Die Beobachter auf der Empore
Selten ist sich das Feuilleton so uneins wie bei der Beurteilung des Romans «Laufendes Verfahren» von Kathrin Röggla, und ähnlich zwiespältig ist auch das Echo aus Leser-Kreisen. Es handelt sich, worauf ja schon der Titel hindeutet, um eine Geschichte aus dem Gerichtssaal, hier dem Saal A101 des Münchner Oberlandesgerichts. In dem wurde vor dem 6. Strafsenat an 438 Verhandlungstagen der NSU-Prozess abgehalten, eines der spektakulärsten Gerichtsverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Es ging, soviel sei angemerkt, um neunfachen Mord an Migranten, dem Mord an einer Polizistin, 43 Mordversuchen, um 2 Sprengstoffanschläge und um 15 Raubüberfälle, verübt von der Terrorgruppe National-Sozialistischer Untergrund. Kann man auf knapp 200 Seiten einen Roman über einen solch monströsen Kriminalprozess schreiben?
Man kann! Wenn man sich, wie die Autorin das tut, dem Verfahren konsequent aus einer ganz bestimmten Sichtweise widmet, der jener Prozess-Beobachter nämlich, die in München auf der Empore sitzen. Erzählt wird aus einer Wir-Perspektive im Futur II, bei der die Autorin eben gerade nicht im Pluralis Majestatis spricht, wie vielfach fälschlich behauptet wurde. Ihr geht es dabei um die Vermutungen ihrer bunt zusammen-gewürfelten Beobachter-Clique über das zu erwartende juristische Prozedere und das bekanntermaßen oft groteske Hickhack zwischen den Prozess-Beteiligten. Ebenso konsequent werden auch keine Namen genannt in diesem Roman, es gibt den «Vorsitzenden», die «Beisitzer», die «Staatsanwälte», die «Verteidiger», die «Anwälte der Nebenanklage», die «Zeugen». Einzig der Opfer ist im Nachspann des Romans ein namentliches Gedenken gewidmet. Auch für ihre Beobachter hat die Autorin übrigens keine Namen. Sie heißen, entsprechend ihrer Rolle in den Gesprächen unter sich und nach dem wenigen, was man von ihnen weiß, immer nur «Gerichtsopa», «Bloggerklaus», «Omagegenrechts», «O-Ton-Jurist», «Vornamenyildiz», «Die Frau von der türkischen Botschaft». Damit gelingt es der Autorin auf eine raffinierte Weise, ganz verschiedene Typisierungen vorzunehmen, ohne jede einzelne ihrer Figuren psychologisch determiniert zu beschreiben. Sie benutzt dazu vielmehr sehr geschickt ihre verbalen Geplänkel, ihre selbstgespräch-artigen Monologe, ihre gegenseitigen Belehrungen. Aus denen sich übrigens das erzählende Ich komplett heraushält, – es berichtet nur.
Natürlich ist es unmöglich, in einem kurzen Roman wie diesem die hanebüchenen Fehler und unverzeihlichen Versäumnisse bei der Aufklärung der Verbrechen gebührend abzuhandeln. Und auch die juristische Aufarbeitung solch terroristischer, fremden-feindlicher Straftaten kann allenfalls angedeutet werden. Die ganze Thematik ist hier komplett auf die Instanz der Beobachter verlagert, die sich auch über das Ungesagte im Prozessverlauf untereinander austauschen. Die da zum Beispiel über das beredte Schweigen der weiblichen Angeklagten diskutieren, was sie denn auch für einen von den Verteidigern ausgeheckten Verfahrenskniff halten. So ganz nebenbei erfährt man durch all diese Erörterungen ein wenig darüber, wie es in derartigen Strafprozessen zugeht. Dass die engagierten Dispute der Empore-Clique oft auch ausgesprochen komische Züge annehmen, das bewahrt den Roman übrigens davor, nur eine staubtrockene Lektüre aus dem Gerichtsmilieu zu sein.
Trotz aller Vereinfachungen steht die Dokumentation des Prozesses in diesem Roman stets im Vordergrund, auch wenn das durch die unkonventionelle Erzähl-Perspektive nicht erkennbar vorgegeben zu seien scheint. Dieser Chor der Erinnyen, verkörpert durch die Beobachter-Clique auf der Empore, die Stimme des Volkes quasi, kommentiert und bewertet teilweise durchaus kompetent, was sich da abspielt in diesem denkwürdigen Mammut-Prozess. Und dass dabei die Gräuel der Taten, die Trauer der Hinterbliebenen, das Versagen der Polizei, die Rolle des Verfassungs-Schutzes weitgehend außen vor bleiben, das kann einem fiktivem, literarischem Werk wie diesem wahrlich nicht angekreidet werden!
Fazit: lesenswert
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