Mein vergötterter Sohn Sisí

delibes-1Ein Unsympath

Miguel Delibes war in seiner Heimat Spanien als Schriftsteller sehr erfolgreich, er hat ein beeindruckendes Œuvre von etwa 70 Büchern vorzuweisen. Zu dem auch der vorliegende, 1953 veröffentlichte Roman «Mein vergötterter Sohn Sisí» aus dem Frühwerk gehört, 1976 verfilmt und erst 2003 auch auf Deutsch erschienen. Neben den vielen Ehrungen im spanischen Sprachraum war er auch mehrfach Kandidat für den Nobelpreis. Seine frühen Romane sind stark durch den Spanischen Bürgerkrieg geprägt und werden zur sozialrealistischen Literatur eines Landes gezählt, dessen tiefe gesellschaftliche Gegensätze darin thematisiert werden.

Der deskriptive Titel deutet schon darauf hin, es handelt sich hier um einen Familienroman. Der ist zeitlich in drei Abschnitte gegliedert, wobei im ersten Buch ein Zeitraum von 1917 bis 1920 behandelt wird. Im Mittelpunkt steht dabei der wohlhabende Cecilio Rubes, der in einer spanischen Provinzstadt einen alteingesessenen Sanitärhandel betreibt. Verheiratet ist der fette, selbstgerechte, antriebslose Mann mit einer ungebildeten, frigiden Frau, die den sexuell aktiven Enddreißiger geradezu in die Arme anderer Frauen treibt. Er hält sich prompt mit Paulina eine viel jüngere, attraktive Geliebte, für die er eine Wohnung eingerichtet hat, sein Liebesnest, ohne das er nicht leben könnte. Als sich trotz unterkühlter Ehe spät, und von ihm eigentlich ungewollt, Nachwuchs einstellt, ist der auf Reputation bedachte Macho plötzlich ganz aus dem Häuschen, sein langweiliges Leben bekommt damit überraschend einen Sinn. Man erkennt schon bald, wie er den Sohn verhätscheln wird, und Cecilio Rubes macht dann auch so ziemlich alles falsch in der Erziehung, was man falsch machen kann, der vergötterte Junge wird zum Abbild seiner selbst. Im zweiten Buch dann (1925-1929) erleben wir, wie aus dem Kind ein verwöhnter, nichtsnutziger, bösartiger Tyrann wird, dessen Mutter schier verzweifelt, weil der despotische Vater jedwede Erziehung vereitelt nach dem Motto: Mein Sohn soll es gut haben, Erziehung ist was für die Armen. Schließlich aber holt im dritten Buch (1935-1938) der Bürgerkrieg den verzogenen Sisí aus seinem Lotterleben heraus, er muss an die Front, und auch der Vater erwacht am Ende aus seiner Realitätsferne, er erkennt, viel zu spät allerdings, dass er total versagt hat.

Frauen sind das beherrschende Thema in dieser ausufernden Geschichte, immer wieder werden, nicht nur im Herrenclub, ihre Hüften und Fesseln bewundert. Zeittypisch und wohl auch dem prüden Katholizismus verpflichtet ist die Sexualität hier zwar allgegenwärtig, sie unterliegt aber sprachlich einer fast schon grotesk anmutenden Verklausulierung, der Roman ist jedenfalls jugendfrei ab null Jahre. Die geschilderte, abstoßend patriarchalische Gesellschaft ist für uns Heutige einerseits schwer erträglich, man spürt aber andererseits permanent den ironischen Unterton des Autors, der durch Übertreibungen und durch grotesk überzeichnete Figuren die Distanz zum Erzählten sehr deutlich herstellt.

Weite Teile des Plots entwickeln sich aus Dialogen heraus, zu denen sich oft die innere Rede gesellt, manchmal im schnellen Wechsel mit der direkten Rede, womit das unredlich Gesagte immer wieder virtuos konterkariert wird mit dem tatsächlich Gedachten, was ich so, in dieser Konsequenz, noch nie gelesen habe. Berührend auch eine Stelle, als die Mutter von Cecilio stirbt. «Für ihn hatte seine Mutter soeben den Raum verlassen, ohne dass sich die Türen oder Fenster geöffnet hätten». Angesichts der Leiche fragt er sich: «Nun, das ist sie nicht. Was hat diese Gestalt mit meiner Mutter gemeinsam?» Dieser in der Franco-Ära geschriebene, opulente Roman lässt sich sehr viel Zeit, seine Geschichte vor uns auszubreiten. Die ersten hundert Seiten sind zäh zu lesen, bis Seite 200 etwa legt die Geschichte erzählerisch langsam zu, sie steigert sich danach allmählich zum so nicht absehbaren Ende hin. Man braucht also einiges an Geduld!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Verführungen

streeruwitz-2Für die Fragen- und Denkbereiten

Schon mit ihrem 1996 erschienenen Debütroman «Verführungen» hat die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz eine ganz eigenständige Poetik etabliert, an der man ihre Texte unschwer erkennen kann. Prägend für sie war nach eigenem Bekunden Faulkners Roman «Schall und Wahn», ein Schlüsselerlebnis literarischer Dekonstruktion. Die davon inspirierte, eigenwillige Syntax der nicht nur politisch, sondern auch ästhetisch streitbaren Autorin kann als ihr ureigenes literarisches Markenzeichen gelten. Als Zielgruppe ihrer stets infrage stellenden Literatur wolle sie die etwa zehn Prozent «Fragen- und Denkbereiten» erreichen, mit ihnen möchte sie «ins Gespräch kommen». Was nach Gutenbergs Erfindung ja nichts anderes bedeutet, als von ihnen gelesen zu werden. Also los!

Im vorliegenden Roman bezieht sich das literarische Infragestellen auf den trostlosen Alltag der Protagonistin Helene, einer dreißigjährigen Mutter von zwei kleinen, schulpflichtigen Töchtern, die von ihrem Ehemann verlassen wurde. Als Alleinerziehende kämpft sie einen einsamen Kampf mit widrigen Lebensumständen, zu denen die prekäre Teilzeitbeschäftigung in einer kleinen PR-Agentur ebenso gehört wie die ständigen Geldnöte, ihr bösartiger Exmann zahlt nämlich keinen Unterhalt, auch für die Kinder nicht. Die gleich nebenan wohnende Schwiegermutter hilft ihr, so gut sie kann, versorgt ihre beiden Enkeltöchter. Ihre beste Freundin Püppi, ebenfalls allein erziehend, lebt im Chaos und verfällt immer mehr dem Alkohol, sie ist eher Belastung als Hilfe. Helene ist oft so verzweifelt, dass sie an Suizid denkt, ihr desaströser Seelenzustand zeitigt sogar körperliche Beschwerden. Sie ist oft zum Umfallen müde, möchte einfach nur daliegen, nichts mehr sehen und hören. Als der Musiker Henryk in ihr Leben tritt, entsteht aus dem anfangs prickelnden, leidenschaftlichen Verhältnis bald eine weitere Enttäuschung. Er erweist sich nämlich als undurchschaubar, unzuverlässig, verschwindet oft für längere Zeit ohne jede Nachricht, der Mann ist ein weiterer Alptraum in ihrem ohnehin schon beschwerlichen, freudlosen Alltag. Immer wieder entflieht Helene für kurze Zeit in die Natur, fährt mit dem Auto ins Grüne, sucht im Alleinsein fernab vom geschäftigen Wien neue Kraft zu schöpfen für den Lebenskampf, in den sie sich vehement immer wieder von neuem stürzt, stürzen muss.

«Das reale Frauenleben hat in der Kunst keinen Platz, und diese humorigen Bücher für den Strand schwindeln sich ununterbrochen über diese Tatsache hinweg. Der Alltag der Frauen ist in Deutschland nicht genug literaturfähig. Ich will mit meinen Texten dieses Tabu brechen.» Streeruwitz tut dies in einer stakkatoartigen, adjektivarmen, spröden Sprache, die ihre engagiert feministische Thematik wirkungsvoll unterstreicht mit kurzen, meist kommalosen Hauptsätzen, oft sogar nur rudimentären Satztorsos. Sie erzählt ihre zeitlich etwa sieben Monate bis zur Deutschen Wiedervereinigung 1989 umfassende Geschichte strikt chronologisch, in episodenhaft aneinander gereihte, für sich genommen banale Einzelszenen gegliedert. Dabei benutzt sie als Stilmittel häufig den inneren Monolog und bleibt als auktoriale Erzählerin nicht erkennbar im Hintergrund.

Das Leitthema dieses Romans ist die verzweifelte Ohnmacht einer Frau und Mutter in einer männlich dominierten Gesellschaft, hier von der Autorin aus einer sehr zugespitzt feministischen Perspektive erzählt. Die Männer machen dabei allesamt keine gute Figur, sind jedenfalls wenig hilfreich, eher ursächlich für Helenes ermüdenden, zermürbenden Lebenskampf, für den eine strukturierende Moral oder Werteordnung nicht zu existieren scheint. Ein Roman zum Weiterdenken also, gekonnt und ambitioniert geschrieben zudem. Er endet ziemlich abrupt – und unerwartet versöhnlich – im Warteraum des Arbeitsamtes: «Zuerst würde sie den Computerkurs machen. Und dann war Weihnachten. Und dann. Im nächsten Jahr würde alles besser werden. Helene wurde aufgerufen».

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Das bessere Leben

peltzer-1Modern Times

Mit seinem fünften Roman «Das bessere Leben» hat es Ulrich Peltzer unter die Finalisten des Deutschen Buchpreises 2015 geschafft, eine aktuelle Prosa also, die von der Jury als «Ein Werk von enormer Wucht und Relevanz» angesehen wird. Charakteristisch für diesen Autor ist einerseits das Ausblenden einer realistischen, glaubwürdigen Außenwelt, sein Augenmerk liegt dominant, fast ausschließlich sogar auf der Innenwelt seiner Protagonisten, die immer wieder, und das ist ebenfalls spezifisch Peltzer, reine Großstadtmenschen sind. Landschaften würden wenig auslösen bei ihm, hat er dazu angemerkt, er sei am liebsten in Metropolen, und so sind denn auch viele seiner Figuren Weltbürger, den ökonomischen Global Players entsprechend, als deren Akteure sie fungieren.

Zwei solcher Managertypen sind Protagonisten des vorliegenden Romans, zum einen der Sales-Manager Ulrich Brockmann, der für einen in Turin ansässigen Hersteller von Anlagen zur Oberflächenveredlung tätig ist, und der Versicherungshändler Sylvester Lee Fleming, der Risikomanagement betreibt. Peltzer beschreibt deren berufliches Leben als ewige Hetze von Termin zu Termin, zwischen VIP-Lounges an den Flughäfen dieser Welt und den Rezeptionen und Lobbys der noblen Hotels, die sich weltweit so gleichen, dass man beim Aufwachen im Hotelzimmer schon mal kurz überlegen muss, wo man hier denn eigentlich ist. Beide bewältigen ihren stressigen Job, immer am Rande des Zusammenbruchs, nur mit dem extensiven Einsatz von Medikamenten, leiden unter Schlaflosigkeit ebenso wie unter Dauerkopfschmerzen. Der Sinn des Ganzen, so erfahren wir, ist «das bessere Leben» im Sinne materiellen Wohlergehens, Kapitalismus in reinster Ausprägung also, ein biblischer Tanz ums Goldene Kalb. Mit diesem sehr speziellen Gegenwartsbild wird eine ökonomische Wirklichkeit beschrieben, in der mit höchstem Risiko nur noch dem schnellen Geld hinterher gejagt wird von Deal zu Deal, bei dem die Akteure allerdings ständig der Gefahr des bodenlosen Absturzes ausgesetzt sind. Die Casino-Mentalität der Finanzwelt ist also auch in der sogenannten Realwirtschaft angekommen. Die Produkte scheinen nebensächlich geworden zu sein, man identifiziert sich nicht mehr mit ihnen, nur der kurzfristig erzielbare Profit zählt noch.

Dass Zwischenmenschliches dabei entschieden zu kurz kommt, versteht sich von selbst. Der Autor erzählt seine Geschichte zu weiten Teilen in Form des Bewusstseinsstroms aus der Perspektive verschiedener Protagonisten. Das führt dann dazu, dass seine entsprechend verknappte Prosa gespickt ist mit Schlagwörtern, unvollständigen Sätzen, der Globalisierung geschuldeten Anglizismen sowie banalen Phrasen aus der Alltagssprache, häufig natürlich auch in Englisch. Zusätzlich bremsen viele eingestreute, in Klammern gesetzte Ergänzungen, Fragen, Bekräftigungen ebenso wie häufige Auslassungen den Lesefluss. Angereichert ist das Ganze mit Reminiszenzen an einstige linke Ideale und mit alltagsphilosophischen Anmerkungen, deren gedankliche Tiefe konsequent auf Stammtischniveau begrenzt bleibt.

Unwillkürlich fühlte ich mich bei der Lektüre an den Chaplin-Film «Modern Times» erinnert. Der damals thematisierten Zeitenwende der industriellen Revolution entspricht die hier geschilderte ökonomische Wende von Nutzen stiftender, realer Produktion hin zu rein virtuellen, anonymen Geschäften, denen anscheinend nichts Greifbares mehr gegenübersteht. Ein vom Ziel her ambitionierter Roman also, dessen Umsetzung allerdings nicht überzeugen kann. Indem der Autor die aufgeworfenen Themen ohne eigene Reflexion ausschließlich der intellektuellen Ebene seines Figurenensembles überlässt, fehlt seinem Text ein wichtiges Korrektiv, macht ihn gedanklich damit trivial. Er ist auch nicht gerade leicht zu lesen mit seinem üppig mäandernden Plot, der in einer kitschigen Familienfeier endet, die so gar nicht zum vorher Erzählten passen will. Schade eigentlich, die Intention hinter alldem ist ja lobenswert!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Rot ist mein Name

pamuk-1Gipfel literarischer Ambivalenz

Der Nobelpreisträger Orhan Pamuk nutzt seine Reputation als hochgeachteter Schriftsteller gern zu politischer Einflussnahme. Er ist als Mahner unbequem in seiner vom Selbstverständnis her zwischen Orient und Okzident zerrissenen, türkischen Heimat, in der man ihn als besonnenen Vermittler denn auch heftig anfeindet. Von diesen spezifisch nationalen Identitätsproblemen handelt auch sein Roman «Rot ist mein Name», der die Konflikte historisch am Buchmalerstreit Ende des 16ten Jahrhunderts spiegelt. Die zunächst nur auf prachtvoller Kalligrafie und üppiger Ornamentik beruhende orientalische Buchkunst wurde damals zunehmend ergänzt durch eine figurale Malerei, die im Widerspruch stand zum streng orthodoxen Islam. Einige Maler jener kunstvollen Miniaturen in den wertvollen Büchersammlungen der osmanischen Herrscher sind Protagonisten des vorliegenden Romans.

Die zeitlich neun Tage im schneereichen Winter des Jahres 1591 umfassende, in 59 Kapiteln multiperspektivisch erzählte Geschichte beginnt furios: «Ein Toter bin ich nun, eine Leiche auf dem Grund eines Brunnens.» Fein Efendi, ein Ornamentierer und Vergolder aus einer Malertruppe in Istanbul, die im Auftrag des Padischahs an einem geheimen Buch arbeitet, wurde erschlagen und in einen Brunnen geworfen, er spricht nun aus dem Zwischenreich, jener Zeit zwischen Tod und Jüngstem Gericht, direkt zum Leser und fordert ihn auf, seinen Mörder zu finden. Im nächsten Kapitel «Mein Name ist Kara» berichtet der Meister-Illustrator von seiner Ankunft in Istanbul nach zwölfjährigem Aufenthalt in fernen Ländern. Sein Oheim, der ihm damals die Hand seiner Tochter Şeküre verweigert hatte, braucht ihn zur Fertigstellung des geheimen Buches. Außer dem Oheim, Kara und Şeküre kommt ein Hund zu Wort, ein Baum, der Altmeister Osman, die Straßenhändlerin Esther, der Mörder, die drei Maler aus der Werkstatt des Oheims Schmetterling, Storch und Olive, eine Münze, der Tod, die Farbe Rot natürlich, die dem Roman seinen Titel gab, Satan, eine Frau und zwei Gottesnarren. Die Liebe zwischen Kara und Şeküre bildet den einen, die Suche nach dem Mörder, der später auch den Oheim umbringt, den zweiten Handlungsstrang in dem chronologisch erzählten Plot. Im letzten Kapitel, ganz am Ende, überrascht uns Şeküre: «Weil es unmöglich sein wird, diese Geschichte zu malen, habe ich sie meinem Sohn Orhan erzählt, damit er sie vielleicht aufschreibt.» Sic!

Neben der kurz skizzierten eigentlichen Handlung nehmen endlos scheinende Gespräche der Buchmaler den weitaus breitesten Raum ein, historische Einschübe und ausufernd detaillierte Erörterungen der orientalischen Maltechniken, bis zum letzten Pinselstrich sozusagen. Die aus Venedig stammende Neuerung perspektivischer Malerei und die «fränkischen» Art der realistischen, nicht idealisierten Darstellung, zu der zum Beispiel auch das Hinzufügen von Schatten gehört, die das vorher flächige Bild erstmals plastisch wirken lässt, erregt die Gemüter ebenso wie ganz neuartige Bildmotive. Diese im Islam als Revolution, ja als Ketzerei empfundene neue Malweise ist denn auch der Anlass für die beiden Morde.

Wem, fragte ich mich am Ende bestürzt, könnte man diesen Roman zur Lektüre empfehlen? Nur hartgesottenen Lesern, die auch noch unendliche Geduld mitbringen! Geduld mit einer verschnörkelten, überbordend arabesken Erzählweise, mit in epischer Breite abgehandelten, kulturhistorischen Details, mit einer auch für Orientalisten wohl kaum verifizierbaren, inflationären Schar von Herrschern, Kriegern, Malern, deren eigentlich völlig irrelevante Namen die Verwirrung des Lesers vollends auf die Spitze treiben. Zudem stehen dem beim Lesen zuweilen wohltuenden Humor schockartig brutalste Grausamkeiten gegenüber, viel abstoßender noch wirkt die omnipräsente, häufig thematisierte Päderastie. Ich habe selten einen so ambivalenten Roman gelesen – und mich auch noch nie so schwer getan, ihn für mich stimmig zu bewerten!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Stille Zeile Sechs

maron-1Ganz ohne DDR-Mief

Die Biografie der deutschen Schriftstellerin Monika Maron erklärt so manches in ihrem Œuvre, 37 Jahre DDR haben darin deutliche Spuren hinterlassen und zeigen sie als kämpferische Literatin, die sich auch heute noch politisch einmischt, so wenn sie sich zum Beispiel in der WELT unter dem Titel « Pegida ist keine Krankheit, Pegida ist das Symptom» mit der Fremdenfeindlichkeit im «Tal der Ahnungslosen» auseinandersetzt. Nun war auch die DDR keine Krankheit, aber ein Unrechtssystem, welches sie in dem 1991 erschienenen Roman «Stille Zeile Sechs» literarisch so gekonnt, geradezu zwingend vorführt, dass jeder Einwand sich selbst dekuvriert.

Die Ich-Erzählerin Rosalind Polkowski, eine ledige Historikerin Anfang vierzig, kündigt nach mehr als fünfzehn Jahren Knall auf Fall ihre Stelle in der Barabasschen Forschungsstätte, an der sie fachlich «für die Entwicklung der proletarischen Bewegung in Sachsen und Thüringen» zuständig ist. Sie komme sich nutzlos vor, wolle nicht mehr «für Geld denken», ihr «einziges Leben» nicht mehr «wie Küchenabfall zur Mülltonne tragen». Stattdessen wollte sie lieber Klavierspielen lernen, endlich die als unübersetzbar geltenden Rezitative aus «Don Giovanni» ins Deutsche übertragen, sich ernsthaft mit dem Werk von Ernst Toller auseinandersetzen, dessen Gesamtausgabe sie ungelesen im Bücherschrank stehen hat. Die guten Vorsätze bleiben unerfüllt, über den «Flohwalzer» kommt sie am Klavier nicht hinaus, ihre anderen Projekte bleiben schon im Ansatz stecken. Denn sie hat sich von dem ehemaligen DDR-Bonzen Beerenbaum engagieren lassen, der ihr seine Memoiren diktieren will, eine reine Schreibarbeit, bei der sie nicht denken muss. Eine Weile hält sie das auch durch, irgendwann aber kommt es doch zum Disput, kann sie sich nicht mehr zurückhalten, stellt dem Apparatschik von einst hochnotpeinliche Fragen. So inquisitorisch letztendlich, dass der «Professor» mit Volksschulabschluss, qualifiziert einzig und allein durch seine Parteikarriere, sich konfrontiert sieht mit dem bösen Ränkespiel um eine Dissertation, die einst als Paket auf dem Postweg nach Westberlin abgefangen wurde. Was dann auf sein Betreiben hin damals zu einer dreijährigen Gefängnisstrafe führte, die die akademische Karriere eines hoffnungsvollen jungen Wissenschaftlers für immer zerstört hat. Der Bonze überlebt diese ihn entlarvende, heftige Auseinandersetzung nicht, Rosa geht widerwillig zu seiner Beerdigung, sein Sohn überreicht ihr am Friedhofsausgang, – auf Wunsch des verstorbenen Vaters, wie er sagt -, ein Paket. «Ich werde es auf keinen Fall öffnen» lautet der letzte Satz des Romans.

Das Paket enthält, darf man vermuten als Leser, jene verhängnisvolle Dissertation, die den «Grafen», eine liebenswert skurrile Figur aus Rosas Stammkneipe, einst hinter Gitter gebracht hat. Dort verkehrt auch Bruno, ihr Exfreund, den der Graf nur mit Brünoh anredet, beide stehen in der Hierarchie der kunterbunten, schrägen «Kneipenpersönlichkeiten» als Lateiner ganz oben. Die Autorin erzählt ihre Geschichte, die Spannung damit steigernd, nicht strikt chronologisch, sondern oft in Rückblick und Vorschau, beginnend mit der Beerdigung. Und sie tut das so gekonnt, dass man als Leser die Zusammenhänge mühelos erkennt, sogar wenn sie überraschend die Perspektive wechselt, über Rosalind plötzlich in der dritten Person berichtet.

Trotz der ernsten Thematik des Romans, bei dem die Aufarbeitung der Vergangenheit auch vor der eigenen Person nicht halt macht, der also Raum gibt für vielerlei philosophische Betrachtungen, muss man doch häufig schmunzeln beim Lesen, die Kneipenszenen sind allemal köstlich amüsant. Man darf sich aber auch über viele gelungene Wendungen freuen: «Mein Gedanke war weniger blutrünstig als der Satz, in den er schlüpfte» ist ein schönes Beispiel dafür. Und dass Monika Maron ganz ohne den typischen DDR-Mief auskommt bei ihrer in den achtziger Jahren angesiedelten Geschichte, das empfand ich als Wessi besonders angenehm.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Nachkommen

streeruwitz-1Kein Geschichterl

Diesen Roman. Den hat sie geschrieben. 2014 erschienen. Marlene Streeruwitz. Aus Österreich. Die kennt man doch. «Nachkommen» ist der neue Titel. Den hat sie sich gewählt. Für ihr Buch. Wie die Verlagsheinis das immer nennen. 432 Seiten bedrucktes Papier. Dieses Buch.

Nur Umsatzbringer für die. Im besten Fall auch Gewinnbringer. Verkaufte Auflage ist wichtig. Roman sagen die nicht. Nur Buch. Ist denen egal. Hauptsache Geld kommt rein. Reichlich Geld. Brauchen die immer. Inhalt zählt bei denen nicht. Botschaft. Anliegen. Sprache. Kunst. Alles unwichtig für die. Das muss einen ja wütend machen. Auf den Literaturbetrieb. Die Schickeria der Verlage. Die mit ihren schwarzen SUVs durch Frankfurt brausen. Denkt Nelia Fehn. Zwanzig Jahre alt. Protagonistin im Roman der Streeruwitz. Jungstar der Frankfurter Buchmesse. Absolut jüngste Finalistin bisher. Unter den letzten Sechs. Ist eingeladen zur Preisverleihung. Ihr Verleger übernimmt die Kosten. «Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland». Das hat sie geschrieben. Den Preis bekommt aber doch eine andere Autorin. Macht nichts. Sie sei ja noch so jung. Sagen alle. Wenigstens ist sie schon mal dabei gewesen. Kann ja noch kommen. Später. Obwohl. Das Preisgeld hätte sie gut brauchen können. Sie ist ja ziemlich abgebrannt. Wie man so sagt. Hat auch noch keinen Vorschuss bekommen. Muss sie mal klären. Wenn die Mami das wüsste. Die hat ja auch geschrieben. Autorin war sie. Ist aber tot. Schon lange. Und der Opa ist heute Morgen beerdigt worden. Der hat sie großgezogen. Die Mami fehlt ihr so. Den Vater hat sie nie gesehen. Den hat die Mami damals verstoßen. Jetzt ruft der sie plötzlich an. Wohnt ja hier. Kennt ja wenigstens ihren Namen. Will sie treffen. Dringend. «Ich wollte kein Kind». Sagt er. Wie kann er so was sagen. Ihr ins Gesicht. Was soll das denn bringen. Mit ihnen. Vater und Tochter. Das wird nichts mehr. Alles umsonst. War doch schlimm genug heute auf der Messe. Der Trubel. Kein Durchkommen. Interviews. Warum haben sie den Roman geschrieben. Dumme Frage. Immer ruhig bleiben. Fernsehaufnahme bei 3Sat. Sie ist doch keine Anarchistin. Jetzt ist aber genug. Kamera aus. Raus ins Freie. Mal durchatmen. Schon wieder jemand. Der sie kennt von den Fotos überall. Sie anspricht. Bloß weg hier. Was zu essen wäre nicht schlecht. Vegetarisch. Schon ist sie am Ausgang. Hat nichts gefunden. Wann geht der nächste Flug. Sie recherchiert auf ihrem Smartphone. Da gibt es ja Bordverpflegung. Ihr Rucksackrollköfferchen klappert auf dem Pflaster. Frankfurt. Nur weg hier.

Literarisch eine Rebellin ist diese Frau Streeruwitz. Gegen den Strich gebürstet ihre komplexe Prosa. Man könnte sie feministisch nennen. Streng. Sarkastisch. Im Stil des Dekonstruktivismus. Immer kritisch hinterfragend. Aufgeteilt in kleine Satzfragmente. Analytisch. Immer im Stakkato. Mit radikal vereinfachter Interpunktion. Zunächst etwas störend für den Leser. Fast nur Punkte. Gewöhnt man sich aber schnell dran. Nelia als Protagonistin ist mir unsympathisch geblieben. Zu zickig. Ich konnte keinen Zugang finden. Zu ihr. Man erfährt auch nicht wirklich viel über sie. Keine markante Persönlichkeit jedenfalls. Als Nachkomme strickt jede Verantwortung ablehnend. Für alle Generationen vor ihr. Immer aufmüpfig und nachdenklich.

Ist die Literatur im Niedergang begriffen. Wie der Klappentext behauptet. Fragt man sich. Vom schnöden Gewinnstreben zu Boden gerungen. Ein korrumpiertes Literatur-Establishment als Totengräber einer Kunstrichtung. Hat die renitente Protagonistin recht mit ihrem Widerstand. Mit ihrem Wutausbruch. Mit ihrer Erregung. Wie Thomas Bernhard das genannt hat. Es muss Romane geben, ist sie sich sicher. «Romane und nicht Geschichterln. In die Erfindung gebündelte Wahrheit und nicht diese dünne Soße des Echten. Ins Zweidimensionale gepresster Kitsch». Wen mein Stakkato-Text nicht schreckt, der sollte diesen Roman lesen, er ist herzerfrischend anders, kein Geschichterl eben.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Mein Klassiker

anthologie-1Berichte aus dem literarischen Olymp

Diese Anthologie unter dem Titel «Mein Klassiker» hat jüngst meine Leseneugier geweckt, verspricht doch der Untertitel «Autoren erzählen vom Lesen» einen den eigenen literarischen Horizont womöglich erweiternden Blick nicht nur auf die Rezeption berühmter Bücher, sondern eben auch auf etliche der Autoren, die über ihre diesbezüglichen Lese-Erfahrungen berichten. Es sind sechsunddreißig an der Zahl, die sich da äußern, und wie sie das tun ist genau so vielschichtig, wie es zu erwarten war bei Schriftstellern, die nun mal schreibende Solitäre sind, mit zum Teil ausgeprägtem Hang zu skurriler Andersartigkeit.

Die erste Überraschung war für mich, dass mir viele der 36 Autoren dieser Anthologie nicht mal namensmäßig bekannt waren, gelesen hatte ich nur sechs von ihnen. Mir wurde aber schnell klar, dass einige wohl mehr der Lyrik, der Dramatik oder dem Sachbuch zuzurechnen sind und schon allein deshalb aus dem Radar fallen für einen der Epik zugeneigten Prosaleser wie mich. Und wer könnte bei etwa 15.000 Belletristik-Neuerscheinungen jedes Jahr in Deutschland denn wirklich behaupten, alle Autoren zu kennen, geschweige denn gelesen zu haben. Bei meinen schamhaften und unverzüglich vorgenommenen Recherchen im Internet stieß ich prompt auch gleich auf die Formulierung «vielleicht der am meisten unterschätzte deutschsprachige Autor der Gegenwart». Genau solche Lobhudelei aber, ich nenne den Autor bewusst nicht, gilt, abhängig von der ja immer persönlichen Perspektive, vermutlich gleichermaßen für alle der hier beteiligten Schriftsteller, es hilft also in der Sache nicht weiter. Ein unlösbares Dilemma mithin für Leser, die sich halbwegs auszukennen hoffen, aber eben auch nicht annähernd alles gelesen haben können.

Eine weitere Überraschung war die Auswahl der Klassiker. Nach Vladimir Nabokovs Definition sind Klassiker in der Literatur «zeitlose Kunstwerke», denen ein «individueller Genius» innewohnt. «Klassisch ist ein literarisches Werk, wenn es gleichermaßen vergangen, erinnert und gegenwärtig ist», hat Heinz Schlaffer formuliert. In bunter Folge wird in der vorliegenden Anthologie über Autoren berichtet wie auch über einzelne Werke. Ob Karl May, dem neben Anderen der erste Aufsatz gilt, in den «heiligen Hallen kanonischer Texte» beheimatet ist, muss bezweifelt werden, der Begriff Klassiker ist hier also nicht unbedingt qualitativ gemeint. Eine deutlich erkennbare Tendenz bei der Auswahl der zu besprechenden Klassiker, also der «vermeintlichen Fundamente», wie es im Vorwort skeptisch heißt, ist in vielen Fällen die Vorprägung durch Deutschstunde und Proseminar. Und so ist es auch kein Wunder, wenn die Aufsätze bis zu Ovid zurückreichen und zum «Meier Helmbrecht» ins 13te Jahrhundert. Weiter geht es über Cervantes, Petrarca, Jean Paul, Novalis, Hölderlin, Büchner, Stifter, Heine, Mörike, Goethe und Schiller bis hin zu Proust (mit 13 Seiten längster Beitrag, sic!), Thomas Mann, Tolstoi, Hamsun, Brecht, Döblin, Zweig, Robert Walser, Walter Benjamin und Gertrude Stein. Zweifellos alles literarische Olympier. Und Märchen wie «Schneeweißchen und Rosenrot» oder die «Hasenschule» bekommen ebenso ihre Bühne wie der Abenteuerroman «Ein Sturmwind auf Jamaika» von Richard Hughes oder Kriegsromane wie Hašeks «Schwejk» und Remarques «Im Westen nichts Neues». Abschließend beleuchten noch die zwei Essays «Der Leser» und «Bücher» das literarische Terrain.

Es hat sich also niemand getraut, Werke von Böll, Grass oder Lenz als Klassiker auszuwählen und zu besprechen, obwohl das mit dem heutigen zeitlichen Anstand ja durchaus angebracht wäre, ganz im Sinne von «vergangen, erinnert und gegenwärtig». Wie auch immer, diese Anthologie weist uns auf eigene Lese-Erfahrungen zurück, sie gibt zudem Anregungen für die Lektüre des einen oder anderen Klassikers sowie der beteiligten Autoren selbst, die hier kenntnisreich und zum Teil sehr unterhaltend, nicht selten sogar überraschend, aus dem literarischen Olymp berichten.

Fazit: lesenswert

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Genre: Anthologie
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Maria Stuart

zweig-1In meinem Ende ist mein Anbeginn

Der in Wien geborene Schriftsteller Stefan Zweig wird mit seinen Prosawerken auch heute noch sehr geschätzt, wobei neben seiner wohl bekanntesten Erzählung «Schachnovelle» insbesondere seine romanartigen Biografien typisch sind für ihn, das vorliegende, 1935 erschienene Buch «Maria Stuart» ist ein gutes Beispiel dafür. Die alte Erkenntnis, die besten Geschichten schreibe das Leben selbst, wird hier recht eindrucksvoll bestätigt, denn ein wahrhaft dramatisches historisches Geschehen bildet das erzählerische Gerüst für eine spannende Geschichte, die unzählige Male schon als Vorlage gedient hat in Theater, Film, Dichtung und Musik.

Bei einem Besuch im Britischen Museum in London betrachtete der Autor im Oktober 1933 die dort ausgestellten Autografen. «Darunter war der handschriftliche Bericht über die Hinrichtung Maria Stuarts. Unwillkürlich fragte ich mich, wie war das eigentlich mit Maria Stuart?» schreibt er in seinen Erinnerungen. Und spontan begann Zweig mit intensiven Vorarbeiten zur literarischen Umsetzung dieses Stoffs, ein Jahr später war sein Buch fertig. Ihn reizte insbesondere die psychologische Problematik, die den Hintergrund bildet für die schicksalhaften Geschehnisse um die schottische Königin. Bei seinen Recherchen fiel ihm insbesondere die merkwürdige Polarisierung in der einschlägigen Literatur auf, die sie entweder als bedauernswertes Opfer oder als böswillige Anstifterin zum Gattenmord hochstilisiert hat.

So ganz neutral ist auch Stefan Zweig nicht, er schildert in der ersten Hälfte der in 24 Kapitel plus Einleitung und Nachspiel erzählten Geschichte Maria Stuart als schottische Lichtgestalt, schön, klug, mutig, ehrgeizig, vielfach begabt. Sie kommt nach ihrer Rückkehr vom prunkvollen, schöngeistigen französischen Hof in ein ihr fremd gewordenes, raues Schottland. Politisch gibt es überall in Europa keinerlei Moral: «Um König zu werden, ermordete, vergiftete man seinen Vater, seinen Bruder, man warf Tausende unschuldiger Menschen in den Krieg, man räumte fort, man beseitigte, ohne nach Recht zu fragen […] Wenn es eine Krone galt, heirateten vierzehnjährige Knaben fünfzigjährige Matronen und unreife Mädchen großväterliche Greise.» Ein auch nur minimaler Ehrenkodex des Adels existiert nicht, und so wird auch die tragische Heldin in Komplotte verstrickt, als leidenschaftliche Liebe die Sinne der jungen Frau vernebelt und alle moralischen Bedenken übertönt. Das Ganze endet tragisch, wie man weiß, mehr möchte ich hier nicht ausplaudern. Denn wie der Autor war auch ich als Leser fasziniert von dieser Tragödie, deren nähere Umstände mir jedoch nicht vertraut waren. Warum kam es soweit, wie es gekommen ist? War Maria Opfer oder Täterin? Man kennt meist nur das blutige Ende, nicht die Wirrungen und Ränkespiele, die dorthin geführt haben.

In einem melancholischen Duktus geschrieben, resignativ geradezu, ist dies eine personalisierte Darstellung historischen Geschehens, die in ihrer Tragik an antike Vorbilder erinnert und bei Shakespeare im Hamlet ganz ähnlich thematisiert wurde. Das Glück, nach dem der Mensch sucht, scheitert, oft zum Greifen nahe, an den widrigen äußeren Umständen, die Protagonisten werden Opfer ihrer charakterlichen Schwächen, stehen sich selbst im Wege. Eitelkeit, Hochmut, falscher Stolz, Zaghaftigkeit, Ehrlosigkeit bringen sie ins Straucheln und führen sie ins Verderben. Wie Stefan Zweig das alles feinfühlig schildert, ist nicht nur bereichernd, sondern auch unterhaltend. Der gedrechselte, pathetische Schreibstil aber stört den Lesegenuss ebenso wie die machohafte Perspektive des Autors, und seine Parteilichkeit für Maria im Kampf gegen Elisabeth färbt suggestiv sogar auf den Leser ab, wie ich an mir selbst gemerkt habe. «En ma fine est mon commencement» hatte Maria Stuart als prophetisches Motto in einen Brokatstoff gestickt, und tatsächlich: Ihr Ende war ihr Anbeginn, es begründete katharsisartig den anhaltenden Mythos dieser historischen Figur.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Konfidenz

dorfman-1Weniger wäre mehr gewesen

Vertrauen, nichts anderes bedeutet ja der veraltende Begriff «Konfidenz», ist eines der Themen dieses Romans des chilenischen Autors Ariel Dorfman, der in jungen Jahren für die Regierung von Salvador Allende gearbeitet hat. Durch den Putsch von Pinochet ins Exil gezwungen, ging er in die USA, wo er als Professor an der Duke-Universität von North Carolina tätig wurde und neben Lateinamerikanistik auch Literatur lehrt. Dieser Lebensweg prägt zweifellos auch sein literarisches Schaffen, der Terror der chilenischen Diktatur und seine Erfahrungen mit dem Exil werden in seinen Werken oft thematisiert, so auch in seinem wohl bekanntesten Roman «Der Tod und das Mädchen», der von Roman Polanski verfilmt wurde, wirklich sehenswert übrigens. Im vorliegenden Roman nun mit dem beziehungsreichen Titel, im Klappentext als packender Politthriller bezeichnet, variiert der Autor sein Thema Exil in einem raffiniert verschachtelten, labyrinthartigen Plot, der die volle Aufmerksamkeit des Lesers erfordert, will er den Überblick nicht verlieren.

Die Geschichte beginnt am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in Paris. Eine junge Frau betritt ihr Hotelzimmer, sie hat den Koffer noch in der Hand, da klingelt schon das Telefon, eine männliche Stimme meldet sich. Der unbekannte Anrufer ist bestens über sie informiert, hat ihre Anreise aus Berlin arrangiert und das Zimmer für sie bestellt. Im Verlaufe eines mehrfach unterbrochenen neunstündigen Telefonats erfährt sie von den Vorgängen um ihren Geliebten, der im Untergrund gegen die Nazis arbeitet und den sie besuchen sollte. Alle Details sind verwirrend und erscheinen ihr unglaubwürdig, der Anrufer, der sich als sein Verbindungsmann zur Untergrund-Organisation bezeichnet, appelliert jedoch immer wieder an ihr Vertrauen, da er ihr nachprüfbare Fakten nicht verraten darf, alles sei geheim. Bald nimmt das Gespräch eine andere Richtung, er erklärt ihr nämlich zögernd, dass sie exakt der Traumfrau entspräche, die seit seinem zwölften Lebensjahr all sein Denken beherrscht hat.

Der Autor brennt ein aberwitziges literarisches Feuerwerk ab in diesem Roman, er jongliert virtuos mit wechselnden Erzählperspektiven, mit sich plötzlich verändernden Identitäten seiner Protagonisten und mit Details seiner Story, die wahr sein könnten, aber auch erlogen oder frei erfunden. Eingestreut in dieses erzählerische Verwirrspiel sind diverse kursiv gedruckte Reflexionen des Autors, in denen er seine bisher erzählte Geschichte überdenkt und die Möglichkeiten zu Weiterführung auslotet. Je mehr er erfährt, desto verunsicherter wird der Leser, die Ambivalenz der wenigen auftretenden Figuren ist ebenso verstörend wie es die undurchsichtigen politischen Hintergründe des Geschehens sind. Die allzu konstruiert wirkende, komplizierte Geschichte endet nach einem abschließenden Einschub des Autors mit Gedanken über das Ende seines Romans in einem letzten Monolog des Erzählers aus dem Kerker, und zwar mit dem Satz: «Oder willst du die Geschichte mit mir sterben lassen»?

Die Intensität, mit der die in einfacher, klarer Sprache und größtenteils in Dialogform geschriebene Erzählung auf den Leser einwirkt, ist beachtlich. Gekonnt werden die vielfältigen Einwirkungen von Diktatur und Terror, vom Leben im Untergrund und im Exil, auf die Psyche der verschiedenen Figuren beschrieben. Allerdings ist es ziemlich schwer, dem hintergründigen und stets zwiespältig erscheinenden Geschehen zu folgen. Der Autor hat die Latte des Verständnisses für den Leser ziemlich hoch gelegt, so mancher dürfte an ihr scheitern. Weniger wäre mehr gewesen, schade eigentlich!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Traumpfade

chatwin-1Verlorene Zeit

Es gibt Bücher, mit denen man partout nichts anzufangen weiß, die einem irgendwie nicht liegen, der Thematik oder Erzählweise, zuweilen aber auch der Botschaft wegen, die sie transportieren sollen. Bruce Chatwins mit allerlei Reflexionen angereicherter Reisebericht «Traumpfade», nach seinem Erscheinen 1987 zum Bestseller avanciert, gehört für mich persönlich eindeutig zu dieser unerquicklichen literarischen Spezies. Für Globetrotter sicherlich interessant, bietet dieses Buch, das Vieles ist, nur kein Roman, trotz etlicher Informationen über die eingeborene Bevölkerung eines fernen Kontinents den übrigen Lesern literarisch rein gar nichts. Weder eine interessante Handlung noch sympathische Figuren, deren Erlebnisse erzählenswert wären oder mit denen man sich irgendwie identifizieren könnte. Es bietet leider auch keine sprachliche Könnerschaft oder einen kreativen Schreibstil, womit das Lesen ja per se zu einem Genuss werden kann. Wer also nicht gerade australophil ist, dessen Geduld mit dem englischen Autor wird 368 Buchseiten lang auf eine harte Probe gestellt.

Im ersten Teil erzählt Chatwin fiktional angereichert von seinen Erlebnissen in Australien, dem fünften Kontinent, der es ihm ganz besonders angetan hat. Zu Beginn schildert er das Zusammentreffen mit Arkady Wolschock, einem russischstämmigen Wissenschaftler, der für eine Eisenbahngesellschaft tätig ist und als Kontaktmann zu den Aborigines fungiert, um mit ihnen die Trasse einer neu zu bauenden Schienenstrecke abzustimmen. Der Autor schließt sich ihm an, begleitet ihn auf seinen Reisen und lernt so die Mythen der Eingeborenen kennen, deren Traumpfade auf uralten Überlieferungen beruhen. Sie nennen sie Songlines, Wege also, die man singen kann, die magische Punkte berühren, von den Aborigines wie Heiligtümer verehrt, da sie den Entstehungsmythos vieler gottähnlicher Kreaturen verkörpern. Auf diesen Fahrten treffen die Beiden mit vielen Eingeborenen zusammen, deren prekäre Lebensumstände einem Europäer eigentlich als unerträglich erscheinen müssten. Seltsamerweise hält sich der Autor aber mit einer Anklage der britischen Kolonialherren ziemlich zurück, obwohl hier eine ebenso rücksichtslose Unterdrückung und auch Ausrottung der indigenen Bevölkerung stattgefunden hat wie in Asien, Afrika oder Amerika.

Chatwins besonderes Thema, ja geradezu sein Herzensthema, ist das Nomadentum, für das er sich maßlos begeistern kann und dem er kritisch immer wieder das sesshafte Leben des modernen Menschen gegenüberstellt. Er führte selbst ein unstetes Leben mit ausgedehnten Reisen, fühlte sich als Autodidakt wohl auch ein bisschen wie ein Privatgelehrter, der mit Konrad Lorenz Gespräche führte und mit vielen Fachleuten auf dem Gebiet der Kulturanthropologie zusammentraf. Seine detaillierten Beschreibungen eines für die meisten Leser völlig fremden, fernen Kontinents mit seiner exotisch anmutenden Flora und Fauna erklärt die große Popularität, die er in dafür empfänglichen Leserkreisen genießt, viele der Lobeshymnen zeugen davon.

Die zweite Hälfte des Buches unter dem Titel «Aus den Notizbüchern» ist eine ebenso kuriose wie überflüssige, bruchstückhafte Sammlung von Zitaten, Aphorismen und Notizen des Autors, mit denen er unverdrossen seine Botschaft zu ergänzen und zu untermauern sucht. Da findet sich dann beispielsweise zum Thema Knochenfunde von Hominiden Tiefsinniges wie: «Wenn bewiesen werden könnte, dass sie von anderen Hominiden in die Höhle gebracht wurden, würden diese sich der Anklage wegen Mordes und Kannibalismus stellen müssen. Wenn nicht, nicht.» Wow! Vom Gilgamesch-Epos bis zu Hitlers Refugium bei den Nürnberger Parteitagen, gipfelnd in der These vom Songline-Urmodell für alle nachfolgenden Systeme, es wimmelt nur so von populärwissenschaftlichem Nonsens. So was kann erheiternd sein, ist es hier nun aber wirklich nicht, – schade also um die verlorene Zeit, in der man ja auch einen richtigen Roman hätte lesen können, womöglich sogar einen guten!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
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Wiedersehen in Howards End

forster-1Tea Time

Fünf Jahre nach seinem ersten Roman erschien 1910 schon Edward Morgan Forsters «Wiedersehen in Howards End», das fünfte seiner in schneller Folge herausgegebenen epischen Werke. Der vorliegende Roman wurde dann 39 Jahre später auch auf Deutsch veröffentlicht, einem breiteren Publikum aber wurde der Autor erst nach Verfilmung einiger seiner Romane Ende der achtziger Jahre bekannt. Als Altphilologe und Historiker gilt das Augenmerk dieses weitgereisten Schriftstellers den Konflikten, wie sie zwischen unterschiedlichen Ethnien ebenso entstehen wie zwischen den sozialen Gruppen eines Volkes, den Geschlechtern oder den Generationen. Hier im Roman sind konservativ englisches und idealistisch deutsches Wesen gegenübergestellt, erbbegünstigt Reiche und unverschuldet Arme, quirlige Städter und schwerfällige Landbewohner, andächtig Kulturbeflissene und geldgierige Geschäftsleute.

Eingebettet sind diese Konflikte in einen Plot, bei dem zwei Schwestern mit hälftig deutschen Wurzeln im Mittelpunkt stehen, Margaret Schlegel und ihre um einiges jüngere und attraktivere Schwester Helen. Sie sind früh verwaist, inzwischen beide schon etwas altjüngferlich, sorgenfrei wohlhabend, geistig rege, debattierfreudig, kulturell interessiert. Ihre Wege kreuzen sich mit der archetypisch englischen Familie Wilcox, der Mann erfolgreicher Unternehmer mit einer sehr naturverbundenen Frau, ihnen gehört der schöne Landsitz Howards End nahe London. Dort findet dann auch Helens ebenso harmlose wie kurze Liebelei mit einem der Wilcox-Söhne statt und setzt ein schicksalhaftes Räderwerk an Geschehnissen in Gang, welches, man ahnt es ja schon vom Romantitel her, am Ende alle in eben dieses Landhaus zurückführt. Margaret als Ehefrau des verwitweten Wilcox-Patriarchen, Helen als Mutter eines unehelichen Kindes mit einem so gar nicht standesgemäßen, verheirateten Erzeuger, den dort überraschend auch noch der Tod ereilt.

Der Weg dorthin geleitet den Leser in einer betulich erzählten Geschichte nicht nur durch eine längst vergangene, spätviktorianische Epoche kurz vor dem ersten Weltkrieg, er beleuchtet zudem eindrucksvoll den Kampf zwischen stockkonservativ Denkenden und liberalen Freigeistern. Gleichberechtigung ist noch ein fernes Traumziel, obwohl die emanzipierten Schwestern ihren männlichen Kontrahenten häufig geistig überlegen scheinen, deutlich wendiger sind, zudem auch einfühlsamer, selbst in den schwierigsten Disputen. Und schließlich gibt es ja immer wieder jene segensreiche Zeremonie, die in England geradezu sakrosankte Teestunde, die dann oft auch dazu beiträgt, dass sich alles wieder einrenkt. Forster reichert seinen Plot mit vielen Betrachtungen über Kunst und Natur an, geht philosophischen Fragen nach, hinterfragt skeptisch den technologischen Fortschritt und weist auf dessen negative Folgen hin. All dies bewirkt im Kontext mit einer flüssig lesbaren, anschaulich erzählenden Sprache ein kontemplatives Leseerlebnis, bei dem einige überraschende Wendungen im Geschehen über etliche durchaus vorhandene Längen hinwegtrösten.

Die Seele geht als Sieger hervor im Kampf mit Konvention und Standesdünkel, das ist die Botschaft dieses Romans, und Frauen mit ihrem Idealismus sind dabei die besten Vollstrecker, ihr Gefühl siegt über den nüchternen Verstand. Alle Figuren sind stimmig beschrieben und erwecken durchaus Empathie beim Leser, die Handlung wird zum Ende hin sogar fast spannend und erscheint weitgehend plausibel. Allerdings kam mir Forsters Prosa wie mit Patina bedeckt vor, glanzlos jedenfalls, ohne Esprit, und humorfrei außerdem, was man bei einem der doch für ihren trockenen Humor bekannten englischen Autoren besonders schmerzlich vermisst. Dieser Roman ist das Portrait einer längst vergangenen Zeit, wie man es schon zu kennen glaubt aus etlichen anderen Romanen, es fügt dem Bild seiner Epoche nichts nennenswert Neues hinzu. Das Lesen lohnt sich trotzdem, am besten gemütlich und entspannt bei einer Tasse guten Tees!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Der Fuchs war damals schon der Jäger

mueller-1De gustibus non est disputandum

Zugegeben, Herta Müllers Prosa ist gewöhnungsbedürftig, sehr sogar! Das Nobelkomitee spricht von einer Autorin, «die mittels Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit zeichnet». Im Jahr der Preisverleihung 2009 erschien der Roman «Atemschaukel», dessen Lektüre seinerzeit bei mir einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen hatte als sprachlich hochstehendes Werk einerseits, mit einer leider furchtbar düsteren Arbeitslager-Thematik andererseits, die so gar nichts beiträgt zum Lesegenuss, sofern man kein Masochist ist. Leider fand ich auch im vorliegenden Roman mit dem rätselhaften Titel «Der Fuchs war damals schon der Jäger» ein ähnliches Sujet, das Leben im Rumänien unter dem Diktator Ceauşescu kurz vor bis zum Zusammenbruch dieses menschenverachtenden Regimes.

Der offensichtlich vorhandene Determinismus Müllers führt bei diesem siebzehn Jahre vor dem Nobelpreis erschienenen Roman zu einer sehr eigenwilligen sprachlichen Form, deren Poesie sich manchem Leser nur schwer erschließt. Sie ist alles andere als schön, versucht vielmehr, die Lebenszwänge und Ängste der Menschen durch eine häufig grotesk anmutende Wortwahl und Syntax auszudrücken. Das wirkt aufs Gemüt des Lesers und erzeugt eine durchgängig düstere Stimmung, die kaum je aufgehellt wird, selbst ein Witz über Ceauşescu oder die tödliche Fahrt eines Parteikaders im Kettenkarussell ändert daran nichts. Mit kurzen, einfachen Sätzen, ohne Fremdwörter auskommend, weitgehend auch ohne direkte Rede, steht für Herta Müller wie bei einer Lyrikerin der Rhythmus ihrer Texte im Fokus, den sie nach eigenem Bekunden durch lautes Vorlesen überprüft und falls erforderlich korrigiert.

Der poetische Hintersinn dieser speziellen Prosa ist in der Regel zumindest nicht gleich offensichtlich, manchmal aber auch überhaupt nicht zu entschlüsseln, oft als Metapher für die Metapher sozusagen. Zitat: «Der Weg kennt sich selber, hat keine Entfernung. Die Schritte verwackeln und sind immer gleich. Dann beeilen die Schuhe sich, der Kopf ist leer, auch wenn der Fuchs im Kopf steht». Alles klar? Für Leser mit Freude an der Lösung solch kniffliger verbaler Rätsel sicherlich eine wahre Fundgrube, ruft Müllers Sprache bei anderen im günstigsten Fall nur Kopfschütteln hervor, aber auch krasse Ablehnung. Was schade ist, denn das Spektrum auch abseitiger sprachlicher Formen auszuloten ist zumindest bereichernd, selbst wenn es Mühe macht für literarische Warmduscher wie mich.

Der Plot ist banal und nicht weiter erwähnenswert, natürlich ist die Securitate allgegenwärtig, die wenigen Figuren sind nur schemenhaft beschrieben als typische Stellvertreter für ein unterdrücktes rumänisches Volk. Die Trostlosigkeit ihres Lebens wird emotionslos geschildert, wobei die simple Geschichte ab der Mitte des Buches Fahrt aufnimmt und dann auch etwas konventioneller erzählt wird. Am Ende gibt es mit dem Untergang des Regimes fast so etwas wie Optimismus, durchaus selten ja im Werk Herta Müllers, ein Licht am Ende des Tunnels jedenfalls. Auch wenn klar wird, dass die alten Kader schnell wieder Fuß fassen, sich der neuen Zeit scheinbar mühelos anpassen, was die positive Stimmung gleich wieder dämpft. So weit, so gut, wie für jede Kunst gilt auch für diesen Roman: Über Geschmack lässt sich nicht streiten!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Die Brücke von San Luis Rey

wilder-1Die Notation des Herzens

Schon mit seinem zweiten Roman «Die Brücke von San Luis Rey» gelang dem US-amerikanischen Autor Thornton Wilder 1927 der Durchbruch als Erzähler, neben dem kommerziellen Erfolg wurde er dafür auch mit dem renommierten Pulitzerpreis geehrt, den er später dann noch zweimal als Dramatiker für Theaterstücke erhielt. Thema dieses Romans ist die uralte Menschheitsfrage nach dem Sinn des Lebens, anders ausgedrückt die vorgelagerte Frage, ob unser Leben vom Zufall oder von göttlicher Fügung bestimmt ist, und damit natürlich auch die Grundfrage nach einem Beweis für die Existenz Gottes.

«Freitag, den 20. Juli 1714, um die Mittagsstunde, riss die schönste Brücke in ganz Peru und stürzte fünf Menschen hinunter in den Abgrund» lautet der erste Satz. Wilder bezieht sich in seinem Roman auf eine tatsächlich von Inkas aus dem Material des Urwalds gebaute Hängebrücke über den Río Apurímac. Bruder Juniper, ein Franziskaner, wurde zufällig Augenzeuge des Unglücks. «Warum geschah das just diesen Fünfen?» fragte er sich. «Es schien Bruder Juniper hohe Zeit zu sein, dass die Theologie ihren Platz unter den exakten Wissenschaften einnähme, und er hatte seit langem beschlossen, ihr den zu verschaffen». Der Mönch sah in dem Unglück eine Chance dafür, wenn sich nämlich zeigen würde, «dass jedes der geendeten Leben ein abgeschlossenes Ganzes gewesen war», diese Fügung mithin ihren Grund hatte und kein Zufall war, q.e.d. – wie es in den exakten Wissenschaften heißt. Die akribischen Recherchen Junipers über die Lebensgeschichte der fünf Opfer füllten schließlich ein dickes Buch, welches dann plötzlich für ketzerisch erklärt wurde. «Es wurde samt seinem Verfasser dazu verurteilt, auf dem großen Platze verbrannt zu werden».

In diesem Handlungsrahmen erzählt Wilder von der schreibwütigen Marquesa de Montemayor und deren liebloser Tochter, von Pepita, der als Waise im Kloster aufgezogenen Gesellschafterin der Marquesa, von Esteban, der durch den frühen Tod des Zwillingsbruders aus der Bahn geworfen wurde, und schließlich von Onkel Pio, einem liebenswerten Bonvivant, «Kammerzofe» der Perichole, einer gefeierten Schauspielerin, deren illegitimer Sohn Jaime den Vizekönig zum Vater hat. Alle diese Figuren, ergänzt um eine aufopfernde Äbtissin, einen wackeren Kapitän, den genussüchtigen Erzbischof und andere mehr, werden liebevoll und sehr treffend geschildert, sie erscheinen dem Leser geradezu plastisch vor Augen. Diese großartige Beschreibungskunst Wilders erhält noch eine willkommene Steigerung durch seinen stets präsenten, man könnte fast sagen schwarzen Humor, seine köstliche Ironie jedenfalls allem Menschlichen gegenüber, an subtilen englischen Humor erinnernd. Die Fäden seiner kapitelweise erzählten Handlung laufen immer deutlicher zusammen, fein strukturierte Bezüge zwischen den Protagonisten werden erkennbar, und am Ende betreten die tragischen Fünf, die Marquesa mit Pepita, Esteban und Onkel Pio mit Jaime, die verhängnisvolle Brücke.

Thornton Wilder beschreibt das Geschehen und dessen metaphysische Hintergründe in einer mitreißenden Sprache, kurz und bündig in wunderbar treffenden Formulierungen ohne jeden Schnörkel, sehr angenehm zu lesen also. Was er zu sagen hat ist ebenso lebensklug wie empathisch, man solle als Leser, um aus dem Roman zu zitieren, sich nicht «just das entgehen» lassen, «was der eigentliche Sinn von Literatur ist: die Notation des Herzens». Das tragische Ereignis selbst, muss hier noch angemerkt werden, ist nicht in Vergessenheit geraten, es lebt in einem peruanischen Sprichwort weiter. «Vielleicht sehe ich dich Dienstag», sagt man dort zum Beispiel, «wenn die Brücke nicht reißt».

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Eine blaßblaue Frauenschrift

werfel-3Ein Opportunist am Scheideweg

Der österreichische Schriftsteller mit jüdischen Wurzeln Franz Werfel sah sich vor allem als Lyriker, seinen Bestsellerstatus in den USA der 1920/30er Jahren verdankt er allerdings seiner Frau, von der er sagte: « Wenn ich die Alma nicht getroffen hätte – ich hätte noch hundert Gedichte geschrieben und wäre selig verkommen». Der in allen literarischen Genres vertretene und mit Ehrungen und Auszeichnungen für sein umfangreiches Œuvre geradezu überhäufte Autor schuf mit der Novelle «Eine blassblaue Frauenschrift» die beklemmende Studie eines opportunistischen Spießers im Wien des Jahres 1936. Der Anschluss an das Deutsche Reich warf damals seine Schatten schon voraus, ein unterschwellig wirksamer Antisemitismus war allgegenwärtig.

Protagonist der Geschichte ist der aus einfachen Verhältnissen stammende Leonidas, der es nach seiner Heirat mit der schönen Millionenerbin Amelie bis zum Sektionschef im Unterrichts-Ministerium gebracht hat, eine glänzende Karriere also. Der gutaussehende 50-Jährige findet morgens in seiner Post einen mit blassblauer Tinte geschriebenen Brief von Vera, einer jüdischen Studentin, mit der er 18 Jahre zuvor in Heidelberg eine kurze, heftige Affäre hatte. Er hatte sie damals schmählich sitzen lassen und seither keinen Kontakt mehr zu ihr. In Veras sehr formal gehaltenem Brief bittet sie ihn um Protektion für einen begabten, 17jährigen Schüler, der «aus bekannten Gründen» in Deutschland nicht mehr das Gymnasium besuchen könne. Dieser Brief bereitet ihm höchste Pein, ein unehelicher Sohn gefährdet sein luxuriöses Leben, Amelie würde ihm den Seitensprung auch nach so langer Zeit niemals verzeihen, mit fatalen Folgen. Sich in wilden Spekulationen ergehend malt er sich seinen gesellschaftlichen, finanziellen und beruflichen Absturz ins Bedeutungslose aus. Verzweifelt entwickelt, und verwirft er gleich wieder, alle möglichen Erklärungsversuche für seine Frau. In seiner Verwirrung spricht er sich in der morgendlichen Sitzung mit dem Minister bei der Vergabe eines hohen Postens zum Entsetzen aller Teilnehmer auch noch für einen jüdischen Mediziner aus. Völlig durch den Wind, kündigt er sich wild entschlossen im Hotel für ein klärendes Gespräch mit Vera an, das Schlimmste fürchtend. Mehr möchte ich hier nicht ausplaudern, die Spannung hält nämlich bis zum ebenso überraschenden wie überzeugenden Schluss an.

Der raffiniert konstruierte Plot fasst die Geschehnisse eines einzigen Tages vom Frühstück bis zum Abend in der Oper zusammen. Dort resümiert Leonidas inmitten all des oberflächlichen und eitlen Gehabes der komplett versammelten Oberschicht sein Versagen an diesem Tage. Denn er hätte heute die Gelegenheit gehabt, aus seinem saturierten, langweiligen Luxusleben auszubrechen, endlich Verantwortung zu übernehmen, seine fürchterliche Lebensschuld abzutragen. Ihm wird klar, «dass heute ein Angebot zur Rettung an ihn ergangen ist», an dem er gescheitert ist. Resignierend lautet der Schlusssatz denn auch: «Er weiß, dass ein neues Angebot nicht wieder erfolgen wird».

Exemplarisch wird in dieser Geschichte in das Innerste des Protagonisten geblickt, wird dessen zweifelhafter Charakter schonungslos seziert. Skeptisch verdeutlicht Werfel in kurzen Szenen und Rückblenden das Spannungsfeld zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen ehrenhaftem und skrupellosem Verhalten, wobei auch Schicksal und Zufall Schlüsselrollen einnehmen und politische Zeitläufte den negativen Hintergrund abgeben. Durch subtile Menschenkenntnis gewährt diese Charakterstudie einen tiefen Einblick in das brüchige Lebensgefüge eines in den Konventionen gefangenen, selbstsüchtigen Karrieristen. Die Thematik ist zeitlos, die Handlung jederzeit nachvollziehbar, alle Figuren sind meisterhaft beschrieben. Auch wenn sie heute arg konventionell erscheint, manchmal sogar etwas altväterlich daherkommt, vermag die Erzählkunst Franz Werfels doch immer wieder zu begeistern, auch heute noch.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Carambole

steiner-1Ein Roman mit Zugabe

«Die Idee eines Textes, der ästhetisch innovativ ist und ein kleines Stück Menschheitsgeschichte darstellt» ist für den Schweizer Autor Jens Steiner Grund des literarischen Schreibens, wie man auf seiner Homepage nachlesen kann. Beides findet sich in diesem neuen, seinem zweiten Roman, der soeben in seiner Heimat den Buchpreis 2013 gewonnen hat, von der Jury in der Laudatio als ein Werk « von großer poetischer Kraft« gewürdigt. Mich hat der artifizielle Sprachstil dieses eigenwilligen Romans, der aus zwölf nur vage ineinander verwobenen, episodenhaften Erzählungen besteht, unwillkürlich an Franz Kafka erinnert, weniger unheilschwanger und bedrückend zwar, aber ähnlich absurd und unergründlich.

Das in Indien und umgebenden Ländern als Volkssport betriebene Brettspiel Carrom wird in der Schweiz Carambole genannt, eine Art Fingerbillard für zwei oder vier Personen, das für diesen Roman nicht nur als bedeutungsschwerer Titel dient, sondern auch im Untertitel seine Spuren hinterlassen hat, «Ein Roman in zwölf Runden». Eigentliche Hauptfigur ist die in Lethargie versunkene Dorfgemeinschaft eines namenlos bleibenden Ortes, dessen Seele zu ergründen Ziel dieser Geschichte ist. Aus der Einwohnerschaft rekrutiert sich eine Vielzahl von Protagonisten, jeder für sich Teil eines Puzzles, dessen Lösung sich als nicht gerade einfach erweist. Mitdenken ist also angesagt bei dieser insoweit schwierigen Lektüre, die in einer allerdings klaren und unkomplizierten Sprache geschrieben ist, nicht unbedingt selbstverständlich ja bei jungen und kreativen Romanciers. Wir erfahren von teils tragischen Lebensgeschichten, von schuld- und schamvoll verborgenen Geheimnissen, von wichtigen und nichtigen Erlebnissen der Figuren, das alles berichtet in personaler Erzählform und aus ständig wechselnden Perspektiven. Verzweiflung und Verlorenheit allenthalben, die Figuren sind äußeren Kräften ausgeliefert, werden herumgeschubst wie die runden Steine bei titelgebenden Brettspiel, einem unergründlichen Plan folgend, der innerhalb weniger Tage vor einem nicht näher definierten zeitlichen Hintergrund abläuft, in dem Handy und Computer noch nicht vorkommen.

Die zwölf mit kurzen Titeln versehenen Kapitel, jedes eine separate Story, in der gelegentlich schon bekannte Protagonisten erneut auftauchen, haben ihre eigene Thematik, sie reihen sich zunächst ohne erkennbare Bezüge aneinander. Man begegnet darin Figuren wie den drei Schülern, auf die die Leere der Sommerferien zukommt. Da ist der Außenseiter Schorsch, nach dessen Tod festgestellt wird, dass er sich von Katzenfutter ernährt hat, da ist der Rollstuhlfahrer am Fenster, der mit gleich drei Fernrohren und zwei Spiegeln das Dorfleben beobachtet, zwei Söhne sind sich spinnefeind wegen des Streits um das Erbe des Vaters, es gibt viele andere skurrile Typen mehr. Die Stimmung bei allen Geschichten ist melancholisch, regelrecht düster, lähmend und deprimierend, es ist wahrlich unerfreulich, was man da liest.

«Er suchte im Gedächtnis nach einem frohen Gedanken» heißt es mal im Text. Ich fand den frohen Gedanken in diesem Roman nur im siebten Kapitel. Da trifft sich eine Troika aus drei Männern zum Carambole, jeder genießt seinen ganz speziellen Lieblingsdrink, man spricht über Antonio Gramsci und Epiktet. «Freut euch eurer Torheit, denn dahinter wartet das Unglück. Und hinter dem Unglück kommt nichts mehr», heißt es an einer Stelle. Hinter den zwölf Kapiteln kommt für den interessierten Leser dann doch noch was, eine erfreuliche Zugabe nämlich. Er findet, so er sucht, auf der Homepage des Autors ein nettes dreizehntes Kapitel, das geeignet ist, zumindest auf elektronischem Wege die Lektüre als weniger bedrückend ausklingen zu lassen. Man muss allerdings das Passwort kennen, also aufmerksam die zwölf papiernen Kapitel gelesen haben!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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