Nachricht an alle

Wer Visionen hat

Unter dem Titel «Nachricht an alle» ist von Michael Kumpfmüller im Jahre 2008 ein politischer Zeitroman erschienen, in jenem leider vernachlässigten Genre der Literatur also, in dem Koeppens «Das Treibhaus» von 1953 Maßstäbe gesetzt hat. An die nun weder der vorjährige Buchpreisgewinner Robert Menasse mit «Die Hauptstadt» heranreicht noch Kumpfmüller, dessen Eingangskapitel Großes erwarten lässt. Schon der Romantitel deutet eine dramatische Szenerie an, und gleich im einleitenden Kapitel sendet Anisha, die Tochter des Protagonisten, aus einem abstürzenden Flugzeug per SMS eine letzte Nachricht in die Welt hinaus. «Es hat eine Explosion gegeben. Es ist entsetzlich. Wir stürzen ab. Betet für mich. Ich liebe Euch».

Mit diesem Paukenschlag beginnt die Geschichte des Politikers Selden, Innenminister eines nicht genannten westeuropäischen Staates, der mitten in der Nacht diese Horror-Nachricht erhält, ein in unserer handynärrischen Moderne durchaus realer Albtraum. Der Staat ist in einer schweren Krise, die nicht nur durch erbitterte Streiks und soziale Unruhen, sondern auch durch vermehrte Terrorakte ausgelöst wurde. Dieses Szenario deckt eine bedrückende Ohnmacht der Politik auf, weist gar auf ihr bevorstehendes Ende hin in einer unregierbar gewordenen, bedingungslos ökonomiehörigen Gesellschaft. Der Roman ist eine Zustandsbeschreibung jener abgehobenen politischen Klasse, die nach dem prophetischen Engelmann/Wallraff-Buchtitel «Ihr da oben, Wir da unten» fernab der Bevölkerung in anderen Sphären schwebt.

Das Private, der Protagonist als Mensch, tritt in diesem Roman weitgehend in den Hintergrund. Außer seiner gescheiterten Ehe mit einer Malerin und der ebenfalls verheirateten Geliebten in den USA, die er nur stundenweise im Hotel zum Koitus trifft, ehe beide wieder ihren diversen Terminen hinterher jagen, erfährt man fast nichts. Auch ein Techtelmechtel mit der zwanzig Jahre jüngeren Journalistin Hannah, mit der er schließlich sogar einen Sohn namens Mattis hat, zeigt Selden nicht in einem menschlicheren Licht, er wirkt seltsam seelenlos. Das Politische nimmt einen breiten Raum ein, entwickelt sich aber meist nicht aus dem Geschehen heraus, sondern wird kontemplativ in endlosen Reflexionen des Autors selbst und in den Gedankenströmen seines Helden erzählt. Dazwischen werden Kapitel eingeblendet, in denen die anarchistischen Gegner des Establishments in ihrem ohnmächtigen Bemühen gezeigt werden, die Verhältnisse durch Randale und Terror zu ändern. Die Gewalt der jugendlichen Terroristen gipfelt in einer wachrüttelnden Selbstverbrennung eines der Mädchen und in einem dem Lafontaine-Attentat nachempfundenen Angriff auf den Minister. Albern aber wird es zum Schluss: Im letzten, in der Zukunft angesiedelten Kapitel hat der inzwischen achtzigjährige Selden, der in einem der Waldsiedlung Wandlitz, – ehedem privilegierter Wohnsitz der DDR-Bonzen -, ähnelnden, streng bewachten Prominentenghetto als Pensionär lebt, seinen Sohn Mattis und dessen junge Freundin zu Besuch. Pointe: die Freundin heißt Anisha, – so ein Zufall aber auch!

Zweifellos wird in den politischen Aspekten dieses modernen Gesellschaftsromans viel Wahres ausgesprochen, die ätzende Kritik an den sozialen Verhältnissen ist in allen Punkten nachvollziehbar und durchaus berechtigt. Kumpfmüller findet dafür überaus schlagkräftige Formulierungen in einer wortstarken, wohltuend stimmigen Sprache. Sein Anliegen sei, hat er im Interview erklärt, den Leser des Romans aus seiner Dulderrolle herauszulocken, er müsse seine Ressentiments ablegen, es gehe schließlich um uns alle. Fakten und Fiktion in Kombination, das mündet hier aber leider nicht in Erkenntnis, der Roman scheitert letztendlich an seiner Thematik, an der Komplexität des Politischen nämlich, wo alles mit allem zusammenhängt. Und wo man nicht agiert, sondern allenfalls reagiert. «Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen» lautet ja ernüchternd das berühmte, nassforsche Zitat von Helmut Schmidt.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Pathos und Schwalbe

Begreifen als Glücksfall

Die vor allem durch ihre Lyrik bekannte österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker perfektioniert in ihren wenigen Prosawerken die narrative Form der Autofiktion, vermischt also Autobiografie mit Fiktion. Ihr jüngst erschienener Band «Pathos und Schwalbe», dem als Prosa keine auch nur annähernd zutreffende Gattungsbezeichnung entspricht, ist nach Bekunden der 94jährigen Autorin das Ergebnis eines dreimonatigen Klinikaufenthaltes, während dem sie nicht literarisch arbeiten konnte. Glücklich zurückgekehrt in ihre «Schreibhöhle», – ein stimmiger Begriff für die Arbeitsumgebung in ihrer Wiener Wohnung -, hat sie bis in den Herbst 2017 hinein ihre Eindrücke aus der Krankenstube in ihrer sehr speziellen Prosaform beschrieben. Stützen konnte sie sich dabei auf eine reichhaltige Sammlung von kurzen Notizen zum Drama des hohen Alters, das Bürde und Gnade zugleich sei. Wobei, um das vorwegzuschicken, die avantgardistische Autorin keine auch nur im Entferntesten handlungsbasierte Erzählform benutzt, alles ist atmosphärisch, alles ist Imagination!

In Friederike Mayröckers melancholischer Prosa triumphiert das Umgebende, das Bühnenbild also ersetzt komplett das Geschehen auf der Bühne selbst. Ihre experimentellen Texte entstünden, wie sie bekannt hat, aus den Bildern in ihrem Kopf, in die sie sich so lange hinein steigere, bis daraus Sprache geworden sei. «ich verkoste die Sprache : schmeckt köstlich» wird sie im Klappentext zitiert, eine «halluzinatorische Prosa», wie sie es in ihrem Buch formuliert. Ein rationaler Zugriff darauf ist bei einer derartigen Arbeitsweise natürlich nicht möglich, der Autorin zu folgen setzt also beim Leser ein kompromissloses Hineinsteigern und Mitempfinden in ihren poetischen Text voraus, die Bereitschaft mithin, ihre Empfindungen, Einfälle, Träume, Gedankengespinste und Erinnerungen nachzuempfinden, ein Gefühl zudem für die subtile Essenz aus ihren diversen Begegnungen und Gesprächen zu entwickeln.

Ihr Handwerkszeug dafür ist ein alle Konventionen und Regeln der Orthografie missachtender, eigensinniger Schreibstil. Der in sämtlichen Details original zitierte, nachfolgende Absatz ist ein Beispiel dafür: «wenn morgen schönes Wetter ist, so der französische Germanist, werden sie die Pyrenäen sehen im Westen, der angebrochene Tag begann mit sanftem Regen ich sah die Pyrenäen : ein Phantom, etc. (Wache auf mit ‹Gänsefüszchen› auf der Zunge), veilchenweise, und glitzernd dein Auge als bewahre es Edelsteine, die ‹Ästhetik des Unscheinbaren›, Schneeglöckchen-Hals und lege dir Rosmarin und Reseden auf deine Brust DA MIR ZUM HEULEN da du mir diese Waldküsse usw., bin von feurigen Blüten befallen. Die Nordkette im Fenster, Radiator wie Botero, nun ja die Raucherbaracke stand in spezieller Bestrahlung, meine Versehrtheit, alle Blumen so leichfüszig, sage ich, (Abgesang : wünsche mir dasz du , wenn meine unsterblich Seele auf Wanderschaft nicht denken muszt ‹endlich erlöst› sondern dasz du denken kannst ‹war doch eine schöne Zeit› usw.)»

Ein solch assoziationsreicher Sprachstrom mit seiner verqueren Syntax setzt in seinem Bemühen, das thematisch kaum zu Fassende fühlbar zu machen, eine schon fast überirdische Sensibilität ein, darin einer Windharfe ähnlich, die selbst noch bei feinstem Lufthauch nicht vorhersehbare, gleichwohl aber himmlische Töne erzeugt. Durch Schwingungen werden hier Resonanzen erzeugt, die Tiefverborgenes freizulegen imstande sind. Ob das beim Leser funktioniert, bleibt fraglich, die Rezeption im Feuilleton war ehrfürchtig wohlwollend. – die Leser, soweit man das an den Rezensionen der Buchversender ablesen kann, ignorieren das Buch bisher allerdings völlig. Wenn man sich erst mal eingelesen hat, – was hier leider besonders lange dauert -, ist der Text, in kleinen Dosen genossen, durchaus bereichernd, – was die Bilder anbelangt, die er erzeugt. Das gilt auch, wenn man, was keineswegs gegen den Leser spricht, vieles dann aber kaum begreifen kann.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Lug und Trug und Rat und Streben

Geistreiches Vermächtnis

«Ich liebe mein Buch, aber ich kann es nicht empfehlen», so sibyllinisch äußerte sich die kürzlich verstorbene Schriftstellerin Silvia Bovenschen über ihren jetzt posthum erschienenen Roman «Lug & Trug & Rat & Streben». Sie habe sich darin alles erlaubt, warnte die Autorin, er würde von Leuten handeln, die in dieser Zeit leben und merkwürdige Erfahrungen machen. Die feministische 68erin gehört zweifellos zu den wenigen Intellektuellen der deutschen Gegenwartsliteratur, sie negiert in ihren Romanen althergebrachte Erzählkonventionen, profiliert sich stattdessen als streitbare Kämpferin für eine Dichtkunst im wahrsten Sinne des Wortes.

In einer alten Villa, die Alma und ihr Schwager Bärentrost geerbt haben, lebt völlig zurückgezogen der Schwager mit einer Haushälterin im Souterrain, Almas geschiedene Nichte Agnes bewohnt – für eine nur symbolische Miete – das Erdgeschoss. Über ihr wohnt die Tante selbst, das Dachgeschoß wiederum ist unbewohnt, es steht voller alter Möbel und Gerümpel, Theaterrequisiten gleich. Alle drei sind ausgesprochene Exzentriker, die unbeirrt ihre wunderlichen Marotten pflegen und sich am liebsten aus dem Wege gehen. Alma führt allenfalls kurz angebundene Telefonate mit ihrem Schwager, wenn es wegen der Villa etwas zu besprechen gibt, ansonsten reden sie kaum ein Wort miteinander. Als Almas altkluger, zwölfjähriger Enkel Max zu Besuch kommt, erweist sich der Dachboden als Kinderparadies, in dem es phantastische Schätze zu entdecken gibt. Schließlich gesellt sich noch trickreich Mr. Odino, ein Ex-Verehrer von Alma, zu den Bewohnern der Villa und bezieht eine winzige Kammer im Dachgeschoß, obwohl Alma ihn zunächst brüsk abweist, als er nach Jahrzehnten so plötzlich auftaucht.

Silvia Bovenschen beschreibt ihre schrulligen Figuren nicht, sie entwickeln sich vielmehr aus ihrem Tun heraus und aus dem, was sie miteinander reden. Agnes, eine attraktive Frau Anfang vierzig, wird von ihrem Liebhaber zur Heirat gedrängt, fürchtet sich jedoch davor, mit Frederic «in seinem gnadenlos durchgestylten Penthouse» zu wohnen. Alma, Bärentrost und Mr. Odino, Geisteswissenschaftler alle drei, sind hoch gebildete, gleichwohl skurrile Alte, deren köstliche Dispute untereinander wie auch die dozierenden Gespräche mit dem wissbegierigen Max eine Fülle von witzigen Reflexionen enthalten, ergänzt um eine gehörige Portion beißender Gesellschaftskritik. Zudem notiert Bärentrost als Misanthrop mancherlei Kritisches in sein Notizbuch: «Der digitale Fanatismus. Weitaus schlimmer als der Eifer spätmittelalterlicher Dogmatiker. Weltweite Geistesdeformationen. Die Zurichtung der Körper und der Hirne. Eine eindimensional dressierte Menschheit. Allgemeine Denkverpflichtungen. Mentale Selbstauslieferung an die Interessen der Netzgiganten. Am nervigsten sind die Humordeformationen. Ja, es gibt ihn, den neoliberalen Humor. Dauerironisierung ohne kritische Distanz». Im furiosen Mittelteil des Romans reisen Max, Alma und Mr. Odino nach Mispelheim, ein in vielem an Hieronymus Bosch erinnernder, kurioser Höllentrip, und auch Freund Hein schleicht am Ende um die alte Villa.

Dieser Roman wirft mit sentimentalem Unterton Fragen der Menschheit auf und erweist sich dabei als ein Füllhorn kurioser, geistreicher Einfälle, er gibt aber auch witzige und kluge Antworten. Das Ganze wird geradezu spielerisch erzählt in einer turbulenten Geschichte mit märchenhaften Zügen, wobei drei allegorische Figuren, – an den Chor des altgriechischen Dramas erinnernd -, als Stimmen aus dem Off fungieren. All das fordert in seiner Rätselhaftigkeit den Leser zum Mitdenken heraus und entlarvt ganz nebenbei eulenspiegelartig unsere wohlstandsverwahrloste Spaßgesellschaft als zutiefst dekadent und verlogen. Mit ihren zügellosen Phantasien hat uns die Autorin in diesem Roman ihr literarisches Vermächtnis hinterlassen, als parodistisches Verwirrspiel ein ebenso ästhetisches wie intellektuelles Leseabenteuer, das man sehr wohl empfehlen kann.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Eine Schachtel Streichhölzer

Sternstunde des Insignifikanten

Wer den Plot für einen wichtigen, unverzichtbaren Bestandteil einer Erzählung hält, dem beweist Nicholson Baker mit seinem Kurzroman «Eine Schachtel Streichhölzer» das Gegenteil. Eine Handlung ist nämlich nicht mal rudimentär vorhanden, die Erzählung des US-amerikanischen Schriftstellers beschränkt sich einzig und allein auf Reflexionen seines Protagonisten, die ohne erkennbaren Zusammenhang aneinandergereiht sind. Und wie nicht anders zu erwarten polarisiert ein solcher Roman die Leserschaft, die Hälfte ist begeistert, die andere Hälfte entsetzt, Zwischentöne fehlen völlig, und auch das Feuilleton ist uneins oder ignoriert das Buch ganz einfach.

«Guten Morgen, es ist … Uhr». Mit diesen Worten begrüßt der Protagonist in jedem der 33 Kapitel seinen Leser, variiert wird nur die Uhrzeit, die jedoch immer «in aller Herrgotts Frühe» liegt. Emmett ist notorischer Frühaufsteher vom Schlaftypus Lerche, der uns eine plausible Antwort schuldig bleibt, warum er denn zu solch unchristlichen Zeiten aus den Federn steigt. Den 33 Kapiteln entsprechen 33 Tage, die mutmaßlich aufeinanderfolgen, – nur dass es Winter ist und kalt, soviel ist immerhin gewiss. Und deshalb ist das Feuermachen im Kamin auch die erste der allmorgendlichen Verrichtungen, die 33 Streichhölzer zum Anzünden sind auf dem Titelblatt zu sehen. Anschließend folgt dann Kaffeekochen und einen Apfel essen, ersatzweise eine Birne, erfahren wir. Dieser Morgenzauber findet in völliger Dunkelheit statt, um die noch schlafende Familie nicht aufzuwecken, und so hat er sich schließlich auch ganz unmännlich zum Sitzpinkler entwickelt, das morgendliche Zielen nach Gehör nämlich hat sich als unzuverlässige Methode erwiesen. Emmett ist ein 44jähriger Lektor medizinischer Lehrbücher, verheiratet, zwei Kinder, mit einem Jahresgehalt von siebzigtausend Dollar, von dem er gut leben kann, die Familie wohnt im eigenen Haus in Oldfield an der Ostküste. Es gibt dort auch eine Katze, eine Ente sowie die Ameise Fides, einzige Überlebende einer ganzen Ameisenfarm, die Tochter Phoebe zum dreijährigen Geburtstag geschenkt bekommen hat. Emmett ist jedenfalls mit sich und dem Leben zufrieden, ein gutmütiger, harmloser Zeitgenosse.

Diese allmorgendlichen Rituale verknüpfen assoziativ sämtliche Kapitel miteinander, wobei die Tagträume des Helden deren Inhalte bilden. All das ist unspektakulär Alltägliches, welches sich hier zu einer profanen Denklawine entwickelt. Nicholson Baker erweist sich als ein genialer Beschreibungskünstler, der sich an oberflächlich banal erscheinenden Dingen und Begebenheiten abarbeitet und den Leser mit dem verstörenden Stoizismus seines Protagonisten verblüfft. Das Banale jedoch erweist sich bei genauem Hinsehen als wunderbar stimmige Expedition in die Tiefe des Existentiellen, ins Innerste der Gefühle, ein narrativ als einfältige Erzählung kaschierter Bewusstseinsstrom des Protagonisten. Er ist ein Feuer hütender Alltagsphilosoph, dessen metaphysische Unbedarftheit fast schon sensationell ist, der als Figur jedenfalls ein Unikat darstellt in der heutigen Literatur. Und Vieles, was da gedacht, phantasiert und spintisiert wird erinnert einen an eigene Gedanken und Gefühle. Als harmloser, gutmütiger Tagträumer bringt Emmett einen ganz neuen, fast schon überirdischen Glanz in die Trivialität des Alltags, in die von uns allen so gern verleugneten Niederungen unseres Ichs.

Dieser Roman, der so selbstbewusst den vermeintlichen Zwang zur Handlung ignoriert, ist ein Triumph der Gelassenheit, immer besonnen, heiter und ironisch dem Profanen auf der Spur. In einem metaphernreichen Parcours durch die Gefilde gedanklicher Niederungen wird dabei, zuweilen fast unbemerkt, die US-amerikanische Gesellschaft gehörig kritisiert. Am Ende dieses Parforceritts ist die Streichholzschachtel jedenfalls leer und der Leser, wenn er denn in sich selbst hineinzuhören vermag, dem signifikant Insignifikanten deutlich näher als zu Beginn dieser heiteren Lektüre.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke (Alle Toten fliegen hoch Band 3)

Hinter den Kulissen

Was auf der Bühne anfing, das Erzählen aus seinem Leben, hat der Schauspieler Joachim Meyerhoff als autobiografischen Zyklus unter dem Titel «Alle Toten fliegen hoch» ebenso erfolgreich in Literatur verwandelt. «Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke», als Titel dem «Werther» von Goethe entlehnt, behandelt als dritter, alleinstehend lesbarer Roman der Reihe die Jahre seiner Ausbildung zum Schauspieler an der Otto-Falckenberg-Schule in München.

Ein Entwicklungsroman also, bei dem die moderne, progressive Ausbildung in der berühmten Mimen-Schmiede konterkariert wird vom konservativen Stillstand in der großbürgerlichen Villa seiner Großeltern am Nymphenburger Park, bei denen er während dieser Zeit wohnt. Er hatte sich eher spaßeshalber beworben und besteht die Aufnahmeprüfung als einer von neun unter vielen hundert Aspiranten, trotz hanebüchener Pannen übrigens und zu seiner eigenen Verblüffung, – aber auch zu der des Lesers! In zwei Strängen wird abwechselnd von dieser chaotischen Zeit als Schauspiel-Eleve erzählt, dem diametral sein wohlgeordnetes Privatleben mit den über alles geliebten Großeltern gegenübersteht. Der Großvater ist emeritierter Professor der Philosophie, ein berühmter Wissenschaftler, der schon mal Post vom Vatikan bekommt, die Großmutter eine von der Bühne her bekannte Schauspielerin, die auch im TV bei Derrick zu sehen war. Beide sind liebenswerte Originale mit einem ritualisierten Lebensrhythmus, in dem der Alkohol, in verschiedenster Form genossen, eine gewichtige Rolle spielt. Wobei der junge Mann so kräftig mithält, dass er beim Zubettgehen gelegentlich ebenfalls den Treppenlift der hochbetagten Großeltern benutzt nach einer allzu lustvollen Zecherei, – bei der aber stets die Contenance gewahrt bleibt. Die chaotische, ja hirnrissig erscheinende Ausbildung wird im zweiten Handlungsstrang als eine mentale Tortur dargestellt, immer wieder fragt sich der überforderte Held entnervt, warum er sich das alles antut, ob er nicht besser aussteigt und Medizin studiert. «Was, Großvater, frage ich, ist denn der Kern der Schauspielerei?» […] «Der Moment. Jeder einzelne Augenblick, würde ich sagen. Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze. Aber er hat den Augenblick».

Mit feinem Gespür für das Menschliche beschreibt der Autor die Schar seiner zumeist skurrilen Figuren, von den kauzigen Großeltern bis hin zur Schauspielschule mit ihren durchgeknallten Lehrern und den oft recht merkwürdig erscheinenden Mitschülern. Auffallend ist dabei, dass dieser gutaussehende, athletische junge Mann Anfang zwanzig all die Zeit über keine Freundin hat, eine geradezu mönchische Lebensweise. Dazu passt denn auch eine Szene, in der ein Filmregisseur die greise Großmutter für eine Verfilmung der Erzählung «Ein Ring» von Paul Heyse gewinnen will, die mit einem wundervollen Satz endet: «Höre mein Liebkind, das Schlimmste ist, wenn man bereut, dass man nichts zu bereuen hat». Wie auch immer, das Asketische – der Figur und des gesamten Romans – bleibt rätselhaft.

Die «Lücke» im Titel dieser Geschichte bezieht sich auf den Verlust geliebter Menschen. Mit großer Empathie erzählt der Autor zunächst vom Tod des jung gestorbenen Bruders, von dem seines geliebten Vaters und schließlich von dem der Großeltern, deren beider Lebenslicht ohne Schmerzen und Todeskampf friedlich verloschen ist. Die gleichwohl ironische Distanz des Erzählers lässt den Leser bei aller Betroffenheit zuweilen auch schmunzeln, zu komisch sind doch manche der deutlich fiktional überhöhten Szenen. Dazu gehört denn auch dieses ständige Neben-sich-stehen des Helden, die permanente Selbstanalyse. Geradezu nervig fand ich die narrative Langatmigkeit, das träge Dahinfließen des Plots, das dominant Anekdotische zudem mit seiner extremen Ausführlichkeit. Ohne Zweifel sind aber der Blick hinter die Kulissen, – hier ja mal im wahrsten Sinne des Wortes -, und die allzumenschliche Atmosphäre in der alten Villa bereichernd und unterhaltend zugleich.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Quasikristalle

Superfrau mit Macken

Die Rezeption des Romans «Quasikristalle» der österreichischen Schriftstellerin Eva Menasse ist ziemlich konträr. Als Chemie-Nobelpreisträger Daniel Shechtman 1982 die aperiodisch angeordneten Kristalle entdeckte, deren Aufbau von der bis dato wissenschaftlich unstrittig als vorgegeben angesehenen, streng symmetrischen Struktur abwich, erntete er zunächst ebenfalls erbitterten Widerspruch. Der Titel des Buches weist auf eine ähnliche Ungeordnetheit hin, auf die Biografie der eher chaotisch veranlagten Protagonistin nämlich, einer gleichwohl toughen Frau, deren turbulentes Leben in dreizehn Kapiteln erzählt wird. Ein Frauenroman also, der dem Thema offensichtlich neue Seiten abgewinnen will.

In den nur lose zusammenhängenden Kapiteln breitet die Autorin das Leben von Roxane Molin in vielen Facetten vor uns aus, beginnend im Backfischalter in einem Wiener Gymnasium. Es ist ein breites Themenspektrum, das in diesem Roman abgedeckt wird, und es ist denn auch der Tod, dem Xane gleich am Anfang begegnet, als ihre Freundin plötzlich stirbt. Wir erleben sie bei einer Exkursion nach Auschwitz, in einer Fernsehdebatte nach einem Kurzfilm von ihr, in der sie vehement Stellung nimmt gegen den latenten Faschismus in Österreich: Sie habe die verlogene Mozartkugel-Seligkeit gründlich satt. In Berlin, wohin sie erbost umsiedelt, betreibt sie eine alternative Marketing-Agentur, landet in einer Patchwork-Familie mit zwei Stieftöchtern, bekommt nach einer In-vitro-Fertilisation endlich auch selbst ein Kind und durchläuft alle Höhen und Tiefen des Ehelebens. Sie lernt irgendwann einen deutlich älteren Mann kennen, Ankläger des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag, eine rein platonische Beziehung. Natürlich sind auch Seitensprünge Thema in diesem turbulenten Roman, und auch das knallharte Berufsleben in Xanes kreativer Agentur, wo hymnisches Lob und gnadenloser Rausschmiss durch die Chefin sehr nahe beieinander liegen. Seitensprünge, gescheiterte Ehen, Flucht in den Ashram, schwierige Kinder, Drogenprobleme, Seniorenheim, Pflegemissstand, Sterbehilfe, in Eva Menasses Themenspektrum bleibt kaum ein Phänomen der Jetztzeit ausgespart, von dem Frauen tangiert sind. Sogar Xanes kühner Plan, als Großmutter zurück nach Wien zu gehen und mit dem Rest ihres Lebens in ihrer Heimatstadt noch mal etwas ganz Neues zu wagen, wird am Ende dezent angedeutet.

Angedeutet wird auch Vieles sonst in diesem Roman, die einzelnen Kapitel lassen jedenfalls reichlich Leerraum für eigene Phantasien des Lesers bei dieser großangelegten Suche nach Identität. Die Frau wird als kleines Mädchen, Pubertierende, Freundin, Ehefrau, Mutter, Großmutter, Geliebte, Kameradin, Künstlerin, Hochbegabte, Mitarbeiterin, Chefin und Ärztin gezeigt. Was ist wahr an dem Bild, das wir von uns haben? Mit feinem Gespür für psychische Befindlichkeiten wird hier stimmig ein Panorama heutiger Weiblichkeit aufgezeigt, wie es nur eine weibliche Autorin vermag, aus einer eindeutig femininen Perspektive also. Das wird nicht zuletzt beim Thema Sex deutlich, das hier äußerst diskret umschifft wird, mithin also auch hierbei nur dezente Andeutungen, – was das Ganze etwas betulich wirken lässt, denn auch das gehört nun mal zum Frau-Sein dazu.

Das Erzählte spielt sich weitgehend in einem gehobenen Großstadt-Milieu ab. Eva Menasses Sprache ist elegant, leicht lesbar und überrascht zuweilen mit gekonnten Wortgebilden wie der «halbjüdischen Doppelhelix». Das den Verknüpfungsmustern der «Quasikristalle» ähnelnde narrativem Konzept mit seinen selbständigen, in sich abgeschlossen Kapiteln stellt für den Leser allerdings eine Hürde dar, er findet keinen Erzählfaden, sondern muss die Puzzleteile selbst zusammensetzen. Teilweise entsteht so zuweilen sogar ein sich widersprechendes Bild der Protagonistin, deren Identität zu ergründen, deren Charakter offenzulegen ja die Intention der Autorin gewesen sein dürfte. Ein Manko sicherlich, aber lesenswert ist dieser Roman allemal!

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by btb München

Was vom Tage übrig blieb

Ungelebtes Leben

«Was vom Tage übrig blieb» ist der berühmteste Roman des britischen Schriftstellers Kazuo Ishiguro, er erhielt 1989 dafür den Booker Prize, das Buch wurde vier Jahre später verfilmt. Auf der 2015 erschienenen BBC-Liste der hundert bedeutendsten britischen Romane rangiert dieser Roman auf Platz 18. Im vergangenen Jahr erhielt Ishiguro den Nobelpreis als ein Schriftsteller, «der in Romanen von starker emotionaler Wirkung den Abgrund in unserer vermeintlichen Verbundenheit mit der Welt aufgedeckt hat.» Der Abgrund ist hier die bittere Erkenntnis des Ich-Erzählers am Ende seiner glamourösen Karriere als Butler, dass er mit seinem Kadavergehorsam dem falschen Herrn gedient und in blinder Selbstverleugnung damit auch sein eigenes Leben vergeudet hat.

Dreißig Jahre lang hatte der Butler Stevens seinem Herrn Lord Darlington auf dessen Landsitz Darlington Hill treu ergeben gedient. Nach dessen Tod wurde der Besitz an den amerikanischen Millionär Farraday verkauft, der die hochherrschaftliche Bewirtschaftung mit ehemals fast dreißig Angestellten auf eine Hand voll Mitarbeiter reduziert hat, was zu kaum lösbaren Problemen für den Butler führt. Ein Brief der ehemaligen Haushälterin Miss Kenton lässt ihn hoffen, sie nach mehr als zwei Jahrzehnten zu einer Rückkehr bewegen zu können, um die gravierende personelle Lücke zu schließen. Auf Wunsch seines neuen Dienstherrn begibt er sich im Spätsommer des Jahres 1956 auf eine einwöchige Erholungsreise, bei der er auch die inzwischen verheiratete und sich auf das erste Enkelkind freuende Miss Kenton aufsuchen will.

Diese Reise bildet die erzählerische Klammer für die Geschichte eines Butlers, dessen ganzer Lebensinhalt das Dienen für seinen Herrn war. Privates musste dabei zurückstehen, schüchterne Annäherungsversuche von Miss Kenton wurden von ihm brüsk zurückgewiesen, ja er hat sie als solche nicht mal erkannt und blieb auf verletzender Distanz zu ihr. Sein Diensteifer ging so weit, dass er, als sein Vater während eines Dinners mit hochrangigen Gästen im Dienstbotenzimmer im Sterben lag, seinen Dienst nicht unterbrach, Miss Kenton musste dem Vater die Augen schließen, Stevens war unabkömmlich. In Rückblenden lässt Ishiguro seinen Protagonisten über seine Ideale vom perfekten Butler dozieren. Sein Held dröselt in epischer Breite das Berufsethos dieser typisch britischen Ausprägung eines Majordomus auf, als dessen wichtigste Eigenschaft er die Würde benennt, – die zu definieren sich dann aber doch als recht schwierig erweist. Aber er berichtet nicht nur über den devoten Charakter dieses Berufsstandes, sondern äußerst detailliert, – für meinen Geschmack deutlich zu detailliert -, auch über das nüchterne Arbeitsleben mit allen seinen wunderlichen Usancen und skurrilen Riten, bei denen das Silberputzen an erster Stelle zu stehen scheint. Darlington Hill ist Treffpunkt vieler Größen aus der Politik, die in zum Teil konspirativen Treffen mit Nazideutschland sympathisieren und nicht erkennen, dass sie einen Bund mit dem Teufel einzugehen im Begriff sind. Stevens aber vertraut seiner Lordschaft blindlings, lässt sich auch von Darlingtons jungem Verwandten nicht beirren in seinem Vertrauen auf die integren Motive seines Dienstherrn.

Dieser Butler ist als Ich-Erzähler geradezu der Prototyp narrativer Unzuverlässigkeit, jenes vor allem aus der Romantik bekannten Stilmittels, dessen sich Ishiguro hier äußerst souverän in einer nüchternen, disziplinierten Sprache bedient, – die Butlerwürde fungiert dabei als Rechtfertigung für mancherlei Täuschungen. Der Autor belässt seiner Figur trotz deren emotionaler Leere aber einen Rest von Menschlichkeit, deutet am Ende sogar, als Stevens bei Sonnenuntergang inmitten fröhlicher Menschen auf einer Bank am Meer sitzt, noch eine versöhnliche Perspektive an. Eine leise Hoffnung nämlich für das, «was vom Tage übrig blieb», für den Rest seines bis dato, – so weit ist Stevens Selbstbesinnung inzwischen gediehen -, ungelebten Lebens.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Heyne München

Das Singen der Sirenen

Literarisch ein Solitär

Mit dem Roman «Das Singen der Sirenen» gelang Michael Wildenhain eine überzeugende Synthese aus Inhalt und Stil, aus zeitaktueller Themenvielfalt und bravourös variierter Sprache. Wobei eines seiner Themen schon im Titel anklingt, ist doch der Protagonist wie Odysseus den Verlockungen der Sirenen ausgesetzt, – nur dass niemand den Romanhelden an den Mast bindet. Ein Liebesroman also? Mitnichten! Der Autor hat als ehemaliger Hausbesetzer und Linker soziale, politische, ethische und ökonomische Themen eingebunden in seinen Plot, der zeitlich im Jahre 2010 angesiedelt ist.

Dr. Jörg Krippen, Literaturwissenschaftler, Dramatiker und Frankenstein-Spezialist, wird als Gastdozent nach London eingeladen. Ein willkommener Job, denn eine Karriere als Wissenschaftler hat er längst verpasst, er lebt in prekären Verhältnissen mit Frau und fünfzehnjährigem Sohn Leon in einem Plattenbau in Berlin-Hellersdorf. Sabrina arbeitet als Lageristin, beide waren aktive Mitglieder einer militanten Antifa-Gruppe, haben sich aber aus Angst vor Vergeltung in ein unauffälliges Privatleben zurückgezogen, nachdem die beinharte, prollige Sabrina bei einem Überfall einen Neonazi angeschossen hatte. Auf dem Campus in London trifft Krippen auf Mae, eine an ihrer Promotion arbeitende, deutlich jüngere und überaus attraktive Stammzellen-Forscherin indischer Herkunft, die schon bald seine Geliebte wird. Und ihm dann überraschend seinen elfjährigen, unehelichen Sohn Raji präsentiert, Ergebnis eines Seitensprungs mit ihrer älteren Schwester. Ein Gentest bestätigt seine Vaterschaft, ergibt aber als unerwartetes Nebenergebnis, dass er nicht der Vater von Leon ist.

Der Erzählstoff kreist um polarisierende Themen, die akademische Rivalität zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zum Beispiel, oder gebildete Geliebte und proletenhafte Ehefrau, sexuell beglückende Liebe und unerwünschte Fortpflanzung, er lebt aber auch vom kulturellen Kontrast zwischen westlichem und östlichem, hier indischem Lebensstil, – selbst Pegida wird thematisiert. Die beiden Söhne Raji und Leon könnten unterschiedlicher nicht sein, draufgängerischer Rugbyspieler und Schachgenie der eine, untalentierter Fußballer der andere. Natürlich spart Wildenhain als Linker auch nicht mit Kapitalismuskritik, personifiziert hier durch den Cousin von Mae, der viel Geld verdient, ohne dass wirklich klar wird, womit, während Jörg als Dramatiker auf Hartz 4 angewiesen wäre ohne seine Gastdozentur. Der antriebslose Protagonist, ein typischer Looser, übt eine unerklärliche Anziehungskraft auf Frauen aus, dem auch die «schöne Russin» erlegen ist, Regisseurin eines seiner erfolglosen Bühnenwerke. Als Liebhaber bringt er Frau und Geliebte im Bett gleichermaßen zum Stöhnen, der Sex wird jedoch niemals vulgär erzählt, sondern ausgesprochen dezent, eher beiläufig, erwähnt. Erzählerisches Meisterstück ist der Kuss im 49ten, dem vorletzten Kapitel: «Es ist ein Kuss, der, wie Alice Munro es ausdrückt, ein Ereignis für sich ist», der Abschiedskuss von Mae nämlich, nachdem er sich endgültig zur Rückkehr nach Deutschland entschieden hat. «Denk nach, Jörg Krippen, geh in dich, horche in dich hinein, weißt du, wogegen du dich entscheidest?» sagt die Erzählerstimme, als er Mae im Arm hält. Grandios, diese knapp zwei Seiten!

Wildenhain jongliert sprachlich virtuos mit verschiedenen Stilen, variiert sie stimmig und szenensynchron nach Erzählsträngen, wechselt perspektivisch von der Ich- zur Er-Erzählform oder auch zur Du-Form und deutet, kursiv gesetzt, am Ende als auktorialer Erzähler sehr berührend das weitere Schicksal seiner Figuren an. Seine bilderreiche Sprache ist komplex, changiert von stakkatoartigen Wortfetzen zu ambitionierten Satzgebilden, vom Gassenjargon bis zur fein ziselierten Hochsprache. Ich habe in der deutschen Gegenwartsliteratur schon lange nichts Vergleichbares mehr gelesen, literarisch ein Solitär also, – bereichernd, erfreuend und unterhaltend im besten Sinne!

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de

 


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Von dieser Welt

Apokalyptisches Klagelied

Der Hype um den in den USA wiederentdeckten farbigen Schriftsteller James Baldwin hat nun auch uns erreicht, die aktuelle Neuübersetzung seines autobiografischen Debütromans von 1953 «Go Tell It on the Mountain» wird vom Feuilleton allenthalben gefeiert. Wobei der Titel der neuen deutschen Ausgabe «Von dieser Welt» ein wenig ablenkt von dem, was den Leser wirklich erwartet, bezieht sich doch der Originaltitel auf ein allseits bekanntes, oft gehörtes Spiritual. Womit das beherrschende Thema des Romans weitaus treffender verdeutlicht wird, es geht nämlich um religiöse Inbrunst, ausgelöst hier durch das schreiende Unrecht der Rassendiskriminierung. Die aber ist auch heute noch weitgehend unveränderte Wirklichkeit im «Land der unbegrenzten Möglichkeiten», entsprechende Nachrichten von dort, untermauert durch die einschlägigen Polizeistatistiken, erinnern uns regelmäßig wieder daran. Und der offen rassistische Präsident ist als Nachfolger des ersten Farbigen in diesem Amt ein überdeutliches Indiz für diese reaktionäre Entwicklung, eine Rolle rückwärts also in der Rassenfrage. «Sein Werk altert nicht» heißt es über Baldwin im Vorwort, dabei wünscht man sich, dieser Roman wäre weniger aktuell.

Anders als die meisten seiner Zunft entwickelt Baldwin seine Thematik fast ausschließlich aus dem Innenleben seiner Figuren heraus, berichtet von den seelischen Verheerungen, die das schreiende Unrecht bei der unterdrückten farbigen Bevölkerung anrichtet. In der Rahmenhandlung der im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts angesiedelten Geschichte fungiert John als äußere Klammer, er droht auf der Suche nach sich selbst zu scheitern. «Alle hatten immer gesagt, John werde später mal Prediger» lautet der erste Satz. Als ihm 1935, am Morgen seines 14ten Geburtstages, seine nächtliche Masturbation bewusst wird, als in seiner Fantasie ein Fleck an der Zimmerdecke sich in eine nackte Frau verwandelt, ist sein Schrecken grenzenlos, er fühlt sich auf ewig verdammt. Der Tag endet in der Kirche, wo er in einer rauschhaften Erweckungsszene, im rasenden Kampf wütend mit sich selbst ringend, vor dem Altar liegt und endlich zu Gott findet.

In drei Teilen behandelt der Roman in Rückblicken die Biografie von Johns Stiefvater, unerbittlicher Laienprediger und böser Heuchler zugleich, von seiner Mutter und der Schwester des Vaters. Alle drei waren Kinder von Sklaven, die der Gewalt des Südens zu entkommen suchten, um dann in New York das Elend zu finden. Baldwin thematisiert den Hass der Farbigen, wobei der sich erstaunlicher Weise gegen sie selbst richtet, sie fühlen sich schuldig und sind Opfer ihrer Selbstverachtung. Ihr Leben wird bestimmt von Armut, Angst, Hass, Gewalt, – und von der Hölle, die ihnen ein rigider Pietismus unermüdlich einredet, indem er selbst alltägliche Ereignisse permanent als Menetekel an die Wand malt, immer nach dem Motto: Es gibt keine Unschuldigen! Als Sohn eines Baptistenpredigers ist dem Autor dieser religiöse Fanatismus quasi schon mit der Muttermilch eingegeben, die fatale Lebensfeindlichkeit seiner Geschichte ist also vorbestimmt, verschärft noch durch seine, auch im Roman anklingende, Homosexualität. Die naive Gläubigkeit seiner Figuren dient als Ausweg aus ihrem Dilemma, kompensiert den Unbill ihres prekären Lebens.

Streckenweise liest sich dieser Roman, seiner unverblümten Indoktrination wegen, wie naivste Erbauungsliteratur, deren Sprache in Diktion, Melodie und Rhythmus, in ihren häufigen Wiederholungen zudem, stark an das Alte Testament erinnert. Vergleicht man Baldwin mit Jerome David Salinger, Harper Lee, William Faulkner, E. L. Doctorow, so fällt die einseitige Perspektive von Baldwin auf, er stimmt ein apokalyptisches Klagelied an, das alle anderen Aspekte ausblendet und die Welt einseitig als Jammertal darstellt. Spätestens bei der Religion aber endet jede rationale Diskussion, über die Lesefrüchte, die dieser Roman uns beschert, hüllen wir also besser den Mantel des Schweigens.

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Apollokalypse

Poststrukturalistisches Chaos

Der vielseitig tätige Schriftsteller Bernhard Falkner hat 2016 mit «Apollokalypse» sein Prosadebüt vorgelegt, ein Epochenroman aus dem Berlin der achtziger und neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, der es auf Anhieb auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2016 geschafft hat. Der Neologismus seines Titels spiegelt das Schöne und Verführerische in der totalen Zerstörung. Gott seines Romans ist ein zwielichtiger, dionysischer Held, dem nach allmählichem Zerbrechen sämtlicher Illusionen schließlich der Leibhaftige gegenübertritt. Mehr als zehn Jahre, so wird kolportiert, hat der österreichische Lyriker sich Zeit gelassen für seinen Roman-Erstling, dessen beeindruckende Bildermacht und Intertextualität vom Feuilleton zum Teil bejubelt wurde, während Andere jedwede erzählerische Kontinuität vermissen und am Falknerschen «Wortgeschwurbel» zu ersticken drohen. «Meine Vermieterin sagt, dies hier wäre ein schlechter Roman», lässt der Autor mit geheuchelter Selbstkritik seinen Doppelgänger sagen, und er liefert wortreich auch gleich die Gründe dafür mit.

«Wenn man verliebt ist und gut gefickt hat, verdoppelt die Welt ihre Anstrengung, in Erscheinung zu treten» lautet symptomatisch der erste Satz des Romans. Georg Autenrieth, eine undurchsichtige Gestalt aus Westdeutschland, ist dem Sog der Metropole erlegen und durchstreift auf der Suche nach Genuss die einschlägige Szene Berlins in der Wendezeit. Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll stehen im Mittelpunkt einer extensiv ausgelebten Lebensgier, die sich völlig unpolitisch gibt, selbst der Mauerfall wird nicht thematisiert. Gleichwohl unterhält der junge Mann scheinbar Kontakte zur RAF und zu den Geheimdiensten beider Deutschlands, – scheinbar, denn wie alles bleibt auch das vage in diesem Roman, der sich immer wieder in Andeutungen verliert. Die Wendepunkte dabei setzten Frauen: «Das Buch Isabel» widmet sich der Geschichte seines manisch-depressiven Freundes Büttner, eines exaltierten Künstlers, dem er die Freundin ausspannt, indem er sie zu einer Reise in die USA einlädt, deren Höhepunkt eine feuchtfröhliche Nacht bei Musik vom Plattenspieler im Amargosa Opera House von Death Valley Junction bildet. Büttner landet in der Psychiatrie und wirft sich später vor den Zug, was bei Autenrieth zu einer Identitätskrise führt, in deren Verlauf er untertaucht, sich als «Glasmann» unsichtbar zu machen sucht. Die zweite Zäsur unter dem Titel «Das Buch Billy» ist dann die leidenschaftliche Affäre mit Bilijana, einer undurchsichtigen Bulgarin, die mit einem deutschen Militärattaché liiert ist. Alle diese zwiespältigen Figuren bewegen sich voller Obsessionen in einem geradezu mythologischen Berlin, welches sie voller burlesk überzeichneter Ausschweifungen rauschhaft erleben, das sie dann aber immer wieder ernüchtert auf sich selbst zurückwirft.

Eine den Leser faszinierende Geschichte auszubreiten ist Gerhard Falkners Sache nicht, das Atmosphärische bildmächtig und sprachverliebt in allen seinen Facetten auszubreiten ist schon eher sein Metier, der Lyriker in ihm ist partout nicht zu verleugnen. Dabei stört das vulgär Sexuelle seines narzisstischen Helden mit den multiplen Identitäten, der zuweilen neckisch mit sich selber spricht und als Figur vom Autor selbst kaum noch unterscheidbar ist. Als Poststrukturalist bildet Falkner mit seiner Sprachmacht Realität nicht nur ab, er erschafft sie vielmehr selbst durch seine radikale Abkehr von einer objektivistischen Sicht sozialer oder moralischer Kriterien.

Sein Anspielungsreichtum wirkt dabei selbstverliebt überzogen, die Literaturgeschichte wird schon fast parodistisch einbezogen in den schwer lesbaren, diskontinuierlichen Erzählfluss, der heftig zwischen Schein und Sein mäandert. So bleibt dem Leser als Lektürebonus die grandiose Beschreibungskunst des Autors, der mit scharfem Blick hinter die Fassaden Berlins schaut, sein narratives Chaos aber nicht auflöst, der alles in der Schwebe hält bis zum Schluss.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Berlin Verlag Berlin

Fremde Seele, dunkler Wald

Triumph der Langsamkeit

Seine dörfliche Herkunft bildet auch in «Fremde Seele, dunkler Wald», dem sechsten Roman des österreichischen Schriftstellers Reinhard Kaiser-Mühlecker, den Erzählkosmos. Der Titel basiert auf einem Zitat Turgenjews: «Du weißt ja, eine fremde Seele ist wie ein dunkler Wald». Womit die Thematik des Romans bereits treffend angedeutet ist: Eine zerrissene bäuerliche Familie in einer drögen Dorfgemeinschaft als Fatum zweier junger Männer, die ihr Leben als Gefängnis empfinden und unbeholfen eine Weltflucht versuchen. Dem üblichen «Heile Welt»-Mythos des Heimatromans setzt der Autor hier seelische Ödnis in idyllischer Landschaft entgegen.

Ankerpunkt der düsteren Geschichte ist ein Bauernhof, in einem abseitigen Tal Oberösterreichs gelegen, über das in großer Höhe eine Autobahnbrücke gespannt ist, deren nicht abreißender Verkehrsstrom den permanenten Kontrast bildet zur dörflichen Ereignislosigkeit. Alexander und Jakob sehen für sich keine Zukunft auf dem im Niedergang befindlichen Hof der Eltern. Der Vater phantasiert von Geschäften, die sich als reine Luftnummern erweisen, vernachlässigt den Hof und verkauft heimlich nach und nach alles Land, am Ende auch das Vieh. Während der dreißigjährige Alexander nach einem religiösen Umweg schließlich Soldat wird und bei einem Blauhelmeinsatz im Kosovo mitwirkt, kann sich der halb so alte Jakob nach der Schule für keinen Beruf entscheiden und führt teilnahmslos den Hof weiter. Beide Brüder haben ein seltsam gestörtes Verhältnis zu Frauen. Alexander hat für einige Zeit eine Affäre mit der Frau seines Chefs, die seiner jedoch irgendwann überdrüssig wird. Seine verpasste große Liebe, wie er im Nachhinein schmerzhaft erkennt. Jakob gerät an Nina, die sehr bald schwanger wird, sie entfremden sich aber schnell und trennen sich ebenfalls. Das Figurenensemble wird ergänzt um einen fragwürdigen Freund Jakobs, der erst seine Nähe sucht und sich dann von ihm abwendet, am Ende sogar Suizid begeht. Der rückwärtsgewandte Großvater ist als Nazi zu Reichtum gekommen und ist finanziell unabhängig vom Hof. Er überrascht die Familie nach seinem Tod, weil er den Nachlass seiner geizigen Frau allein überlässt, die ihn einer rechten Partei vermachen will, womit die Familie endgültig leer ausgeht. Der latente Eskapismus schließlich wird durch die urchristliche Sektenführerin Elvira personifiziert, mit der Alexander früher ein Verhältnis hatte.

Die lähmende Sprachlosigkeit innerhalb der Familie, aber auch der wortkarge Umgang aller anderen Figuren miteinander ist ein typisches Merkmal dieser in Episoden aufgeteilten Erzählung. Über allem Geschehen lastet ein düsterer Schatten, komplementär dazu dominiert in den häufig eingestreuten Naturschilderungen Kälte, Schnee, Nebel, Regen, scharfer Wind. Erzählerisch ist dieser Roman ein Triumph der Langsamkeit, geradezu altväterlich in der Sprache und quasi in Zeitlupe wird hier die Geschichte der missglückten Seelenfluchten als beinahe schon psychopathisches Lehrstück vor dem Leser ausgebreitet. Zu lachen gibt es da rein gar nichts!

«Mir geht’s ja so schlecht!» «Warum geht’s dir so schlecht?» «Weil ich sauf.» «Und warum säufst du?» «Weil’s mir schlecht geht!» Die Lektüre hat mich unwillkürlich an diesen abgedroschenen Scherz erinnert. Beide Brüder sind keinesfalls lebensuntüchtig, sie scheitern nur immer wieder auf wundersame Weise an sich selbst, sie scheinen aus der Zeit gefallen. Weite Teile des Romans werden in Form des Bewusstseinsstroms erzählt, mit Fragezeichen an den Satzenden, und auch Dialoge der blutleeren, wenig sympathischen Figuren finden sich eher selten, es mangelt ihnen zudem entschieden an Empathie. Der auktoriale Erzähler lässt vieles ungesagt in seinem erzählerischen Labyrinth, und auch Plausibilität ist kein narratives Kriterium dieses trübsinnigen Plots. Dass verklausulierte Happy End aber beweist, dass dem Autor seine Geschichte selbst zu elegisch erschien, er hätte diesen Fauxpas sonst sicherlich vermieden.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by S. Fischer

Sieben Generationen Wahnsinn

Ich denke selbst

In Dänemark bekannt und erfolgreich, hat der dort renommierteste und zudem literarisch recht vielseitige Schriftsteller Svend Åge Madsen in Deutschland allenfalls einen Status als Geheimtipp unter den postmodernen Literaten. Für seinen letzten von insgesamt drei auf Deutsch erschienenen Romanen fand sich kein deutscher Verleger, im Interview hat er die Frage, warum das so sei, schnippisch mit «Fragen Sie Herrn Unseld» beantwortet. Schließlich wurde der Roman im Jahre 2000 unter dem Titel «Sieben Generationen Wahnsinn» dann von einem Schweizer Verlag herausgebracht. Der dickleibige Band gilt als Madsens wichtigster Roman, die Rezeption in Deutschland jedoch war und ist kläglich, ja geradezu beschämend. Inzwischen ist das Buch vergriffen, sein Autor weitgehend vergessen, – zu Unrecht, wie ich meine!

Bereits «Seven Ages of Madness», wie der englische Titel lautet, ist ein übermütiges Spiel des dänischen Autors mit seinem Namen. Als Signum steht die «Sieben» des Romantitels in der christlichen Zahlensymbolik für Geist und Seele, «Generationen» deutet auf die der Chronologie verpflichtete Erzählweise, «Wahnsinn» auf das Raum und Zeit missachtende, erzählerische Chaos. Globusroman nennt der kreative Autor seine in 39 Kapiteln erzählte Familiengeschichte, ein kühner Vergleich, bei dem er von der Projektion einer Weltkugel auf eine Ebene ausgeht mit den dabei zwangsläufig entstehenden Lücken, die auf den Roman bezogen einen narrativen Freiraum bilden für gedankliche Exkursionen. In sieben kursiv gedruckten kurzen Einblendungen stellt er wiederum diese spezielle Erzählform selbst in den Fokus und lässt den Leser teilhaben an seinen formalen Experimenten. Liegt doch deren Kernproblem darin, dass sich für einen Autor die Zeit immer in die gleiche Richtung bewegt, eine Aporie also, die Madsen durch kreative Dehnungen und Simulationen konstruktiv zu durchbrechen sucht. Ein virtuoses Spiel mit Zeitebenen mithin, bei dem sich seine Figuren dann immer wieder verdutzt außerhalb von Zeit und Raum wiederfinden.

Der Plot dieses üppigen Romans vom kollektiven Wahnsinn kann hier nur angedeutet werden, zu vielschichtig ist die sieben Generationen umfassende Lebensgeschichte der Familie Skonning im dänischen Arhus, beginnend im 17. Jahrhundert und bis in die Jetztzeit hineinreichend. Als Glöckner, Buchdrucker, Gelehrter, Schriftsteller, Musiker wird da über die Skonnings in Einzelschicksalen berichtet. So hat der fast blinde Hans Skonning gleich zu Beginn auf dem Turm der Dorfkirche Visionen vom Paradies, er sieht quasi Gott über die Schulter. Und schreibt all das gewissenhaft auf, was er sieht, der Kirche jedoch dürften seine Schriften nicht in die Hände fallen, er würde als Ketzer verurteilt.

Erzählt wird die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven, wobei in weiten Teilen die direkte Rede verwendet wird, bei der jeweils ein als Sidekick fungierender Gast der erzählenden Figur gegenübersteht. Diese Erzählweise ist immer wieder durch kurze Einschübe unterbrochen, in denen die Szene beschrieben wird, der Gast auf Fragen antwortet oder Einwürfe macht. Das ist ein exzellenter stilistischer Kniff, denn hier tritt ein realer Erzähler auf, dem der Leser sehr lebensecht zuhört. Und dabei gibt es viel zu schmunzeln, so wenn beispielsweise der Mystiker Swedenborg zitiert wird, der in seinen «Memorabilia» von einer Vision schreibt, «die ich nachts in der Stadt Aarhuuss hatte», wozu der wackere Erzähler lapidar anmerkt: «Mit Buchstaben hat er nicht gespart». Geradezu schwindelerregend sind die verschlungenen Wege durch die Jahrhunderte, atemberaubend die schrägen Einfälle des dänischen Autors, der seine Leser allerdings auch gewaltig fordert mit seinen oft überraschenden, oft abseitigen Reflektionen über die Unerbittlichkeit der vergehenden Zeit. «Ich denke selbst. Ich halte nichts von Religion» lässt er in einer Geschichte zwei als «Zeugen Jehovas» Verdächtige wissen. Man wünscht dem Roman Leser, die es ebenso halten!

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by btb Verlag

Weitlings Sommerfrische

Multiple Identität

In seinem verschiedentlich als Alterswerk apostrophiertem Roman «Weitlings Sommerfrische» beleuchtet Sten Nadolny das Problem menschlicher Identität mit Hilfe einer Zeitreise, hier sogar in beiden möglichen Varianten, zurück und voraus. Die Identität aber, um die es sich konkret handelt, die des Protagonisten dieser Geschichte, ist so stark autobiografisch inspiriert, dass sich unwillkürlich die Frage aufdrängt, ob die vom Autor gewählte Form der philosophischen Zeitreise in beide Richtungen für die Aufarbeitung der eigenen Biografie und für den beabsichtigten Erkenntnisgewinn beim Leser wirklich optimal ist.

In den ersten beiden der neun Kapitel dieser Geschichte berichtet ein auktorialer Erzähler von dem pensionierten Richter Dr. Wilhelm Weitling aus Berlin, der am Chiemsee in einem angemieteten Sommerhaus den wohlverdienten Ruhestand genießt. Bei einem Segeltörn mit seiner Plätte, einem zum Segelboot umgebauten Fischerkahn, gerät er in einen Sturm und kentert, ein Blitz schlägt in seiner Nähe ein. Im dritten Kapitel wechselt abrupt die Erzählperspektive, der sechzehnjährige Willy wird 1958 mit seinem manövrierunfähigen Boot im Sturm an das Ostufer des Chiemsees getrieben. «Wenn es Gott gäbe, hätte er bei dieser Rettung die Hand im Spiel gehabt». Der das denkt ist aber nicht Willy, «sondern nach wie vor der alte Mann aus Berlin, aber für andere unsichtbar, Geist ohne Physis, gekettet an einen Sechzehnjährigen aus Stöttham bei Chieming». Das Trauma durch den Blitz hat Weitling in die Vergangenheit zurückgeschleudert.

Was folgt ist eine Zeitreise an der Seite von Willy als Pennäler, den er unsichtbar mehrere Monate lang durch sein Leben begleitet und dabei wieder auf seine Eltern trifft, auf seine Jugendliebe. Er kann aber keinen Kontakt zu ihnen aufnehmen und bleibt passiver Beobachter des Geschehens. Mit der Zeit weicht Willys Leben von Weitlings Erinnerung immer mehr ab, besonders gravierend erscheint dabei dessen Berufswahl, denn Willy will Schriftsteller werden, nicht Volljurist. Als Weitling glaubt, im Chiemsee die goldene Patrone gefunden zu haben, mit der General Patton 1945 persönlich den Führer erschießen wollte, die ihm aber dort aus der Hosentasche gefallen war und im See versunken ist, worauf hin er wütend in den See uriniert habe, da befördert das ungestüme Lachen über diese kuriose Anekdote Weitling wieder in die Gegenwart. Zu seinem Erstaunen aber in die abweichende Vita von Willy, er ist nicht mehr Richter und kinderlos, sondern Schriftsteller und inzwischen sogar Großvater, seine Identität hat sich geändert. Als zwei Jahre nach seiner Rückkehr aus der Vergangenheit seine Enkelin ihm nachts als Geist erscheint, als 68Jährige aus dem Jahr 2072 in die Gegenwart des Jahres 2012 zurückgekehrt, unterlässt er es bewusst, sie über die Zukunft auszufragen.

Nadolny erzählt seine phantastische Geschichte mit ihrem komplizierten Szenario in einem ruhigen, fast schon betulichen Ton mit einfach strukturierten Sätzen. Derart bedächtig, als wolle er «Die Entdeckung der Langsamkeit», den Titel seines erfolgreichsten Romans also, hier stilistisch tatsächlich mal realisieren. Das gemächliche Tempo des Plots nimmt gegen Ende geringfügig an Fahrt auf, ohne je thrillerartig zu werden, wobei die rätselhafte Geschichte über eine multiple Persönlichkeit durchaus selbstkritisch und mit unterschwelliger Ironie erzählt wird. Man kann diese «Versuchsanordnung» zur eigenen Identität, wie Nadolny selbst sie bezeichnet hat, als angenehm uneitle Autobiografie lesen, in der er mehr oder weniger sinnreiche philosophische Einsprengsel aus seiner eigenen Gedankenwelt verarbeitet hat. Der große Lesegenuss wollte sich bei mir trotz allem aber nicht einstellen, zu absurd, zu verkopft empfand ich diese Geschichte, zu wenige Emotionen weckend oder gar Empathie aufbauend. Zeitreise und multiple Identität als Vehikel einer Autobiografie zu benutzen erscheint mir nach dieser Lektüre tatsächlich suboptimal.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Aquarium

Unwiederbringlich

Der in Alaska geborene Schriftsteller David Vann thematisiert auch in seinem zweiten, auf Deutsch erschienenen Roman «Aquarium» wieder gestörte Familienverhältnisse, die er erzählerisch hart, fast brutal zuweilen, aufdeckt und demaskiert, unübersehbar beeinflusst durch eigene Lebenserfahrungen. Wobei er hier, anders als bisher, der Düsternis seiner abgründigen Geschichte durch ein unerwartetes Ende überraschend eine eher versöhnliche Note gibt. Wie stilsicher der amerikanische Autor vorgeblich zu schreiben vermag, ergibt sich aus seinem Statement in der Financial Times vom 22. April 2017, er überarbeite keine Zeile seines Manuskriptes. Man darf als stilistisch orientierter Leser, zu denen ich mich unbedingt auch zähle, also gespannt sein auf das sprachliche Niveau dieses Romans.

Die problematische Familie besteht hier aus einer allein erziehenden Mutter Mitte dreißig mit ihrer zwölfjährigen Tochter Caitlin, deren Lieblingsbeschäftigung schon im Romantitel steckt, sie hat eine Dauerkarte für das Aquarium von Seattle. Dort wartet sie nach der Schule oft stundenlang auf ihre Mutter, die sie abends mit dem Auto abholt. Bei ihrem schlecht bezahlten, harten Job im Hafen aber, – anstrengende Verladearbeiten im Freien zwischen Containern und Kränen -, muss die Mutter häufig länger arbeiten und kommt oft erst spät zum Aquarium. Die beiden leben in prekären Verhältnissen, in einer heruntergekommenen kleinen Wohnung ohne jeden Komfort. Aber sie sind glücklich miteinander, sie lieben sich inniglich. Zu Beginn des Romans taucht ein neuer Lover der Mutter auf, Steve, ein lustiger, Mundharmonika spielender IT-Experte. Im Aquarium lernt das junge Mädchen schließlich einen alten Mann kennen, der ihre Begeisterung für die Fische teilt, stundenlang stehen die Beiden nun jeden Nachmittag dort und beobachten staunend die unglaubliche Vielfalt der Meeresbewohner. Als die Mutter von dieser neuen Freundschaft erfährt, wittert sie einen Kinderschänder in dem alten Mann und schaltet die Polizei ein.

Unglaublich raffiniert rollt David Vann hier ganz allmählich eine abgründige Familiengeschichte vor dem Leser aus, die zwanzig Jahre zurückliegt und deren bisher niemals verarbeitete, fürchterliche Tragik nun umso schlimmer wiegt. Man kann das damals Geschehene nicht rückgängig machen, man kann das Ungeheuerliche auch niemals verzeihen, darin liegt das Beklemmende von Vanns Story, ein unlösbares Dilemma seiner Protagonisten. Das aus der Ich-Perspektive der Zwölfjährigen schonungslos erzählte Ungeheuerliche wird immer wieder durch berührende Szenen der kindlich naiven Begeisterung für das Aquarium aufgebrochen. Dem besonders in der zentralen Schlüsselszene brutal zum Ausbruch kommenden Wutexzess, alles beherrschendes Element dieser spannenden Geschichte, werden damit also sanfte Töne abmildernd gegenüber gestellt.

Sprachlich ist der Roman den verbalen Ausdrucksmitteln seiner kindlichen Ich-Erzählerin angepasst, mit leicht lesbaren, kurzen, einfach strukturierten, gleichwohl metaphernreichen Sätzen. Angenehm gewürzt zudem mit einer kräftigen Prise Ironie, die vor allem in den stimmigen Dialogen zum Ausdruck kommt. Die wenigen Figuren sind glaubwürdig angelegt, es entsteht schnell Empathie zu ihnen. Lobenswert ist auch die scharfe Beobachtungsgabe des Autors, die sich besonders in den Aquarium-Szenen artikuliert. Der durchaus antiken Tragödien gleichende, familiäre Konflikt um Schuld, Vergebung, Wiedergutmachung, um Aufopferung und Liebe wird in diesem Roman bewundernswert locker, fast lässig verbalisiert. In bester amerikanischer Erzähltradition unterhaltend, immer zweckmäßig, geradlinig, ohne Schnörkel, ohne Pathos. Gleichwohl steuert diese Geschichte zielsicher auf eine Katharsis hin, -«Unwiederbringlich» lautet das fontanesche Stichwort -, auf ein kleinbürgerliches Idyll auch noch, womit David Vann denn doch recht konventionell bleibt, ein zeitgenössischer Autor also, der sich nichts traut, kein postmoderner.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Hargard

Symptom der Schwellenzeit

Als jüngstes der fünf Prosawerke des Schweizer Dramatikers und Schriftstellers Lukas Bärfuss erschien 2017 der Roman «Hagard», dessen kryptischer Titel auf die Falknerei verweist und einen schwer abzurichtenden Beizvogel bezeichnet. Erzählt wird die Geschichte eines urplötzlich zum Stalker mutierten Immobilienmaklers, der Zeit und Raum vergessend einer fremden jungen Frau in pflaumenblauen Ballerinas folgt und damit unentrinnbar in eine zunehmend bedrohlicher werdende Spirale des existentiellen Verfalls gerät. Als Szenario des Untergangs ein rätselhaftes Phänomen, dem Bärfuss in wechselnder Konstellation auch in anderen seiner Werke nachspürt.

Dramaturgisch geschickt steigert der Autor die Spannung seines Plots, indem er den zunächst harmlos scheinenden, männlichen Jagdinstinkt seines Helden immer mehr in Richtung eines beängstigenden Verfolgungszwangs fortentwickelt. Im Gedrängel einer Schweizer Großstadt folgt der Endvierziger aus einer erotisch inspirierten Laune heraus besagter junger Frau, nachdem er in einem Café vergeblich auf einen Kunden gewartet hatte. Was als Spiel mit dem Zufall beginnt, bei dem jederzeit ein vorschnelles Ende möglich bleibt, entwickelt sich hier allmählich zu einer Flucht aus dem Terminkalender, zu einer Obsession, in die sich Philip zunehmend rigoroser hineinsteigert. Immer absurder, immer surrealer reihen sich die Stationen dieser Verfolgungsjagd aneinander, gerät der manisch getriebene Held in groteskere Nöte. Er verwahrlost zusehends, irrt als Schwarzfahrer ohne Geld schmutzig und hungrig, zuletzt mit nur noch einem Schuh, seiner namenlosen Lichtgestalt hinterher. Er hat sie nicht angesprochen, und trotz aller Bemühungen hat er bisher noch nicht einmal ihr Gesicht gesehen, immer wieder sieht er sie nur von hinten oder aus weiter Ferne, – eine deutlich allegorische Anspielung.

Diese für den Helden ruinöse Hatz spiegelt in ihrer Sinn- und Ziellosigkeit treffend unsere gesellschaftliche Realität wieder. Dem Zeitkolorit dienend sind beiläufig diverse aktuelle Ereignisse in die Geschichte eingebaut, die Vogelgrippe zum Beispiel oder die Krimkrise. Geradezu leitmotivisch wird häufig auch das ungeklärte Verschwinden der Boeing der Malaysia Airlines am 8. März 2014 im Pazifik erwähnt. Der ebenso spannende wie bedrückende Roman stellt eine scharfsinnige Zivilisationskritik dar, in der aufgezeigt wird, wie durch einen fragwürdigen Impuls ein den gesellschaftlichen Notwendigkeiten perfekt angepasstes Leben unversehens total aus der Bahn geworfen werden kann, womit auf beängstigende Weise auch viele unserer fragwürdigen Gewissheiten zerstört werden. Die anderthalb Tage dauernde Story jedenfalls endet, wie nicht anders zu erwarten nach der erzählerischen Tonlage, tragisch für den Antihelden.

«Seit viel zu langer Zeit versuche ich, Philips Geschichte zu verstehen» lautet der erste Satz des Romans, – so manchem Leser wird es ähnlich ergehen! Verstörend fand ich die wechselnde Erzählhaltung, die leicht durchschaubar mit der scheinbaren Ahnungslosigkeit eines voyeuristischen Autors kokettiert. Einerseits nämlich schwadroniert da ein kulturkritischer Ich-Erzähler mit allerlei fragwürdigen Einlassungen, – recht betroffen scheinend -, über soziale Wirklichkeit, andererseits wird mit kritischer Distanz im Er-Modus von der fixen Idee eines vermeintlich Unbekannten erzählt, von dessen Geschick dann eher satirisch gefärbt berichtet wird. Die Abfolge der geisterbahnartigen Szenen jedenfalls erscheint slapstickartig aneinander gereiht, eine unpassende Leichtfüßigkeit, mit der das durchaus ernste Anliegen des Romans immer wieder störend konterkariert wird. Stilistisch zweifellos auf hohem Niveau, gelingt es Lukas Bärfuss leider nicht, seine literarische Intention halbwegs plausibel mit der Wahrheit in Einklang zu bringen, wenn er über die Brüchigkeit des modernen Lebens schreibt, – Symptom einer typischen Schwellenzeit übrigens, nach Einschätzung des streitbaren Autors.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Wallstein Göttingen