bleiben diese immer systemimmanent.
Schwer erklärlich bleibt bis zum Schluss der Titel des Buches. „Diese Fremdheit in mir“ kommt als Terminus zwar immer mal wieder in unterschiedlichsten Zusammenhänge vor, wird aber auch im Kontext nicht klarer. Vielleicht ein Übersetzungsproblem? Im Originaltitel “Kafamda Bir Tuhaflık” bedeutet Tuhaflik eher Eigenheit, Marotte, Verschrobenheit, was dem eigenbrötlerischen Charakter des Mevlut schon eher entspricht.
So bleibt auch in mir als Leser am Schluß eine Art von Fremdheit oder besser Befremdlichkeit ob des preisgekrönten Erfolges dieses Autors. Über den politischen Background des Literaturnobelpreises hatte ich bereits bei Olga Tokarczuk spekuliert. Orhan Pamuk lässt in mir die Ahnung aufkommen, dass dieser Preis auch eine Art Fleißkärtchen sein könnte.

Genre: Belletristik, Politik und Gesellschaft, Roman
Illustrated by Fischer Verlag