GNADENFRIST von Alfred Gong
Als Vorwort zum Gedichtband „Gnadenfrist“ von Alfred Gong steht der Ausspruch eines lndianerhäuptlings: „Was ist schon ein Leben? / Ein winziger Schatten nur, der übers Gras huscht / und sich in den Sonnenuntergang verläuft.“
Von dieser poetischen Sentenz gelangt Alfred Gong in und mit seinen Gedichten zu einer konkreten, persönlichkeitsbezogenen Aussage schmerzlicher Gewißheit: ,,Ausgesetzt in einer fremden Zeit / … läuft die Gnadenfrist ab …,,, denn „der abruf ist unterwegs.“
Das gilt für jeden; aber in einem besonderen Maße und in einer bestimmteren Weise für einen aus dem auserwählten (!) Volk, einen Juden. Für einen, dessen Schicksal schon lange vor seiner Geburt bestimmt, dessen Weg längst vorgezeichnet ist. Was folgt, ist nur mehr der Ablauf. Bestimmend ist die Verheißung, das Schicksal, der Tod. Dazwischen die ,Gnadenfrist: ,,Ohne Uhr, ohne Ausweis / wies man uns ein ins Heim Vogelfrei. / Sie strichen uns aus im Register. / Wir trugen uns auf: Keine Worte! / Sie haben gelobt, nicht zu stören. / Man weiß: uns darf nur wecken / der Tod.“
Dies als Metapher für Leben, für Schicksal; für alle, und im besonderen doch für die Juden. Dies ist die Welt der Verheißung und ihrer Erfüllung. Der Einzelne sowie alle unentrinnbar ausgeliefert. Kein Exil, keine Gnadenfrist täuscht darüber hinweg. Aus dem Wunschbild einer gewollten Wirklichkeit, aus der Einbildung eines sich selbst beruhigenden Sicherheitsgefühls, unauffindbar, un(an)greifbar zu sein – ,,Ich habe mich abgesetzt / ohne Spur, ohne Marke …“ – treten hinter diesem Spiegelbild der eigenen Illusion von Gerettsein immer wieder als Befürchtung und schließlich als mahnende Gewi3heit die Erkenntnis und das Bewußtsein des Verlorenseins, der Unausweichlichkeit, Opfer zu sein und zu werden, hervor, einzig noch von Sehnsucht beseelt, die Zeitspanne zwischen Bestimmung und ihrer Erfüllung, die Gnadenfrist, zu nützen. – ,,Was bleibt uns übrig, als / einmal noch das das Salz und die Süße / des nächsten Leibes zu kosten, / bevor man uns stellt?“ Dies ist die Welt der Erkenntnis: Leben ist Geopfertwerden. Und dies schon wie schicksalhaft im voraus bestimmt.
Auch so schon beim Vater: ,,Gefreiter der k. und k. Infanterie, / mit zwei Schußwunden ausgezeichnet am lsonzo, / kehrte heim in seine an Rumänien verlorene Heimat… Arbeitete sechzehn Stunden im Tag… Als ‚Ausbeuter’ von den Sowjets im Viehwaggon / verladen, vier Wochen durch den Orlogsommer 41 /… verlor seine Brille im Eis / und starb am Nervenfieber, wimmernd im tauben Schnee / von Novosibirsk …“
Der Sohn: „,In die Welt ausgestoßen als Schrei“ (1920), in seinen Geburtsort Czernowitz, in einen Schmelztiegel verschiedenster Völker, Religionen, Sprachen und Kulturen; in die Stadt eines Gregor von Rezzori, aber auch in eine, in der man ,,Paul Celan mit Trakl unterm bei den Tulpen begegnen“ konnte. Dort ging er zur Schule und, bevor er noch lesen konnte, lehrte man ihn, „daß es süß sei fürs Vaterland zu sterben … später mehr nutzloses Zeug: / die Zehn Gebote zum Beispiel … / Dazu sechs Sprachen, darunter drei tote, / auch die Kunst des Sophismus, Dialektik, den Talmud – „ doch wußt er „später kein Sprüchlein / um die Mörder versöhnlich zu stimmen…“ Dann Flucht vor den Mördern, dann Wien, dann weiter in die USA; seit langem in New York, integriert in der Fremde.
Und noch immer auf der Suche nach Heimat. Sie wird zum Bild seiner Kindheit, zur Gewißheit seiner Verankerung im Dort und im Damals: „Die Steine gedenken meiner …“ , Erinnerung an eine Heimat, in der man auf die Frage „was Sterne sind“, den Kindern zur Antwort gab: „Sind die Seelen von Opa und Oma / und allen Lieben, die auf dem jüdischen / Friedhof von Czernowitz ruhn.“ Und wo ,,Rabbi Ezra blinzelte im Fenster / und wußte: Heut seid ihr Kinder – / morgen werdet ihr Juden sein.“
Und das Jetzt, und die Zukunft und das, was bleibt an Erwartung? – „Angepflockt, anbequemt, ansässig / … unbeteiligt, unbekümmert, ungerührt Sinnlos, ohne Berufung, ohne Aussicht auf ein Auferstehn.“ Die Resignation, die bereits auf ein unerträgliches Maß reduzierte Anteilnahme am Leben, die in der Frage an sich selbst zum Ausdruck kommt: „…. was hast du noch zu gewärtigen? / Wie schlägt man dann seine Zeit / bis zur Abberufung tot? … „ schlägt noch einmal ein Sichaufbäumen als Ausdruck und zum Zeichen der Selbstachtung um: ,,Zerschlag die Uhren, die Spiegel, den Trug“, um freilich darauf kraftlos in Wehmut zu versinken, gepeinigt von einer Sehnsucht weil mit dem Wissen um ihre Unerfüllbarkeit: ,,Einmal sagen dürfen: September – / und meinen alle September / von einst und dereinst …“
Jetzt ist der Punkt im Leben erreicht, wo ,,hinter schneeblinder Luke / legendenweiß / deine Kindheit …“, erscheint. Dann ist es Zeit, die die Hoffnung zu suchen, die Liebe. Und dazu zu mahnen: ,,Liebt, liebt endlos, ohn Erbarmen .. .“! Denn dann, wenn ein Mensch, ein Vertriebener, Getriebener sagt: ,,Alt bin ich und vergessen / und ohne Feinde geblieben …“, beginnt der ,,Schatten des Schneefalls!“ Und mit ihm vielleicht die Erlösung.
Alfred Gong: „Gnadenfrist in einem fremden Land“, Band 15 der Reihe „Lyrik aus Österreich“, herausgegeben von Alois Vogel und Alfred Gesswein. Verlag G. Grasl, Baden bei Wien, 1980.
Peter Paul Wiplinger
Wien 1980