Der Lärm der Zeit

Mit einem Bild, das haften bleibt, charakterisiert Autor Julian Barnes seinen Titelhelden Schostakowitsch: Der weltberühmte Komponist wartet im Mantel auf gepackten Koffern vor seiner Wohnungstür darauf, dass ihn Stalins Geheimdienst abholt und in das »Hohe Haus« verschleppt, aus dem es kein Entrinnen gab. Der Musiker will seiner Familie den Schrecken des Eindringens grober Geheimpolizisten in seine Privatsphäre ersparen, darum sitzt er innerlich zitternd vor der Wohnung in Positur und wird letztlich doch nicht abtransportiert.

Barnes zeichnet in seinem biografischen Roman »Der Lärm der Zeit« Leben und Schicksal des 1906 in Sankt Petersburg geborenen Komponisten Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch, der aufgrund seiner Leistungen im Bereich der sinfonischen Musik schon in jungen Jahren weltweit ebenso wie in seiner sowjetischen Heimat höchste Anerkennung fand. Inspiriert durch die Werke seiner Zeitgenossen Igor Strawinski und Sergei Prokofjew schuf er eine einzigartige Melange aus volkstümlich konventionellen und revolutionären Melodien, die fantasievoll instrumentiert durch eigene Harmonik beeindruckt. Das Sowjetsystem beauftragte ihn dann auch mit hymnischen Auftragsproduktionen zur Oktoberrevolution, für die er gefeiert wurde.

Schostakowitsch baute in seine Kompositionen gern feine Andeutungen auf den Zeitgeist und seine praktischen Auswüchse ein. 1931 fiel er damit erstmals der Zensur auf, die ein groteskes Stück über Industriesabotage, das er als Ballett verarbeitet hatte, absetzte. Der Tondichter verehrte die satirischen Werke Gogols und schuf nach dessen gleichnamiger Erzählung »Die Nase« seine erste Oper, die aber aufgrund der Anspielungen auf die russische Bürokratie gleich wieder vom Spielplan verschwand. Mit seiner zweiten Oper »Lady Macbeth von Mzensk« errang er hingegen in mehr als 200 Aufführungen triumphale Erfolge, die sich auch im Ausland fortsetzten.

Das Schicksal wollte es, dass Stalin, der sich als Freund der Künste verstand, am 16. Januar 1936 eine Aufführung der Oper im Moskauer Bolschoi-Theater besuchte. Dabei übertrieb es das durch den hohen Besuch aufgeregte Orchester und gab zu viel des Guten. Die unter der mit Stahlplatten abgeschirmten Regierungsloge sitzenden Blechbläser trompeteten dem Diktator in die Ohren, sodass sich dieser erhob und wortlos das Haus verließ. Als wenige Tage später in einem vermutlich von Stalin selbst geschriebenen Artikel unter der Überschrift »Chaos statt Musik« die Oper als »Getöse, Geknirsch, Gekreisch« und »Kakophonie« abgeurteilt wurde, begann eine Hetzjagd auf den Komponisten, die einer Exekution gleichkam. Journalisten, die zuvor das Werk in höchsten Tönen gelobt hatten, leisteten öffentlich Abbitte. Intendanten von Opernhäusern, die ihn zuvor umworben und mit offenen Armen empfangen hatten, entschuldigten sich in Erklärungen für ihren »Irrtum«.

Schostakowitsch war bislang von dem kunstsinnigen Marschall Tuchatschewski unterstützt und gefördert worden, jetzt geriet auch dieser hochdekorierte Offizier in das Visier der »Säuberer« und wurde angeklagt, ein Komplott zu Ermordung des Genossen Stalin angezettelt zu haben. Der Komponist wurde zum Verhör zitiert und unter Druck gesetzt, gegen den Marschall auszusagen. Da er aber beim besten Willen nichts sagen konnte und sich ausschließlich an Musik interessiert auswies, wurde ihm Gelegenheit gegeben, seine Erinnerungen über das Wochenende noch einmal »aufzufrischen« und am kommenden Montag erneut zu erscheinen. Pünktlich fand sich Dimitri Dmitrijewitsch im NKWD-Hauptquartier Lubjanka ein, doch der Beamte, der in verhören wollte, war inzwischen selbst in Verdacht geraten und kurzerhand liquidiert worden. So ging Schostakowitsch, der Folter und den erlösenden Genickschuss erwartet hatte, wieder heim und wartete jeden Abend auf gepackten Koffern vor seiner Wohnung darauf, dass sie ihn abholten. »Das Warten auf die Exekution ist eines der Themen, die mich mein Leben lang gemartert haben, viele Seiten meiner Musik sprechen davon«, schrieb er selbst später über diese Periode.

Der Komponist bemühte sich nun, nicht weiter negativ aufzufallen und schrieb sein wohl bekanntestes Werk, die 5. Sinfonie, die am 17. März 1941 unter deutschem Beschuss in Moskau erstaufgeführt wurde. Das Werk galt als Rückkehr des verlorenen Sohnes in die offizielle Kulturpolitik, der Schöpfer wurde mit dem Stalinpreis geehrt und sollte bald auch international für die sowjetische Kulturpolitik auftreten. Um dies zu erreichen, so erzählt Julian Barnes, rief Stalin den Komponisten persönlich an. Der erklärte, es könne kaum sein, dass er im Ausland auftrete, während seine Musik im Inland verboten sei. Es dauerte nur wenige Tage, da wurden seine Werke wieder gespielt und er selbst mit Preisen und Auszeichnungen überhäuft. Es folgten noch einige Diskussionen wegen »Formalismus«, doch 1953 starb Stalin, mit dem Schostakowitsch in seiner 10. Sinfonie musikalisch abrechnete. In der folgenden Periode des »Tauwetter« wurde er auch offiziell rehabilitiert und schuf bis zu seinem Tode 1975 in Moskau noch zahlreiche Streichquartette, Konzerte und Filmmusiken.

Immer wieder schimmert in der Künstlerbiografie, die Julian Barnes verfasst hat, die Frage des Selbstverständnisses des Künstlers unter der Diktatur durch. Barnes beschreibt Schostakowitsch als weichen Menschen, der unter Folter alles ausgesagt hätte. Gleichwohl war er kein Feigling, denn sein Werk lebt von satirischen Anspielungen und Andeutungen. In einer seiner Sinfonien zitiert er sogar seine verbotene Oper »Lady Macbeth«, und auch die heroischen Momente seiner Musik lassen den Eindruck entstehen, dass Jubel oft nur unter Zwang entstand. Eine deutliche Sprache spricht schließlich ein Werk, das erst nach dem Ableben des Meisters bekannt wurde, bei dem zwei fiktive Genossen auf eine georgische Volksliedmelodie (Stalin) und einen Walzer (Schdanow) über die »optimistische« Grundstimmung der sowjetischen Musik singen.

Julian Barnes, 1946 in Leicester geboren, arbeitete nach dem Studium moderner Sprachen als Lexikograph, dann als Journalist. Von Barnes, der zahlreiche internationale Literaturpreise erhielt, liegt ein umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk vor. © Alan Edwards/f2 2images

Julian Barnes kommt in seinem biografischen Roman zu dem Schluss, dass Schostakowitsch keiner war, der sich als ein zum Helden geborenes Genie verstand. Vielmehr lebte der Komponist für seine Musik und wollte den »Lärm der Zeit«, so der Titel des Buches, möglichst weit von sich weghalten. Offenbar gab es keine Möglichkeit, die Wahrheit mit künstlerischen Mitteln zu sagen und dennoch zu überleben. Hinzu kommt in späteren Jahren sicherlich die Korrumpierbarkeit des erfolgreichen Künstlers, dessen »Lady Macbeth« mit Kürzungen von sexuellen Anspielungen sogar wieder aufgeführt werden durfte, nachdem er endlich unter sanftem Druck in die Partei eintrat und zum Vorsitzenden des Komponistenverbandes bestellt wurde.

Der Autor versucht in seinem äußerst dicht und eindringlich verfassten Roman, die Welt aus der Innensicht des Komponisten zu beschreiben. Dazu bedarf es vieler Fakten und der Herstellung historischer Zusammenhänge, die eingestreut werden müssen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie Terror eine Seele zersetzen kann. Schade dabei ist, dass Julian Barnes nur sehr wenig über die Musik selbst schreibt, die doch in hohem Maße dazu beitragen könnte, das Profil des Komponisten zu schärfen. So bleibt nach der Lektüre die Frage im Raum stehen, ob Schostakowitsch ein feiger Mitläufer war. Der Leser mag sich selbst befragen, wie er in einer derartigen Extremsituation handeln würde. Schon die Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung allein macht das Buch lesenswert.

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Genre: Biographien, Zeitgeschichte
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

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