Das Nest

daprix-sweeney-1Kreatives Schreiben

Entsteht beim Erscheinen eines neuen Buches ein Hype wie der beim Roman «Das Nest» von Cynthia D’Aprix Sweeny, sollte der Leser gewarnt sein: Vorsicht, Bestseller! Die US-amerikanische Autorin war freiberufliche Werbetexterin und hat nach der Kinderphase ein spätes Studium in Creative Writing absolviert. Ihren Debütroman, den sie bereits während dieser Studienzeit begonnen hat, wäre ihr vom zweitgrößten Verlag der Welt, HarperCollins in New York, geradezu aus den Händen gerissen worden, sie hätte einen Dollarvorschuss in Millionenhöhe bekommen, wird kolportiert. Ein Blitzstart also, der wahr gewordene American Dream, – hält denn das Buch, was der Hype verspricht?

Der inzwischen verstorbene Patriarch der New Yorker Familie Plumb hat vor vierundzwanzig Jahren für seine vier Kinder einiges Geld in einem Fonds angelegt. Ein üppiges finanzielles Polster, wie er damals sagte, an das sie frühestens zum vierzigsten Geburtstag von Melody, seiner jüngsten Tochter, herankämen, damit sie es nicht vorher schon verprassen können. Fortan nannten die Geschwister dieses Erbe unter sich immer nur «Das Nest». Dem Roman ist ein Prolog vorangestellt, der einen schlimmen Autounfall von Leo schildert, dem Playboy unter den vier Geschwistern, bei dem seine junge Beifahrerin einen Fuß verliert. Als nun die Auszahlung des Geldes ansteht, erfahren die Geschwister, dass der wohlhabende Leo auf einen Schlag all sein eigenes Geld verloren hat durch den Unfall und durch seine ruinöse Scheidung, seine Mutter musste sogar den Fonds auflösen, damit er die immensen Schadenersatzansprüche erfüllen konnte, – «Das Nest» ist also leer.

Was folgt ist die abwechselnd in mehreren Handlungssträngen erzählte Geschichte der vier Geschwister, die alle in Geldnöten sind. Die deutlich über ihre Verhältnisse lebende Melody kann die immens hohen College-Gebühren für ihre zwei Töchter nicht aufbringen, die erfolglose Schriftstellerin Beatrice möchte endlich ein größeres Appartement haben, und der schwule Antiquitätenhändler Jack hat hinter dem Rücken seines «Ehemannes» ? das gemeinsame Sommerhaus verpfändet. Der finanziell total abgebrannte Leo stellt seinen Geschwistern bei einem eilig anberaumten Familientreffen in Aussicht, er würde sich schon etwas einfallen lassen, damit ihr Erbteil doch noch ausgezahlt werden kann. Die Gier nach dem Gelde führt die Geschwister notgedrungen wieder enger zusammen, ohne dass dadurch familiäre Wärme entstehen würde, zu sehr träumt jeder von ihnen egoistisch davon, wie sich sein Leben auf Pump schlagartig ändern würde, könnte Leo frisches Geld auftreiben. Der Roman folgt unbeirrt der eingängigen Devise: «Geld macht nicht glücklich, aber es hilft ungemein».

Die Geschichte ist prall gefüllt mit jederzeit leicht nachvollziehbaren, geradlinig und ohne Schnörkel erzählten Geschehnissen, wobei der sprachliche Stil doch ziemlich bieder wirkt, ohne Esprit und kaum je witzig. All die glaubhaft beschriebenen Figuren agieren aber so munter, dass es dem Leser dieser verzwickten Geschwisterstory nicht langweilig wird. Und auch die Dialoge sind stimmig, der plausible Plot konzentriert sich weitgehend auf die schwierigen Charaktere der vier durchaus sympathisch erscheinenden Protagonisten, von deren Irrungen und Wirrungen im Wechsel so flott berichtet wird, oft in Form innerer Monologe. «Kreatives Schreiben will Anleitung zum Schreiben sein, ohne notwendigerweise anspruchsvolle Texte zu produzieren», heißt es bei Wikipedia, und genau diese Definition trifft hier auch voll zu. Dem mit offensichtlichem Kalkül auf Erfolg getrimmten Roman, an dessen Verfilmung schon eifrig gearbeitet wird, fehlt jedenfalls völlig ein wirklich authentischer Duktus, von inhärentem literarischem Genius ganz zu schweigen. Derart konstruierte Bücher, – so mein Albtraum, nachdem autonomes Autofahren ja schon Realität geworden ist -, werden künftig wohl Computer schreiben, mit intelligenten Algorithmen für das Creative Writing.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Der Besen im System

wallace-1Für Leser mit Sinn für das Absurde

Nach der Lektüre von «Unendlicher Spaß», seinem berühmten Erfolgsroman, war ich nun auch auf den Erstling «Der Besen im System» von David Foster Wallace neugierig, schon der Titel weckt ja gewisse Assoziationen. Eines vorweg: Es macht wenig Sinn, bei diesem amerikanischen Autor der Postmoderne eine Inhaltsangabe zu schreiben, wie es der Klappentext versucht. Dieser Roman folgt keiner literarischen Konvention und ist deshalb schwer fassbar mit den gängigen Maßstäben. Er ist surreal wie ein Bild von Salvatore Dalí, aber anders als in der Malerei ist in der Literatur ja eher Rembrand gefragt, ein klar erkennbarer und nachvollziehbarer Plot jedenfalls. Den sucht man hier vergeblich, auch wenn uns der schon erwähnte Klappentext das vorgaukelt und uns damit (bewusst?) in die Irre führt. Wittgenstein kommt nicht vor, und Ur-Oma Lenore bleibt ohne erkennbaren Grund spurlos verschwunden, bis zum Schluss. Der übrigens, wie es sich gehört im Surrealismus, mitten im Satz, auf Seite 624, abrupt endet, ohne Schlusspunkt eben, arglose Leser könnten an einen Fehldruck glauben.

Ähnlich wie beim Opus magnum findet sich der Leser auch in diesem satirischen Roman mit einer ziemlich komplexen Syntax konfrontiert, die seine volle Aufmerksamkeit fordert, ihn dann aber umso mehr mit spaßigen, unerwarteten, aufregenden Gedanken belohnt und ihn viele abstruse Situationen miterleben lässt in den diversen Handlungssträngen. Der unglaubliche Wortreichtum des Autors wird radikal, ironisch und völlig absurd eingesetzt. Neben hochgestochenen Fremdwörtern findet man absoluten Nonsens als Wortgebilde und, völlig gleichberechtigt, auch den vulgären Jargon des Alltags. Mit diesem Instrumentarium formt er ein literarisches Werk, das seinen Reiz gerade darin hat, in kein Klischee zu passen.

Negative Kritiken sprechen von einem durchgedrehten Roman, in dem ein kreatives Chaos herrsche, und bemängeln den Patchwork-Charakter der diversen, ziemlich wirr zusammengefügten Textabschnitte und Kapitel, einem Zettelkasten ähnlich. Da haben sie wohl Recht, einen Spielfilm könnte man schwerlich machen aus diesem Romanstoff, obwohl – man soll nie nie sagen! Denn in einem Film könnte man alle diese neurotischen Protagonisten und schrillen Charaktere wunderbar darstellen, sämtliche Figuren dieses Romans werden einem nämlich schnell sympathisch, so meschugge sie auch sein mögen. Im Kopfkino des Lesers funktioniert das jedenfalls bestens.

Für mich ist «Der Besen im System» nicht nur eine gnadenlose Abrechnung mit dem American Way of Live, sondern darüber hinaus allgemein mit unserer neurotischen Informationsgesellschaft, eine wirklich amüsante Lektüre außerdem, sehr empfehlenswert insbesondere für Leser mit Sinn für das Absurde, sie werden voll auf ihre Kosten kommen.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Anna Karenina

tolstoi-2Literarische Zauberei

Ohne Zweifel ist «Anna Karenina» von Lew Tolstoi auch ein Eheroman, oft verglichen mit Fontanes «Effi Briest» oder Flauberts «Madame Bovary», primär aber ist er, was man ziemlich unbesorgt den größten Gesellschaftsroman der Weltliteratur nennen mag. Der 1878 erschienene, grandiose Roman bedeutet außerdem eine entscheidende Wegmarke hin zu dem radikalen Moralismus dieses russischen Schriftstellers, der sich dann bekanntlich, in seiner geradezu peinlichen Spätphase, ins völlig Absurde hineingesteigert hat. Hier aber, in diesem voluminösen Epos über die adelige russische Gesellschaft des 19ten Jahrhunderts, fungiert noch eine Art Räsoneur als Statthalter des Autors, ein Sinnsucher und – wie man heute sagen würde – unermüdlicher Querdenker, das Alter Ego von Tolstoi also mit nahezu kongruenter biografischer Konstellation, nur das Künstlertum fehlt seinem Helden Lewin. Genau diese unvergleichliche Begabung aber hat der literarische Olympier zunehmend negiert, hat von «all dem künstlerischen Geschwätz» gesprochen, mit dem sein Werk gefüllt sei und dem dessen Leser «eine unverdiente Bedeutung beimäßen».

Anna also ist nicht die Hauptfigur des Romans, auch wenn sie titelgebend ist und ihr unübersehbar die ganze Sympathie des Autors gilt. «Im Hause der Oblonskijs herrschte große Verwirrung» heißt es im – ursprünglich – ersten Satz, Annas Eingreifen verhindert jedoch das Auseinanderbrechen der Ehe ihres untreuen Bruders und führt zu einem verlogenen Modus Vivendi mit seiner Frau. Deren Schwester gibt Lewin einen Korb, der von ihr als sicher angesehene Heiratsantrag des strahlenden Helden Wronskij aber bleibt aus. Er hat sich nämlich in die mit einem ungeliebten Mann verheiratete Anna Karenia verliebt, ihr leidenschaftliches Verhältnis endet jedoch tragisch. Lewin endlich bekommt beim zweiten Versuch keinen Korb mehr und findet zu seinem späten Eheglück. In mehreren parallelen Handlungssträngen des achtteiligen Romans präsentiert Tolstoi die gescheiterte Ehe- und Liebesgeschichte von Anna Karenina, das heuchlerische Ehe-Arrangement ihrer Schwägerin und die geradezu idealtypisch erscheinende, glückliche Ehe von Lewin.

All das ist eingebettet in ein großartiges Panorama der Adelsgesellschaft Russlands, die in allen ihren Facetten dargestellt ist, mit unzähligen, wunderbar stimmig beschriebenen Figuren, deren mitreißende Dialoge uns Einblick in ihr innerstes Wesen geben. In diesem üppigen personalen Ensemble findet man sich als Leser aber jederzeit zurecht, so treffend skizziert sind Tolstois literarische Geschöpfe. Von denen der Gutsbesitzer Lewin mir regelrecht ans Herz gewachsen ist, verkörpert er doch, obwohl selbst adelig, den ländlichen Gegenpol zum Luxusleben des Champagner trinkenden städtischen Adels. Sein Wissensdrang, seine Gedankenwelt, seine zahlreichen Dispute, seine Geradlinigkeit und gutmütige Offenheit sind geradezu herzerfrischend, die vielen ihm gewidmeten Kapitel sind jedenfalls sehr amüsant zu lesen. Man lernt ihn letztendlich so gut kennen, dass man seine Reaktionen, seine Gedanken nicht nur nachvollziehen, sondern oft auch voraussehen kann. Und so findet er schließlich dann durch die Worte eines einfachen Bauern zu der Erkenntnis, dass wir nicht leben, «um unseren Wanst zu füllen», sondern dass man «für das Gute» lebt, ein außerhalb der Vernunft liegender Gedanke, für den der wissenschaftliche Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung nicht gilt. Ein Wunder also, das sich dem Verstande schlichtweg entzieht und doch von jedem begriffen wird.

Dieser Roman selbst aber ist auch ein Wunder, er ist literarische Zauberei, die alle Maßstäbe sprengt. Ich habe noch nie etwas Besseres gelesen!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Ansichten eines Clowns

boell-1Das muss ihm erst mal einer nachmachen

«Ich glaube, dass kein Buch so missverstanden worden ist wie die Ansichten eines Clowns. Es war eigentlich nur eine Liebesgeschichte, wirklich nicht mehr.» Darf man als Leser dem Autor widersprechen? Und dem Großkritiker Reich-Ranicki gleich mit, der vom «Alltag einer Liebe» sprach? Ich meine ja, denn für mich ist dieser berühmte Roman von Heinrich Böll keine Liebesgeschichte, es wäre nämlich eine lausig schlechte. Es geht um viel mehr in diesem Roman, die Liebe spielt keinesfalls die Hauptrolle, und wenn Böll das anders sieht, dann hat er das Grandiose in seinem Werk ungewollt und unbewusst geschaffen. – Was ja nicht weiter stört beim Lesegenuss!

Schon der Buchtitel spricht doch Bände: Es geht um Ansichten, also Subjektives, dem in der Regel andere Meinungen gegenüberstehen, was Streit bedeutet. Und es geht um einen Clown, eine komische Figur mithin, der immer auch Tragik anhängt, wo Lachen und Weinen zusammengehören, wie jeder weiß, der mal im Zirkus war. «Ich bin ein Clown», lässt Böll seinen Helden sagen, «und ich sammle Augenblicke». Und so ist es denn auch diese sehr spezielle Perspektive eines gesellschaftlichen Außenseiters, die entlarvend und anklagend zugleich ist und einem die Augen öffnet für die alltägliche Unmenschlichkeit, gestern wie heute, für das permanente Versagen Derjenigen, die Gottes Ebenbild sind, wie wir uns einreden lassen von der Bibel. Das ist Thema dieses Romans, nicht die Liebe zwischen Mann und Frau!

Fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen ist Bölls Roman als hintersinnige Parabel auf die Gnadenlosigkeit der menschlichen Gesellschaft immer noch unvermindert gültig und nach wie vor ergreifend. Konformismus, Oberflächlichkeit, Scheinmoral, Heuchelei und Verlogenheit seiner Mitmenschen machen Bölls Protagonisten Hans Schnier, Clown von Beruf, wütend und angriffslustig, aber auch zutiefst melancholisch in einer Geschichte, die kein gutes Ende nehmen kann, das merkt der Leser schon am Anfang sehr deutlich. In der Ich-Perspektive, mit einfachen Worten und ohne komplizierte Syntax erzählt, in wenigen Stunden eines einzigen Nachmittags sich ereignend, zeigt uns der Roman in vielen Rückblenden, oft in Form ausgedehnter innerer Monologe, die Geschichte einer nur wenige Jahre andauernden Beziehung zwischen Hans und seiner Marie, eine von ihrer Umgebung argwöhnisch betrachtete, außereheliche Liaison, gemischt konfessionell obendrein.

Als Roman, was die Rezeption anbelangt, leicht verständlich also, schwer verdaulich allerdings, was die Thematik betrifft. Denn es gelingt dem begnadeten Erzähler Böll, dass der Leser sich, ungewollt und unbewusst zunächst, mit seinem Protagonisten identifiziert, die gleiche Ohnmacht spürt wie er, genau so leidet an der Lieblosigkeit und Gedankenlosigkeit vieler Mitmenschen, am damals wie heute fragwürdigen Zeitgeist, am Tanz ums Goldene Kalb. Getroffene Hunde bellen, und so war denn der Aufschrei der Katholiken im Erscheinungsjahr 1963 entsprechend laut, denn jede Form von Doppelmoral, die ganze verlogene Religiosität entlarvt Böll äußerst gekonnt aus einer ironisch-sarkastischen Perspektive. Als kleines Beispiel sei der ehrwürdige, hochangesehene Prälat genannt, in dessen Haus gleich mehrere gestohlene Madonnen stehen. Und dass der Hund am Wahlplakat der CDU sein Bein hebt und nicht nebenan bei der SPD, das kann doch auch kein Zufall sein. Trotz aller Tragik gibt es also öfter Grund zum Schmunzeln für den Leser dieses grandiosen Romans. Wenn am Ende der Clown als bettelnder Straßenmusikant am Bahnhof sitzt, ist er nicht gescheitert, sondern ist er selbst geblieben, hat sich nicht verbiegen lassen, allen Widrigkeiten zum Trotz. Respekt, das muss ihm erst mal einer nachmachen!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Mrs Dalloway

woolf-1Keine Angst

Selbst notorischen Büchermuffeln dürfte der Name dieser englischen Autorin geläufig sein, von dem Bühnenstück «Wer hat Angst vor Virginia Woolf?» nämlich, 1966 kongenial verfilmt mit Elizabeth Taylor und Richard Burton. Die Idee zu diesem Titel kam Edward Albee im Waschraum einer Bar, er hielt den graffitiartig auf einen Spiegel geschmierten Satz für einen Ulk, bei dem der gefürchtete Wolf aus dem Spottlied des englischen Märchens als Wortspiel durch den Namen der Schriftstellerin ersetzt wurde, – oder etwa, weil sie als schwieriges Studienobjekt bei den Literaturstudenten gefürchtet war? Anspruchsvoll jedenfalls ist auch ihr vierter Roman «Mrs Dalloway», der einen künstlerischen Höhepunkt im Œuvre dieser bedeutenden Autorin darstellt. Vor dem kontemplativ veranlagte, aufnahmefähige Leser aber keinesfalls Angst haben müssen, soviel vorab!

Virginia Woolf wird neben Gertrude Stein als berühmteste Autorin der klassischen Moderne angesehen. Sie hat in ihren Werken unermüdlich gegen das englische Spießertum angeschrieben, gegen den elitären Snobismus gehobener Kreise und die als zunehmend unerträglich empfundene gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen. Zeitlich im Umbruch nach dem Ersten Weltkrieg angesiedelt, stimmungsmäßig der «Lost Generation» Pariser Prägung vergleichbar, diente beim vorliegenden Roman die literarisch interessierte Mäzenatin Lady Ottoline Morrell als Vorlage für die titelgebende Protagonistin Clarissa Dalloway. Mit der in diesem Roman von 1925 avantgardistisch benutzten, damals neuartigen Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms gewährt Virginia Woolf einen tiefen Einblick in das Innerste ihrer Figuren, hier nun sehr konsequent großräumig eingesetzt als sprachliche Form, erlebte Rede und inneren Monolog einschließend. Aus dieser multiperspektivischen, vom Blickpunkt her willkürlich erscheinenden Erzählweise generiert sich letztendlich der eigentliche Plot, der auktoriale Erzähler selbst ist damit über weite Textabschnitte hinweg nicht mehr vernehmbar. Die stilistischen Parallelen zu dem drei Jahre vorher erschienenen «Ulysses» von James Joyce sind überdeutlich, und auch hier ereignet sich das gesamte Geschehen an einem einzigen Tage im Juni 1923. Als Tempus fugit- Symbol wird dabei leitmotivisch sehr wirkungsvoll immer wieder der Glockenschlag von Big Ben eingesetzt.

«Die Psyche des Menschen zu ergründen» sah Virginia Woolf als Aufgabe des Schriftstellers an, und so kreist ihr Roman, in dem sie sich Freuds neuartige Erkenntnisse der Psychoanalyse zunutze macht, um einige wenige Personen: Die 52jährige Clarissa Dalloway, eine Salondame der Oberschicht, Septimus Warren Smith, Kriegsveteran mit massiven posttraumatischen Störungen, der umtriebige Peter Walsh, nach fünf Jahren aus dem Kolonialdienst zurückgekehrter, ehemaliger Verehrer von Clarissa, sowie ein völlig unfähiger Psychiater. Mit Letzterem laufen die Fäden der beiden losen Handlungsstränge am Ende zusammen, auf jener Abendgesellschaft, deren Gastgeberin Clarissa ist und um deren Gelingen sich letztendlich alles dreht für sie. Was geschieht in diesem Roman, das erfahren wir zu großen Teilen nur durch den Gedankenfluss des jeweils im Fokus stehenden Protagonisten, entsprechend sprunghaft ist das Erzählte denn auch, ohne allerdings jemals unverständlich zu bleiben, wenn man denn den Text aufmerksam liest.

So ereignisarm dieser Plot um die beginnende Vereinsamung des Menschen in der modernen Massengesellschaft auch erscheint, so reich ist die Gedankenfülle, die da vor dem Leser ausgebreitet wird in Tausenden von Bildern, die breitgefächert Assoziationen auslösen, Gefühle wachrufen, Einblicke gewähren, Reflexionen anregen. Virginia Woolfs Sprache scheint anspruchsvoll, – ist aber keineswegs artifiziell -, mit zum Teil ausgedehnten Satzkonstruktionen, denen zu folgen dank gut durchdachtem, klarem Aufbau jedoch stets gelingt. Trotz seiner Kürze ein großer, ein grandioser Roman der Weltliteratur, den zu lesen man nicht versäumen sollte.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Stadt aus Glas

auster-1Spurensuche

Der amerikanische Schriftsteller Paul Auster wird als typischer Vertreter des Postmodernismus angesehen, er benutzt eine Erzählstruktur, die collageartig reale und fiktionale Elemente zu einer neuartigen epischen Form zusammenfügt. Dabei wird die gängige Erwartung des Lesers auf Stetigkeit und lückenlosen Zusammenhang bewusst konterkariert, wofür der Roman «Stadt aus Glas», erster Teil der New-York-Trilogie dieses Autors, als ein gelungenes Beispiel gelten kann. Die darin anzutreffende Diskontinuität verweist auf irrational erscheinende Realitäten, denen das Individuum in der modernen Massengesellschaft oft ratlos gegenübersteht, an denen es nicht selten ja auch scheitert.

Schon im zweiten Satz des Romans kommt der unter Pseudonym schreibende Krimiautor und Protagonist Daniel Quinn zu dem Schluss, «nichts ist wirklich außer dem Zufall». So eingestimmt wundert sich der Leser dann kaum noch, als ein nächtlicher Anrufer Quinn beharrlich für den Privatdetektiv Paul Auster hält, er lässt sich nach anfänglichem Zögern unter diesem falschen Namen sogar als Detektiv engagieren. Der Autor erzeugt von den ersten Seiten an einen erzählerischen Sog, wie er sonst oft nur in guten Detektivromanen zu finden ist, man mag das Buch nicht zur Seite legen, bevor man nicht weiß, wie diese mysteriöse Geschichte endet, wo die Fäden des Plots zusammenlaufen. Genau damit aber werden die Leser auf den Leim geführt, vieles nämlich ist irrelevant, man wird bewusst auf falsche Fährten gesetzt. Der spannend erzählte Roman folgt also nicht den konventionellen, sprich rationalen Handlungsmustern und liefert schon gar nicht ein logisches Ende, geschweige denn eine Katharsis.

Was Auster stattdessen liefert ist ein nach bester amerikanischer Erzähltradition verfasster, flüssig zu lesender Roman, der äußerst komprimiert eine Fülle von Themen anreißt und en passant so manches Wissenswerte vermittelt. Detailliert wird die Kaspar-Hauser-Thematik beleuchtet, die eine lange Vorgeschichte aufweist bis in die Antike hinein, sie bildet hier im Roman den Kern der Story. In einem makabren Experiment auf der Suche nach der Ursprache hat ein psychopathischer Professor den eigenen Sohn als Studienobjekt missbraucht, ein beklemmendes Zeugnis davon ist der seitenlange Monolog des Opfers Peter Stillman junior. Quinn folgt vielen Spuren, stellt Hypothesen auf und verwirft sie wieder, kritzelt sein rotes Notizbuch voll mit akribisch gesammelten Details. Der von ihm observierte Professor scheint mit seinen endlosen Spaziergängen durch ein genau umrissenes New Yorker Viertel – zeichnet man diese Wege im Stadtplan nach – Buchstaben zu bilden, die auf den Turmbau zu Babel hinweisen. Und schon ist die babylonische Sprachverwirrung Thema, man befindet sich mitten in der Genesis. Die Initialen von Daniel Quinn sind identisch mit denen seiner literarischen Lieblingsfigur Don Quichotte, beide verbindet aber vor allem der aberwitzige Kampf gegen eine fiktive Bedrohung. Der labyrinthische Moloch New York dient hier als Spiegel einer gegen Ende kafkaesk erscheinenden Geschichte, deren einsamer Held an seiner eigenen Identitätskrise zerbricht, sich quasi auflöst, eine gelungene Parabel auf das moderne Leben und ein Sujet, das prompt einen munteren Wettstreit nach plausiblen Interpretationen initiiert hat.

All das ist eingebunden in ein faszinierendes Spiel mit namensgleichen Figuren, Initialen, Verwechslungen, mit einem Schriftsteller Paul Auster, der persönlich auftritt, ohne wirklich etwas beitragen zu können, und einem fiktiven Autor, der das rote Notizbuch des spurlos verschwundenen Helden als Stoffquelle für seinen Roman hernimmt. «Was Auster angeht, bin ich überzeugt, dass er sich in der ganzen Sache schlecht benommen hat», heißt es am Schluss. Und über Quinn: «Er wird immer bei mir sein. Und wohin immer er verschwunden sein mag, ich wünsche ihm Glück». Genau das ist dem interpretierenden Leser dieses surrealen Romans ebenfalls zu wünschen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Süddeutsche Zeitung München

Verlorene Illusionen

balzac-1Vom Scheitern

In dem gewaltigen Zyklus «Die menschliche Komödie» von Honoré de Balzac, der von den geplanten 137 Romanen und Erzählungen «nur» 91 Werke fertig stellen konnte, ist der 1843 erstmals in einem Band herausgegebene, dreiteilige Roman «Verlorene Illusionen» das umfangreichste und wohl auch schönste Werk. Die vorliegende Neuübersetzung von Melanie Walz macht die Lektüre dieses im Stil des literarischen Realismus erzählten, grandiosen Gesellschaftsromans sprachlich zu einem Leseerlebnis besonderer Art, ist es ihr doch gelungen, den vor etwa 180 Jahren geschriebenen, anspruchsvollen altfranzösischen Text in ein flüssig zu lesendes, modernes Deutsch zu transferieren. Gleichwohl wird dem Leser volle Aufmerksamkeit abverlangt in diesem großangelegten Sittengemälde, sowohl was die gewaltige Zahl an Figuren anbelangt als auch das adäquate Milieu, der uns Heutigen unbekannte Erfahrungshintergrund der damaligen Epoche, insbesondere in Hinblick auf die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und künstlerischen Gegebenheiten im Frankreich der ersten Hälfte des 19ten Jahrhunderts. Hilfreich dabei sind die Vorworte aus Balzacs Feder zu den ursprünglich drei einzelnen Bänden sowie insbesondere ein umfangreicher Anhang, in dem neben einem kenntnisreichen Nachwort der Übersetzerin vor allem deren umfangreiche Anmerkungen zum Text mir unabdingbar erscheinen zum tieferen Verständnis des vielschichtigen Geschehens.

Julien Chardon, ein auffallend schöner junger Mann, der sich für einen großen Dichter hält, wird von Madame de Bargeton protegiert, unumstrittene Grande Dame der Salons in der Provinzstadt Angoulême. Als sie mit ihm nach Paris geht, schämt sie sich dort plötzlich seiner Armut und Provinzialität wegen und überlässt ihn einfach sich selbst. Es gelingt Julien, sich in der Boheme der französischen Metropole als Journalist nach oben zu arbeiten, in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Eine schöne Schauspielerin wird seine Mätresse, er lebt in Saus und Braus, bekommt aber schon bald Missgunst und Neid zu spüren und gelangt in einen finanziellen Abwärtsstrudel, dem er auch durch Glücksspiel und, als letzte Rettung, das Fälschen dreier Wechsel auf seinen Freund Daniel Séchard nicht entkommt. Er flüchtet aus Paris und kehrt nach Angoulême zurück. Daniel, der Juliens Schwester geheiratet hat, arbeitet dort verbissen an einer Erfindung zur Papierherstellung und vernachlässigt sträflich seine Druckerei, er bringt sich damit letztendlich in den Ruin. Die bei Fälligkeit präsentierten Wechsel kann er nicht einlösen und landet schließlich im Gefängnis. Julien als Schuldiger an diesem Unglück will sich daraufhin das Leben nehmen, trifft aber auf der Landstraße einen geheimnisvollen spanischen Abbé, der ihn von seinem Vorhaben abbringt. Er gibt ihm sogar das Geld für Daniel, mit dem der sich von allen seinen Schulden befreien kann, und macht ihn zu seinem Sekretär unter der Bedingung, dass er ihm blind gehorchen müsse, wofür er ihm in Paris eine glänzende Karriere ermöglichen werde.

Es sind in der Tat viele Illusionen, die Balzac als auktorialer Erzähler in seinem Roman platzen lässt. Er führt seine vielen überaus lebensvollen Figuren zielstrebig durch eine weit ausholende Handlung, immer mit dem Ziel, die Usancen und Hintergründe der vornehmen Gesellschaft und des korrupten Literaturbetriebs sowie der Theaterwelt seiner Zeit detailliert und so realistisch wie möglich darzustellen. Insoweit handelt es sich bei seinem Werk auch um ein wichtiges Dokument der Zeitgeschichte. Dünkel und Hochmut, Missgunst, Neid und Hass sind Auslöser absolut skrupelloser Ränkespiele und korrupter Machenschaften in dieser Erzählung, dem Sieg des Bösen stehen nur wenige ins Positive weisende Lebenslinien gegenüber, ein fürwahr pessimistisches Menschenbild, das Balzac da entworfen hat. Wer sich die Zeit nimmt, genüsslich in diesen Kosmos einzutauchen, dem stehen viele anregende Lesestunden bevor mit einem Klassiker der Weltliteratur.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Suite française

nemirovsky-2Ein literarischer Live-Mitschnitt

Dieses posthum, mehr als sechzig Jahre nach dem Tode der jüdischen Autorin erstmals veröffentlichte Romanfragment wurde in Frankreich als literarische Sensation gefeiert, was erstaunlich ist, wird doch die «Grande Nation» darin alles andere als ruhmreich beschrieben. Irène Némirovsky lebte als russische Exilantin und Schriftstellerin in Paris, wo ihr 1929 mit dem Roman «David Golder» der Durchbruch als Autorin gelang. Ihr Opus magnum «Suite française» blieb unvollendet, fertig wurden nur die ersten beiden Teile des fünfteilig angelegten Epos über den Zweiten Weltkrieg aus französischer Sicht. Wie man ihren im umfangreichen Anhang des Buches abgedruckten Notizen entnehmen kann, hatte sie dabei durchaus auch Tolstois «Krieg und Frieden» im Blick, wobei sie ihren Roman allerdings als zeitnah entstehende und damit bestmöglich authentische Erzählung nicht im Nachhinein, sondern quasi als Live-Mitschnitt niederschreiben wollte. Sie arbeitete bis unmittelbar vor ihrer Verhaftung am 13. Juli 1942 an ihrem Manuskript, einen Monat später starb sie in Auschwitz.

Der erste Teil des Romans mit dem Titel «Sturm im Juni» behandelt den bevorstehenden Einmarsch der deutschen Truppen 1940 in Paris. In Panik fliehen viele Franzosen Richtung Süden, wobei auf den heillos verstopften Fluchtwegen schließlich niemand mehr voran kommt, alles im Chaos versinkt. Némirovsky baut hier ein umfangreiches Figurenkabinett auf mit den verschiedensten Charakteren, die sie kapitelweise abwechselnd in etlichen parallel verlaufenden Strängen der Handlung auftreten lässt. Sie schafft damit ein großformatiges Panorama der französischen Gesellschaft, dargestellt speziell unter den moralischen Aspekten einer Ausnahmesituation wie der des Krieges. Vom einfachen Bauern über die verschiedenen Schichten der Bourgeoisie bis in höchste Kreise der Regierung hinein zeigen die Menschen ihr wahres Ich, sind Feiglinge oder Helden, Aufrechte oder Lumpen, der Exodus entlarvt allenthalben böse charakterliche Mängel. Und auch historische Gesichtspunkte sind im Spiel, wie man ihren Notizen entnehmen kann: «Niemand wird wissen, wie es zugegangen ist, es wird um alles eine solche Verschwörung aus Lügen geben, dass man daraus wieder einmal eine glorreiche Episode der französischen Geschichte machen wird».

Unter dem Titel «Dolce» wird im zweiten Teil, ein Jahr später, im Sommer 1941, die Okkupation im Dörfchen Bussy beschrieben, wobei die von General de Gaulle denn auch prompt heroisch verklärte Résistance der Franzosen hier von der Autorin als kleinmütiges Wegducken, als bloßes Ignorieren und ängstlich verborgenes Verachten der deutschen Besatzer dargestellt wird, die man bauernschlau übervorteilt, wo immer es geht. Insgeheim, zuweilen auch offen, bewundert man aber die einquartierten Soldaten, sie werden als korrekte, nette und oft auch gebildete Männer geschildert, mit denen man bald schon gute Kontakte hat, mehr noch, es entstehen natürlich auch zarte Liebesbande. Mit der Kriegserklärung gegen Russland endet dieser Teil dann ziemlich abrupt, alle deutschen Soldaten werden an die neue Front verlegt.

Dieser unter allen literarischen Aspekten großartige Roman ist ebenso aufwühlend wie das Schicksal der Autorin selbst, die ihren Tod voraussah, obwohl sie das Thema Judenverfolgung mit keiner Silbe erwähnt. «Gefangenschaft», «Schlachten» und «Frieden» sollten die drei folgenden Teile betitelt werden, wie wir aus ihren Notizen wissen, und dort sind auch ihre Überlegungen nachzulesen, wie sie die Fäden der Handlung zu verknüpfen gedachte, alles natürlich unter dem Vorbehalt der realen Entwicklung. Ein grandioses Werk zweifellos, die ergänzenden Informationen über seine Entstehung, die abenteuerliche Wiederentdeckung und seine Schöpferin aber machen es einzigartig.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Knaus München

Rot und Schwarz

stendhal-1To the happy few

Der zweite Roman von Henri Beyle, des unter dem Pseudonym Stendhal schreibenden französischen Schriftstellers, wird in Fachkreisen als sein Meisterwerk und als ein Klassiker der Weltliteratur angesehen. Der suggestive Titel «Rot und Schwarz» dieses 1830 erschienenen Prosawerkes, das zeitlich in einigen wenigen Jahren davor angesiedelt ist, spielt mutmaßlich auf die damalige politische Situation in Frankreich an, die Zeit nach Napoleon zwischen Restauration und Julirevolution, wird aber auch als Symbol für die Gegenpole Militär und Klerus gedeutet, bei denen sich der noch unentschlossene junge Protagonist eine Laufbahn erhofft, die ihn aus der Bedrückung seines niederen gesellschaftlichen Status befreit.

Julien Sorel, feinsinnig, intelligent, außergewöhnlich gut aussehend, – sein Vater besitzt eine Sägemühle, für die sich der Sohn so gar nicht eignet, – beschließt als 14Jähriger, das Priesterseminar zu besuchen. Darin wird er bestärkt und jahrelang gefördert vom Priester des Provinzortes in der Franche-Comté, durch dessen Protektion er später eine gutbezahlte Stelle als Hauslehrer beim Bürgermeister, Monsieur de Rênal erlangt. Er beginnt eine Affäre mit dessen Ehefrau, durch ein in ihn verliebtes Hausmädchen wird der Ehebruch im Ort bekannt, Julien flüchtet nach Besançon ins Priesterseminar. Er wird schnell Protegé von dessen Leiter, und als der wegen interner Querelen das Seminar verlässt, vermittelt er Julien eine Anstellung als Sekretär des Marquis de la Mole in Paris. Schnell gewinnt er das Vertrauen seines Dienstherrn und wird in die Salons der Metropole eingeführt, wo er einflussreiche Adelige kennenlernt. Als sich nach einiger Zeit Mathilde, die schöne und launenhafte Tochter des Marquis, in ihn verliebt und ihm dies in einem Liebesbrief gesteht, bleibt er abweisend, befürchtet eine Falle, die ihn kompromittieren soll. Juliens Desinteresse reizt Mathildes Eitelkeit, allmählich finden die Beiden doch zueinander trotz aller gesellschaftlichen Unterschiede. Mathilde wird schließlich schwanger, bei Nachforschungen ihres den Skandal fürchtenden Vaters stellt Madame de Rênal, seine einstige Geliebte, Julien in einem Brief als Frauenheld dar, der es nur auf das Geld reicher Frauen abgesehen habe. Außer sich vor Zorn über diese Verleumdung, die mit einem Schlag alle seine Pläne zerstört, schießt Julien in der Kirche auf sie, verletzt sie aber nur, und landet im Gefängnis. In einem fein ausbalancierten Schluss, die Figuren psychologisch geradezu sezierend, kämpfen beide Frauen aus ganz unterschiedlichen Motiven um seine Freiheit, er selbst hingegen hält sich unbeirrt für schuldig.

Stendhal versucht in seinem Roman nachzuweisen, dass es die Eitelkeit ist, welche die Menschen ins Unglück stürzt. Juliens Aufstieg in die bessere Gesellschaft muss, anders als in der napoleonischen Epoche, während der Restauration am Standesdünkel scheitern, aber auch an der Angst des Adels vor einem neuen Danton, den Mathilde in Julien schon zu erkennen glaubt, was ihre Schwärmerei für den aufstrebenden jungen Mann erklärt. Die Jagd nach Geld, Einfluss und Posten macht aus den handelnden Figuren allesamt eiskalte Heuchler, die aus nüchternem Kalkül niemals sagen, was sie denken, und das gilt uneingeschränkt auch für den gesamten Klerus. Als Vertreter des Realismus schildert der Autor das Geschehen, der Psyche seiner Protagonisten folgend, nüchtern, lakonisch, zuweilen auch desillusionierend und enthält sich, nur auf seine Figuren fokussiert, aller romantisierenden Beschreibungen seiner Szenen, man findet folglich auch kein Wort über Paris.

Allein die sprachlichen Qualitäten dieses großen Romans empfehlen ihn unbedingt zur Lektüre, aber auch als Sittengemälde und psychologische Studie zweier ziemlich konträrer Liebesaffären hat er mich sehr gefesselt. Stendhal hat seinen Roman den «happy few», den wenigen Glücklichen gewidmet, nach der Lektüre von «Rot und Schwarz» gibt es davon sicherlich schon wieder einige mehr.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Aus dem Leben eines Fauns

schmidt-2Heilitler, Herr Düring

Schon der Titel des Kurzromans «Aus dem Leben eines Fauns» von 1953 weist deutlich auf das Wesen seines Protagonisten hin. Der dem Autor Arno Schmidt in vielem ähnelnde Ich-Erzähler flüchtet aus der Öde seines langweiligen Beamtenalltags, der Trostlosigkeit seiner familiären Situation und den zutiefst verachteten politischen Verhältnissen in eine entlegene Einsamkeit, wo er faunisch, als lüsterner Waldgeist, ein von allen Zwängen befreites Doppelleben genießt. Der dreiteilig aufgebaute Roman, in der NS-Zeit angesiedelt, beleuchtet das Bürgertum in typischen Phasen dieser verhängnisvollen geschichtlichen Epoche aus einem ganz speziellen Blickwinkel. Dem des kritischen, aber nicht rebellierenden Intellektuellen nämlich, der seinen Rückzugsraum in der inneren Emigration findet.

Im mit «Februar 1939» überschriebenen ersten Teil wird Heinrich Düring als gebildeter Beamter geschildert, der im Landratsamt von Fallingbostel einer ihn deutlich unterfordernden Beschäftigung nachgeht. Im Privaten findet er keinen Ausgleich, seine Frau weist ihn sexuell ab, der Sohn schließt sich, provokativ ihm gegenüber, der Hitlerjugend an, die pubertierende Tochter bleibt ihm fremd. Er findet seinen Ausgleich in der Natur, unermüdlich die geliebte Heidelandschaft durchstreifend, außerdem in der Beschäftigung mit alter Literatur, die ihm als geistige Fluchtburg aus der realen Welt dient. Dabei erweist er sich als glühender Verehrer Wielands, hebt aber auch Ludwig Tieck Prosa heraus: «Und wie steifbeinig-altklug dagegen Goethes ‚anständige’ Geheimratsprosa: der hat nie eine Ahnung davon gehabt, dass Prosa eine Kunstform sein könnte». Als ihn der Landrat mit der Errichtung eines Kreisarchivs betraut, kann er der Ödnis seines Berufslebens nun wenigstens zeitweise entfliehen.

Im zweiten Teil «Mai/August 1939» stürzt er sich begeistert in die Arbeit, lebt regelrecht auf dabei. Besonders fasziniert ihn die Geschichte eines Deserteurs aus dem Deutsch-Französischen Krieg, der jahrelang versteckt im Moor gelebt haben muss, ohne dass man ihn ergreifen konnte. Zufällig entdeckt er dessen Hütte und errichtet dort sein Refugium, das zum Liebesnest wird, als die Nachbarstochter sein Liebchen wird. Den nahen Krieg richtig einschätzend hebt er schließlich all sein Geld vom Konto ab und deckt sich mit Dingen ein, von denen er aus dem Ersten Weltkrieg weiß, dass sie schon bald kaum noch zu haben sein werden. Nach dem Zeitsprung zum dritten Teil «August/September 1944» werden seine Vermutungen bestätigt, man lebt in bitterer Not, wobei schließlich die hartnäckig verkündeten Endsieg-Phrasen in einer Art Autodafé widerlegt werden, bei dem die benachbarte Munitionsfabrik im Bombenhagel zerstört wird. Die mich unwillkürlich an Picassos berühmtes Guernika-Gemälde erinnernde Schilderung des Infernos aus Bomben und explodierender Fabrik ist in seiner drastischen Ausformung kaum zu überbieten, der zweifellos stärkste, aber natürlich auch am meisten schockierende Teil dieses Romans.

Schmid hat von Pointillier-Technik gesprochen bei seiner expressionistischen Erzählweise, die aus aneinander gereihten, im Layout deutlich erkennbaren kurzen Textschnipseln bestehend den Leser ständig zum ergänzenden Mitdenken zwingt. Über weite Teile als innerer Monolog angelegt, spiegeln die Textfragmente die menschliche Denkweise wider; sein Leben sei «kein Kontinuum», lässt Düring den Leser gleich auf der ersten Seite wissen. In seinen Reflexionen formuliert er vehement, oft auch polemisch, seine Antipathien gegen Religion, NS-Regime, Übervölkerung, vermeintlich schlechte Literatur; aber auch gegen bergige Landschaften, die seinem Flachland-Ideal widersprechen. Der überbordende Wortwitz von Arno Schmidt wird von unzähligen kreativen Neubildungen jenseits aller Dudenregeln noch übertroffen, oft auch verballhornt im Argot des Alltags, «Heilitler» heißt die Grußformel dann. Eine ungemein bereichernde Lektüre mithin, für denkfreudige Leser geradezu ein Muss!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Alle Namen

saramago-1Eine Parabel auf uns alle

«Jemand musste Josef K. verleumdet haben» lautet der erste Satz in dem berühmten Roman ‚Der Prozess’ von Franz Kafka. Jemand musste mir das falsche Buch untergeschoben haben, ging es mir unwillkürlich durch den Kopf nach einigen wenigen Sätzen von José Saramago. Die Schilderung einer völlig absurden Bürokratie an einem anonym bleibenden Schauplatz war dann aber auch die einzige Gemeinsamkeit beider Romane. Im Gegensatz zu Kafkas lakonischer und bedrohlich klingender, unheimlich wirkender Prosa nämlich, die ja häufig mit dem gattungsprägenden und sogar dudenwürdigen Attribut kafkaesk umschrieben wird, – welche Ehre für einen Dichter! – im Gegensatz dazu also ist der Schreibstil von José Saramago regelrecht anheimelnd, darüber hinaus aber vor allem äußerst witzig und von einer immer wieder zum Nachdenken anregenden philosophischen Tiefe. Diesem Romancier ist zu Recht der Nobelpreis von 1998 für ein Gesamtwerk verliehen worden, »dessen von Fantasie, Leidenschaft und Ironie geprägte Parabeln den Menschen die trügerische Wirklichkeit begreifen lassen«, wie die Jury es formuliert hat. ‚Alle Namen’ ist eine Lektüre, bei der man sich pudelwohl fühlt, laut lacht und weitersuchend sinniert, und so was kann regelrecht süchtig machen. Leserherz, was begehrst du mehr?

Im Unterschied zu anderen großen Autoren aus dem iberischen Sprachraum wie Gabriel García Márques oder Mario Vargas Llosa verzichtet Saramago in seinem Roman auf jedwedes Lokalkolorit und verdeutlich damit recht drastisch, dass sein Thema alle Menschen betrifft, egal wo sie leben. Was ist der Mensch vor dem Hintergrund der ewig verrinnenden Zeit, so lautet ganz lapidar seine Frage. Aus Sicht der Bürokratie, in der Welt des Personenstandsregisters, nichts weiter als eine Abfolge von Geburt und Tod, ergänzt durch Heirat und zuweilen auch Scheidung, die ja ebenfalls dazu gehört. Mit diesen wenigen Daten ist Senhor José, der Held dieser satirischen Geschichte, als Amtsschreiber in seiner aberwitzigen Behörde befasst. Jeder Mensch ist dort eine Karteikarte, die seinen Namen trägt und die nach Namen sortiert verwahrt wird, getrennt nach Lebenden und Toten, und das seit undenklichen Zeiten. In diesem Register wird nichts gelöscht, werden keine Karteien vernichtet, es enthält also alle Namen, und genau das ist auch die erklärte Devise dieser Behörde, die sich im Romantitel wiederfindet. Zwangsläufig wächst das monströse Archiv unaufhaltsam immer weiter, was zu einer permanenten baulichen Erweiterung des Amtsgebäudes zwingt. Als sich ein Heraldikforscher irgendwann in dem riesigen labyrinthischen Papierlager der Toten verirrt und nur durch Zufall nach einer Woche noch lebend aufgefunden wird, ergeht der streng zu befolgende Diensterlass, das Archiv künftig nur noch mit dem Ariadnefaden gesichert zu betreten.

Der Roman ist gespickt voll von ähnlich skurrilen Einfällen des Autors, der immer wieder mit Metaphern und Symbolen virtuos seine philosophische Thematik verdeutlicht. Sr. José, der stille, pflichtbewusste Protagonist, durchbricht zaghaft seine strengen beruflichen Zwänge. Er widmet sich privatim einem Zufallsfund, der sich für ihn als Trouvaille, als glücklicher Fund erweist, die Karteikarte einer unbekannten, 36jährigen Frau nämlich. Seine Obsession, sie zu suchen, den leibhaftigen Menschen hinter dieser Karteikarte zu entdecken, verblüfft sogar ihn selbst. Der Leser erlebt diese wahnwitzige Suche als spannende Groteske mit einem durchaus überraschenden Ende. Alles das ist ein detektivisches Abenteuer für den unbeholfenen Sr. José, der sogar kriminelle Mittel einsetzt bei seiner verbissen verfolgten Mission. Durch die mannhafte Überwindung seiner drögen Alltagsroutine und seiner Ängste und Schwächen erhält sein armseliges Leben plötzlich einen Sinn, auch wenn das, was er tut, rational völlig sinnlos ist. Ist denn unser aller Leben ebenso sinnlos? Sind wir nichts als Namen auf Karteikarten, die irgendwann zerbröseln und zu Staub werden, die genau so zerfallen wie unser Leib, wenn er erstmal unter der Erde begraben liegt?

Saramago ist ein faszinierender Sprachkünstler, der ironisch, aber nicht zynisch, uns allen in diesem Roman den Spiegel vorhält. Dabei beraubt er mit seiner im Plauderton erzählten Satire manchen wohl auch einer trügerischen Hoffnung auf das Jenseits, entlarvt gedankenlos übernommene Dogmen und Kulte, wofür die Schäferszene auf dem wie eine Krake ausgewucherten Friedhof gegen Ende der Geschichte ein ganz wundervolles Beispiel ist. Ohne unseren Leib nämlich sind wir letztendlich alle – nur Namen.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Gymnasium

GymnasiumAlex kämpft um seine Familie, Kampfarena ist seine neue Schule. Alex denkt, wenn er es hier schafft, werden seine Eltern aufhören, sich wegen seiner schlechten Noten gegenseitig fertigzumachen. Am Gymnasium aber ringt die akademische Mittelschicht um ihren Status, schickt ihre Kinder ins Rennen … »Hanne Christ liebte ihr Kind und Birgit liebte ihres. Alle liebten ihre Kinder und wollten sie vor dem Niedergang bewahren, vor einem Dasein als Klempner, als Krankenschwester oder kaufmännische Angestellte.« Ein Schulroman voller wunderbar böser Beobachtungen. Eine Geschichte über erschöpfte Schüler, verzweifelte Mütter und ratlose Lehrer.

Nach der Trennung seiner Eltern zieht der 14-jährige Alex mit seiner Mutter von Dortmund nach Bochum. Von nun an besucht er das Goethe-Gymnasium und jetzt soll alles besser werden. Er will seine schlechten Noten verbessern und ein fleißiger Schüler sein denn wenn ihm dies gelingt dann vertragen sich seine Eltern vielleicht ja doch wieder …

Zu Hause ist es nämlich gar nicht so einfach für Alex, denn seine Mutter hat seit der Trennung angefangen zu trinken.

Voller Motivation beginnt er das neue Schuljahr, aber ihm werden direkt diverse Knüppel zwischen die Beine geworfen. Er gerät direkt mit dem beliebtesten und angesehensten Mädchen der Klasse aneinander, bekommt den Spitznamen „Ali“ verpasst und niemand will etwas mit ihm zu tun haben. Alex´ Neuanfang wird zum Alptraum denn schon bald haben ihn auch die Lehrer auf dem Kieker, aus den unterschiedlichsten Gründen …

Die Geschichte wird abwechselnd aus vielen verschiedenen Perspektiven erzählt. Da wäre zum einen natürlich Alex´ Perspektive, aber auch die Perspektiven von Alex verzweifelter Klassenlehrerin, Alex´ Mutter, der Mutter des beliebtesten Mädchens Leonie und vieler weiterer Personen.

Diese verschiedenen Blickwinkel haben mir gut gefallen, allerdings hat das Ganze auch einen Haken denn bei so vielen verschiedenen Blickwinkeln, in Kombination mit einer eher geringen Seitenzahl (290), geht doch einiges verloren bzw kommt zu kurz.

So bekommt man irgendwie keinen wirklichen Bezug zu den verschiedenen Figuren, und es dauert auch recht lange bis man eine „Beziehung“ zu Alex aufgebaut hat, denn irgendwie war mir doch einiges zu oberflächlich. Natürlich bekommt man einen Eindruck wie Alex und auch die anderen Figuren sich fühlen, aber diese Gefühlswelten sind für meinen Geschmack nicht ausreichend dargestellt, denn dazu hätte das Buch einfach länger sein müssen.

Gut gefallen haben mir die Verkettungen (und ihre Auswirkungen) die in der Geschichte auftreten. Alex´ Mutter ist z. B. Krankenschwester in der Privatklinik von Leonies Vater und der neue Hausmeister ist ein ehemaliger Callboy mit dem sich Alex´ Lehrerin einst getroffen hat …

Diese Verkettungen und Überschneidungen verdeutlichen sehr gut, wie wichtig das Privatleben und der soziale Stand der Eltern sein können und welche Auswirkungen dies auf den Erfolg der Schüler hat bzw. haben kann. Ein paar Verkettungen und Überschneidungen weniger hätten es indes auch getan, denn so viele Zufälle kann es nun wirklich nicht geben und das macht das Ganze leider etwas unglaubwürdig.

Ein großes und in der heutigen Zeit wohl wichtiges und unumgängliches Thema habe ich allerdings sehr vermisst und zwar das Thema Handys und soziale Netzwerke/Medien. Dieses Thema wird gar nicht aufgegriffen, und es macht sogar den Anschein, als ob keines der Kinder überhaupt ein Handy besitzt, obwohl die Geschichte definitiv in der Gegenwart spielt.

Das Ende war gut auch recht vorhersehbar.

Ein Buch, das sich schon zu lesen lohnt, was man aber nicht zwingend gelesen haben muss. Ich habe zu diesem Thema – ehrlich gesagt – auch schon Besseres gelesen.

Susanne Giebeler unterrichtet an einem Weiterbildungskolleg und lebt seit 1980 in Bochum. Darüber hinaus arbeitete Sie fürs Theater und erhielt bereits Drehbuchförderungen der Filmstiftung NRW. Ihr Theaterstück »Die Stalingrad-Madonna« erschien im Litag-Verlag.


Genre: Roman
Illustrated by tredition

Sozusagen Paris

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Es gibt kein richtiges Leben im falschen

Der neue Roman «Sozusagen Paris» von Navid Kermani kreist auf originelle Weise um das uralte Thema der Liebe zwischen Mann und Frau. Sein nicht gerade konventioneller Plot, trickreich ersonnen von dem als Intellektueller hoch angesehen Autor, erzeugt gleich zu Beginn einen heftigen Sog, man will wissen, wohin das steuert.

«Aber nicht für Jutta» lautet der erste Satz, der von einer attraktiven Frau um die vierzig gesprochen wird, die nach einer Dichterlesung in einer Kleinstadt dem signierenden Schriftsteller ihr Buch hinhält. Und die, nicht gerade alltäglich, sich selbst in dem Buch als Hauptfigur erkannt hat, obwohl der Name natürlich verändert wurde. Als «Schulhofschönheit» hatte sie einst mit dem Ich-Erzähler ein kurzes, aber heftiges Techtelmechtel. Und seither fungiert sie als ewige Sehnsuchtsfigur für den Autor, der damals fünfzehn Jahre alt war, – in den vielen Jahren dazwischen haben sie nie mehr etwas voneinander gehört. Was man als neu aufflammende Liebesgeschichte vorausahnt, die der Ich-Erzähler sich tatsächlich auch erhofft, das entwickelt sich im Gegenteil zunehmend zu einem soziologischen Exkurs über die Ehe in allen ihren vielen Aspekten. Ersteres zu thematisieren wäre profan gewesen, da erwartbar, die eheliche Liebe hingegen ist ein weites Feld, um Fontane zu zitieren, – und ein ergiebiges!

Der Ich-Erzähler ist geschieden, hat einen Sohn, mit dem er sich nicht versteht, viel mehr erfährt man nicht von ihm. Autobiografische Bezüge sind allerdings unverkennbar, das Buch in der Lesung dürfte Kermanis Roman «Große Liebe» gewesen sein. Er spielt gekonnt mit Identitäten, spricht von seinem «geplanten» Roman über die Begegnung mit Jutta, ein Fortsetzungsroman mithin. Der Leser wird häufig mit einbezogen in dessen Entstehungsprozess, sogar der Lektor des neuen Buches ist beteiligt, stellt kritische Fragen. Die Protagonistin ist Ärztin, mit einem praktischen Arzt verheiratet, der in Südamerika gearbeitet hat, wo sie sich einst kennen lernten. Sie haben drei Kinder zusammen und wohnen in einer schönen Altbauvilla in einer Kleinstadt, deren Bürgermeisterin die politisch ambitionierte Jutta ist, die sich so ganz nebenbei auch noch als Tantra-Lehrerin betätigt. Ihr Mann ist strikt ökologisch orientiert, treibt exzessiv Sport, hat sich zum Veganer entwickelt. Beide haben sich mit den Jahren weit auseinander gelebt, ihre Liebe ist erkaltet, obwohl der Sex nach wie vor für beide zufrieden stellend ist. Kermani bedient hier nahezu alle gängigen Klischees, sprach im ZEIT-Interview allerdings von bundesdeutscher Normalität, über die er da schreibe. Für Jutta in ihrem «Scheißkaff», wie sie ihr Provinznest selbst manchmal nennt, steht ihr Freund von einst als freier Schriftsteller für Gedankenreichtum, Weltläufigkeit, «sozusagen Paris», jener Chiffre für erotische Abenteuer in der französischen Literatur.

Jutta und ihr Ex landen nach dem Essen und einem anschließenden Rundgang durch die Kleinstadt spät in ihrer stattlichen Villa. Die Kinder schlafen schon, der Ehemann ist noch mit seinen Abrechnungen als niedergelassener Arzt beschäftigt, er lässt sich nicht sehen, es gab Streit. Was folgt ist ein stundenlanges Gespräch der Beiden über vergangene Zeiten, das sich schon bald nur noch um Juttas Eheprobleme dreht, ihre enttäuschten Hoffnungen, den drögen Alltagstrott. Der Ich-Erzähler zitiert dabei immer wieder aus der einschlägigen Literatur, Proust vor allem, aber auch Stendhal, Balzac und viele andere, sogar ein Song von Neil Young ist dabei. Diese ausufernde Intertextualität verhilft zu den verschiedensten Perspektiven und bestätigt Adorno, es gibt kein richtiges Leben im falschen. All diese Reflexionen werden abrupt beendet durch eine Kloszene am Ende, womit der Ich-Erzähler seinem Lektor zuwiderhandelt, denn das Klo gehöre nun mal nicht in die Literatur. Die so fulminant gestartete Geschichte versickert regelrecht in langweiligem Geschwafel über die Ehe, schade!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Der Untertan

mann-h-1Vom hässlichen Deutschen

Aus dem umfangreichen Œuvre von Heinrich Mann ist «Der Untertan», neben dem Hauptwerk mit den beiden grandiosen «Henry Quatre» Bänden, sein erfolgreichster Roman. Er wurde kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges vollendet, der Vorabdruck, unter anderem im Simplicissimus, fiel jedoch bald der Zensur zum Opfer, erst nach Kriegsende konnte er dann, und zwar gleich in erstaunlich hoher Auflage, veröffentlicht werden. In dieser berühmten Satire nimmt der Autor mit beißender Ironie die Wilhelminische Epoche aufs Korn, eine entlarvende Gesellschaftskritik jener Zeit des widerspruchslosen Obrigkeitsdenkens. Der Roman ist Zeitzeugnis und Lehrstück zugleich, er gehört zweifellos zum Kanon der deutschen Literatur und ist als unterhaltsamer Klassiker auch nach hundert Jahren noch eine empfehlenswerte Lektüre.

Diederich Heßling, Sohn eines Papierfabrikanten in der fiktiven preußischen Provinzstadt Netzig, markiger Student einer schlagenden Verbindung, promovierter Jurist, drückt sich nach seinem Studium erfolgreich um den ungeliebten Militärdienst und übernimmt nach dem Tod des Vaters die Fabrik. Wir erleben als Leser den Aufstieg des rücksichtslosen, aber feigen Opportunisten zu einem angesehenen bourgeoisen Patriarchen, der in der Wahl seiner Mittel nicht zimperlich ist, sich zudem als charakterloser Denunziant erweist. Mit seiner rigiden kaisertreuen Gesinnung jedoch gewinnt er schon bald die Sympathie der konservativen, nationalen Kräfte, macht sich andererseits die Liberalen und Sozialdemokraten zu politischen Feinden. Der unsympathische, ehrlose Protagonist ist tief in politische Ränkespiele mit wechselnden Partnern verstrickt, sucht aus seiner gesellschaftlichen Stellung stets einen materiellen Vorteil zu ziehen, ist durchaus auch korrumpierbar. Sein mit Orden geschmückter politischer Aufstieg findet bei der Einweihungsfeier für ein lang umkämpftes Kaiser Wilhelm Denkmal einen Höhepunkt, als während seiner Festrede ein Unwetter symbolträchtig die Honoratioren in die Flucht treibt, eine Vorahnung drohenden Unheils durch den von verblendeten Patrioten dringend herbeigesehnten Krieg. Auch im Privaten ist Heßling ein bösartiger Tyrann, der sich nicht scheut, beispielsweise dem Vater von Agnes, einer von ihm verführten Jugendfreundin, höhnisch entgegenzuhalten, seine Ehre lasse es nicht zu, ein solcherart «gefallenes» Mädchen zur Mutter seiner Kinder zu machen. Gleiches widerfährt ihm am Ende, nun allerdings mit umgekehrten Vorzeichen, als seine unverheiratete Schwester in genau derselben Situation ist. Seinen ansehnlichen Wohlstand erwirbt er durch reiche Heirat und vermehrt ihn trickreich mit dubiosen Aktiengeschäften, durch die er Andere ungerührt in den Ruin treibt.

Der Autor erzählt seine ereignisreiche Geschichte aus kritischer Distanz in einem sprachlich sehr gefälligen Stil, dem man natürlich die hundert Jahre anmerkt, die seit Erscheinen des Romans vergangen sind. Er karikiert den autoritätsgläubigen Untertanengeist der Epoche auf amüsante Art, sogar Bismarcks «Reichshund» wird da persifliert in einer köstlichen Szene. Ferner bedient er sich eines zahlreichen Figurenensembles, in dem archetypisch viele Charaktere treudeutscher Mannsbilder vertreten sind, vom erzkonservativen Regierungspräsidenten bis zum sozialistischen Werkmeister in Heßlings Fabrik, der später mit seiner heimlichen Hilfe sogar Abgeordneter des Reichstags wird, – alles aus Kalkül, wohlgemerkt.

Heinrich Mann, dessen Kontakte zu seinem deutschnationalen Bruder jahrelang abgebrochen waren, kritisiert in seinem Roman den rückwärts gewandten Ungeist der Bourgeoisie ebenso wie den heuchlerischen Nationalismus und den schnöden Materialismus der Sozialdemokraten. In einer symbolträchtigen Szene am Ende stirbt ein von Heßling in den Ruin getriebener politischer Gegner, Teilnehmer der Deutschen Revolution von 1848, bei dessen völlig unerwartetem Anblick, – Heßling erscheint ihm geradezu als böser Geist in seiner Todesstunde.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Frösche
by Mo Yan

yan-1Halluzinatorischer Realismus

Es ist wahrlich ein sperriges Sujet, an das sich Nobelpreisträger Mo Yan herangewagt hat mit seinem Roman «Frösche», und prompt sah er sich auch etlichen Anfeindungen ausgesetzt bei seiner literarischen Aufarbeitung der Ein-Kind-Politik Chinas. Wäre es besser gewesen, wenn der mit richtigem Namen Guan Moye heißende Autor seinem Pseudonym gefolgt wäre – Mo Yan bedeutet nämlich «Sprich nicht» – und geschwiegen hätte zu diesem äußerst schwierigen Thema? Politisch jedenfalls hat das rigide umgesetzte Staatsdogma «Ein Kind ist gut, zwei Kinder sind korrekt, drei Kinder schlecht» trotz vieler Ausnahmen die erwünschte Wirkung gehabt und das explosionsartige Bevölkerungswachstum stark gedämpft. Der Preis aber, den die einfachen Leute dafür haben zahlen müssen, war und ist zu hoch, ganz abgesehen von den diversen negativen Folgen für das soziale Gefüge der Gesellschaft und die Wirtschaft dieses Riesenstaates.

«Weil er mit halluzinatorischem Realismus Märchen, Geschichte und Gegenwart vereint» habe man Mo Yan den Preis zuerkannt, heißt es 2012 in der Begründung des Nobelkomitees. «Kaulquappe», der Ich-Erzähler, hinter dem man unschwer den Autor erkennen kann, beschreibt die turbulente Lebensgeschichte seiner Tante Gugu in Form eines vierteiligen Briefromans, wobei sein japanischer Briefpartner, wie wir im Nachwort des Autors erfahren, niemand Geringerer ist als Kenzaburō Ōe, der Nobelpreisträger von 1994, der ihn tatsächlich zu diesem Buch animiert hat. Die Protagonistin Gugu ist eine von allen hoch geachtete, wahrhaft begnadete Hebamme, die Tausenden von Babys auf die Welt hilft. Aus der Wohltäterin wird nach der Verkündung der Ein-Kind-Politik eine inzwischen zur Frauenärztin ausgebildete, gnadenlose Funktionärin, die für die Umsetzung dieser Doktrin in ihrem Distrikt verantwortlich ist. Unser Vorstellungsvermögen übersteigende Restriktionen, von der vorher einzuholenden Genehmigung beim Kinderwunsch über zwangsweise eingesetzte Spiralen, massenhafte Sterilisation von Männern bis hin zur staatlich mit allerlei Repressalien erzwungenen Abtreibung, manchmal sogar erst im spätesten Stadium der Schwangerschaft, all dies wird nüchtern und ohne viel Empathie erzählt. So indolente Charaktere wie in diesem Roman begegnen einem nicht oft in der Literatur, für mich war das sogar ein, alles andere als erfreuliches, Novum.

Die geradezu holzschnittartige Erzählweise in der ersten Hälfte des Romans verwandelt sich analog zur fortschreitenden Handlungszeit in einen moderneren Sprachstil, wodurch nicht zuletzt auch das Lesen flüssiger vonstatten geht. Man ist schließlich sogar froh, nicht vorzeitig aufgegeben zu haben bei der ebenso mühsamen wie unerquicklichen Lektüre. Das mag auch daran liegen, dass sich die Standpunkte wandeln. Gugu jedenfalls erkennt irgendwann ihre ungeheure Schuld und wird von Alpträumen geplagt, die ihren Höhepunkt an einem Froschteich erreichen, als sie von unzähligen Fröschen bedrängt wird, den Geistern der unzähligen Föten, die sie zu Tode gebracht hat als fanatische Funktionärin eines menschenverachtenden Regimes. Fast vergnüglich wird es dann im fünften Teil des Romans, der das Theaterstück enthält, welches aus den vier vorangehenden Teilen entstanden ist, in denen der Ich-Erzähler seine Geschichte seinem Brieffreund und uns Lesern in Prosaform geschildert hat. Berthold Brecht hat für seinen Azdak in «Der kaukasische Kreidekreis» den populären chinesischen Richter Bao Cheng als Vorlage verwendet, der nun auch bei Mo Yan ein gleichermaßen weises Urteil fällt in einem ähnlichen Mutterschaftsstreit.

Wie immer bei fremdsprachigen Romanen dürfte auch hier, leider unvermeidbar, einiges an sprachlichen Raffinessen der Übersetzung zum Opfer gefallen sein. Dazu kommt noch die völlig fremde Mentalität und der fehlende Erfahrungshintergrund, dessen Konventionen und Moralverstellungen einem westlichen Leser absolut nicht vertraut sind. Gerade deshalb aber lohnt es sich trotzdem, den Roman zu lesen, man taucht ein in eine völlig andere Welt und wird, so man aufnahmefähig und –willig ist, zu allerlei Recherchen animiert, wobei das Nachwort des Autors wie auch die Anmerkungen am Ende eine erste Anlaufstelle bilden.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München