Das Jahr, in dem ich aufhörte …

Unvereinbar konträre Welten

Schon der epische Titel «Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen und anfing zu träumen» des post-kapitalistischen Romans von Thomas von Steinaecker weist auf eine positive Entwicklung hin. Was als realistische Beschreibung des Turbo-Kapitalismus beginnt, endet in einem futuristischen Vergnügungspark in Samara, der seine Besucher zum Träumen einlädt und seine Ich-Erzählerin schließlich dazu bringt, das Buch zu schreiben, das wir in Händen halten.

Die 42jährige Renate, alleinstehend und kinderlos, erfolgreiche Versicherungs-Agentin, wird zur Key-Account-Managerin befördert und von Frankfurt nach München versetzt. Sie befindet sich gerade in einer emotional schwierigen Phase, ihre Mutter ist erst vor kurzem verstorben und ihr verheirateter Chef und Lover hat sie kürzlich eiskalt abserviert. Der Roman beginnt mit ihrem ersten Arbeitstag am 1. Oktober 2008, kurz nach der Pleite von Lehman Brothers. Die emotional vereinsamte Frau stürzt sich mit vollem Elan in die Arbeit, sie gewinnt auch sehr schnell einen neuen Premium-Kunden. Und dann ist auch noch eine interne Revision angesetzt, wobei der Controller Renate als Beisitzende zu den Einzelgesprächen mit der Belegschaft hinzuzieht. Schließlich vermittelt ihr der zufriedene Premium-Neukunde einen Riesenauftrag, ein russischer Großkonzern will in München einen ultramodernen Vergnügungspark errichten und bei ihr versichern. Sie fliegt zu einem ersten Gespräch nach Samara in die Firmenzentrale und besichtigt den dortigen Park. Von ihrem Chef aus München erhält sie am nächsten Tag telefonisch die Nachricht, dass die ganze Abteilung aufgelöst wird und alle Mitarbeiter ab sofort den Arbeitsplatz verlieren.

Mit genauem Blick für Details schildert der Autor die moderne Arbeitswelt in der Assekuranz mit ihrem ständigen Zwang zu Wachstum, mit neidischen Kollegen und oft schwierigen Kunden. Die müssen mit ausgeklügelten psychologischen Tricks nicht nur zum Abschluss überredet, sondern möglichst auch noch dazu gebracht werden, durch unrealistische Risiko-Analysen überhöhte Prämien für die jeweilige Police zu akzeptieren. All das vollzieht sich in einem abstoßend desillusionierenden Fachjargon. In diesem technokratischen Milieu entwickelt die emotional unterentwickelte, aber gut bezahlte Heldin permanent neue Absturzängste, gegen die auch ihre vielen Psychopharmaka kaum noch helfen. Das artikuliert sich in ihrem mehr als peinlichen Zwang zum Pfandflaschen-Sammeln in öffentlichen Abfallkörben. Mit dem Vergnügungspark setzt der Autor dem bedingungslos auf Rationalität getrimmten Versicherungs-Milieu eine märchenhafte Traumwelt entgegen, die in ihrer Nutzlosigkeit den Alternativ-Entwurf darstellt für eine menschlichen Urbedürfnissen gerecht werdende Lebensweise. Dazu gehört dann auch, dass die Heldin in Samara bleibt, sich eine bescheidene Unterkunft sucht und anfängt, ihre Geschichte aufzuschreiben. Sie tut das mit Bleistift, eine nicht nur symbolische Rebellion gegen den nervenden Technologie-Druck.

Thomas von Steinaecker lässt seine extrem rationale Romanheldin resigniert aus ihrer zermürbenden, ausschließlich dem schnöden Mammon gewidmeten Erwerbswelt aussteigen. Animiert durch die Traumwelten des Vergnügungsparks widmet sie sich nunmehr einer kontemplativen, dem eigenen Seelenheil dienenden Beschäftigung, dem Schreiben über das eigene Leben. Ein Akt der Selbstvergewisserung und der psychischen Gesundung, welcher, Authentizität vortäuschend, durch in den Text eingestreute Bilder aus dem Nachlass der Mutter illustriert wird. Zu dieser toughen Heldin gewinnt man allerdings keine emotionale Nähe als Leser, und auch die anderen Figuren wirken seltsam blutleer. Vieles an der anfangs mitreißenden Geschichte ist zudem zweifelhaft oder bleibt offen. Die konträren Welten des Romans stehen ohne jede Verbindung für sich allein, als Abbild der Widersprüche unserer modernen Gesellschaft ist dieser Roman jedenfalls ziemlich misslungen.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Das verlorene Paradies

Verklärte historische Sicht

Der im Original 1994 erschienene, in der deutschen Übersetzung «Das verlorene Paradies» betitelte Roman hat dem in Sansibar geborenen und in England lebenden Schriftsteller Abdulrazak Gurnah den Durchbruch gebracht. «Für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten» wurde 2021 sein Œuvre mit dem Nobelpreis geehrt. In Deutschland löste die Preisvergabe ziemliche Beschämung aus, war doch hierzulande selbst den Insidern weder der Preisträger noch sein Werk bekannt, vieles davon war auch nie ins Deutsche übersetzt worden. Mit einer eiligst nachgedruckten Neuauflage ist der erfolgreiche Entwicklungs-Roman nun wieder auf Deutsch erhältlich. In seiner Reise-Episode habe dieser Roman deutliche Bezüge zum «Herz der Finsternis» von Joseph Conrad, hat das Nobel-Komitee konstatiert. Er habe zudem, vor dem Hintergrund der Kolonisation in Ostafrika Ende des 19ten Jahrhunderts, Anklänge an die Geschichte von Yusuv aus dem Koran.

In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg muss der zwölfjährige Yusuf, dessen Vater sich bei einem reichen Araber Geld geliehen hat, welches er nicht zurückzahlen kann, sein armseliges Elternhaus verlassen. In der fernen Stadt soll er bei ‹Onkel Aziz› so lange in dessen Krämerladen arbeiten, bis diese Schulden abgetragen sind. Angeleitet von seinem Kollegen Khalil, der für den Laden verantwortlich ist, wird der aufgeweckte Junge wegen seiner Menschen-Freundlichkeit bei allen Kunden schnell sehr beliebt. Insbesondere bei den Frauen, von denen einige schon bald ein Auge auf den schönen Jüngling geworfen haben. Der hinter dem Haus des Händlers gelegene Garten erscheint Yusuf mit seinen exotischen Pflanzen und dem Teich in der Mitte wie ein Paradies. In seinem epikureischen Denken sieht er sich, innerlich frei, als glücklicher Mensch. Wie sich schließlich herausstellt, sind sowohl Khalil als auch der alte Gärtner wie er ebenfalls quasi Eigentum von Aziz. Sie arbeiten als Sklaven für ihn, ohne sich ein anderes Leben auch nur vorstellen zu können.

In größeren Abständen unternimmt Aziz ausgedehnte Handelsreisen ins Landesinnere, er treibt mit den dort lebenden Völkern einen lukrativen Tauschhandel. An einer solchen Handels-Karawane in besonders entfernte, unbekannte Länder muss schließlich auch Yusuf teilnehmen. Er wird dabei mit unsäglichen Strapazen, Krankheit und Tod konfrontiert, aber auch mit unsäglichen Grausamkeiten. Seine naiv unbeschwerte Jugend endet abrupt, seine innere Freiheit geht verloren. Diese letzte Reise wird auch finanziell ein Fiasko, Aziz hat größte Mühe, seine Leute zu bezahlen und die an der erfolglosen Expedition beteiligten Geldgeber zu vertrösten. Der von prophetischen Träumen geplagte Yusuf verliebt sich schließlich in Anima, die einst als Mädchen mit Khalil zusammen ins Haus von Aziz gekommen war und von ihm als blutjunge zweite Frau geheiratet wurde. Wie oft bei Abdulrazak Gurnah gibt es aber auch hier kein versöhnliches Ende. Die Kolonial-Mächte verändern brutal das Leben der unterdrückten Völker, der traditionelle Tauschhandel kommt zum Erliegen. Damit verschwindet auch das bisher friedliche, ausbalancierte Nebeneinander der verschiedenen Ethnien, Religionen und des in munterem Durcheinander gesprochenen Kisuaheli und Arabisch.

Das Besondere des Romans ist die Perspektive der Unterdrückten, aus der heraus, mit elegischer Grundstimmung, illusionslos erzählt wird. Ziemlich ungewohnt für westliche Leser ist ferner auch die religiöse Bezugnahme auf den Koran statt auf die Bibel. In bunten Bildern wird hier einerseits ein Paradies genügsamer Menschen geschildert, die sich allen Zumutungen resigniert unterwerfen, andererseits gibt es aber auch keine Grausamkeit, keinen Gewaltexzess, keinen Ekel, den der Autor seinen Lesern erspart. Seine einseitig verklärte Sicht auf die historische Realität trübt den positiven Eindruck von diesem Roman zudem beträchtlich.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Diese Fremdheit in mir

Knapp 600 Seiten Print- oder 5.200 KB eBook – ein gewaltiges Werk, das wahrscheinlich schon per se einen Literatur-Nobelpreis wert wäre, hätte man diesen dem türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk nicht bereits 2006 verliehen. Diese “Fremdheit in mir” erschien erst 2014, also 6 Jahre nach der Aufnahme in den Literatur-Olymp.
Erscheinungsdatum wirklich 2014? Man stutzt und will es kaum glauben. So jung? Eigentlich doch so zeitnah und modern, aber…? Aber der Reihe nach.

Pamuks Buch ist eine Familien-Saga mit allem, was dazu gehört. Ein Epochen übergreifender Generationen-Roman mit der zentralen Figur des Boza-Verkäufers Mevlut (Wiki: „Boza ist ein leicht alkoholisches, süßlich-prickelndes Bier, ursprünglich aus Hirse, das auf dem Balkan und in der Türkei, in Zentralasien und im Nahen Osten konsumiert wird“).
1954 kommt Mevlut, wie so viele, als kleiner Junge mit seinem Vater aus Anatolien nach Istanbul. 60 Jahre lang begleitet der/die LeserIn Mevluts Schicksal und das seiner Eltern, Onkel, Tanten, Cousins, Frau(en), Schwiegereltern, Töchter, Schwiegersöhne, Enkel, SchwägerInnen, Freunde. Und das alles vor dem Hintergrund der türkischen Historie und insbesondere der Entwicklung Istanbuls. Da bedarf es in der Tat schon einer vierseitigen Chronologie im Anhang, um den Über- und Durchblick nicht zu verlieren. Vor allem, wenn man ins Kalkül zieht, dass man Pamuks Schreibstil durchaus als detailverliebt bezeichnen darf.
Das Positive an dem Buch lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Es ist ein relativ authentisches Spiegelbild der türkischen Gesellschaft über sechs Jahrzehnte und insbesondere der vielen einfachen Menschen vom Land, die in der Metropole Istanbul ihr Glück versuchen.
Lässt man allerdings auch nur ein wenig literarische Kritik walten, handelt es sich um eine türkische Telenovela, die in jedem TV-Kanal nach vier Wochen abgesetzt würde. Zu zähflüssig, zu langweilig, zu vorhersehbar ist die von einem türkischen Mann konstruierte Handlung. Das Geschriebene plätschert vor sich hin, man erfährt nichts, was man bei halbwegs ausgebildeter Beobachtungsgabe nach zwei bis drei Türkei-Urlauben nicht eh schon wüsste. Selbst literarische „Kunstkniffe“, wie der Wechsel vom außenstehenden Erzähler zum Monolog agierender Darsteller, laufen ins Leere, da es Pamuk versäumt, in diesen Passagen den Erzählstil zu ändern und zu profilieren.
Orhan Pamuk ist der vielleicht beliebteste und erfolgreichste, männliche türkische Schriftsteller unserer Zeit. Die türkisch-maskuline Weltsicht sprießt so auch aus allen Poren. Ein Mann ist der Hauptdarsteller, Männer dominieren den Alltag, die Sicht auf die Frauen ist männlich-traditionell. Und genau deshalb wieder der ungläubige Blick auf das Erscheinungsdatum. Bei aller Liebe zur authentischen Darstellung der Realität – wo bleibt die wenigstens angedeutete Kritik zum Beispiel an der Stellung und Rolle der Frau in dieser gesellschaftlichen Umgebung? Dürfte man das 2014 von einem Nobelpreisträger nicht verlangen? Warum durchgehend diese rosarote Wolke, diese naive Zufriedenheit, die sich vom Protagonisten auf die ganze Atmosphäre des Romanes überträgt? Selbst wenn Armut und Leid geschildert werden, bleiben diese immer systemimmanent.
Schwer erklärlich bleibt bis zum Schluss der Titel des Buches. „Diese Fremdheit in mir“ kommt als Terminus zwar immer mal wieder in unterschiedlichsten Zusammenhänge vor, wird aber auch im Kontext nicht klarer. Vielleicht ein Übersetzungsproblem? Im Originaltitel “Kafamda Bir Tuhaflık” bedeutet Tuhaflik eher Eigenheit, Marotte, Verschrobenheit, was dem eigenbrötlerischen Charakter des Mevlut schon eher entspricht.
So bleibt auch in mir als Leser am Schluß eine Art von Fremdheit oder besser Befremdlichkeit ob des preisgekrönten Erfolges dieses Autors. Über den politischen Background des Literaturnobelpreises hatte ich bereits bei Olga Tokarczuk spekuliert. Orhan Pamuk lässt in mir die Ahnung aufkommen, dass dieser Preis auch eine Art Fleißkärtchen sein könnte.

Genre: Belletristik, Politik und Gesellschaft, Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Die wahre Geschichte von Ned Kelly

Robin Hood in Australien

Für seinen Roman «Die wahre Geschichte von Ned Kelly und seiner Gang» erhielt der australische Schriftsteller Peter Carey 2001 den Booker Prize. Der als bedeutendster lebender Autor seines Landes angesehene Romancier ist damit einer der vier Autoren die den seit 1969 vergebenen Buchpreis zweimal erhalten haben. Wie fast immer bei diesem Autor ist sein Roman inhaltlich auf seine Heimat bezogen hier auf den legendären 1854 geborenen ‹Staatsfeind› Ned Kelly der zu den als Bushranger bezeichneten Outlaws gehörte. Solch berühmte historische Figuren werden ja gern wie auch in dieser fiktiven Autobiografie zum Robin-Hood-artigen Volkshelden verklärt Ned Kelley habe sich ja nur gegen die Willkür der verhassten Kolonialbehörden aufgelehnt. Diesen nationalen Mythos hat der Autor durch seinen Roman auch international bekannt gemacht.

In 17 als Päckchen bezeichnete ‹Papierbögen› unterteilt schildert der Romanheld tagebuchartig seiner Tochter die ihn nie kennen gelernt hat seine «wahre Geschichte». Als Sohn irischer Einwanderer die als Squatter genannte Farmer ein armseliges Leben am unteren Ende der sozialen Hierarchie fristen muss Ned schon mit zwölf Jahren als Halbwaise in dem vaterlos gewordenen Haushalt mitarbeiten. Seine Mutter von ihm über alles geliebt bessert mit dem Verkauf von selbst gebranntem Schnaps und gelegentlichen Liebesdiensten an zweifelhaften Mannsbildern die meist leere Haushaltskasse ein wenig auf. Einer von ihren Freiern ist der legendäre Harry Power der Ned auf ihren Wunsch hin unter seine Fittiche nimmt bei ihm soll er das Handwerk des ‹Bushrangers› lernen. Nach diversen Gaunereien und Viehdiebstählen bei den Reichen die er mit einigen ihm treu ergebenen Ganoven mit seiner Gang gemeinsam begeht erschießt er bei einem Schusswechsel einen Polizisten und wird fortan von einem wachsenden Aufgebot der Polizei verfolgt. Durch einen raffiniert ausgetüftelten Bankraub in den er die ganze ihm wohlgesinnte Bevölkerung einer Kleinstadt als Publikum mit einbezieht verschafft er sich das benötigte Geld für seine geplante Auswanderung. Dazu kommt es aber nicht mehr denn die Behörden schicken schließlich eine ganze Hundertschaft Polizisten mit der Eisenbahn in die kleine Stadt wo es dann in bleihaltiger Luft zum Showdown kommt.

Peter Carey hat seine in Briefform angelegte fiktive Autobiografie in einer seinem ungebildeten Helden angemessenen Sprache verfasst um größtmögliche Authentizität vorzutäuschen. Und so finden sich in seinem Text außer den Punkten an den Satzenden weder Kommata noch sonstige Satzzeichen. Was beim Lesen zunächst mal irritierend ist obwohl man sich daran gewöhnen kann diese Rezension mag als Beispiel dafür dienen. Durch eingestreute Zeitungsberichte und schriftliche Eingaben an die Behörden wird der beabsichtigte Realitäts-Effekt noch verstärkt. Ned Kelly wird psychisch als weitgehend emotionsloser Typ dargestellt der außer seiner mit ihm ödipal verbundenen Mutter für die er wirklich alles tut niemanden vorbehaltlos liebt nicht mal seine Frau.

In der Frage ob Ned Kelly ein verabscheuungswürdiger skrupelloser Verbrecher ist oder eine Art selbstloser Freiheitskämpfer für die unterdrückte irische Minderheit nimmt der Autor deutlich die Position seines Ich-Erzählers ein. Er relativiert dessen Taten als moralisch vertretbar als eine durch den Unrechts-Staat selbst heraufbeschworene politische Revolution der sich ja auch viele Gleichgesinnte angeschlossen hätten er stilisiert ihn damit quasi als Opfer. Der mit seinem abenteuerlichen Geschehen an Western erinnernde Roman ist unterhaltsam und historisch bereichernd auch wenn er zuweilen satirisch überzeichnet scheint. Man könnte zum Beispiel die eisernen Rüstungen der Bande beim letzten Gefecht so deuten wird im Internet aber eines Besseren belehrt. Neds von Kugeln zerbeulter Schutzpanzer kann tatsächlich als Kultgegenstand in einem Gefängnis-Museum besichtigt werden.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Weit über das Land

Sie sind verheiratet? Haben Kinder? Gehen einer regelmässigen Berufstätigkeit als Angestellter nach?

Dann stellen Sie sich Folgendes vor.

Sie kommen mit Ihrer Familie aus Ihrem zweiwöchigen Sommerurlaub an einem spanischen Strand nach Hause ins Einfamilienheim und haben schon das Gröbste aus- oder eingeräumt. Alles wie immer. Die Wäsche liegt bereits vor der Waschmaschine, die Kinder sind im Bett. Gemütlich setzen Sie sich mit Ihrer Frau auf die Terrassenbank, geniessen ein Glas Wein und lesen ein wenig in den aufgelaufenen Zeitungen. Bis dahin alles bekannt? Abwarten.

Die Frau steht auf, um nach dem rufenden Sohn zu schauen und geht danach vom Tag ermüdet direkt ins Bad und Bett. Der Mann steht ebenfalls auf und geht zum Gartentor und verlässt das Grundstück. Er hat nichts dabei außer den Kleidern, die er noch von der Fahrt am Leib trägt, ein paar simple Utensilien in der Tasche, ein wenig Bargeld und eine Kreditkarte. Er geht einfach weiter. Stunde um Stunde, die ganze Nacht, die folgenden Tage, Wochen. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Der Friedhof der vergessenen Bücher

Ein Buch wie eine Kathedrale

Der Ruhm des spanischen Schriftstellers Carlos Ruiz Zafon gründet sich auf den ersten Band einer Tetralogie, deren geheimnisvoller Ort «Der Friedhof der vergessenen Bücher» ist, zu dem unter gleichem Namen mit dem vorliegenden Erzählband nun posthum eine Ergänzung erschienen ist. Es handelt sich um «eine tief unter Barcelona verborgene Bibliothek, in der die Bücher darauf warten, ihre Seele an ihren Leser weiterzugeben». Die vier Romane bilden einen breitgefächerten Erzählkosmos, in dem die Bücher selbst sich ihre Leser suchen, nicht umgekehrt. Mit dem vorliegenden Band weiterführender, ergänzender Geschichten sollte dieser labyrinthische Kosmos nach dem Willen des früh verstorbenen Autors weiter wachsen.

Mit Abstand erfolgreichster Roman war der unter dem Titel «Der Schatten des Windes» erschienene, erste Teil der Tetralogie, der in 36 Sprachen übersetzt mehr als 15 Millionen Mal verkauft wurde. Einige von dessen Figuren, aber auch von den drei Folge-Romanen, finden sich hier ebenso wieder wie viele Themen und Motive der Tetralogie. Mit sieben bisher unveröffentlichten der insgesamt elf Erzählungen stellen sie ein letztes Geschenk des Autors an seine treuen Leser dar. Carlos Ruiz Zafon hat dazu erklärt: «Für mich ist der Friedhof der vergessenen Bücher so etwas wie die Verkörperung der Erinnerung, der Identität. Das geht weit über Bücher oder Literatur oder geistige Welten hinaus».

In «Blanca und der Abschied» geht es um die Liebe des angehenden Dichters David Martin , in «Namenlos» erfahren wir von dessen tragischer Geburt, die dritte Geschichte handelt von einem selbstlosen Arzt, dem es übel ergeht, und in der nächsten erzählt David Martin seinen Mitgefangenen «eine Geschichte von Büchern, Drachen und Rosen». Eine längere Erzählung handelt vom Fürst des Parnass, es folgt «Eine Weihnachts-Geschichte», wir sehen «Alicia im Morgengrauen» und erleben «Graue Männer» als Auftragskiller. Nach einer Liebesaffäre in «Die Frau aus Dunst» folgt mit «Gaudi in Manhattan» eine Hommage auf den berühmten Architekten. «Ist dir mal aufgefallen, dass die Leute immer mehr verblöden, je intelligenter die Handys werden?» fragt eine Rothaarige in Manhattan den Ich-Erzähler der kurzen, letzten Geschichte mit dem Titel «Apokalypse in zwei Minuten». Das Ende sei gekommen, aber da er «nie im Finanzsektor gearbeitet habe», gestehe sie ihm drei Wünsche zu. «Ich will wissen, was der Sinn des Lebens ist. Ich will wissen, wo es das beste Schokoladen-Eis der Welt gibt. Und ich will mich verlieben». «Die Antwort auf die beiden ersten Wünsche ist dieselbe», sagt die Rothaarige, und der Erzähler ergänzt: «Was den dritten Wunsch betraf, gab sie mir einen Kuss».

Barcelona bildet den örtlichen Ausgangspunkt fast aller Geschichten von Zafon, die er mit gedrechselten Worten in vergilbten Bildern beschreibt. Da ist von engen, labyrinthischen Gassen die Rede, von düsteren Fassaden, die in Nebelschwaden verschwinden. Fast immer fällt auch Schnee in seinen Beschreibungen, so als ob wir in Moskau sind und nicht in einer Stadt mit Mittelmeerklima, Licht und Sonnenschein passen nicht zur düsteren Welt Zafons. Ein immer wiederkehrendes Motiv sind bei ihm auch die Bücher, und meist ist ein satanischer Verleger namens Corelli in das Geschehen verwickelt, ihn mag der Autor, wie er erklärt hat, ganz besonders. Es ist diese unheimliche, geisterhafte Atmosphäre, die sein Markenzeichen darstellt und seine phantastische Erzählbühne stimmungsmäßig grundiert. Dabei gerät er mitunter deutlich in die Gefilde der Trivial-Literatur, was er durch einen Vergleich zu relativieren sucht: «Ein Roman sollte wie eine gotische Kathedrale sein, bestehend aus Worten und Geschichten und Figuren: Man geht hinein und man denkt nicht über die Mathematik oder Physik des Bauwerks nach». Und tatsächlich erzeugt er einen publikums-wirksamen Lesesog, der dafür sorgen dürfte, dass seine Bücher wohl nie auf dem «Friedhof der vergessenen Bücher» landen werden.

Fazit: lesenswert

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Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Fischer Verlag

Schiffbruch mit Tiger

Literarischer Schiffbruch

Der kanadische Schriftsteller Yann Martel hat mit seinem Roman «Schiffbruch mit Tiger» 2002 den Durchbruch geschafft, das Buch wurde  mit dem Booker Prize ausgezeichnet. In einer selbst-ironischen, klammerartigen Vorgeschichte erklärt er zunächst, wie er durch den Tipp eines alten Mannes zu seinem Stoff gekommen sei und den «Helden der Geschichte» dann auch leibhaftig getroffen habe. «Ich fand es nahe liegend, dass Mr Patel sie in der Ichform erzählt». Das deutsche Feuilleton war allerdings wenig begeistert und bemängelte verärgert «Spielzeugton» und «plumpe Komik», sprach gar von «literarischem Schiffbruch»! Ja wie denn nun?

Piscine Molitor Patel, genannt Pi, Sohn eines indischen Zoodirektors, überlebt als einziger den Schiffbruch des Frachters, mit dem der väterliche Zoo nach Kanada umgesiedelt werden soll. Außer ihm befinden sich ein Tiger, eine Tüpfelhyäne, ein Orang-Utan und ein Zebra auf dem einzigen Rettungsboot, das zu Wasser gelassen werden konnte. Durch einen Irrtum des Zollbeamten wurde der im Ausland gekaufte, bengalische Tiger auf den Namen ‹Richard Parker› getauft, der sechzehnjährige Pi kennt ihn schon lange. In dem sofort ausbrechenden Überlebenskampf ist das Zebra das erste Opfer, es wird von der Hyäne gefressen, anschließend wird der Orang-Utan ihre Beute. Als der unter die Persenning des Bootes gekrochene, seekranke Tiger schließlich hervorkommt, frisst er die Hyäne. Als Nächster wäre Pi an der Reihe, aber in seiner Not kommt er auf die rettende Idee, aus den vorhandenen Rettungswesten und Rudern ein Floß für sich zu bauen. Das schwimmt nun, an einem langen Tau befestigt, dem Boot hinterher und dient dabei auch noch als Schwimmanker, was bei hohem Wellengang ein Kentern des Rettungsbootes verhindern hilft, indem es dessen Bug in die Wellen dreht. Durch seine Erfahrung mit Tieren gelingt es ihm sogar, sich ‹Richard Parker› vom Leibe zu halten, indem er dessen Seekrankheit ausnutzend das Boot heftig ins Schlingern bringt und gleichzeitig in eine schrille Signalpfeife bläst. Beides verbindet sich für das Raubtier zu einer äußerst unangenehmen Erfahrung, und schon bald reagiert der Tiger nur noch auf das Pfeifen und zieht sich unter seine Persenning zurück. Durch das Markieren mit seinem Urin als eigene Reviergrenze und regelmäßiges Füttern mit selbstgefangenen Fischen gelingt es Pi, den Tiger auf Abstand zu halten.

Die immer abenteuerlicher werdende Geschichte beginnt allmählich märchenhafte Züge anzunehmen. Deren Höhepunkt bildet nach vielen Monaten auf See eine von Erdmännchen besiedelte, schwimmende Algeninsel mit fleischfressenden Bäumen, die da plötzlich auftaucht. Auf ihr bringen Süßwasserseen wundersamerweise tote Fische hervor, die den Erdmännchen als Nahrung dienen, und sie selbst wiederum sind für ‹Richard Parker› ein gefundenes Fressen. Im letzten Kapitel der dreiteiligen Geschichte schildert der Autor einen Besuch japanischer Ermittlungs-Beamter, die den nach seiner Rettung in einem mexikanischen Krankenhaus liegenden Piscine Molitor Patel über die unglaubwürdigen Umstände seiner robinson-artigen, 227tägigen Odyssee befragen. Vor allem aber interessieren sie sich für Details beim ominösen Untergang des Frachters.

Im ersten Teil des Romans wird die Vorgeschichte mit der Jugend von Pi erzählt, die neben vielen interessanten Fakten über Tiere im Allgemeinen und Zootiere im Besonderen sich intensiv der Religion widmet. Wobei Pi, eine originelle Idee von Yann Martel, neben seinem Hinduismus sich auch für den Islam begeistert, um sich dann sogar noch taufen zu lassen. Aus diesem gerade heutzutage vorbildhaften, friedlichen Nebeneinander dreier Weltreligionen leitet er verblüffende Erkenntnisse ab, denen er, leider völlig unreflektiert, die moralfreien Instinkte wilder Tiere gegenüberstellt. Verglichen beispielsweise mit «Herr der Fliegen» ist dieser Roman mit seiner plumpen Botschaft eher ein Abenteuerbuch, keinesfalls jedoch prämierwürdige Hochliteratur.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Die Nibelungen

Uns ist in alten mæren wunders vil geseit

Die Büchner-Preisträgerin Felicitas Hoppe hat mit ihrem neuen Buch «Die Nibelungen» ein weiteres originelles Werk vorgelegt, das Mythen auf eine ganz eigene Art erzählt. Waren es bisher die Jungfrau von Orleans oder der Rattenfänger von Hameln, so ist es nun das in Worms beginnende Heldenepos, ein deutscher Stummfilm, wie es im Untertitel heißt, welches die Autorin auf ihre Weise neu bearbeitet hat. Sie bietet damit einen ungewöhnlichen Zugang zu dem mythologischen Stoff, dessen Inhalt sie als bekannt voraussetzt. Sie sei inspiriert worden «von dem verqueren Wunsch, ihn noch einmal ganz von vorn, bis hinein in die Gegenwart aufzurollen, jenseits von Aktualisierung und Kitsch, den größten Feinden der Rezeption eines Mittelalters, von dem wir nach wie vor wenig wissen», hatte sie vorab in einem ‹Werkstattbericht› erläutert.

In drei Kapiteln wird die sattsam bekannte, kanonische Geschichte in groben Zügen nacherzählt, unterbrochen jeweils von einem Kapitel «Pause». Zur Erläuterung der einzelnen Szenen werden, quasi als Reminiszenz an den Stummfilm, viele erläuternde Texttafeln zwischengeschaltet, was die Orientierung in der manchmal slapstickartig turbulenten Handlung durchaus erleichtert. Das mythische Geschehen selbst wird als alljährliches Festspiel in Worms unter freiem Himmel aufgeführt, ein wichtiges, touristisches Event. In den beiden langen Pausen werden die zahlreichen Darsteller, in einem erfrischend witzigen Plauderton, zu ihrer Rolle und ihrer Haltung zu dem Epos befragt. Als «Zeuge im Beiboot» beobachtet die im Abspann als Drehbuchautorin aufgeführte Felicitas Hoppe das kitschig inszenierte Schauspiel aus einer kritischen Distanz. Der vielbeschäftigte Tod wird dabei von einem «Laien aus Worms in einem Trainingsanzug von Woolworth» verkörpert, die Begleitmusik liefert der örtliche Männer-Gesangsverein, der Drache ist aus Pappmaschee. Mit «Die goldene Dreizehn» als Metapher bezeichnet die Autorin den im Rhein versenkten Schatz, der sich als ständig mutierender, unentwegt herum streunender Algorithmus erweist. Er ist der eigentliche Mittelpunkt in diesem blutrünstigen Tanz ums Goldene Kalb, denn darauf laufe es letzten Endes ja immer hinaus, macht uns die Autorin deutlich.

Sie benutzt dafür sehr virtuos drei Erzählebenen: Zum einen die Wormser Freilichtbühne mit ihrer massentauglichen, modernen Inszenierung der uralten Sage, die von ihr kräftig durch den Kakao gezogen wird, ferner der Stummfilm als dialogloser, künstlerisch anspruchsvoller Plot mit den Fakten sowie, kontemplativ besonders ergiebig, die schlagfertigen Pausen-Interviews, in denen auch das Theaterleben als solches karikiert wird. In einer Mischung aus intellektuell höchst anspruchsvollen Reflexionen mit immer wieder eingestreuten Späßen und Albernheiten brennt die Autorin ein erzählerisches Feuerwerk ab, das seinesgleichen sucht in der deutschsprachigen Literatur. Basis für Zitate ist die 2006 erschienene Übertragung des Nibelungenliedes von Uwe Johnson, szenisch wird auf den künstlerisch unerreichten Stummfilm von Fritz Lang Bezug genommen, der als einziger kitschfrei mit dem Stoff umgeht.

Stilistisch wortmächtig, thematisch anspruchsvoll, zugleich aber auch wohltuend albern, gelingt diesem Buch das Kunststück, mit fließenden Grenzen der abgedroschenen Sage nicht nur eine neue Sichtweise abzugewinnen, sondern auch auf witzige Art angenehm zu unterhalten. Alles in allem also ein raffiniert angelegtes literarisches Vergnügen, das im Nebeneffekt auch so manchen Leser dazu animieren dürfte, erstmals, oder mal wieder, entweder zum Original zu greifen oder diese Sage in moderner Übertragung nachzulesen, notfalls auch als Sachbuch. Und dabei stößt er womöglich dann auf den in Mittelhochdeutsch geschriebenen, ersten Satz des handschriftlich überlieferten Textes, den man früher in der Schule sogar auswendig gelernt hat: «Uns ist in alten mæren wunders vil geseit, von helden lobebæren, von grôzer arebeit».

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Mein Lieblingstier heißt Winter

Morbide Philosophie-Groteske

Es ist sein erster, dieser Roman, «Mein Lieblingstier heißt Winter». Schreibt sonst Theaterstücke, der Ferdinand Schmalz da, Dramatiker aus Österreich. Hat den Bachmannpreis gewonnen 2017, mit dem Kern seiner Geschichte, in Kleinschrift natürlich. Das bleibt ihm erspart, dem Leser heute, immerhin! Ist ein ziemlich schräger Roman draus geworden inzwischen, nominiert für den Frankfurter Buchpreis. Ob preisverdächtig, kann man schwer nur voraussagen, massentauglich wohl kaum, der Sprache wegen. Obwohl, nicht schwer zu lesen, gewöhnt man dran ziemlich schnell sich. Kann man ja gleich ausprobieren hier!

Ein Triceratops wird am Anfang da, im verlassenen Saurierpark, sauber geschrubbt. Soll wieder eröffnet werden, der Park. Die Firma Schimmelteufel hat den Auftrag, reinigt alles, Saurier und Tatorte. Der Schlicht wiederum, Verkaufsfahrer für Tiefkühlkost, bekommt ein makabres Angebot. Von dem Schauer, krebskranker Stammkunde, immer Rehragout 14tägig. Will sich in die Tiefkühltruhe legen, Suizid begehen drinnen. Er, Schlicht, soll die Leiche in den Wald verbringen dann, die Nachkommen zu schonen, absolut diskret, wird auch gut bezahlt dafür. Ist aber leer, die Truhe dann, nicht wie vereinbart, muss also die Leiche er suchen, der Schlicht. Und trifft dabei auf allerlei komische Leute. Auf den Ingenieur zuerst. Der hat sich, verbarrikadiert hat der sich regelrecht, Selbstschuss-Anlage, die Fenster zugemauert. Trifft auch auf die Tatortreinigerin Schimmelteufel. Und auf den Ministerialrat, hohes Tier, einflussreich, nur dass er Weihnachts-Schmuck sammelt, von den Nazis allerdings. Sehr merkwürdig das, ist doch erpressbar geworden dadurch. Und sie schließt sich an, dem Schlicht, bei der Suche, Schauers Tochter, die Astrid, muss doch Gewissheit haben.

Allesamt eine eng ineinander verstrickte Gesellschaft das, sumpfig, in Schmutz und Blut sich suhlend. Ein kleines Ensemble morbider Figuren, Sinnbild für ein vor sich hingammelndes Österreich, die Todessehnsucht zuhause dort. Also Nestbeschmutzung, literarisch ja typisch dorten, häufig zumindest. Es ist das alles, diese Geschichte vom Tod, ziemlicher Nonsens, aber lustig. Alle stecken unter einer Decke, wie er bald merkt, der mit dem treffenden Namen, der Schlicht, der Eismann also. Und halten zusammen da in ihrem Selbstmordclub, selbstbestimmtes Sterben als Zweck. Macht dann aber doch nicht jeder mit, hält sich einfach nicht dran, kommen nämlich schon mal Frauen dazwischen. Wie die Astrid, als Sadomaso-Gespielin von dem Ministerialrat, mit dem Codewort «Rehragout» für den Not-Ausstieg. Hat sich’s halt anders überlegt deshalb, der Suizid-Kandidat, macht ja doch richtig Spaß, so was. Trifft die Putzteufel auch, der Schlicht, dieses skrupellose Weib, Erpressung war bei der im Spiel sogar. Und der Tiefkühl-Fahrer dann landet im Sarg, zuletzt, lebendig begraben. Nicht ein Nervenkitzel nur, sondern eine verhängnisvolle Verwechslung, beinahe tot schon. Und der Anatom kommt auch noch ins Spiel jetzt, da im Seziersaal drinnen, mit dem scheintoten Schlicht obendrauf auf dem metallenen Arbeitstisch.

Trotz aller Theatralik darin, bei dem Autor kaum verwunderlich, ist dieser aberwitzige Plot vom Leben und Sterben, ist er tatsächlich doch ziemlich dialogarm geraten. Stilistisch wird eine eigentümliche Kunstsprache benutzt dabei, die zunächst abschreckend wirkt auf nichtsahnende Leser dann. Hat man ja so nicht so oft. Erzählt wird äußerst metaphernreich, allerdings auch recht eintönig mit der Zeit, ermüdend, ohne sprachliche Variationen darin. Eine dem Dialekt nahe Kunstsprache ist das, eine verquere Syntax nutzend, invertierte Satzstellungen vor allem. Häufige Wort-Wiederholungen und dem Subjekt vorangestellte Pronomen benutzt der Schmalz hier. Einem dem Mündlichen nahe kommenden Rhythmus folgend, verwendet er seine ureigene Diktion. Und die wirkt doch arg holzschnitt-artig, mit einer morbiden Komik obendrein, als Philosophie-Groteske unterhaltsam, mehr aber nicht.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Blaue Frau

MeToo

Acht Jahre lang hat Antje Ravik Strubel an ihrem neuen Roman mit der Titel «Blaue Frau» gearbeitet, wie sie im Nachwort schreibt, und das hat sich offensichtlich gelohnt, denn er wurde jüngst in die Shortlist für den Deutschen Buchpreis aufgenommen. Man darf spekulieren, was dafür ausschlaggebend war, die hochaktuelle Thematik oder das variationsreiche Roman-Konstrukt, welches «aufwühlend in einem großen Spannungsbogen» von einer Gewalterfahrung und ihren fatalen Folgen berichtet, wie die Jury zu ihrer Entscheidung verlauten ließ.

Adina, letzter Teenager in einem zunehmend entvölkerten Dorf im tschechischen Riesengebirge, verlässt 2006 nach dem Schulabschluss ihre Heimat, um in Berlin einen Intensiv-Sprachkurs zu absolvieren und anschließend dort ein Studium der Geowissenschaften aufzunehmen. Sie trifft auf eine Fotografin aus der Boheme, der sie Modell sitzt und der es gelingt, in den Fotos ihr zweites, männliches Ich, «den letzten Mohikaner», ans Licht zu holen. Sie hatte dieses Pseudonym für ‹Rio›, ihren bevorzugten Chatroom im Internet, ausgewählt, ein Symbol für ihr aussterbendes Dorf und ihre bedrückende Verlorenheit in der Fremde. Die lesbische Fotografin ist es dann auch, die ihr eine Praktikanten-Stelle in einem neuen Kulturzentrum auf einem Landgut in der Uckermark vermittelt. Dort wird sie von einem europäischen Kulturpolitiker, der zu Gesprächen über Fördergelder eingeladen ist, brutal vergewaltigt. In Panik flieht sie und landet nach einer abenteuerlichen Odyssee schließlich in Helsinki. Als Illegale arbeitet sie dort in einem Hotel, wo sie Leonides, einen estnischen EU-Abgeordneten und hochangesehenen Professor, kennen lernt, der sich vornehmlich der Menschenrechts-Thematik widmet. Als Adina anderthalb Jahre später auf einem Empfang, zu dem sie Leonides begleitet, ihren Peiniger wiedersieht, flüchtet sie Hals über Kopf und versteckt sich in einer eiligst angemieteten, möblierten Wohnung. Niemand weiß, wo sie abgeblieben ist, bis sie sich einer Aktivistin für Frauenrechte anvertraut, die ihr helfen soll, ihren Peiniger vor Gericht zu bringen.

«Blaue Frau» ist ein ambitionierter Roman nicht nur über Gewalt an Frauen und den dornenreichen Weg aus dem inneren Exil, in das sich seine Heldin geflüchtet hat, er widmet sich auch engagiert den politischen Abgründen Europas, dem unwürdigen Gezerre der Mitgliedsstaaten um Subventionen und kulturelle Fördertöpfe. Wobei die Ost/West-Differenzen ebenso eine Rolle spielen wie die unterschiedliche Stadt/Land-Lebensweise oder die DDR-Vergangenheit, die in der Person des skrupellosen Kulturzentrum-Gründers, einem ehemaligen NVA-Offizier mit nützlichen Seilschaften, exemplarisch zum Ausdruck kommt. Stilistisch ist der Roman durch seine kunstvoll ineinander verflochtenen Handlungs-Stränge geprägt, ferner durch eine immer wieder eingestreute, atmosphärisch stimmige und zum Geschehen passende Beschreibung der Natur, sei es im Riesengebirge, in der Uckermark oder in Finnland. Auch das quirlige Berlin ist mit seinem Flair und dessen Wirkung auf das tschechische ‹Landei› wunderbar treffend beschrieben.

Mit erstaunlichem Einfühlungs-Vermögen wird das Innere der Protagonistin tief ausgelotet, werden minutiös ihre Wahrnehmungen in der fremden Umgebung beschrieben. Andererseits belässt die Autorin das seelisch Verletzte ihrer Heldin in einer diffusen Ungewissheit, indem sie ihr beispielsweise, neben dem Kraft symbolisierenden ‹Mohikaner›, mit Adina, Nina und Sala drei mental nicht immer deckungsgleiche Namen gibt. Dazu trägt aber auch die titelgebende «Blaue Frau» selbst mit bei, eine der Protagonistin in kurzen Auftritten erscheinende, mystische Figur, die mit der Autorin identisch zu sein scheint und im Prozess des Schreibens die poetologische Linie vorgibt. Mit dieser Methode hält sie den Leser salopp gesagt bis zuletzt ‹bei der Stange› und bietet ihm reichlich Raum für eigene Interpretationen. Eine literarisch hochstehende Lektüre wartet hier auf anspruchsvolle Leser!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Daheim

Artifizielle Unbehaustheit

Sieben Jahre nach dem Erstling ist kürzlich unter dem Titel «Daheim» der zweite Roman von Judith Hermann erschienen. Die für ihre Kurzgeschichten hoch gelobte Schriftstellerin erzählt hier von einer Frau, die alles hinter sich lassend von der Stadt in die Einsamkeit Nordfrieslands zieht. Auf die Interview-Frage, was ‹Daheim› denn eigentlich sei, hat die Autorin geantwortet: «Ein utopistischer, märchenhafter Ort», das Wort tauche übrigens im Text nur ein einziges Mal auf, fügte sie noch hinzu.

Die namenlose, 47jährige Ich-Erzählerin erinnert sich im Rückblick an ihre dreißig Jahre zurückliegende Begegnung mit einem Zauberer. An der Tankstelle wurde sie von einem älteren Herrn angesprochen, der sie als Assistentin für seine Show mit der zersägten Jungfrau auf einem Kreuzfahrtschiff nach Singapur engagieren wollte. Aber sie hatte sich damals anders entschieden, hat Otis geheiratet, eine Tochter bekommen und sich, nachdem Ann das Elternhaus verlassen hat, von ihrem Mann getrennt. Nun lebt sie einsam in einem kleinen Haus an der Küste gleich hinterm Deich, kellnert bei ihrem Bruder in einer schäbigen Touristen-Kaschemme und versucht, in der Fremde heimisch zu werden. Ihre Tochter, die mit ihrem Freund irgendwohin unterwegs ist, meldet sich nur ganz selten mal per Skype und sagt nicht von wo. Mit ihrem Ex-Mann tauscht sie sich ab und zu brieflich aus. Allmählich freundet sie sich mit ihrer burschikosen Nachbarin Mimi an, der ehemaligen Freundin ihres Bruders. Der lebt jetzt mit der vierzig Jahre jüngeren, chaotischen Nike zusammen. Auf dem benachbarten Bauernhof betreibt Mimis wortkarger, eigenbrötlerischer Bruder Arild eine Schweinezucht, die Beiden haben schon bald ‹unverbindlich› Sex miteinander.

Von einer Handlung kann man eigentlich kaum sprechen in diesem Roman, der von psychotischen Sonderlingen bevölkert ist, die als typische Einzelgänger kontaktarm und emotional verkümmert neben einander her leben. Der lebensuntüchtige, aber angeberische Bruder der Erzählerin ist Kneipier geworden, seine Mesalliance mit Nike endet tragisch. Der Ex-Mann ist ein Musterexemplar von einem Messi, der in seinem angesammelten Müll zu ersticken droht. Arild lebt geradezu asketisch allein auf dem von seinen Eltern übernommen Bauernhof, in einer schon fast pathologisch peniblen Ordnung und Sauberkeit. Gemeinsam sind dem ambivalenten Figuren-Ensemble die Versagensängste und ihre verschiedenartig ausgeprägte Unbehaustheit. Die verhaltensgestörte Nike wurde von der Mutter oft tagelang in eine Kiste eingesperrt, ein Leitmotiv dieses Romans. Es findet sich in der Kiste des Zauberers, aber auch in einer Marderfalle wieder, die Arild aufstellt, als es nachts im Dachgestühl der Erzählerin andauernd rumort. Sie und ihr Bruder hatten als Kinder keinen Wohnungs-Schlüssel und mussten im Treppenhaus warten, bis die alleinerziehende Mutter nach Hause kam, manchmal bis zum frühen Morgen.

Leere und Fülle, Nähe und Distanz sind die bestimmenden Pole dieses erzählerischen Kosmos. Sprachlich suggeriert die für Judith Hermann symptomatische Parataxe zusammen mit den spröden Dialogen ein Bild unbedingter Realität, Seelisches wie Emotionen, Träume, Leidenschaften und Lebensfreude haben da partout keinen Platz. Die als Handlungsort gewählte, karge Landschaft ‹hinterm Deich› betont diese Intention wirkungsvoll. Auch Klimawandel und Massentierhaltung werden am Rande thematisiert in diesem Roman. Vieles aber bleibt offen, wird nur angedeutet und der Fantasie des Lesers überlassen, so auch der kryptische Schluss. Ein Effekt dieses artifiziellen Stils ist zudem, dass man schon wenige Tage später kaum noch weiß, worum es denn überhaupt ging in diesem Buch, es hinterlässt keine Bilder, die sich eingeprägt hätten, und keine Figuren, die einem ans Herz gewachsen wären. Dieser Roman dürfte für viele Leser eine herbe Enttäuschung sein, sie werden das Buch am Ende erleichtert zur Seite legen, wenn sie denn überhaupt so lange durchgehalten haben!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Chronik eines angekündigen Todes

Mord und Moral

Zu den bekanntesten Werken des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel Garcia Márquez gehört der 1981 erschienene Roman «Chronik eines angekündigten Todes». Die Geschichte geht auf eine wahre Begebenheit zurück. Im Stil des Magischen Realismus geschrieben, zu deren wichtigsten Vertretern der ein Jahr später mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Autor zählt, gehört der schmale Band inzwischen zu den südamerikanischen Klassikern.

«An dem Tag, an dem sie ihn töten sollten, stand Santiago Nasar um fünf Uhr dreißig morgens auf, um das Schiff zu erwarten, mit dem der Bischoff kam». In diesem ersten Satz steckt bereits ein Teil der beißenden Kritik des Autors, Bischoff und Töten werden in einem Atemzug genannt, Ursache und Wirkung also einer rigiden katholischen Sexualmoral, die dem fragwürdigen Ehrenkodex einer naiven, dörflichen Bevölkerung zugrunde liegt. Es ist die Geschichte einer pompösen Hochzeitsfeier und ihrer Folgen. Der erst vor wenigen Monaten in das Dorf gekommene, reiche und charismatische Bräutigam hat sich spontan ein schönes, junges Mädchen zu Braut erwählt. Die ist aber gar nicht begeistert, da sie ihn kaum kenne und nicht liebe. «Auch die Liebe lässt sich lernen», hält ihr die resolute Mutter entgegen, die Eltern stimmen der geplanten Ehe erfreut zu. Als die Schöne ihrer Mutter gesteht, dass sie keine Jungfrau mehr sei, werden ihre Bedenken dahingehend zerstreut, es gäbe da einschlägige Hebammen-Tricks, um dem meist ja ziemlich betrunkenen Bräutigam die geforderte Unberührtheit vorzugaukeln. Die Sache geht schief, nach der Hochzeitsnacht bringt der Bräutigam seine Braut zu den Eltern zurück, als Reklamation quasi. Die wütende Mutter prügelt aus ihr den Namen des Verführers heraus, Santiago Nasar sei es gewesen, ein arabisch-stämmiger junger Mann aus der Nachbarschaft. Die Zwillingsbrüder der Braut führen sich verpflichtet, die Familienehre wieder herzustellen, indem sie den Verführer töten. Der Skandal ist da, jeder im Dorf weiß davon, und jeder weiß auch, was nun geschehen wird.

Der Ich-Erzähler kommt 27 Jahre später in sein Heimatdorf zurück und spricht mit vielen Beteiligten über das noch fest in der gemeinsamen Erinnerung verankerte Geschehen von damals. Die aus seiner Perspektive erzählte Geschichte erscheint nicht nur im Nachhinein völlig grotesk, es bleiben auch viele Fragen offen. Niemand habe das ahnungslose Opfer nachdrücklich vor den auf ihn lauernden Zwillingen gewarnt, keiner habe versucht, die Tat zu verhindern, die meisten aber nahmen die Drohung überhaupt nicht ernst. Die journalistisch knappe Erzählweise klammert beispielsweise die Vorgeschichte der Entjungferung ebenso aus wie das Geschehen in der Hochzeitsnacht. Nur vage wird angedeutet, dass der mit einer andern Frau verlobte Santiago Nasar mutmaßlich nicht der Verführer gewesen sei, was seine Sorglosigkeit erklärt, als er wenige Minuten vor dem Mord doch noch von der Drohung der Zwillinge erfährt.

Garcia Márquez legt den Fokus seiner Erzählung konsequent auf die Umstände vor der Tat, er blendet also alle für die Tat selbst nicht relevanten, voraus gegangenen Geschehnisse bewusst aus. Eine puristische, auf jegliche Spannung verzichtende Erzählweise, die den religiös indizierten, moralischen Irrwitz, der hier geradezu satirisch thematisiert wird, genau deshalb umso deutlicher bloßlegt. Dazu tragen insbesondere auch seine allesamt recht einfältig wirkenden Figuren bei, deren oft verschrobene, undurchsichtige Charaktere er nicht beschreibt, sondern durch ihr irreales Handeln verdeutlicht. Selbst die beiden Täter haben Zweifel an ihrer vermeintlichen Ehrenpflicht. Sie tun alles, um ihr zu entgehen, indem sie ihre Absicht lautstark ankündigen in der Hoffnung, jemand würde beherzt eingreifen und sie vom Tatzwang befreien. Ein fast kammerspielartiges Setting macht diesen kleinen Roman zu einem nachwirkenden Leseerlebnis, dessen offene Fragen den Leser noch lange beschäftigen, gerade weil sie so abstrus erscheinen.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Johanna

Verquer, aber emotional anregend

«Johanna», der 2006 erschienene dritte Roman von Felicitas Hoppe, widmet sich der französischen National-Heldin Jeanne d’Arc, die am 30. Mai 1431 auf dem Marktplatz von Rouen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Doch ist dies mitnichten ein historischer Roman, das kurze Leben der 1920 heiliggesprochenen, von vielerlei Mythen umwobenen Jungfrau von Orleans dient hier lediglich als Gegenstand einer Dissertation. Der 2012 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichneten, literarisch vielseitig tätigen Schriftstellerin eilt der Ruf einer begnadeten Fabuliererin voraus. «In einer Zeit, in der das Reden in eigener Sache die Literatur immer mehr dominiert, umkreist Felicitas Hoppes sensible und bei allem Sinn für Komik melancholische Erzählkunst das Geheimnis der Identität», begründete die Darmstädter Jury die Preisvergabe. Der vorliegende Roman ist ein typisches Beispiel dafür.

Die namenlose Ich-Erzählerin geht als Doktorandin eigene Wege. Indem sie Johanna als Gottes Tochter ansieht, deutet sie deren Passion abseits historischer Überlieferungen als traumhafte Angstbewältigung. Sie versucht also, den dichten mythischen Nebel um diese Heldin des französischen Freiheitskampfes mit poetischen Methoden zu lüften, indem sie das von so disparaten Mitteln wie Schwert und Gebet geprägte Geschehen intuitiv in seelische Kategorien umsetzt. Die von Offenbarungen angetriebene Jungfrau scheiterte bekanntlich an eben diesen, von der Inquisition als anmaßend bezweifelten und als ketzerisch verworfenen, göttlichen Botschaften. Die Autorin ignoriert in ihrer Erzählung radikal alle bisherigen literarischen Interpretationen, seien sie tendenziell religiös, politisch, moralisch oder sozialkritisch, negiert aber auch jeden nationalen Ansatz. Sie misst also auch dem Hundertjährigen Krieg zwischen Engländern und Franzosen keine Bedeutung zu. All diese literarischen Versuche werden als «verschrobene Knappenprosa» bespöttelt, die hoffnungslos am Kern vorbeigehe, dem Phänomen der historischen Figur also in keiner Weise gerecht werde.

Begleitet wird die Studentin bei ihren Forschungen von einem jungen, bereits promovierten Historiker, der ihrem emotionalen Ansatz skeptisch gegenübersteht, ihn als unwissenschaftlich ablehnt. Der immer wieder als furchteinflößendes Leitmotiv benutzte Rauch des Scheiterhaufens in Rouen findet seine Entsprechung im Rauchgestank, den die Kleidung ihres Doktorvaters penetrant verströmt. Eine weitere Analogie findet sich in der Angst. Johannas Angst vor der Inquisition entspricht der Angst der Doktorandin vor ihrer Prüfung, bei der sie wohl ebenfalls scheitert, aber das ist dann auch kaum noch wichtig. Denn weder die Romanfigur noch die Autorin selbst bieten eine neue Deutung der Mythen um Jeanne d’Arc an. Alle ihre Bemühungen dienen lediglich der vollständigen Aneignung und einer allfälligen Neuordnung dieses berühmten historischen Stoffes.

Der surreale Roman strotzt mit seinen zahlreichen Verästelungen nur so von Anspielungen, Zitaten, Vieldeutigkeiten und Rätseln, er erzeugt am laufenden Band die verschiedenartigsten Assoziationen. Und er führt den Leser als raffiniertes Traumspiel ganz bewusst ins undurchdringliche Dickicht der blühenden Phantasie seiner unkonventionellen Autorin. Vieles wird da nur vage angedeutet, so gut wie nichts wird rational verständlich ausgeführt oder gar erklärt. Alles erfordert vielmehr ein Weiterdenken, man muss den Faden jeweils selbst zu Ende spinnen, das wundersam Erscheinende durch eigenes Fabulieren ergänzen. Bei alldem ist eine gewisse Geschichtskenntnis unabdingbare Voraussetzung für den Lesegenuss, denn erklärt wird nichts, schon aus Prinzip nicht. Wer Handlung sucht ist hier jedenfalls auf dem Holzweg, es gibt keine. Dafür gibt es sprachliche Brillanz wie sonst selten, ein in postmoderner Prosa realisiertes virtuoses Spiel mit der existentiellen Unsicherheit. Als Roman ziemlich verquer, emotional aber wohl gerade auch deshalb äußerst anregend.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Wie Proust Ihr Leben verändern kann

Eine Entmystifizierung

Alain de Botton versucht in seinem Buch «Wie Proust Ihr Leben verändern kann», das den deskriptiven Untertitel ‹Eine Anleitung› trägt, bei seinen Lesern eine Art literarische Bewusstseins-Erweiterung zu bewirken. Nicht zuletzt dürfte er damit aber auch den Zweck verfolgen, das siebenbändige, monumentale Werk des französischen Jahrhundert-Schriftstellers, den Romanzyklus «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit», zu entmystifizieren. Und natürlich auch einem größeren Leserkreis die Angst vor der schieren Textmasse zu nehmen. Der erste Band von «À la recherche du temps perdu» erschien 1913, der letzte dann 1927.

In neun Kapiteln, deren Überschriften alle mit ‹Wie› anfangen, destilliert Alain de Botton all die Erkenntnisse, die man aus der Lektüre der ‹Recherche› ziehen kann. Dabei geht es um das Unglücklichsein ebenso wie um richtiges Lesen und um das Problem, genügend Zeit für die Lektüre zu erübrigen. Das vierte Kapitel widmet er den tatsächlichen oder vermeintlichen Leiden des ewigen Hypochonders, der seine Zeit am liebsten im Bett verbracht hat und an allem litt, was von außen in sein hermetisch abgeschlossenes Zimmer eingedrungen ist, Licht, Lärm und Gerüche. Proust hasste auch jedwede sprachliche Gedankenlosigkeit, seien es gestelzte Modeworte oder gedankenlose Phrasen und Plattitüden. Es folgt ein Kapitel über die Art, Freundschaften zu pflegen, in dem man erfährt, wie rücksichtsvoll Proust sich stets verhalten hat, selbst wenn ihm sein Gegenüber eher unsympathisch war. Bezeichnend dafür ist ein Festbankett, wo er nach der Uraufführung von Strawinskys Ballett ‹Reinecke Fuchs› auf James Joyce traf. Die beiden berühmten Schriftsteller hatten sich rein gar nichts zu sagen! Egal wie sich Proust auch bemüht hat, mit ihm ins Gespräch zu kommen, Joyce hat ihn immer nur stumm angestarrt.

Unterschiedlicher als ‹Ulysses› und ‹Recherche› können Romane ja auch kaum sein, wen wundert es da, dass ihre Autoren sich fremd blieben. Dem extrem fragmentarischen, äußerst vielschichtigen und assoziationsreichen Bewusstseinsstrom von Leopold Bloom bei seinem Streifzug durch Dublin steht bei Proust eine ausufernd detaillierte, alle denkbaren Aspekte eines Gegenstandes oder Ereignisses akribisch ausleuchtende Beschreibungskunst gegenüber, die man negativ auch als Beschreibungswut bezeichnen könnte. Alain de Botton verdeutlicht auf eindrucksvolle Weise, dass es wohl keinen Schriftsteller gibt, der genauer hinsieht als Proust. Der es ja fertigbrachte, das Kirchenfenster einer Kathedrale auf dutzenden von Seiten bis zum letzten Farbschimmer zu beschreiben. Vor dieser Sprachvirtuosität hat dann sogar Virginia Woolf kapituliert, wie wir im Buch erfahren. Denn als sie sich nach Jahren erstmals an die Lektüre der ‹Recherche› herangewagt hat, hätte das zunächst mal eine veritable Schreibblockade bei ihr ausgelöst. Wenig überzeugend ist Proust als Berater in Sachen Liebe, wie wir im achten Kapitel erfahren, seine eher asexuelle Vita wie auch sein ebenso asexuelles Opus magnum prädestiniert ihn jedenfalls nicht als Experten, auf dessen Rat man in diesen Dingen hören sollte. Als Ratgeber ergiebiger ist da das letzte Kapitel, in dem die Vorzüge des Lesens beschrieben und die Grenzen einer Lektüre aufgezeigt werden.

Bleibt die Frage, was man als Leser aus diesem Buch mitnehmen kann für künftige Leseabenteuer. Die lockere, amüsante Art, mit der Alain de Botton sich dem verwöhnten Muttersöhnchen nähert, garantiert einige vergnügte Lesestunden. Außerdem erfährt man en passant nicht nur manche Details aus dessen Leben, sondern auch über Zeitgenossen, die zum Teil als Vorlage für seine Figuren dienten. Erhellt werden zudem einige reale Hintergründe für die ‹Recherche›, angefangen bei der berühmten, einen Erinnerungsschub auslösenden ‹Madeleine› als Teegebäck bis hin nach Combray, einem der Handlungsorte. Zu dem pilgern heute die Proust-Jünger, um Tante Leonies Haus zu besuchen und im Ort die ‹originalen› Madeleines zu kaufen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Sachbuch
Illustrated by Fischer Verlag

Schachnovelle

Zeitloses Lesevergnügen

Als typisches Werk der Exilliteratur wurde die «Schachnovelle» von Stefan Zweig 1942 posthum erstmals in Kleinstauflage in Buenos Aires veröffentlicht. Im argentinischen Exil geschrieben, gilt sie heute als bekanntestes Buch dieses Schriftstellers, das inzwischen weit über eine Millionen Mal verkauft wurde. Anfang der siebziger Jahre wurde diese Novelle auch in Deutschland wiederentdeckt, sie gilt seitdem als zeitloser Bestseller. Als geradezu exemplarisches Werk gehört sie mit ihrem ausgefeilten Plot inzwischen nicht nur zum literarischen Kanon, sie wird immer wieder auch als Schullektüre herangezogen, wie die vielen angebotenen Lektüreschlüssel belegen.

Auf einem Passagierdampfer nach Buenos Aires erfährt der Ich-Erzähler, ein österreichischer Emigrant, dass sich der amtierende Schachweltmeister Czentovic ebenfalls an Bord befindet. Der aus einfachen Verhältnissen stammender Waise war von einem Pfarrer großgezogen worden, blieb trotz aller Bemühungen jedoch ein ungebildeter, verstockter Bursche. Bis er sich durch Zufall als Schachgenie erweist, in kurzer Zeit bis in die Profiwelt aufsteigt und als Zwanzigjähriger sogar Weltmeister wird. Dabei zeigt er sich als besonders geldgierig, zudem ist er als Mensch schroff und unsympathisch. Ein mitreisender amerikanischer Millionär fordert den Weltmeister spontan zu einem von ihm fürstlich honorierten Spiel heraus und verliert natürlich. Es kommt zu einer Revanche, bei der jetzt jeder mit dem Millionär zusammen als Gruppe gegen den Champion antreten darf, eine große Zahl an Zuschauern verfolgt gebannt das Spiel. Nach einigen Zügen greift, als die Gruppe sich auf einen Zug geeinigt hat, unvermittelt einer der Zuschauer ein und empfiehlt einen ganz anderen Zug, der wenigstens ein Remis erzwingen würde, – und so kommt es auch! Eine weitere Partie lehnt der Unbekannte aber ab, er habe ja seit seiner Zeit als Pennäler vor keinem Schachbrett mehr gesessen.

Dem neugierig gewordenen Ich-Erzähler berichtet Dr. B. nun davon, wie er nach dem Anschluss Österreichs von den Nazis in Isolationshaft genommen wurde, um Informationen über seine anwaltliche Tätigkeit für den Klerus aus ihm herauszupressen. Um der immer unerträglicher werdenden psychischen Folter des absoluten Alleinseins und Nichtstuns zu entgehen, nutzt Dr. B. eine Gelegenheit und entwendet ein Buch, das sich als Sammlung meisterlicher Schachpartien erweist. Zunächst mit improvisiertem Brett und aus Teig gekneteten Figuren füllt er nun seine Zeit mit Schach, wobei das Spiel schon bald nur noch in seinem Kopf stattfindet. Er tritt als Ich-Schwarz gegen sich selbst als Ich-Weiß an. Mit der Zeit gerät er in einen wahnhaften Zustand, den er selbst als ‹Schachvergiftung› bezeichnet. Er erleidet durch die permanente Aufspaltung seiner Persönlichkeit schließlich einen Tobsuchtsanfall, wird wegen Unzurechnungsfähigkeit entlassen und zur Ausreise ins Exil gezwungen.

Stefan Zweig lässt in seiner spannenden Geschichte zwei Figuren aufeinander treffen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Da ist der einseitig begabte, ungehobelte, maulfaule Czentovic, der seine Tourneen als Schach-Weltmeister lediglich des Geldes wegen unternimmt, teilnahmslos am Brett sitzt und äußerst rücksichtslos und brutal seinen Vorteil sucht. Er ist ein Naturtalent, das mit seiner Inselbegabung bei gleichzeitig autistischer Unbeholfenheit typische Merkmale eines Savant aufweist. Dr. B. hingegen ist ein intelligenter, eloquenter Jurist, der sich als Anwalt des Klerus bei der Rettung von Vermögen vor den Nazis selbst in große Gefahr begibt. Die Isolationsfolter, der er ausgesetzt wird, war damals noch eher ungewöhnlich, der Autor hat damit prophetisch in die Zukunft gedeutet. Diese nach goethescher Definition geradezu archetypische Novelle ist in einer angenehm lesbaren, nüchternen Sprache geschrieben, die geschickt zwei Innengeschichten über die Figuren in die maritime Rahmenhandlung integriert. Ein zeitloses Lesevergnügen!

Fazit: erstklassig

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Genre: Novelle
Illustrated by Fischer Verlag