Sprichst Du mit mir

sprichst-du-mit-mirsprichst du mit mir mit einem nicht gemachten nicht sichtbaren fragezeichen am ende dieses satzfragmentes oder nur lapidare feststellung mit einem nicht ausgesprochenen anschlußwort anschlußsatz als ergänzung beginnend mit einem dann oder als eine andere fragestellung mit dem wörtchen wann davor wann endlich sprichst du mit mir und worüber ist gleich angefügt nämlich über die heimat über die liebe über den tod über erlebtes über bekommenes über verlorenes über brüchiges über sich wandelndes über endgültiges versuche zur selbstsuche und selbstfindung bisweilen eine begegnung mit sich selber oder worte aus diesen begegnungen herausgeboren und zu einem gedicht geformt in einem „denken“ jenseits sprachlicher begrifflichkeiten bilderwelt gedankenwelt empfindungswelt eingeschrieben in erinnerung in das gedächtnis als bausteine der poesie gedichte als persönliche notate empfindungen erkenntnisse gefühle gefühlsstrukturen befindlichkeiten momentane vorübergehende jetztgefühle einbettung in eine gefühlswelt in die des eigenen ichs diese aber immer wieder infragegestellt durch das eigene ich oder durch etwas außerhalb von ihm aber auf dieses ich wirkend einwirkend spuren hinterlassend wo doch alles zugeich eine einzige spurensuche ist das leben die liebe nur der tod ist das letztlich endgültige, das einzig gültige überhaupt vielleicht mag sein oder auch nicht wer weiß es schon das gedicht als aufbewahrungsort von heimat und liebe doch am abgrund der tod das alles spüren und dann spuren legen und hinterlassen feststellungen machen von einem vorübergehenden hier- und jetztsein in sich wandelnden gefühlen und in vermeintlichen erkenntnissen denn gesichert ist nichts eben weil alles so ist wie es ist vermeintlich oder auch nicht und immer wieder nichtwissen unsicherheit schweigen antwortlosigkeit auch fremdsein und heimatlosigkeit im eigenen leben manchmal steigt sehnsucht auf sehnsucht nach unbekanntem nicht mehr erwartetem wird zur melancholie zur sanften trauer um das verlorene auch um das nie erlebte um das nie erreichte eine sehnsucht wie eine solche nach einem anderen ich nach einem anderen du nach einem anderen leben nach einer anderen welt denn so steht es an einem gedichtende geschrieben „dort ist das land das ich in diesem leben nie erreicht“

ein schmales gedichtbändchen sparsam konzentriert schön nur auf jeder zweiten seite ein gedicht die vorhergehende oder nachfolgende seite unbedruckt unbeschrieben unbenutzt und doch da in ihrer funktion der trennung der texte voneinander als ein zeichen des leeren raumes für jedes einzelne gedicht das freiraum braucht für die dichterin für die poesie 34 gedichte 19 skizzenhafte bleichstiftzeichnungen detailreich symbolhaft liebevoll 3 seiten anhang mit information und ikonographie poesie und zeichengebung zeichensprache

ausgelesen das buch eingetaucht in worte und bilder ins schweigen in den leerraum mitten in und zwischen einer begegnung in die spurensuche auch in die nach dem eigenen ich in aufzeichnungen die von einem damals und dort berichten von einem hiersein und jetzt von einem das ist und einem das nicht ist oder nicht mehr oder weil das überhaupt unerreichbar weil einem nicht gegeben ist sondern verweigert wird ohne grundangabe die frage nach der schicksalhaftigkeit des lebens nein das nicht so sehr weil man um die antwortlosigkeit weiß aber man nimmt das schicksalhafte doch zur kenntnis auch weil es manchmal schmerzt so im ganzen und weil man diesen schmerz bisweilen oder als lebensbegleitendes grundgefühl spürt „das herz schmerzt an der kette“

ich lege das schmale buch zum wievielten mal nun schon zu ende gelesen aus den händen es ist abend draußen ist es schon dunkel spätherbstzeit auch in mir mein blick hinauf zum weiß der zimmerdecke der durch die vorgegebene fläche begrenzte blick auch mein leben fast zu ende man weiß es man spürt es wo sind die großen einst mächtigen gefühle ich höre nicht mehr den wind rauschen in mir kein sturm aber auch keine völlige ruhe in mir irgend etwas unbenennbares aber mir bekanntes ist in mir vielleicht auch angst abgeschiedenheit was ist mit diesen gedichten und mir denke ich was und wie sprechen diese gedichte zu mir frage ich mich und finde keine klare eindeutige antwort weil es sie nicht gibt vieles bleibt chiffre wegen mir oder wegen dem gedicht das ist stets so in der poesie in ihrer bedeutung voll ausschöpfen kannst du sie nie denke ich aber ich weiß wie ich diese gedichte gespürt habe denn plötzlich sage ich zu mir „so wie ein hellgraues seidentuch das lautlos niederschwebt auf mich sind diese gedichte“ so sanft sind sie so lautlos und schön das schweigen hat darin seinen raum

Susanne Ayoub: „Sprichst Du mit mir“. Gedichte über die Heimat, über die Liebe, über den Tod.Mit Zeichnungen vonRima Al-Juburi. Löcker Verlag, Wien, 2016. 12,5 x 20,5 cm Broschur, 93 Seiten | € 19,80, ISBN 978-3-85409-800-3

Peter Paul Wiplinger – Wien, Dezember 2016

 

 

 


Genre: Lyrik
Illustrated by Löcker Wien

Meschuggene Geschichten

MESCHUGGENE GESCHICHTEN – die hundert besten jüdischen Witze

Wie erfindet, wie erzählt man, wie nimmt man auf jüdische Witze fünfzig Jahre nach Auschwitz, nach dem Holocaust, nach dem rassistischen, industriellen Massenmord an den Juden, nach der planmäßigen Vernichtung jüdischen Glaubens, jüdischen Lebens, jüdischer Kultur in Europa? Wie amüsiert man sich daran, wie lacht man – wieder – darüber? Das sind Fragen, die in diesem Buch weder aufgeworfen, noch beantwortet werden. Dies muß jeder selber für sich tun, mit oder ohne Lektüre dieses Buches. Jedenfalls gibt es diese Witze – wieder, als Lebenszeichen, und das ist gut so. Der Autor Georg Pressburger, selber ein österreichischer Jude, der sich hinter diesem Pseudonym verbirgt, Überlebender der NS-Vernichtungsmaschinerie, hat diese hundert jüdischen Witze gesammelt und nacherzählt. Und er tut dies ohne jedes Pathos, ohne Larmoyanz, ohne berechnende Seitenblicke auf die Tragik der eigenen Geschichte sowie der des jüdischen Volkes. Nichts ist also peinlich hier, es darf gelacht werden. Lachen ist ein Akt der Befreiung. Und der Witz ist ein Mittel dazu., ein gutes noch obendrein. – Nur das allein wäre zu wenig, an Motivation und Effekt. Da steckt mehr dahinter, hinter diesem Buch. Der Witz ist mehr als nur Anlaß zum Lachen, mehr als nur Auslöser dazu; hier ganz besonders. Die Witze hier sind Relikte einer untergegangen, weil vernichteten, ausgelöschten Welt und ihrer Geistes- und Alltagskultur; sie sind aber auch Zeichen, daß etwas am Leben geblieben ist, ja vielleicht wieder zu neuem Leben erwacht. Der Kohn, der Grün, der Blau – sie wandern durch die Welt des Geschäfts, der Politik, des eigenen Lebens. Und sie hinterlassen Spuren. Sie sind verwickelt in meschuggene Geschichten, die man von ihnen erzählt. Sie versuchen sich in ihrer und in einer neuen, fremden Welt zurechtzufinden. Und irgendwo gibt es immer wieder einen Rebbe, der milde und gütig, weise und geheimnisvoll lächelt. Und in diesem Lächeln ist das Judentum, ist es lebendig und am Leben geblieben. Waren das Lächeln und der Witz, waren meschuggene Geschichten stärker als Gewalt und Tod.

 


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Rötzer Verlag Eisenstadt / Burgenland / Österreich

Ein ungarischer Herbst

Ein ungarischer Herbst

Ungarn, Herbst 1956. Der Volksaufstand und seine blutige Niederschlagung durch Truppen der Sowjetarmee und der Warschauer-Pakt-Staaten. Gleichzeitig die Suezkrise, die militärischen Aktionen von Großbritannien, Frankreich und Israel gegen Ägypten. Der Weltfrieden in großer Gefahr, gerettet und erhalten nur durch die Interessensaufteilung und lnteressenspolitik der Großmächte, der beiden übriggebliebenen Großmächte vor allem – USA und UdSSR. Dazwischen das eigentlich wirkungslos bleibende, politische ,,Spiel“ einzelner Staaten, Staatsführer, Regierungen. Und die einzelnen Menschen, Handelnde und Leidende im Ereignisprozeß der Geschichte, zielbewußt oder orientierungslos, hoffnungsvoll oder verzweifelt, am Ende – wie immer – die Opfer; die sinnlosen Opfer. Marionetten, die zerbrochen werden, von der Macht, von den Kräften der Geschichte; ob sie nun Imre Nágy oder Eva heißen in diesem Roman, in dieser literarischen Konstruktion aus Fiktion und Wirklichkeit des jugoslawisch-serbischen Autors Ivan lvanji, der nun in Österreich lebt.

Die Geschichte, die erzählt wird, ist einfach. Ein noch unerfahrener, jugoslawischer Sportjournalist fährt ein zweites Mal nach Ungarn, eigentlich nur, um seine Sommerliebe Eva wiederzusehen. Als der Volksaufstand losbricht, gerät auch er in den Strudel der Ereignisse, wird er mit entscheidenden politischen Fragen und Positionen konfrontiert, wird er zum Zeugen der Revolution beim Angriff der Aufständischen, aber auch ihrer Lynchjustiz an den Geheimdienstleuten als den Handlangern eines verbrecherischen Regimes. Und er wird zum Mitwisser und kleinen, aber wichtigen Mitakteur in diesem Drama der Weltpolitik, wenn auch nur für einen Augenblick, als er mit anderen jugoslawischen Journalistenkollegen eine wichtige Nachricht des ungarischen Kommunistenführers János Kádár an Marschall Tito weiterleitet, die später für dessen Geheimgespräch mit Chrustschow auf der Insel Brioni von Bedeutung und somit für die Zukunft Ungarns mitbestimmend ist. Für einen – für diesen -Augenblick tritt er aus der Anonymität seines Ich-Seins heraus in das Licht der Geschichte, der Weltgeschichte; so glaubt er, so fühlt er. Aber am Ende bleiben doch nur die offenen Fragen und der bittere Geschmack im Munde. Was war dieser Aufstand, diese Revolution? Und wer war Eva – dieses Mädchen, seine Sommerliebe, diese Aufständische, die sich am Ende erschießt?

Vierzig Jahre nach der Ungarnrevolution von 1956 und Ihrer Niederschlagung erzählt der Autor und Zeitzeuge Ivan lvanji diese Geschichte, fügt er Bild um Bild zu einem historischen Kaleidoskop zusammen, übermittelt er genau und sorgfältig recherchierte Fakten, erstellt er ein lebendiges Bild der Wirklichkeit. Die Frage nach der Wahrheit kann auch er nicht beantworten. Das kann niemand.

Ivan lvanji: Ein ungarischer Herbst. Roman. Picus Verlag, Wien, 1995, 234 Seiten, öS 298,–

Peter Paul Wiplinger
Wien, 7.11.1995


Genre: Erinnerungen
Illustrated by Picus Verlag Wien

Die Roma von Oberwart

„Die Roma von Oberwart“ lautet der Titel eines in der edition lex liszt herausgegebenen Buches von Helmut Samer, das mit Unterstützung des Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus und der Kulturabteilung beim Amt der Burgenländischen Landesregierung erschienen ist und zur Geschichte und aktuellen Situation der Roma in Oberwart Stellung bezieht.

In einzelnen Kapiteln, die wiederum in thematische Gruppierungen unterteilt sind, wird sehr übersichtlich und anschaulich einerseits im Rückblick die Geschichte der burgenländischen Roma dargelegt, im anderen Teil, der sich mit der gegenwärtigen Situation – vorallem nach dem Attentat vom 4. Februar 1995 – beschäftigt, das aufgezeigt, was die burgenländischen Roma durch eigene Initiative und engagierte Tätigkeit für sich selbst erreicht haben; denn die nach dem Attentat von österreichischen Spitzenpolitikern versprochene Hilfe von außen war weder sehr groß, noch wirklich engagiert. Das war mehr ein Lippenbekenntnis und einmal mehr ein Akt der politischen PR-Selbstdarstellung denn eine Korrektur der eigenen Versäumnisse und Defizite. Anerkannt wurden die Roma in Österreich als Volksgruppe ja ohnedies erst 1993, also erst ein halbes Jahrhundert nach dem Holocaust, dem ein Großteil der Volksgruppe, ja des Roma-Volkes in Europa überhaupt zum Opfer fiel.

Die Geschichte der burgenländischen Roma wie auch der Roma und Sinti anderswo war und ist eine Geschichte der Unterdrückung, der Verfolgung, der Verweigerung und Verletzung von Menschenrechten. Ausgrenzung war das Mildeste, was den „Zigeunern“ passierte und noch immer passiert; hier und anderswo. Und sprach man von Integration, von „Assimilierung“, dann bedeutete dies – seit den Zeiten Kaiserin Maria Theresia’s – Zwangsmaßnahmen mit dem Ziel, die „Zigeuner“ zu disziplinieren, zu „zivilisieren“, d.h. ihnen die Kultur und Sprache des Mehrheitsvolkes aufzuzwingen und ihnen ihre eigene zu verbieten, zu nehmen, auszurotten.

Dabei handelte es sich bei den Roma um keine Immigranten im heutigen Sinn; denn sie waren bereits vor Jahrhunderten in ihre Siedlungsgebiete eingewandert und lebten schon lange Zeit mit – besser gesagt neben – dem Mehrheitsvolk und seiner Kultur; hatten sich auch weitgehend angepaßt, was die Umgangssprache in der Öffentlichkeit betraf, sprachen diese und auch andere Sprachen; denn sie reisten viel herum, über die Grenzen hinweg. Sie begriffen sich nicht als Staatsbürger, sondern als Zugehörige zu ihrem Volk und ihrer eigenen jahrhundertealten Tradition und Kultur. Vor langer Zeit waren sie aus Indien nach Europa gekommen, was man ihnen auch heute noch ansieht. Denn wenn man zum Beispiel einen burgenländischen Roma in Wien sieht, der den breitesten Dialekt spricht und vielleicht gar nicht mehr so gut sein Romanes, so schaut der vielleicht so aus, als wäre er gerade aus Kalkutta oder Bombay gekommen, so dunkel kann seine Hautfarbe sein. Vielleicht ist es allein das – dieses äußerliche Anderssein – daß er von vielen als Fremder, als Außenstehender angesehen und als solcher behandelt wird, weil er und seinesgleichen – „überhaupt solche Leute“, wie manche aus dem Mehrheitsvolk oft sagen – „mit uns eigentlich nichts zu tun haben“.

Schon ab dem 16. Jahrhundert sind die burgenländischen Roma aus Zentralungarn ins Gebiet des heutigen Burgenlandes eingewandert; genauso wie die Burgenlandkroaten vom kroatischen und dalmatinischen Küstenland, vom Norden Bosniens sowie vom Donaugebiet Slawoniens, die man ebenfalls gerne aufgenommen hat, weil viele Dörfer nach dem Dreißigjährigen Krieg und nach den Türkeneinfällen ausgestorben waren. Aber kaum hatten sich die Roma niedergelassen, auf ihre Weise mit ihren Pferdewagen, wurden sie auch schon wieder da und dort vertrieben. So ordnete zum Beispiel Kaiser Karl VI an, daß „die Zigeuner und jegliches liederliche Gesindel in Österreich“ ausgerottet werden sollten und daß aufgegriffene Roma mit Brandmalen auf dem Rücken zu kennzeichnen seien und sie geköpft werden sollten, wenn sie wieder zurückkämen. Wenig später (1726) steigerte er sich sogar noch, indem er eine Verordnung erließ, derzufolge alle männlichen Zigeuner hingerichtet sowie Frauen und Kindern ein Ohr abgeschnitten werden sollte, so man ihrer habhaft würde. Kaiserin Maria Theresia hingegen verfolgte eine andere , eine „humanere“ Politik. Sie wollte aus den Zigeunern „ordentliche“ und „nützliche“ Bürger machen; dies natürlich mit Zwangsmaßnahmen. So verfügte sie durch Verordnungen zwischen 1758 und 1773 eine „Zivilisierung“ und „Domicilierung“ der Zigeuner – sie sollten ihre alte Lebensweise aufgeben, sich (als „Neocoloni“/“Neubauern“) niederlassen und ein Handwerk lernen – was mittels eines repressiven Umerziehungsprogrammes erreicht werden sollte. In der Praxis bedeutete dies ein Verbot der eigenen Sprache und Kultur, Kindeswegnahme, Heiratsverbot unter Zigeunern, Zwangsansiedlung.

Nach der Regentschaft Josef II, der die zwanghafte Assimilierungspolitik seiner Mutter noch verschärft fortführte, gab es eine längere Periode der Beruhigung, während der sich die Roma innerhalb einer begrenzten Duldung erholen konnten, was zu einem Anwachsen ihrer Population, zur Seßhaftigkeit und zur Vergrößerung der „Zigeunerkolonien“ am Rande der Dörfer beitrug. Nachdem die erwachsenen männlichen Roma im Ersten Weltkrieg patriotisch ihr Leben für Gott, Kaiser und Vaterland eingesetzt und in vielen Fällen auch verloren hatten – „geopfert“ nannte man das – und sich in feindlichen Heeren auch gegenübergestanden waren, begann eine Phase neuer Repressalien durch behördliche Reglementierungen, welche die begrenzte Freiheit der Roma wiederum weiter einschränkte. Man sprach im Amtsdeutsch nun von „Zigeunerbanden“, derer man Herr werden müsse. Mit der Angliederung des Burgenlandes an Österreich kamen 1921 auch einige tausend Roma zu Österreich. Man versuchte nun, alle Roma personaldatenmäßig zu erfassen, sie mußten sich fotografieren und registrieren lassen. Seit 1928 führte das Bundespolizeikommissariat Eisenstadt eine „Zigeunerkartei“, in der rund achttausend Roma namentlich und mit Fingerabdrücken verzeichnet waren. Eine perfekte Vorarbeit war also damit geleistet für den Zugriff der späteren NS-Schergen und den rassistischen Massenmord an den Roma im Holocaust. Massive Propaganda und der aufblühende Nationalismus, die Begeisterung für das völkische Deutschtum taten das Ihre, um die Romafeindlichkeit weiter zu schüren und zu etablieren. Man sprach wiederum von der Asozialität der Roma, von ihnen als einer „Landplage“, einer „Kulturschande“.

Der spätere Gauleiter des Burgenlandes, Dr. Tobias Portschy, bediente sich bei der Formulierung seines Programmes zur Lösung der „Zigeunerfrage“ auch schon relativ früh des Begriffes „Ausmerzung“ und schlug als Mittel dafür Zwangsarbeit, Deportation, Sterilisation der Roma vor und forderte, dieses Problem einer „nationalsozialistischen Lösung“ zuzuführen; was später dann ja auch geschah, durch massenhafte systematische Ermordung im KZ. Nach dem Krieg und dem Ende der NS-Terrorherrschaft wurde dieser Mann etwa nicht als Propagandist und Wegbereiter für den Holocaust und die Ermordnung burgenländischer Roma-Mitbürger behandelt; nein, der Herr war dann sogar in einem Sparkassenvorstand und bewegte sich in der Nähe einer Regierungspartei, war ein geachteter Bürger. Gerade, daß man ihm nicht einen Orden für Verdienste um das Land Burgenland verliehen und umgehängt hat. Österreichische Vergangenheitsbewältigung! Alle hatten sowieso nur ihre Pflicht getan! Manche eben ein bißchen mehr. Aber alle waren nur Opfer vergleichbarer Gewalt. So das abstruse „persönliche Geschichtsbild“ eines österreichischen Volksanwaltes zur Zeit, das er über die Massenmedien kolportiert; ohne daß er konsequenterweise sofort abtreten müßte.

Gleich nach dem „Anschluß“ und der Errichtung der NS-Herrschaft setzten weitere Diskriminierungen und Repressionsmaßnahmen gegen die „Zigeuner“ ein. Den Roma-Kindern wurde der Schulbesuch verboten. Mischehen waren nicht erlaubt. Beziehungen fielen unter den Begriff „Rassenschande“ und unter die strengen Sanktionen dafür. Die Forderung, das Burgenland „zigeunerfrei“ zu machen, erfüllte man dadurch, daß man die Roma in Arbeitslager (Lackenbach) sperrte oder sie gleich in die KZ deportierte; so schon dreitausend Roma im Juni 1939 als „Asoziale“ und „kriminell Anfällige“. Die Bedingungen und Zustände im Anhalte- und Arbeitslager Lackenbach bei Oberpullendorf, wo heute ein bescheidenes Denkmal an die Leidenszeit der Roma erinnert und mahnt, waren unmenschlich und katastrophal. Mehr als zweitausend Personen waren dort auf engstem Raum zusammengepfercht. Die schlechten sanitären und hygienischen Verhältnisse begünstigten den Ausbruch von Krankheiten und Epidemien (Flecktyphus) und steigerten die Mortalität der geschundenen „Häftlinge“. Trotzdem erhöhte sich der Lagerbestand durch Neuzugänge. Um ihn zu verringern, wurden am 4. und 8. November 1941 tausend Personen in das Ghetto von Lodz (Litzmannstadt) gebracht und von dort später nach Chelmo (Kulmhof), wo sie der Vergasung zum Opfer fielen. Dann kam 1943 der „Auschwitz-Erlaß“; und mit ihm der Massenmord an den Roma und Sinti auf der Grundlage der NS-Rassenideologie und entsprechend den Maßnahmen zur „Endlösung“. Insgesamt kamen etwa zwanzigtausend Roma und Sinti in das dreißig Barackenlager umfassende „Zigeunerfamilienlager“ nach Auschwitz-Birkenau; ab Februar 1943 auch ca. 2760 österreichische Roma und Sinti. Im Sommer 1944 wurde dieses „Zigeunerfamilienlager“ aufgelöst. Nach der Selektierung der noch arbeitsfähigen Männer und Frauen und deren Abtransport in die KZ Buchenwald und Ravensbrück wurden die Verbliebenen in der Nacht vom 2. auf den 3. August durch Vergasung liquidiert. Es waren 2897 Menschen. Von den zwanzigtausend nach Auschwitz-Birkenau deportierten Roma überlebten nur 1408, von den ca. 8000 burgenländischen Roma nur etwa 500-600. Damit war das „Zigeunerproblem“ gelöst; durch rassistischen Völkermord.

Nach der Befreiung – dem „Zusammenbruch“, wie der Volksmund sagt, dem Wechsel unter eine andere Gewaltherrschaft, wie das ein hoher österreichischer FPÖ-Staatsspitzenfunktionär, ein „Volksanwalt“ der Republik Österreich, seinem „persönlichen Geschichtsbild“ entsprechend unbegreiflicherweise und unter Berufung auf die verfassungsgemäße „Meinungsfreiheit“ bezeichnet – also nach der Befreiung Österreichs und somit auch der noch lebenden KZ-Insassen, darunter die wenigen Roma und Sinti, kehrten die KZ-ler in ihre Heimatorte zurück. Sie fanden aber dort nichts mehr vor, was einst Heimat gewesen war. Die Roma-Siedlungen waren zerstört, dem Erdboden gleichgemacht worden. Die Heimatgemeinden stellten den ehemaligen Roma-KZ-Insassen – meist nur widerwillig und gezwungenerweise – irgendwelche Notunterkünfte zur Verfügung. So entstanden neue Roma-Siedlungen am Rande der Orte und der Gesellschaft. Da viele ehemalige Roma-KZ-“Häftlinge“ keine Personaldokumente mehr hatten, dachte sich die Behörde einen Ausweg aus: Man erklärte die ausweislosen Roma als staatenlos, womit sie diskriminiert und jeder Willkür ausgesetzt waren. Und bald gab es – wie es jetzt zwar nicht mehr rassenideologisch, sondern nur amtlich hieß – wieder ein „Zigeunerproblem“. Das Rad begann sich von neuem zu drehen. Nicht, daß man den Überlebenden nun Hilfe oder gar „Wiedergutmachung“ angedeihen hätte lassen, ihnen Respekt erwiesen, Mitgefühl entgegengebracht hätte, vielleicht auch in Reue und Sühne; nein, ganz im Gegenteil: Sie wurden wieder genauso schikaniert, gedemütigt und ausgegrenzt wie vor der NS-Verfolgung und so als ob es diese nicht gegeben hätte. Und den (ehemaligen) Tätern ging es wieder einmal besser als den Opfern. Der sogenannte „Zigeunererlaß“ aus dem Jahr 1948 an die österreichische Gendarmerie, der die Außerlandesschaffung von „staatenlosen“ Roma, anordnete, stammte dieses Mal nicht aus Berlin oder von der GESTAPO, sondern kam aus dem Innenministerium (SPÖ/Helmer) der Republik Österreich.

„Wir leben im Verborgenen“ (Ceija Stojka, Picus-Verlag, Wien 1988) könnte die Devise der zurückgekehrten KZ-Überlebenden-Roma nach 1945 gewesen sein, der auch die Realität einer Roma-Existenz entsprach. Die Lackenbach-“Häftlinge“ waren von jeder Opferfürsorge gänzlich ausgeschlossen. Erst im Jahr 1961 bekamen sie auf Drängen der Opferverbände als Entschädigung für ihre „Freiheitsbeschränkung“ 350 Schilling pro Haftmonat zuerkannt. Bei der sogenannten „Wiedergutmachung“ wurden die Roma massiv benachteiligt, wo es nur ging. Niemand kümmerte sich um sie. Wieder einmal war niemand in diesem Land für sie und überhaupt verantwortlich. Kein Wunder bei der weit verbreiteten und selbstverständlich gewordenen Haltung und Praxis, jede Verantwortung für das, was geschehen war und bei dem man nicht nur als Opfer, sondern auch als Täter und Mitläufer beteiligt gewesen war, von sich zu weisen. Die Öffentlichkeit und die Gesellschaft interessierten sich weder für die sozialen noch für die kulturellen Probleme dieser bedrohten österreichischen „Minderheit“, die erst nach langer Zeit und gegen den passiven Widerstand von Seiten der Politik und Behörde nur aufgrund des zielstrebigen Engagements ihrer Vertreter und einiger weniger Mitstreiter bei gleichzeitigem Erwachen eines neuen Selbstbewußtseins und nach der Gründung wichtiger Interessensvertretungen und Organisationen („Verein Roma“, Oberwart 1989/1993; „Kulturverein österreichischer Roma“, Wien 1991; „Romano Centro“, Wien 1991) als Volksgruppe anerkannt wurde (24.12.1993). Damit hörte dann „das Leben im Verborgenen“ endlich auf; die Diskriminierung im Alltag und die Gleichgültigkeit seitens der Öffentlichkeit den Roma-Problemen gegenüber allerdings nicht.

Am 4. Februar 1995 ereignete sich dann das rassistisch motivierte Attentat eines psychopathischen Kriminellen, dem vier Roma aus der Oberwarter Siedlung zum Opfer fielen. Die österreichische Öffentlichkeit schreckte auf. Medienberichte informierten, interpretierten, beleuchteten den rassistisch-nationalistischen Hintergrund dieses Attentats, spekulierten über die „Bajuwarische Befreiungsfront“ und deren mögliche Querverbindungen zur Neonaziszene in Österreich und im Ausland. Plötzlich waren die Roma im Gerede, wiederum gab es ein „Roma-Problem“; dazu aber auch Zeichen der Erschütterung, der Empörung, des Mitgefühls, der Trauer um die Opfer; begleitet von Solidaritätskundgebungen, Politikeransprachen, Beteuerungen, Versprechungen. Das Begräbnis der Toten als ein Staatsakt. Und dann das Vergessen. Man hatte seine Schuldigkeit getan. Die Republik hatte sich vor den Opfern verneigt, sie betrauert, gewürdigt. Nach den Hintergründen, nach dem geistigen Umfeld, in dem solche Wahnsinnstaten (Rohrbomben/Briefbomben) von politisch verblendeten Verbrechern und Psychopathen angesiedelt sind, fragte nach einiger Zeit niemand mehr. Einige Jahre später demonstrierten Alt- und Neonazis polizeigeschützt auf dem Wiener Heldenplatz und zogen später mit „Sieg Heil!“-Rufen und zum Hitlergruß erhobenen Armen unbehelligt durch die Wiener Innenstadt. Ein wenig Empörung, die da und dort aufflackerte, sonst nichts.

Im Rückblick gesehen erweist sich die Siedlungs- und Kulturgeschichte der Roma von Oberwart seit der Gründung der „Zigeunerkolonie“ (1857) bis heute als die einer höchstens nur am Rande geduldeten, in der NS-Zeit verfolgten und ermordeten Außenseitergruppe, die nie wirklich akzeptiert und ins kommunale Zusammenleben integriert worden ist. Von den über 300 Roma, die bis 1938 in Oberwart gelebt hatten, kamen nach der Nazidiktatur und dem Holocaust nur etwa 20 Roma nach Oberwart zurück. Die Gemeinde siedelte sie wieder als Außenseiter weit draußen am Ortsrand an. Die Roma verblieben in diesem Ghetto unter sich. Die Gemeinde, die Behörden, die Ämter, die Kirchen, die Mehrheitsbevölkerung verweigerten eine wirkliche Integration. Dementsprechend war dann auch der soziale und bildungsmäßige Status der Roma. Die „Zigeunerkinder“ gingen zwar in die hiesige Volksschule – ganz wenige schafften es sogar bis in die Hauptschule und noch weiter – aber in der Regel wurden sie zurückgestuft und in die Sonderschule abgeschoben. Viele mußten einige Klassen mehrmals wiederholen, blieben bildungs- und ausbildungsmäßig zurück; was bedeutete, daß sie dann später – wenn überhaupt – nur als HilfsarbeiterInnen unterkommen konnten. Zu diesem Defizit im Bildungs- und Sozialbereich kam angesichts der Aussichtslosigkeit auf gesellschaftliche Integration in das Mehrheitsvolk auch eine psychologische Identitätskrise, ein Identitätsverlust aufgrund einer Identitätsverweigerung. Einfach gesagt: Viele Roma schämten sich, „Zigeuner“ zu sein; wollten diese ihre Identität verschleiern, verstecken, ablegen, verleugnen, vergessen.

Zu Beginn der Achtzigerjahre aber war dann plötzlich eine Gegenbewegung da. Zunächst kam diese von außen. Wie so oft können Einzelereignisse wichtige Impulsgeber sein, die schon vorhandene, aber noch nicht wirksame Bereitschaftskonstellationen und Handlungsansätze bündeln, indem sie eine Entwicklungsdynamik erzeugen. Um einen solchen Fall könnte es sich bei der „Aktion Zigeunerdenkmal“ handeln. Eine Künstlergruppe hatte im Rahmen des Kulturfestivals „ausnahmsweise oberwart“ am 20. Juni 1980 vor dem Kriegerdenkmal in Oberwart ein anderes Denkmal – eigentlich nur eine Denkmalattrappe – aufgestellt, mit dem sie als einem Mahnmal an die in den NS-Konzentrationslagern ermordeten und umgekommenen Roma-Mitbürger aus Oberwart erinnerte und dieses Holocaust-Schicksal der Roma den Nichtroma-Mitbürgern dadurch wieder ins Gedächtnis rief. Die Reaktion von Behörde und Bevölkerung war typisch-österreichisch: Man fühlte sich gestört, man wollte an die eigene Tabuisierung und Verdrängung nicht erinnert werden. Der Bürgermeister forderte die Urheber des Denkmals auf, dieses zu entfernen. Nachts wurde das Denkmal beschmiert, das Andenken an die Toten geschändet. Eine Anzeige gab es, Täter wurden nicht gefunden, weil vielleicht auch gar nicht wirklich entschieden gesucht. Im Sommer 1983 wurde im Jugendhaus in Oberwart eine „Zigeunerausstellung“ gezeigt, in der zum ersten Mal konkret auf die Diskriminierungen der Roma in Oberwart hingewiesen und diese angeprangert wurden. Die Roma begannen sich zu wehren. Widerstand erwachte und wurde organisiert.

Am 13. März 1987 sprachen Roma-Repräsentanten beim Bundespräsidenten vor. In diesem Gespräch kam es zu einer Einmahnung des in der österreichischen Verfassung verankerten Gleichheitsgrundsatzes. Die Präsidentschaftskanzlei reagierte. Die Roma handelten nun nicht mehr unter der lähmenden Akzeptanz ihrer Opferrolle, sondern forderten konkret und zukunftsorientiert Gleichstellung und Gleichberechtigung; im Schulbereich, im Sozialbereich, im Arbeitsprozeß. Kulturelle Roma-Identität entwickelte sich. Vereine wurden gegründet, Interessensvertretungen; Aktivgruppen formierten sich. Zielvorgaben wurden formuliert, deklariert, propagiert. Konkrete Projekte zur Verbesserung der Lebenssituation der Roma wurden gestartet und durchgeführt. Zum ersten Mal solidarisierten sich Nicht-Roma mit ihren Roma-Mitbürgern. Eine „Roma-Nichtroma-Initiative“ wurde gestartet. Die Situation veränderte sich. Daraus resultierte Hoffnung, Selbstbewußtsein, Handlungsenergie; Schaffung von Organisationsstrukturen. Und das brachte Erfolg.

Heute kann man das Erreichte bilanzieren. Seit 15. Juli 1989 gibt es den „Verein Roma“ in Oberwart, der sich engagiert und effizient sowohl für die Roma selbst, als auch für das Zusammenleben zwischen Roma und Nicht-Roma einsetzt. Konkret geht es um die Verbesserung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Stellung der Roma; um die Stärkung des Selbstbewußtseins, um die Aufrechterhaltung und Wiederbelebung der Roma-Identität. Neue Strukturen und Organisationsformen wurden geschaffen, Netzwerke zu anderen österreichischen Volksgruppen aufgebaut, Kontakte zu Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft geknüpft und vertieft. Heute gibt es in Oberwart eine Roma-Beratungsstelle, außerschulische Lernbetreuung für Roma-Kinder, eine Roma-Volkshochschule, Roman-Sprachkurse, Zeitschriften, Kulturveranstaltungen, Theatergruppen, Feste, Musik und anderes. Auch in Wien sowie im gesamten Bundesgebiet wirkte die positive Entwicklung der Gesamtsituation – vorallem die Anerkennung der Roma als österreichische Volksgruppe und die Errichtung des Volksgruppenbeirates – befreiend und befruchtend. Auch in Wien gibt es seit den Neunzigerjahren zwei Roma-Kulturvereine. Eine Wiederbelebung der traditionellen Roma-Kultur und ein vorher nicht da gewesenes Identitätsbewußtsein, mit dem auch ein neues Selbstbewußtsein einhergeht, ist feststellbar. Und über die Staatsgrenzen hinaus gibt es die Zusammenarbeit mit anderen Roma-Organisationen und Volksgruppen.

Trotzdem sind Ressentiments und teilweise auch offene Ablehnung in der Bevölkerung, im deutschsprachigen österreichischen Mehrheitsvolk geblieben; vorallem wenn es um zugewanderte „Zigeuner“ aus dem Balkan geht, um diese „Tschuschen“, wie viele noch oder schon wieder sagen. Das Anderssein, das Fremde scheint für viele ein unüberbrückbarer Gegensatz, eine unüberwindbare Barriere zu sein, wenn es um Gleichwertigkeit und um Gleichberechtigung, um soziale und kulturelle Anerkennung geht. Und es gibt in letzter Zeit schon wieder häufiger und lauter diese „Zurufe an das Volk“, aus dem Untergrund oder aus einer Ecke einer bestimmten Partei, deren Ideologen von „Überfremdung“ reden und von „Umvolkung“. Das läßt erschrecken. Das sollte alle zur Wachsamkeit aufrufen, zum Widerspruch, zum Widerstand. Denn das ist ein Gefahren- und Warnzeichen; vor einer Wegstrecke, wo es steil abwärts geht – mit der politischen Kultur eines Staates, mit seiner Demokratie.

Es ist ein wichtiges, ein notwendiges Buch, das hier vorliegt. Ein Buch, das das Leben der burgenländischen Roma und deren Schicksal durch Jahrhunderte hindurch aufzeigt und eindringlich beschreibt; eine Dokumentation, die auf präzisen Daten und Fakten aufgebaut ist und durch einen genauen Literatur- und Quellennachweis sowie durch anschauliche Statistiken und eine umfassende Chronologie der Ereignisse wissenschaftlichen Maßstäben gerecht wird. Es ist ein Buch, das sich auch mit den dunklen Seiten der österreichischen Geschichte befaßt; einer Geschichte, die lange Zeit entweder verdrängt oder zur eigenen Entschuldigung umgeschrieben worden ist. Der Autor hat hier Bilanz gezogen; auch darüber, was die österreichische Politik und Öffentlichkeit verleugnet, versäumt, verdrängt, verschwiegen hat; und was im Gegensatz dazu die burgenländischen, die österreichischen Roma und ihre Organisationen sowie engagierte Nicht-Roma-Mitstreiter zur Schaffung ihres jetzigen Status selber geleistet haben. Und dies ist beachtens- und bewundernswert.

„Die Roma von Oberwart“. Zur Geschichte und aktuellen Situation der Roma in Oberwart. Von Helmut Samer, edition lex liszt 12, Oberwart, 2001. 140 Seiten, EUR 11,63.


Genre: Dokumentation
Illustrated by edition lex liszt 12

Schnee und schwarze Hunde

SMRT HEISST DER TOD
Sarajevo 1995: Persönliche Anmerkungen zu einem wichtigen Buch

Vor mir liegt ein Buch, eine Romantrilogie, umfangreich, fast 500 Seiten dick, gewichtig und wichtig. ein Denk- und Literaturwerk. Jeder sollte es lesen, vor allem jene, die über ,,Jugoslawien“ reden und nichts wissen, nichts begreifen. Die Politiker sowieso; aber die lesen keine Bücher, jedenfalls nicht solche. Seinen Autor kenne ich nicht. jedenfalls ist mir eine Begegnung mit ihm nicht in Erinnerung. Oder sind wir uns doch einmal begegnet, im ehemaligen Jugoslawien, als es Jugoslawien noch gab? Haben sich unsere Wege doch vielleicht irgendwann einmal gekreuzt, ohne daß wir es wußten?

,,Der Balkan ist ein Wahnsinn“, sagte ich damals auf die Frage, wie es war, nachdem ich, vor jetzt mehr als dreißig Jahren, von einer wochenlangen Reise kreuz und quer per Autostopp durch dieses damalige Jugoslawien, ebenso durch Bulgarien und Griechenland. zurückgekommen war; mit Ausgangspunkt Paris. Und ich meinte damit: Die Länder und die Menschen dort sind etwas Großartiges, etwas voller Gegensätze, etwas Unbegreifliches, etwas Schwieriges etwas Abenteuerliches, etwas Wunderbares, etwas Unberechenbares, etwas Nicht-Normales, etwas Wahnsinniges auch, wie ich es formulierte. Aber in dem Sinne, wie es Alexis Sorbas im gleichnamigen Film meinte, als er seine Lebensformel ausdrückte mit dem wunderbaren Satz: ,,Weißt Du. Boß. ein bißchen Wahnsinn gehört einfach zum Leben dazu!“

Heute hat sich der Wahnsinn, ein anderer Wahnsinn, auf dem Balkan, in Ex-Jugoslawien, vor allem in Bosnien-Herzegowina, politisch, militärisch, in einer unbegreifbaren Täter- und Opferbilanz, in unbeschreiblichen, millionenfachen menschlichen, besser gesagt. in unmenschlichen Tragödien konkretisiert und manifestiert. Der Wahnsinn durch völlige Verblendung und den Verlust aller Maßstäbe und der Menschlichkeit. Der grenzenlose Fanatismus ist sichtbar, ist wirksam, ist zur schrecklichen Wirklichkeit geworden. Von diesem Wahnsinn spricht der Autor in diesem Buch.

DER SCHNAPS
„Ich sehe den kotigen Bauernhof beleuchtet vom Feuer. das in seiner Mitte brennt, dort, wo einst, so scheint es, ein kleiner Garten mit Blumen war. Im Hintergrund steht ein niedriger Stall mit dunklen Fenstern und einem Tor, unbeschädigt. Das Feuer flimmert in der windlosen Luft, dunkle Schatten bewegen sich drohend überall ringsum. Vor dem Feuer, uns den Rücken zugewandt, sitzen drei Männer in Tarnuniformen. zurückgelehnt auf zerbrochenen, knirschenden Stühlen. Sie sind nur Umrisse ohne Gesichter, dunkle Massen vor dem Licht. Der vierte liegt vor ihren Füßen im Schlamm ausgestreckt und schläft. Er schnarcht, wie jeder Säufer. Und der fünfte hockt neben dem Feuer und schürt es mit einem angebrannten Holzstück. Von der Seite gesehen ist sein Gesicht stumpf, länglich. grimassierend und sein Schädel kahl. Um das Feuer herum haben sie geteerte Pfähle gestellt. Sie stützen ein Metallgitter. das das Feuer von unten beleckt. Hört es auf, legt der, der davor hockt, ein Scheit zu und schürt es. Und auf dem Metallgitter, festgebunden oder hilflos, liegt ein Mädchen, es ist klein, vielleicht nicht einmal zehn Jahre alt. Die eine seiner Hände kreist, als verteidige es sich, und sein Bein zuckt. Sein Fleisch riechen wir die ganze Zeit über, wie es brennt, wie es langsam gebraten wird. Aus seinem Mund kommt dieses langgezogene Jammern, das langsam schwächer wird. Sein Mund ist unbeweglich. offen, und das Winseln bricht hervor wie ein besonderer und unsichtbarer Schmerz, breitet sich aus und umfaßt uns alle. „Langsam geht das bei dir, Bruce Lee“, sagt einer von den Sitzenden. „Mensch. der Schnaps wird alle.“

Was sind das für Menschen, die so etwas tun? Sind das überhaupt noch Menschen? Wie konnten sie zu solchen Monstern werden? Sind sie alle mitsamt Abartige. Perverse, grenzenlose Sadisten, Ungeheuer’? Waren sie das schon immer, haben sich da nur Gleichgesinnte zusammengetan zu einer infernalischen Todesschwadron? Oder waren sie früher „normale Menschen“, zwar zum und zur Gewalt veranlagt, aber in den Schranken einer zivilisierten Gesellschaft gezwungenerweise diszipliniert, wie Raubtiere im Käfig? Und dann hat man die Gitter weggenommen. Und die Menschen-Raubtiere leben ihre Instinkte aus. Aber warum gegen ein wehrloses Mädchen, das man auf dem Feuer röstet und schmort, wie ein Schwein; das lebendig ist, das noch lebt!

So einfach diese Fragen gestellt sind, so einfach sind jedoch die Antworten darauf nicht. Und e i n e Antwort darauf gibt überhaupt nicht. Die Wirklichkeit ist vielschichtiger. Die Wahrheit liegt nicht im Entweder-Oder, entweder gut oder böse. So einfach ist es nicht mit dem mit Menschen, mit der Wirklichkeit des Menschen, mit seiner Wahrheit, und dem, was wir oft so schlichtweg als „Wahrheit“ bezeichnen und benennen.

Denn auch diese Monster waren einmal ganz normale Menschen, sie waren einmal Kinder; vielleicht mit einer gewissen Disposition zu dem oder jenem, aufgrund von Wesens- und Charaktereigenschaften. Vielleicht hat jeder von Ihnen irgendein Kindheitstrauma, hatte Erlebnisse, die ihn geprägt, vielleicht traumatisiert und stigmatisiert haben. Jeder hatte ein anderes Lebensschicksal in seinem Vorleben. Aber irgendwann muß es etwas gegeben, haben, das entscheidend war dafür, daß ihr Weg in diesen Abgrund geführt hat. Was war das, was kann das gewesen sein? War das bei allen etwas Verschiedenes oder bei allen das Gleiche? Oder etwas von diesem und einem anderen? Oder gibt es ein Prinzip Gut und ein Prinzip Böse, das sich wahllos, aber bestimmend festsetzt in der Seele des Menschen, so seine Personifizierung vollzieht? Was ist dann mit der Freiheit des Menschen, mit seiner Verantwortlichkeit?

Oder ist alles anders? Ist alles Manipulation, Ergebnis einer ungeheuerlichen Manipulation, die mit den Menschen, mit Einzelnen sowie mit der Masse geschieht? Wieweit ist der Mensch manipulierbar, über seine – angenommenen – Grenzen hinweg, und wodurch, womit. und wann, und wie; und unter welchen Bedingungen, mit welchen Lügen, mit welcher Propaganda; für welche Ziele?

Die Menschheitsgeschichte und dieses Buch geben die Antwort: Es gibt keinerlei Beschränkung. Der Mensch ist zu allem fähig. Und er glaubt die Lüge eher als die Wahrheit. Und er ist begeisterungsfähig in seinem Wahnwitz bis zum Irrsinn. Und er ist zu allem bereit. Nicht jeder, nicht jeder Einzelne, aber doch auch so ungeheuer viele Einzelne, wenn es die Masse gibt. Und einen Führer. ,,Führer. wir folgen Dir!“ – egal. wie der Führer heißt. Und es gibt sie immer, es gibt sie immer wieder: diese Führer! Und ein Volk. das sie vergöttert. und das sie belügen. Und das sie in den Ab¬grund reißen. Aber das Volk, das ihnen und ihrer Propaganda glaubt. Das Volk liebt seine Führer, immer!

DER WAHNSINN
Die Führer in diesem Land und in diesem Buch heißen: der Präsident, der Kommandant, der Hauptmann, Duc; auf der einen Seite. Auf der anderen Seite: der Meister, der den Gottesstaat predigt. Was für die einen die Masse, das Volk, die Brüder sind, das sind für den anderen die Glaubensanhänger, die Rechtgläubigen. Wie bei den einen ein völlig irrationaler, ja pathologischer, aber gezielt eingesetzter und mit allen Mitteln der Propaganda verbreiteter Blut-Boden-Heimat-Volk-Mythos voll bekannter rassistischer Ideologie zur Grundlage ihrer Denkstruktur und ihres Handlungsprinzips wird, aus dem sie alles weitere ableiten, so wird bei den anderen, dem Meister und seinen Anhängern des islamischen Fundamentalismus. die Struktur eines ebenso irrationalen Dogmatismus. hier jedoch noch mit göttlicher, überirdischer Dimension. sichtbar und wirksam. In beiden Fällen. beim völkisch-rassistischen Mythos ebenso wie beim politischen Religionsfundamentalismus, handelt es sich um das gleiche, kommt es auf das eine hinaus: Auf die Installierung einer absolut gesetzten oder sich selbst absolut setzenden Macht und Instanz über den Menschen, über den einzelnen Menschen, über das Individuum; auf die Schaffung eines Über-Ich. Das bedeutet den Kampf und die Zerstörung der Souveränität des Individuums mit allen Mitteln durch die Führer und Machthaber. Das bedeutet die zum Ziel gesetzte Vernichtung jeder individuellen Freiheit. Das bedeutet aber auch, daß der Einzelne keinerlei Verantwortung mehr in ethischer oder moralischer Hinsicht zu tragen hat. Die wird ihm abgenommen, von den Führern, von der Ideologie, von Gott; auf der Ebene dieser Dogmatik.

Aber es gibt auch Widerstand; und das bedeutet Hoffnung, jedenfalls einen Lichtblick. Der kommt von jenen, die frei sind, die innerlich frei sind, weil sie sich freigemacht haben von jeder Unterdrückung; weil sie die alles beherrschende Propaganda als ein Instrument der Vereinnahmung und Versklavung, der systematischen Verdummung, als das, was sie ist: eine einzige große absurde Lüge, erkannt haben und ihr nicht auf dem Leim gegangen sind; weil ihre Individualität, ihre selbst-gebildete Persönlichkeit stärker war als die Doktrin, als jede Demagogie. Eine dieser Individualisten ist in diesem Buch jene selbstbewußte junge Intellektuelle, die Geliebte eines islamischen Gotteskämpfers. der dieser hörig ist, von der er sagt: ,,Meine Geliebte – oder meine Freundin, wie sie selbst sagte – gehörte durch ihre Geburt nicht zu unserem Volk. Ihr Vater war seiner Herkunft nach ein Orthodoxer, ihre Mutter hatte katholische Vorfahren; beide Eltern waren, wie ich erfuhr, Ungläubige, Atheisten, wie einst ich auch. Meine Geliebte fühlte sich keinem Glauben zugehörig, sie wollte einfach nirgendwo dazugehören; sie hielt sich für eine Person ohne Volk, ohne Partei. sie kam aus einer bürgerlichen Welt.“ Und diese junge Frau sagt ihm ganz unverblümt und scharf das Richtige, die Wahrheit, die sie aus ihrer Wirklichkeit erkennt und ableitet: „Ich habe nie mit dem Volk Kaffee getrunken … Und ich habe mich nie von ihm ficken lassen. Es war immer ein einzelner eine Person, mein Lieber. Wir sind entweder Individuen oder nichts. Ich bin ich, du bist du. Warum willst du etwas Drittes sein, etwas Unpersönliches, Leeres?“ – Das also ist es, die Individualität allein, jedenfalls als ein souveränes Ich verstanden, die uns als Person, als Persönlichkeit ausmacht, die der Gegenpol zu Masse und Macht ist, die den menschlichen Grundwert individuelle Freiheit gegen jede Bevormundung, Entmündigung und Versklavung, sei es durch Ideologie oder religiösen Fundamentalismus und Fanatismus, gegen Führer. Volk und sogenannte Gottesmänner verteidigt. Sie ist die einzige Hoffnung, der einzige Lichtblick, die einzige Chance, vielleicht die einzige Möglichkeit zur Freiheit, zur Befreiung von und aus diesem Wahnsinn. Und das wissen die Führer und ihre Komplizen. Deshalb gilt ihr fanatischer und rücksichtsloser Kampf solchen Individualisten, die das Getriebe der Macht stören oder stören könnten. und die es auszuschalten gilt, um jeden Preis, mit allen Mitteln. Denn sie sind der einzige, wirkliche Feind, den sie nicht brauchen können, den sie nicht brauchen können im Krieg gegen den Menschen.

Die im Buch skizzierten Führerfiguren sind in ihrer Porträtähnlichkeit unschwer als historische bzw. als wirkliche Personen zu erkennen. Wir kennen sie aus der Geschichte, aus Zeitungen und vom Fernsehbildschirm her, aus den Medienberichten. Wir kennen ihre Namen oder jene, die sie anstatt ihrer wirklichen von früher dann angenommen haben. Josip Broz Tito – als historische Legendenfigur. Slobodan Milosević – der Ministerpräsident. Radovan Karadžiž – der Dichter und Psychiater als Volksführer und Volkspolitiker. General Mladić – als Kommandant. Und Vojislav Šešelj -der Ultranationalist, der aus dem Ausland kam. Und die Kriegsverbrecher als Kommandanten berüchtigter Sonderkommandos, autonomer Militäreinheiten; richtiger genannt: Mörderbanden. Ihre ruhmreichen (angenommenen) Namen kennt jedermann, kennt dort jedes Kind: Arkan und Dragan. Sogar ein früherer echter Staatspräsident kommt vor, als Zwischenszenespiel in diesem Buch sowie im wirklichen politischen Geschehen damals auch: Dobrica Ćosić, der „verborgene“ Präsident im Buch genannt, der große Schriftsteller seiner Nation. Dieser Präsident aus dem Buch sitzt allein in den Palastgemächern in seiner Residenz und brabbelt senil vor sich hin, aber formuliert wahnwitzige und somit verführerische und gefährliche Denkinhalte, wenn er ,,unvölkische Elemente“ ausmacht und bekennt: ,,Das Volk hat immer recht.“ Und wenn er von den ,,Strahlen des Patriotismus“ faselt, ,,die jeden Menschen sofort zu neuem Leben erwecken und ihn mit seinen Ahnen verbinden.“ Und natürlich sieht er vor seinen geistigen Augen ,,die Wiedergeburt der Nation“ und den nahenden .,Endsieg“. Das alles erscheint uns sehr bekannt. Weniger bekannt zu sein scheinen die Studien des Nationaldichters und Zwischenpräsidenten, die dieser wirkliche Dobrica Ćosić schon lange vor dem sogenannten ,,Krieg“ – welches Wort ja immer nur als Metapher, als Verschleierungsvokabel für staatlich sanktionierten Massenmord und Genozid verwendet wird – bei einer der sogenannten Kommissionen der Akademie der Wissenschaften und Künste in Belgrad eingereicht und damit große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Naja, solche „geistigen Wegbereiter“ gab es schon immer. Und fühlen sich auch nie mitschuldig und werden auch nie schuldiggesprochen.

Das sei gesagt, damit niemand glaubt, daß dieser Wahnsinn nur ein Wahnsinn von Dummen ist. Da ist große Intelligenz mit im Spiel. Aber diese schließt Verblendung eben nicht aus, den Verlust des normalen Verstandes, der eigenen kritischen Vernunft.

DER MORD
Da ist dieser Duc schon ein anderer, ein ganz anderer. Der braucht keine pseudophilosophische Absurddialektik, kein Geschwätz von Völkischem. Heroischem, von sogenannten historischen Rechten (,,Wo die Gräber der Unsrigen sind, dort sind unsere Grenzen.“). Der braucht keine Scheinargumentation für das, was er erreichen, besitzen, ausüben und behalten will, nämlich die absolute, ungeteilte Macht in seiner Hand. in seiner Person. Der meldet seinen Anspruch ohne Umwege und Verschleierung. ohne langes Herumgerede an. ,,Mein einziges Ziel ist die Macht’, bekennt er. Er spuckt auf ,,diese Hohlköpfe, die das Volk ausmachen.“ Denn, so sieht er es, und vielleicht sieht er es richtig: daß das, ,,was Volk genannt wird, eigentlich aber nur ein schreiender Haufen ist. der etwas fordert und nimmt, was du ihm gibst, und schweigt und nichts sonst.“ Er scheint ein Zyniker zu sein in diesem Szenario, aber er ist der einzig ,,Normale“, ein Realist. Ein Machtmensch, vom Machtrausch und vom Machtstreben getrieben. aber er hat dieses unter Kontrolle, er ist zielbewußt, er hat seine ziel-führende Strategie, weil er nicht über die Macht philosophiert. sondern einen Instinkt für sie hat.

,,Wir schicken ein paar von unseren gut ausgebildeten Kerlen in feindliches Territorium, in die Dörfer oder kleinen Städte. Und dort werden sie offen, so, daß es alle sehen und hören können, möglichst viele Kinder, Frauen und Greise massakrieren. Bald danach werden feindliche Burschen sich in unsere Dörfer, unsere kleinen Städte schleichen und dasselbe tun, und wir werden das publik machen, im Fernsehen zeigen und in den Zeitungen veröffentlichen. Und schon sind einige tausend Menschen auf beiden Seiten in den unzerstörbaren Kreis des Hasses, der Rache und des Blutes, das vergossen werden muß, hineingezogen. Man wiederhole das zehnmal und hundertmal, und schon haben wir einen prächtigen großen Krieg, der nie zu Ende gehen wird, weil ihn nicht nur Staaten und Völker und Heere führen, sondern einzelne, die stille Mehrheit … ,, – Das also ist die neue Strategie. Und sie ist wirksam. Die Wirklichkeit bestätigt es. Nicht Armeen gegen Armeen, die kämpfen. sondern Menschen gegen Menschen. Nachbar gegen Nachbar. Infernalisch! Aber gut für den Krieg. Und da gibt es dann noch den Hauptmann, den Kommandanten der Sondereinheit ,,Seven Up“, einer Mörder- und Killertruppe, mit einer besonderen Spezialität.

Sie schlachten nicht nur Menschen mit ihren Messern ab, sondern nehmen sie auch aus. wie Tiere: sie entnehmen die unverletzten inneren Organe zurWiederverwertung, für ein geheimes Syndikat, für eine Firma, die mit menschlichen Organen für Transplantationen handelt, ganz legal, versteht sich; eben eine der vielen Exportfirmen, wie andere auch. Nur das exportierte Produkt ist halt ein wenig etwas Besonderes, manche meinen Abartiges. Aber die Nachfrage ist groß und der Profit auch. Für alle. Ist es Fiktion oder Wirklichkeit’? Jedenfalls wäre es eine Möglichkeit, dem ganzen Wahnsinn noch eine weitere Facette menschlicher Tollheit hinzuzufügen. Doch zuletzt gibt es vor allem die Opfer. Die Opfer eines von solchen Führern und Führerfiguren und ihren Komplizen und Helfershelfer entfesselten und praktizierten Wahnsinns des ,,Krieges“, des gegenseitigen Abschlachtens, vor allem auch der Zivilbevölkerung. ,,Freiwillig hatte ich das alles getan, was ich nie glaubte, tun zu können. Vielleicht weil ich mir das immer gewünscht und nur vor mir selber und anderen verborgen hatte“, bekennt einer von der Schlächtertruppe ,,Seven up“. Ist das eine schlüssige Antwort, nur für ihn, oder überhaupt’? – ,,Er verachtete die ganze Welt. alles, worauf sein Totenblick fiel. Vögel und Bäume. genauso wie Kinder. Er liebte Motorräder.“ So charakterisiert die Geliebte ihren Hauptmann. Und trotzdem, oder gerade deswegen, wegen der Brutalität und völligen Gefühllosigkeit, mit der er das junge Mädchen nimmt und entjungfert, wird und bleibt sie seine Geliebte. Die Geliebte eines Kommandanten einer Schlächter- und Mörderbande, der alles befiehlt. Vielleicht fasziniert sie gerade deshalb ,,diese weiße gepflegte Hand, die so geschickt mit dem Messer umgeht, als gehöre sie einem Zirkusartisten“, weil sie die Hand eines Mörders ist. Etwas ganz Gegenteiliges von ihr.

Vielleicht ist es gerade das Andere, das Gegenteilige, das. was wir nicht sind, das in uns den Wunsch erzeugt, das Andere, das Gegenteilige, wenigstens für einen Augenblick, zu werden, um uns loszulösen von unserem eigenen Ich. Vielleicht ist jedes Ich ein Gefängnis. Und es kommt der Augenblick wo es uns verhaßt ist. Vielleicht ist der Grund für den Haß unser Selbsthaß, ganz tief in uns, verborgen, verdrängt. aber fest in uns verwurzelt. Und wir wollen uns von unserem Selbsthaß befreien: durch Haß, durch Mord und Totschlag, durch Krieg und Gewalt. -Wer könnte auf diese Fragen eine Antwort geben’? Wer kennt die Wirklichkeit des Menschen’? Nur Gott’? Warum läßt er diesen Wahnsinn, dieses Leiden zu? Oder müssen wir ihn heraushalten aus diesen Fragen? Ich weiß es nicht.


Genre: Tatsachenroman
Illustrated by Unbekannter Verlag

Črna dvorišta / Schwarze Höfe

Stimme aus dem Inferno

Stimme aus dem Inferno. Aufschrei des gequälten Menschen. Klage um die Zerstörung und den Verlust der Menschlichkeit. Traum von einer anderen Welt: jener jenseits des Stacheldrahtes. Spuren der Hoffnung. Zeugnis und Mahnung. Ort des Geschehens, On des Grauens: Keraterm. KZ der serbisch-jugoslawischen Volksarmee im Bosnien-Krieg; nahe bei Prijedor, der Heimat des Autors. Zeit: 1992.

Man weiß, was geschah: Krieg, Vertreibung, Terror; Systematische Vergewaltigung, Folter, Mord; Massaker (Srebrenica), ,,Ethnische Säuberungen”; Genozid. Im Angesicht der Weltöffentlichkeit, begleitet von sensationslüsterner Medienberichterstattung. Konferenzen. Politische Naivität und Unfähigkeit bis zur Schamlosigkeit, bis zur Lächerlichkeit. Währenddessen wird weitervertrieben, weitergemordet, weitergesäubert. Man schafft Realitäten.

Der Schrei der Gefolterten aber verhallt im Niemandsland. Einer, ein Dichter, Muhidin Šarić, schreibt eine Chronik dieses Grauens, eine seiner eigenen Qual, seines Erniedrigtseins; seiner Namenlosigkeit: Man ist Opfer; sonst nichts. Kein Mensch mehr. Was bleibt, ist Verzweiflung, untröstbare Trauer. Und nach dem Überleben: die Heimatlosigkeit; eine für immer.

Davon sprechen diese Gedichte: Von den schwarzen Höfen, von den Hinterhöfen, in denen menschliches Leben zerstört wurde, zerstört wird. Und von der Sehnsucht nach dem, was einmal war und was es nicht mehr gibt; nie mehr geben wird. Literatur, Poesie als Aufschrei, als Zeugnis, als Mahnung; auch als Überlebenstherapie Übersetzung aus dem Bosnischen durch Emina Šarić und Klaus Detlef Olof.. Und als Träumen von einer Welt jenseits des Irrsinns vom Menschen.

Muhidin Šarić lebt als Stipendiat der Institution ,,Städte der Zuflucht” seit 1992 in Graz.

Muhidin Šarić: Črna dvorišta / Schwarze Höfe. Gedichte, bosnisch-deutsch, Drava Verlag: Edition Niemandsland, Klagenfurt/Celovec, 1999;80 Seiten, öS l97,- DM 27,-.


Genre: Lyrik

Trockengebiet

Trockengebiet – oder – Von der Dürre der Welt

,,Auch wenn dies Land / gänzlich verwüstet sein wird, /
die Liebe…wird es noch ein wenig begrünen.“

Die ist ein Ausspruch der Hoffnung, ein Ausspruch tröstlicher Gewißheit. Oder aber auch ein Sich-Klammern an einen letzten uns doch gegebenen, uns aber verborgenen, verborgen bleibenden Sinn, einen Sinnzusammenhang des Lebens.

Davon sprechen, darum ringen Franz. Richters Gedichte aus der Gedichtsammlung „Trockengebiet“. Es sind stille Gedichte. Solche mit dem Rhythmus des Wellenschlages des Meeres. Man muß in sie hineinhören, um ihren Atem zu empfinden: den Atem der Zeit. Es sind Gedichte, die ein Land beschreiben, das zwischen Erinnern und Vergessen liegt. Ein dürres Land. Die Welt als eine ,,Schöpfung“, die „von uns verjuxt und zerstört“ worden ist. Und in ihr die Suche nach dem eigenen Ich, nach dem Du, nach der verbindenden Gemeinsamkeit als Bezugspunkt zu sich selbst, zum Anderen und zur Welt. Die Suche nach der eigenen Identität, nach dem Ich-Ereignis als Wahrheitsereignis, nach dem Wahrheitsereignis wiederum als Ich-Ereignis. Die Liebe als konkrete Möglichkeit dazu. Und dies alles als Lebensweg. Jede Berührung bedeutet ein Hinterlassen von Spuren, von der Abnützung; bedeutet Wunden, Verlust; aber auch ein Wachsen der Hoffnung. Ohne Hoffnung wäre die Gewißheit unerträglich. Die Fülle des Lebens in der Dürre der Zeit nehmen als Möglichkeit der Beteiligung, als Aufruf zum Aufleben. Denn: „Wem etwas zu viel ist, der hat zu wenig geliebt.“ Denn: „Ohne unser Zutun verliert uns die Zeit.“ Frage und Antwort: ,,Wo ist meine Zeit hingeraten? / Mein Herzschlag hat sie mir vertrieben“ – „Was also habe ich noch zu erhoffen?“ – „Ich trage meine Jahre. / Meine Jahre tragen mich..“

Ist dies das Gleichnis des Lebens, seine Erfüllung?“ Was erwarte ich noch / im Wissen, wie nah die zeitlose Stunde schon ist?“ Gedichte des Abschieds? Oder solche des Aufbruchs? Der Verzicht auf die Suche nach Kausal-Zusammenhängen deutet sich an, die Suche nach Sinn-Zusammenhängen wird sichtbar, spürbar. Die Vergangenheit wird zur Hilfe gerufen zum Weg in die Zukunft. Reflexion als Mittel zur Standortbestimmung. Angesichts der Erfahrung, daß so vieles zerbricht, zerbrochen wird, zurück zum Ansatz der Frage: Gibt es adäquat zum Gesetz des Werdens und Wachsens auch ein solches der Zerstörung, des Zerstörtwerdens? Die Antwort wird gesucht, auch eine auf die Frage: „Was nehmen wir mit, / wenn sich der Anker lichtet?“ aus diesem Leben, aus dieser Welt, aus dieser ,,Gemeinschaft Von Leben und Tod“ ? Und was hinterlassen wir als Vermächtnis? Und ist das Leben nur das, was uns zustieß? Dann, so Richtert, „Nimm an, was dir zustieß./ So wird an Dir Geschehnis zur Tat, / zur Gabe deine Ergehung!“

„Ich lebe auf, / wo mein Ich ablebt…“ Markiert diese Aussage Resignation, Ergehung, oder ist dieser Ausspruch eines scheinbaren Paradoxon nicht Zeugnis eines Wissens, daß gerade im Abschied die größte lntensität einer Gegenwart sich an uns vollzieht? Das Du als Weggefährte, um ,,gemeinsam zu verglühen.“ Ist diese Abschiedssituation, diese permanente als Lebensereignis in der Dürre des Daseins, in diesem Trockengebiet Leben, wirklich eine geeignete Position, womöglich nur die einzige, von der aus wir die Frage zurück und ins Nichts stellen können als eine Frage nach uns und der Welt. Oder ist es so, daß wir antwortlos bleiben, „niemals wissend, / ob unser Dasein sein wird, / denn unzuverlässig ist unser / Vertrag mit dem Gewesenen“?

Das Leben, jeder Versuch, sich seiner zu bemächtigen, mit seinen Auswüchsen der Zivilisation, mit seinen Wunden am eigenen Ich, am anderen Du, ist es ein einziger Verrat am Paradies, bedeutet es den Verlust der Heimkehr? Liegt gerade im Ereignis, im Ereignis des Lebens die Verwehrung der Antwort? Und die der Erkenntnis der Wahrheit?! Ist sie erst möglich, wenn überhaupt, erst ,,am Ende der Zeit“? Es scheint so. Denn „alles wird ungenau, / wenn es sein Unendliches einbüßt.“

Franz Richter ,,Trockengebiet“, Gedichte, , 1980, Band 14 der Reihe ,,Lyrik aus Österreich“, hrsgg. von Alois Verlag G. Grasl, Baden bei Wien Vogel und Alfred Gesswein.

Peter Paul Wiplinger
Wien, 27.7.1980


Genre: Lyrik
Illustrated by Verlag G. Grasl Baden bei Wien

Schnee im November

Schicksal und Menschenbild
Zu Peter Ebners Schubert-Roman

Und er läßt es gehen Alles, wie es will.
(Der Leiermann, ,,Winterreise”)

Kaum erschienen, ist das Buch auch schon fast wieder vergriffen. Eine neue Auflage steht bevor. Das spricht für den Erfolg dieses Romans. Das spricht für den Erfolg des Autors. Doch ist dieser Erfolg auch schon gleichzeitig ein Nachweis für Qualität? Notgedrungen und von vornherein nicht. In diesem Falle aber, so meine ich, ergibt sich der Erfolg aus einer im Werk vorhandenen Qualität. Und worin besteht nun diese? Ich meine: In der eindringlichen, einfühlsamen, grundlegenden Art, wie Peter Ebner an dieses schwierige Thema herangeht; in der Fähigkeit kluger Beschränkung auf die einfache Schilderung des linear ablaufenden Geschehens während der letzten Lebenstage Franz Schuberts; in der Konzentration auf die innere Dramaturgie der Konstellation von Innen- und Außenwelt des ganzen Ereigniskomplexes; in der subtilen, einfühlsamen Psychologie und sprachlichen Ausgereiftheit dieser Erzählkunst, die Erinnerung, Phantasie, Erleben und Traum zu einem sprachlichen Kunstwerk von großer Schlichtheit verdichtet, wobei Peter Ebner den Leser zwar ins Geschehen miteinbezieht, ihn aber doch immer in einer gewissen Distanz zum Geschilderten hält, so als sei hinter dem ganzen Werk der Wille spürbar, dieses geschilderte Geschehen und somit auch die historische Persönlichkeit Franz Schubert bei aller Nähe doch letztlich für sich, autonom bestehen zu lassen.

,,Schnee im November” ist nach den beiden anderen Romanen, ,,Der Erfolgreiche” und ,,Das Schaltjahr”, der dritte Roman des Autors innerhalb relativ kurzer Zeit, in dem er sich diesmal, anders als in den beiden vorangegangenen, die im wesentlichen vielleicht doch zum Großteil aus subjektiv autobiographischem Erlebnismaterial hervorgegangen sind, mit einem, wenn man so will, historischen und noch dazu sehr bekannten Thema, oder sagen wir besser: mit einer historischen Persönlichkeit, eben mit Franz Schubert, beschäftigt.

Gleich vorweg gesagt: Es geht hier um keine neuen Enthüllungen im ,,Fall Schubert”, es geht um keine neuen musikwissenschaftlichen Erkenntnisse, die da publiziert werden, sondern es geht einfach um das Sterben Franz Schuberts, um seine letzten Lebenstage, um die Schilderung dieses äußeren Geschehnisablaufes in der Zeitspanne vom 11. bis zum 19. November 1828, in der das Leben des einunddreißigjährigen Komponisten und Musikers in einer ärmlichen Schlafkammer bei seinem Bruder Ferdinand in einem unnoblen Grätzel auf der Wieden, damals eine Vorstadt von Wien, langsam zu Ende geht und schließlich erlischt.

Schubert weiß aus innerer Gewißheit um dieses Zu-Ende-Gehen seines Lebens, er weiß, daß er bald sterben wird. Dagegen lehnt er sich auch nicht auf, er nimmt den bevorstehenden Tod genauso wie das Leben, als Schicksal, dem man sich zu unterwerfen hat. Noch einmal zieht in diesen Tagen sein Leben in Erinnerungsträumen vorüber, er mißt und prüft und beurteilt es. Noch einmal werden die wichtigsten Lebensabschnitte und Ereignisse in seinem Leben gegenwärtig.

Die Kindheit am Himmelpfortgrund in Wien: Das Leben dort ärmlich, ja armselig. Die Sängerknabenzeit im Konvikt, das erste Komponieren, schon recht früh. Der erste schnelle, eigentlich recht mühelos errungene Erfolg, der ihn bald zu einer gefeierten Figur des Wiener Gesellschaftslebens in adeligen und bürgerlichen Kreisen mit dem Ruf eines Bohemien macht, der ihn aber auch sozial aufsteigen läßt. Seine Künstlerfreundschaften und das damit verbundene gesellige, in den Augen der Moralisten: ausschweifende Leben, mit nächtelangem Sicht-Herumtreiben in den Cafés und Wirtshäusern dieser Stadt. Seine Ausflüge mit Freunden und Bekannten in die schöne Natur der näheren Umgebung von Wien, die er so liebte. Gefühlsverbindung und Gefühlsbindung in tiefen Freundschaften mit wenigen Auserwählten, wie den Brüdern Hartmann und Moritz von Schwind: bloßes unverbindliches Zusammensein mit vielen als Zeichen eines hellen Wachseins für die Fragen der Zeit, aber auch einfach als Flucht vor und aus der eigenen Einsamkeit und dem gefürchteten Gefühl des Verlassenseins. Seine Begegnungen und Verbindungen mit Frauen, stets leidenschaftlich, aber glücklos, romantisch-schwärmerisch, aber ziel- und ergebnislos, jedesmal in unausweichlicher Enttäuschung mündend, mit dem Ergebnis einer verbleibenden tiefen, ungestillten. unstillbaren Sehnsucht, die zum grundlegenden Schubertschen Lebensgefühl wird: zu einem Gefühlsfilter, durch den allein er letztlich seine eigene Existenz sieht, begreift und schmerzlich spürt. Dann kurzes, aufbrausendes Glücksgefühl. Selbsterfahrung, Selbstbestätigung, Selbstgewißheit. Schließlich die Ansteckung mit der tödlichen Geschlechtskrankheit. Behandlungsaufenthalt auf der venerologischen Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses in Wien. Die schmerzhaft spürbare soziale Diskriminierung. Das Bewußtwerden der einschneidenden Konsequenzen aus dieser Krankheit für das weitere Leben, der im doppelten Sinn jetzt begrenzten Lebenserwartung, das Wissen um seine maximale Lebensfrist, um den nahen Tod. Was bleibt, ist ein Rest von Leben unter dem Stigma einer tödlichen Krankheit.

Schubert erfährt das Leben von Anfang an als etwas vom Schicksal Bestimmtes, dem man sich nicht entziehen kann, das trotz einer Hinterfragung von eventuell doch vorhandenen Kausalzusammenhängen letztendlich doch rätselhaft und unerklärbar ist und bleibt. Er erfährt das Leben als das Wie seiner Existenz, als den Modus seiner eigenen Geschichte. Das bewirkt, vor allem ab dem Zeitpunkt seiner Erkrankung an Syphilis, an der er aber – Ironie des Schicksals? – nicht stirbt, einen tiefen Veränderungs- und Reifungsprozeß seiner Persönlichkeit, der kein rational-intellektueller ist, keiner mit einem präzisen, handgreiflichen Ergebnis, sondern der ein seelisch-metaphysischer ist, der sich vor allem in einem künstlerischen Neuansatz in seiner Musik ausdrückt, in der Entstehung seiner ,,neuen Musik”, wie Schubert sie selbst nennt.

,,Die Winterreise”, die ,,drei Sonaten für das Klavier” und das „Quintett! sind für Schubert der Inbegriff dieser „neuen Musik“ und doch zugleich noch Stationen auf dem Weg zu ihr hin, zu einer neuen Musik, um die sein ganzes Denken, Träumen und Phantasieren in seinen letzten Lebenstagen kreist, die im Gegensatz zu früher eine solche sein soll, ,,die nichts mehr darstellt und nichts mehr will, die eben nur ist”; von der er überzeugt ist, daß von dieser ,,neuen Musik” ,,jede einzelne Note mehr wert ist als alles andere”, was er vorher geschrieben hat. Was aber bedeutet all dies?

Hier mißt einer, der sich der Endgültigkeit seiner Situation bewußt ist, der weiß, daß nichts mehr hinzugefügt und nichts mehr weggenommen werden kann in seinem Leben, sein geschaffenes Werk an seiner künstlerischen Absicht, er stellt es in Frage, er verwirft die von ihm selbst in einem ganzen Leben erzeugte Realität und setzt an ihrer Stelle den Entwurf einer Utopie, von der er weiß, daß sie eine solche bleiben wird.

Er, dieser Franz Schubert, ist damit plötzlich als Mensch und Künstler genau das, was ihm in seinem ganzen bisherigen Leben widerstrebte: Er ist radikal. Er mißt sein Leben auch an seinem Lebensentwurf. Und erfährt dabei aus dieser doppelten Blickrichtung, aus dieser Einsichtnahme in seine Kunst und in sein Leben, daß die existentielle Dimension der Kunst in der Freiheit des künstlerischen Wollens, in einem individuell-subjektiven Befreiungsakt selbst liegt, gebunden freilich an ein strenges Ordnungs- und Gestaltungsprinzip, damit Geistig-Seelisches sinnlich erfaßbar wird. Und er erfährt, daß die existentielle Dimension des Lebens vor allem in der Schicksalhaftigkeit menschlichen Lebens liegt, in einer dem eigenen Wollen und der eigenen Ansicht letztlich entzogenen, ja oft geradezu entgegengesetzten, die Wirklichkeit bestimmenden, oft auch als reine Zufallswillkür erscheinenden, eigengesetzlichen Lebenskraft besteht. Er erfährt Freiheit und Beschränkung in ihrer existentiellen Dimension. Das Eine als das Prinzip des Göttlichen, das Andere als das Prinzip des Irdischen im Menschsein. Das Eine als einen Weg hin zur Ewigkeit und Unendlichkeit, das Andere in seiner Vergänglichkeit, als den Weg hin zu Sterben und Tod. Am Ende seines Lebens, in diesen seinen letzten Tagen, in diesem Lebens- und Sterbeprozeß und in der Gewißheit seines bevorstehenden Todes, erfährt Schubert die ganze Dimension der Wahrheit von Leben und Kunst, von Freiheit und Schicksalhaftigkeit, von Geist und Natur, indem er ihr Wesen beispielhaft an seinem eigenen Leben erschuf und ihrer Bedeutung für den Menschen einsichtig wird. Mit dem eigenen Sterben vollzieht sich für Schubert die Beendigung und Aufhebung einer lebenslangen Gefangenschaft in diesem grundsätzlichen Dualismus. Der Tod erscheint ihm als das, was er in Wirklichkeit ist: das Heraustreten des Menschen aus der eigenen Begrifflichkeit und aus der Begrifflichkeit der Welt, aus der eigenen Endlichkeit und aus der Endlichkeit der Welt in die Unendlichkeit personaler und universaler Freiheit. Das Sich-Loslösen von starren Gesetzlichkeiten einer scheinbar realen Welt, das Losgelöstwerden aus dem irdischen Bereich von Kausalität und Faktizität, das Geöffnetwerden für die letzte Sinngebung des Lebens in der Aufhebung aller Grenzen und aller Begrenzung von Existenz, als Erlösung aus der Gefangenschaft, als Übertritt aus der Endlichkeit in die Unendlichkeit, aus der Zeit in die Ewigkeit, aus der Beschränkung alles Existierenden in die unbegrenzte Freiheit, aus der Qualität eines Etwas in die reine Existenz des Nichts. Seinserkenntnis vollzieht sich im Bewußtsein des Todes. Sterben ist der einzig wirkliche und wahre Befreiungsakt.

Schubert erkennt und begreift all dies und versteht es. Das sind seine Phantasien und Fieberträume: Die Einsichtnahme in das Geheimnis der Existenz. Seine ,,neue Musik”, diese ganz reine, unbegreifbare, undeutbare, übersinnliche Musik, die nicht mehr Melodie, sondern bloß Klang sein soll, die ihre Bedeutung allein in ihrer Existenz hat, diese Musik hört er bereits; er wird sie nicht mehr schreiben können, das weiß er, das fühlt er. Er weiß und fühlt: Diese Musik ist bereits ein Zeichen überirdischer Freiheit, ist bereits die Botschaft aus einer anderen Welt. Und er ist auf dem Weg zu ihr hin. Schubert ist bereit, in diese Welt aufzubrechen, sich dem Leiermann anzuvertrauen, mit ihm mitzugehen auf die Wanderschaft, von der keiner mehr zurückkehrt. Diese Ergebenheit, in der er sein Lebensopfer bringt, ist nur aus der Gewißheit einem für ihn angebrochenen, erkennbaren und fühlbaren Erlösungsgefühl erklärbar. Schubert fühlt und weiß es: Der Tod ist der einzige Weg in die Freiheit. Schuberts Ergebenheit ist kein menschlicher Akt und keine Haltung von Unterwürfigkeit und Demut, sondern eine aus einem Einsichtsprozeß in letzte Geheimnisse auf dem Totenbett gewonnene Bereitschaft zur eigenen Befreiung.

Das ist, so interpretiere ich es, das Schubert-Bild Peter Ebners in seinem Roman ,,Schnee im November”. Es ist ein Schubert-Bild weitab von jedem bekannten und gewohnten Klischee; weitab auch von der Unberührbarkeit und abstrakten Begrifflichkeit eines nur musikwissenschaftlich erfaßten und aufgebauten und nur in dieser engen Dimension gedeuteten Menschen- und Künstlerbildnisses Franz Schuberts. In diesem Roman, in der Schilderung der Romanfigur dieses Franz Schubert, geschieht etwas ganz Wesentliches: Hier wird einem weit verbreiteten Menschenbild und philosophischen Weltbild-Bekenntnis, das von der Endlichkeit und damit von der bloßen Irdigkeit der menschlichen Existenz aufgrund einer materialistisch-funktionalen Menschen- und Weltauffassung spricht, entschieden und überzeugend widersprochen. Dieser Roman und das darin entworfene Schubert- und Menschenbild sind überhaupt ein Widerspruch gegen das Gewöhnliche, das im Letzten nichts wirklich und nichts wesentlich und wahrhaft erfaßt, weil es immer nur innerhalb seiner sich selbst gesetzten Bahnen, Vorstellungen und Grenzen bleibt. Das Schubert-Bild Peter Ebners ist ein Menschenbild, das nicht im Irdischen begrenzt und eingesperrt ist, sondern das gezeichnet und geprägt ist von einem mehr als nur Schicksal genannten und benennbaren metaphysischen Geheimnis. Die wesentliche und so wichtige Mitteilung, die Botschaft, wenn man so will, ist diese: Leben und Kunst sind eine Einheit und in Wahrheit außerhalb unserer gewohnten, begrifflichen und konkret erfahrbaren Welt angesiedelt. Personalität und Universalität sind in der Existenz des Menschen untrennbar miteinander verbunden.

Es geht dem Autor Peter Ebner nicht um die Darstellung eines historisch gesicherten biographischen Lebensbildes von Franz Schubert, sondern er entwickelt, ausgehend vom musikalischen Phänomen Franz Schubert, ein Seelenbildnis, das darauf abzielt, diesen einzigartigen Musiker und Menschen Franz Schubert von einem ganz bestimmten künstlerischen und existentiellen Wendepunkt in seinem Leben her zu verstehen, eben von seinem Ende her, indem er uns miteinbezieht in Schuberts letztes Schauen der letzten Geheimnisse von Existenz überhaupt. Ebner führt uns in diesem Roman behutsam zu jenem Punkt der Berührung von Leben und Kunst Franz Schuberts, wo die Zusammenhänge zwar nicht erklärbar sind, aber das Geheimnis als etwas Wirksames offenbar wird. Die Frage nach der Wirklichkeit wird durch die viel wichtigere und wesentlichere Frage nach der Wahrheit ersetzt. Und es zeigt sich, daß die Wahrheit nicht in der Begrifflichkeit und nicht in der Faktizität oder Kausalität des Lebens liegt, sondern einzig und allein darin, daß das Seiende ist.

Wie die Wahrheit als etwas Universales nun persönlich erfahren werden kann und persönlich erfahren wird in der Wirklichkeit des Seins, das hängt sehr vom einzelnen Menschen ab. Vielleicht liegt der Schlüssel zum Geheimnis des Lebens bescheidenermaßen nur in der Einsicht und Haltung, die aus jenem Satz spricht, den Peter Ebner in seinem Roman Franz Schubert kurz vor dessen Tod sagen läßt: ,,Es ist halt so, wie man es nimmt.”

Schnee im November. – Ein Franz Schubert Roman. Von Peter Ebner.
Mit einem Vorwort von Hermann Prey. Styria Verlag, Graz 1984.

Peter Paul Wiplinger
Wien, 16.-17.12.1984


Genre: Historischer Roman
Illustrated by Styria Verlag Graz

Versteckenspiel

VERSTECKENSPIEL
Gedichte von Hedwig Katscher

„Ein Traumfragment
das Leben.
Der Tod
ein Bruchstück Wahrheit“

(Aus dem Gedicht ,,Der Befund“)

„Meer und Himmel
sind mir Heimat.

In mir sind sie zuhause.
So bin ich ihre.“

(Aus dem Gedicht ,,Die Landschaft“)

„Versteckenspiel“ heißt der Titel einer Gedichtsammlung von 57 Gedichten der österreichischen Dichterin Hedwig Katscher, die als Band 23 der Reihe ,,Lyrik aus Österreich“ im Verlag G. Grasl, Baden bei Wien, 1982 von den Exponenten des Literaturkreises Podium, Alois Vogel und Alfred Gesswein, herausgegeben worden ist.

Versteckenspiel – was hat dieses Wort, das gleichzeitig die Bezeichnung für ein Spiel aus unserer Kindheit ist, das wir alle gespielt haben – mit Spannung, Angst und Freude – als Titel eines Gedichtbandes zu bedeuten, was signalisiert es, wofür ist es als Chiffre gesetzt? Mit welcher Interpretation erfasse ich seinen Sinn, was ist damit gemeint? Etwas klingt da an, drängt sich als leicht verfügbare, weil gängige Assoziation auf: Rollenspiel, Rollenverhalten, Rollenzwang. Dies ist mit Sicherheit nicht gemeint, mit diesem Ansatz gehe ich fehl bei meiner Spurensuche, beim Versuch einer Interpretation dieses Wortes. Also hin zum Text und aus dem Text heraus zum einzelnen Wort (Zusammenhang) und von diesem zum Gemeinten und von da zum Sinn.

Einer Dichtung nachzuspüren, ihr auf die Spur zu kommen, bedeutet, den Weg des Denkens, den Weg des dichterischen Wortes einzuschlagen, den Weg zurückverfolgen, den Weg des Wortes zu seinem Ursprung. „Wohin?“ Dieses eine Fragewort steht als Motto auf einer leeren Seite allein dem Gedichtband voran. Also gleich am Anfang auch Fragestellung nach einem Weg, nach einer Zielrichtung, mit einer Zielgerichtetheit, nach einer (schicksalhaften) Bestimmung. In dieser einen Frage scheint sich die geeinte Bedeutung aller anderen möglichen Fragen als Einheit zu artikulieren. Sie eint in sich auch ein Gehvarianten eines Weges – des menschlichen Lebensweges – vom sich im Dunkel Vorwärtstasten bis hin zum zielgerichteten und zielbewußten Gehen.

Fragen werden gestellt, aus Situationen heraus, auch – ja vor allem – aus der eigenen Ich-Situation. Symptome werden hinterfragt, Zusammenhange werden abgefragt. Fragen, die nicht Ausdruck der eigenen Unsicherheit sind, sondern Orientierungshilfen sind, so wie ein Kompaß in einer unbekannten Landschaft. Anzeichen, Symptome, Zusammenhänge werden auf diese Weise sichtbar (gemacht). Schicksalsereignisse, Leidenswege und Leidenszustände werden aufgezeigt, Diagnosen werden gestellt. Und dann kommt (ähnlich wie bei der Diagnose: „Es ist Krebs!“) am Ende der Befund. Er ist nicht gleich das Todesurteil, sondern eine dem Leben entsprungene Erkenntnis, die einem nur nach langem Lebens- und Leidensprozeß, noch mitten im Leben, aber nahe am Tod, zuteil wird: die Erkenntnis als das gefundene Ziel eines Weges, den man gegangen ist.

Hier beginnt die tröstliche Gewißheit, der innere Friede. Man ist angelangt, am Ziel seiner Bestimmung. Alles, was zerrissen war, wird wieder ein Ganzes, man selbst wird wieder eingegliedert aus dem Chaos heraus in eine große, von uns unabhängig vorhandene, wirksame Ordnung der sich gegenseitig bedingenden Kräfte einer Einheit von Leben und Tod. Ein Zugehörigkeitsgefühl zum Ganzen der Schöpfung wird spürbar und einem bewußt. Die Splitter der Zeit werden zusammengefügt zu einer zeitlosen Gestalt, zu einer immer wiederkehrenden und einer immer wieder sich erweisenden Einheit alles Seienden. Die Ausweglosigkeit aus den Fragen wird zu einem tiefen inneren Frieden.

Die Frage nach dem Woher steht für Hedwig Katscher nicht am Anfang, sie wird von ihr erst am Ende des Weges in einer Art Rückschau gestellt; aus einer gewissen Verwunderung heraus darüber, daß diese Frage plötzlich am Ende auftaucht: die Frage nach der Herkunft. Diese Frage – eben nicht am Beginn stehend – hat den Weg nicht bestimmt, es erfolgte keine Einengung der Freiheit durch sie. Aber sie stellt sich nun – eben am Ende des Weges – in den Weg. Diese Frage will gestellt sein, auch wenn sie vielleicht nicht beantwortet werden kann, auch wenn keine weitere Frage auf diese Frage gegeben werden kann, vielleicht auch nicht gegeben werden muß, weil die Antwort auf das Woher unwichtiger ist als die Antwort auf die Frage nach dem Wohin.

,,Wie kam ich in dies Land?
Die Landschaft lächelt
im Traum von Kinderglück,
zärtlich singen die Vögel –
wie kam ich in dies Land
zum zweiten Mal,
wo Steine mir berichten
und die Menschen schweigen.“

(Aus dem Gedicht ,,Dies Land“)

Herkunft als etwas Vorbestimmtes, das sich unserer Verfügbarkeit entzieht, von der wir ein ganzes Leben lang ge(kenn)zeichnet sind, auch im Sinne einer Determination unseres Ichs, als Hemmnis und Verhaftetsein; und doch auch als Geborgenheit in ihr. Der Weg aufgrund der Fragestellung WOHIN?, diese Suche, ist ein Weg unter dem Zeichen der Freiheit, auch ein Weg unter der Bestimmung des Ausgesetztseins in Schutzlosigkeit; ein Weg, der als Irrweg in die Katastrophe, der aber auch ans Ziel fuhren kann. Auf jeden Fall ist er ein Weg der Freiheit, einer, auf dem wir nur auf uns selbst angewiesen sind. Ein Weg, den Menschen auch gemeinsam gehen können, ein Weg, der verbindet, der Gemeinsamkeit zeugt.

Lebensgefährte – Lebensweg. Wieder etwas Umspannendes, das mehr ist als bloß eine Station, als eine Zeiterscheinung. Wieder etwas Ganzes, etwas Gründliches, etwas Wesentliches, etwas Bestimmendes, etwas Wirkliches, etwas Wahres. Mit der Liebe als etwas Grundlegendem, als letztem (Beweg)grund des Seins. Und das ist mehr als ein soziologisches Phänomen. Die Liebe als Ausgangsbasis für eine mögliche gültige Antwort auf alle die Fragen nach dem Woher und Wohin, die Liebe als Wahrheitsereignis der Einheit von Leben und Tod, die Liebe, die, wie es im „Hohen Lied“ heißt, ,,stärker als der Tod“ ist.

Von dieser Liebe sprechen die Gedichte Hedwig Katschers. Von der personal erfahrenen, vom Verlust des Lebensgefährten; nicht vom Verlust der Liebe durch dessen Tod, im Gegenteil, aber doch vom Schmerz, der durch den Verlust seiner Gegenwart, seiner greifbaren Gestalt, ins Leben einschneidet. Dieser Schmerz ist die wahre Lebenswirklichkeit, die einen selbst im verborgensten Versteck aufspürt, der man sich durch kein Versteckenspiel entziehen kann. An ihm wird das volle Maß an erlebbarer Wirklichkeit als Grunderfahrung menschlichen Lebens überhaupt erfahren. Und die ,,Totenklage“ ist nicht nur ein Wehklagen als Ausdruck des Schmerzes über den Verlust des geliebten Menschen und der Ausdruck der Trauer über das Allein-Zurückbleiben, sondern sie wird auch zum Ausspruch der Erkenntnis von der Brüchigkeit der Zeit, von ihrer begrenzten Gültigkeit. Hier wird personale Leiderfahrung zur Erfahrung einer universalen Wahrheit des Seins.

„Gestern
vom Schlaf gepackt
und plötzlich wieder wach,
sprach ich zum Lehnstuhl hin:
,,Weißt Du, es ist schon spät!“
Da sah ich, daß er leer war.
Das war der tiefste Schrecken.
Das war die Wirklichkeit.
Dich gibt es nicht mehr.“

(Aus dem Gedicht ,,Totenklage“)

Eine solche Erkenntnis von Lebenswirklichkeit und Lebenswahrheit ist nicht das Ergebnis eines Erfahrungsprozesses und eines vollzogenen analytischen Denkprozesses in einem vollzogenen Bewußtseinsprozeß, sondern hier wird jemand schicksalhaft von der Wahrheit getroffen. Der ,,tiefe Schrecken“ ist wie eine Stigmatisierung. Aber auch er ist nichts Endgültiges, auch er ist nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur Läuterung durch das Leid, auf dem Weg, den man gehen muß, bis man selber ,,reif wird“. Selbst der Tod, personal erfahren am Verlust der leiblichen Gestaltsgegenwart des geliebten Menschen, des Du, ist kein Ereignis absoluter Endgültigkeit, sondern bildet wiederum einen weiteren Ansatzpunkt im geistig-seelischen Wandlungsprozeß des von diesem Ereignis betroffenen Menschen, der nach dem Abbruch dieser Lebensgemeinschaft zurückbleibt. Die leibliche Gegenwartseinheit ist zerbrochen, nicht aber das Einssein in der Liebe.

,,Noch immer
nähr ich mich
von deinem Dasein …“

(Aus dem Gedicht ,,Noch immer“)

,,Ich muß Dich weitersuchen,
mit Dir sprechen.
Denk an die vielen Fragen,
die wir uns,
die wir einander stellten,
an Namenloses, Unbekanntes auch.
War ich ein Halm,
hast Du mir Halt gegeben.
Sah ich Dich schwanken,
hielt ich Dich umfangen.“

Die Erinnerung an den verstorbenen geliebten Menschen bahnt sich über das Wort, über das Gespräch, den Weg in die Gegenwart. Der Verstorbene ist nicht mehr leiblich anwesend, aber er ist gegenwärtig, ja er scheint immer mehr an bestimmender Gegenwart im Leben des ihn Betrauernden zu gewinnen. Aus der im früheren Zusammensein oft erlebten Sehnsucht nach der Gegenwart des anderen geliebten Du wird die immer stärker werdende Sehnsucht nach einer dauernden und endgültigen Vereinigung mit ihm, nach einer zeitlosen, ewigen Verbundenheit, die auf immer dem Zugriff der Zeit entzogen ist.

,,Und meine Asche
wird bei Deiner liegen.
Ohne Trennung
wird unser Beischlaf sein.“

(Aus dem Gedicht „Schneeflecken“)

Bis dahin aber gilt es auszuharren, die Fremdheit und die Heimatlosigkeit im weiteren eigenen Leben zu ertragen.

Aus dieser Erfahrungs- und Lebenswirklichkeit heraus entstehen Hedwig Katschers Gedichte: aus Schmerz und Trauer, aus dem Gefühl und Bewußtsein der Heimatlosigkeit, der eigenen und der des Menschen überhaupt. Vor allem aber entstehen sie aus einer Gewißheit heraus, daß die Liebe stärker ist als der Tod; daß sie alles überwindet. Und daß wir auf diesem Weg, der von der Frage nach dem WOHIN vorgezeichnet ist, unser Leben erleben, erleiden, erfahren, erdulden, am Ende doch die ,,1ebendige Wahrheit“ finden und erfahren.

„Versteckenspiel – Gedichte von Hedwig Katscher“, Band 23 der Reihe „Lyrik aus Österreich“, herausgegeben von Alois Vogel und Alfred Gesswein. Verlag G. Grasl, Baden bei Wien, 1982.

Peter Paul Wiplinger
Wien/Haslach, 25.-26. Dezember 1982


Genre: Lyrik
Illustrated by Unbekannter Verlag

Die burgenländischen Kroaten im Wandel der Zeiten

Rettung in letzter Minute
Ein Standardwerk über den Werdegang der burgenländischen Kroaten

„Vielfalt statt Einfalt!“ – Diese programmatische Parole möchte man all jenen zur Ermahnung zurufen, die in unserem Staat und vor allem in den betroffenen Bundesländern in der Volksgruppenfrage, aber auch sonst, der Konformierung, Assimilierung und Uniformierung das Wort reden.

Über 450 Jahre sind nun vergangen, seit die heutigen burgenländischen Kroaten im 16. Jahrhundert auf der Flucht vor den Türken ihre angestammte Heimat im nordöstlich verlaufenden Landstreifen vom Adria-Küstengebiet zwischen Krk und Zadar über die Lika, Krbava, über Bosnien, Slawonien bis hinauf zur Donau, zur Linie etwa zwischen Pécs und Novisad, verlassen und sich in ihrem neuen Siedlungsgebiet, im damaligen Westungarn, dem heutigen Burgenland, niedergelassen haben. Viele kroatische Auswanderer haben sich damals auch in Niederösterreich, in Südmähren und in der Slowakei angesiedelt. Sie alle sind dort heute fast zur Gänze im Mehrheitsvolk aufgegangen und als eigenständige sprachlich-kulturelle Volksgruppe untergegangen und verschwunden.

Einen Restbestand dieser Volksgruppe (18.700 Seelen, also sieben Prozent der Gesamtbevölkerung des Burgenlandes), die im Lauf der Jahrhunderte auch in der Diaspora ihre eigene Kultur erhalten und entfalten konnte, gibt es zum Teil noch in den einstmals fast rein kroatischen Dörfern des Burgenlandes. Dort ringt und kämpft diese sprachlich-kulturelle Minderheit um Erhaltung und Neufindung ihrer ldentität, um die Rechte, die man ihr aus kultureller und gesellschaftspolitischer Kurzsichtigkeit und Ignoranz oft vorenthält, gegen den Druck der Assimilierung, gegen die Gefahr der Selbstaufgabe, kämpft ganz einfach um ihr Überleben.

Ein höchst wichtiger Beitrag zu dieser Selbstfindung und in diesem Kampf ist ein umfangreiches Buch, in dem 16 burgenländisch-kroatische Autoren mit Einzelbeiträgen einen ausführlichen und wissenschaftlich fundierten Gesamtüberblick über „die burgenländischen Kroaten im Wandel der Zeiten“ geben. In geschichtliche Epochen und historische Entwicklungsabschnitte sowie in einzelne Sachgebiete gegliedert, geht das Werk umfassend und genau auf die einzelnen Themenbereiche ein, etwa im Abschnitt ,,Die Kroaten im west-ungarischen Raum (1848-1918)“ und im Burgenland 1918-1938, in der Nachkriegszeit und in der Gegenwart.

Einzelne Beiträge behandeln die Sprache der burgenländischen Kroaten, ihre Entwicklung und ihren Status heute, die Problematik, die sich aus dem Fehlen einer gemeinsamen Schriftsprache ergab und noch immer ergibt; die Literatur von ihren Anfängen im religiös-liturgischen Bereich über die Volksliteratur bis zur zeitgenössischen Lyrik und Prosa; das Schulwesen, das für diese wie für jede andere Volksgruppe zum wichtigsten Entscheidungsfaktor im Kultur- und Überlebenskampf geworden ist; die Musik, die von den meisten von uns als folkloristisches Belebungselement in Gestalt einer Tamburizza spielenden, singenden und tanzenden Trachtengruppe noch am ehesten als Volksgruppenüberbleibsel in einer touristischen Einheitskultur akzeptiert wird. Das ist vielleicht das Wunschbild der Assimilierungsbetreiber überhaupt, daß die Volksgruppe auf eine Folkloregruppe reduziert und erniedrigt wird.

„Aber auch über das Vereinswesen und über die – leider bereits ganz verschwundenen – Trachten sowie über das ebenfalls kaum mehr bestehende Brauchtum wird berichtet.

Vor allem aber wird über die Bedeutung der katholischen Kirche und des Klerus für die Kultur der Burgenlandkroaten gesprochen; und darüber, welche hervorragende Stelle sie stets – etwa im Schulwesen – eingenommen haben. Erwähnenswert und wichtig ist auch das Kapitel über die Rechtslage der kroatischen Volksgruppe im Burgenland aufgrund der Staatsverträge (St. Germain 1919, Wien 1955) und der aus diesen und aus den verschiedenen Interessenskonflikten sich ergebenden gegenwärtigen Situation, die alles andere als befriedigend ist.

Die Volksgruppe ringt zwar mit immer größeren und wahrlich bewundernswerten Anstrengungen um ihren Fortbestand, aber die Anzeichen für den drohenden Untergangs sind bedrohlich. Denn die Statistiken der Volkszählung sprechen hier eine klare und eindeutige Sprache. Seit der Volkszählung im Jahr 1923, also zwei Jahre, nachdem das heutige Burgenland zum österreichischen Staatsgebiet gekommen ist, hat sich die Bevölkerungsgruppe der Burgenlandkroaten bis heute um die Hälfte reduziert. Die Abwanderung ist einer der Minimierungsfaktoren. So leben in Wien zur Zeit schon fast genauso viele (ehemalige) burgenländische Kroaten wie im Burgenland. Und hier ist der Assimilierungsdruck besonders stark und gravierend.

,,Vielleicht kommt durch dieses Buch aber auch den Mitbürgerinnen und Mitbürgern deutscher Muttersprache zum Bewußtsein, daß nicht nur das Burgenland, sondern unsere ganze Republik Österreich ohne unsere Kroaten geistig und kulturell ärmer wäre“, schreibt in seinem Vorwort der österreichische Bundespräsident Rudolf Kirchschläger. Dies bleibt zu hoffen. Was nottut, sind jetzt nicht Worte, sondern Taten: eine den Minderheiten entsprechende Kulturpolitik, die Erfüllung ihrer Rechte und unserer Verpflichtung; dazu noch etwas mehr als bloß nur diese. Man muß handeln, wenn es ums Überleben geht!

Die burgenländischen Kroaten im Wandel der Zeiten.
Herausgegeben von Stefan Geosits. Verlag Edition Tusch, Wien 1986. 456 Seiten.


Genre: Dokumentation
Illustrated by Tusch Edition Wien

Der Krüppel

Živorad Mitras Ježavski wurde 1955 im ehemaligen Jugoslawien, in Serbien, geboren. Er hat in Italien und Frankreich gelebt und ist viel gereist. Unterwegs hat er auch ein paar Bücher geschrieben. Seit seinem Badeunfall 1990 in der Donau lebt er als Querschnittgelähmter ständig in Wien. Die Trilogie „Der „Krüppel” ist sein erstes Prosawerk. Das erste Buch dieser Trilogie in deutscher Übersetzung erschien 2003 im Viza Edit-Verlag.

Ježavski schrieb in diesem Buch seine Erlebnisse nieder, seine Erlebnisse und Erfahrungen als Querschnittgelähmter: vom Unfall, der in seinem Geburtselement, dem Wasser – seine Mutter hatte ihn beim Baden in einem Bottich zur Welt gebracht – passierte, seine Zeit im Wilheminenspital und in Lainz.

Auch im zweiten Buch erleben wir Ježavski, wie er von einer Einrichtung zur anderen wandert (Club Nyance, wieder Lainz, Rehabilitationszentrum „Weißer Hof“), wie er lebt und leidet und trotzdem voller Hoffnung ist, seinem Schicksal trotzen zu können. Sein Optimismus ist unbesiegbar, der (Galgen)Humor ist sein Verbündeter, der ihm in schwierigsten Situationen hilft, nicht aufzugeben und weiter zu kämpfen.

Und so ist ihm eine eindringliche Prosa über seinen Weg vom Verunglückten zum ins Leben Zurückfindenden gelungen. Ježavski hat ein Buch geschrieben, das einem beim Lesen manchmal bedrückend vorkommen mag, in Wahrheit aber kein deprimierendes Buch ist. Auch das macht die Lektüre zur Herausforderung, daß man sich bei den doch oft bedrückenden Szenarien immer wieder die Lebensbejahung des Autors als Betroffener vor Augen halten muß. Es ist ein schwieriges Buch, wie das Leben als ,,Krüppel” selbst, aber es lohnt sich wirklich, sich mit diesem Buch zu befassen und sich in diese Welt zu vertiefen.

„Es wurde vielleicht aus der Verzweiflung und aus einer aussichtslosen Situation heraus, von einer Endstation her geschrieben, aber es berichtet vom Lebens- und Überlebenskampf eines unbeugsamen Tapferen, der sich Tag für Tag sein Weiterleben erkämpft, gleichsam in einer Utopie Hoffnung (Ernst Bloch). Es ist das berührende und erschütternde Zeugnis eines Menschen, der einen aufrechten Gang hat, obwohl er an den Rollstuhl oder an sein Bett gefesselt ist. Der Krüppel verzichtet auf jede Mitleidsreaktion, lehnt eine solche ab. Sein Schicksal ist seine größte menschliche und zugleich schriftstellerische Herausforderung, der er sich stellt und in der er – auch mit Hilfe des Schreibens und der Literatur – besteht. Eine bewundernswerte Haltung: Eine große schriftstellerische Leistung. Ein wichtiges Buch.“ (P.P.Wiplinger).

Nach jahrelangen Zwischenstationen in Spitälern lebt Živorad Mitras Ježavski nun in einem Behindertenwohnheim in Wien und arbeitet weiter als Schriftsteller. Ježavski ist Mitglied des Österreichischen und des Internationalen P.E.N.-Clubs, des Literaturkreises „Podium” sowie der IG Autorinnen Autoren. Im Jahr 2001 wurde ihm der Theodor-Körner-Preis verliehen.

2012 ist Živorad Mitras Ježavski (Mitrasinović) in Wien verstorben, sein Grab ist am Wiener Zentralfriedhof.

Peter Paul Wiplinger
Wien 2004


Genre: Erinnerungen
Illustrated by Viza Edit-Verlag Wien

Leben ist, wenn man trotzdem lebt

Leben ist, wenn man trotzdem lebt

Vor uns liegt ein dickes, gewichtiges Buch, mit 800 Seiten Umfang. Es trägt den oben ge-nannten Titel, in Abwandlung eines geläufigen Ausspruchs („Humor ist, wenn man trotzdem lacht“). Der Titel ist als Titel für ein Buch eigentlich ungewöhnlich, denn er ist keine knappe Wortkombination, sondern ein Satz, eine Aussage, eine Formulierung mit manifestartigem Charakter, also eine Proklamation. Dahinter steht eigentlich ein gedachtes, mitformuliertes, wenngleich nicht geschriebenes Ausrufungszeichen. Ein Wort – eben das Wort „trotzdem“ – erhebt eine sonst banale Erkenntnisformulierung – Leben ist wenn man lebt – zu einem Be-kenntnis, zur Deklaration einer Haltung, zur Proklamation mit Anspruch auf Gültigkeit des so Erkannten, Gedachten und Formulierten. Eine Formel ist hiermit ausgedrückt; man könnte auch sagen: Eine Lebenserkenntnis, eine Lebensweisheit, vorallem aber eine grundlegende Lebensregel. – Dieses Wörtchen „trotzdem“, als kleine Einfügung, aber bedeutet und drückt aus: Widerstand, bereit sein zum Kampf, zum Lebenskampf, bedeutet: aktiv sein anstatt Le-ben passiv hinnehmen; bedeutet, im Leben ein Handelnder zu sein, nicht nur ein Betroffener. Und diese Haltung ist die Grundhaltung jenes Mannes, den der Autor hier schildert, dessen Lebensgeschichte er in diesem Buch erzählt.

Unter dem Titel ist noch in Klammer gesetzt eine Einfügung, nämlich jene: (Ein Roman …?). Wieder etwas Ungewöhnliches, aber sicherlich – jedenfalls bei diesem Autor – nichts Unüber-legtes. Hier wird eine Frage angedeutet, die ins Literarische geht, welche offen gelassen wird: vielleicht für den Leser – er soll selber entscheiden; vielleicht überhaupt. – Nun, bei allem Respekt für diese wissentlich und willentlich gesetzte Frage und die vielleicht einkalkulierte Antwort so oder so, gebe ich nun mal schon – als Leser ( und somit als zur Antwort Aufgeru-fener und Berechtigter) – eben meine Antwort auf diese offene Frage. Und diese lautet: Nein, dieses Buch ist kein Roman – im herkömmlichen und literarischen Sinn und einer daraus ab-geleiteten Wertung. Ein Roman ist das nicht. Es ist etwas ganz anderes; aber was dann? – Wo-bei hier weder Frage noch Antwort so sehr wichtig und wesentlich sind, nichts zum Buch hin-zufügen oder von ihm wegnehmen. Die eventuelle Antwort ist, was die formale Einstufung betrifft, eher belanglos; denn das Gesagte, Geschriebene ist und bleibt wichtig. Trotzdem ist diese aufgeworfene Frage, in ihrem rhetorischen Charakter, jedenfalls für mich, ein Zugang zur Charakterisierung dieses Buches.

Was da vorliegt, ist eine Lebenschronik, ein großes Erinnerungsbuch; das eines Menschen, der ein interessantes, spannendes, bewegtes Leben gelebt hat, davon berichtet, nun dieses aufge-schrieben, in literarischer Form wiedergegeben hat und so nun vorlegt. In dieser Rückschau wird nicht nur eine ungeheure Gedächtniskapazität und Gedächtnisleistung sichtbar, die ein Beweis dafür ist, wie intensiv, wie aufmerksam, aber auch wie umsichtig der Autor, der ja zugleich die Schlüsselperson des Geschehens ist, sich in die Ereignisse eingebunden hat, auch als Beobachter, als Interpret der Geschehnisse und seiner eigenen Rolle darin, sondern hier wird über einen solchen Lebenszeitraum hinweg sowohl für den Autor, den Chronisten, als auch für die Leser eine ganz wichtige Erinnerungsarbeit geleistet; jene, von der man weiß, daß sie nicht nur Bilanz zieht, nicht nur Abrechnung ist, sondern zugleich auch Bewältigungsver-such und Bewältigungsprozeß des eigenen Ich in Bezug auf das eigene Leben und das eigene Schicksal und alles, was damit zusammenhängt. Sich erinnern bedeutet, sich noch einmal al-les vergegenwärtigen. Bedeutet: Nachfragen, ob dieses oder jenes oder alles wirklich so war, wie es im Gedächtnis verblieben ist, oder nicht. Bedeutet auch, unter dem Schutt nach Ver-schüttetem, vielleicht auch nach Verdrängtem, nach Vergessenem zu suchen; sich dem als Suchender zu stellen. Bedeutet darüber hinaus aber auch noch: Das Gefundene und das im Gedächtnis Verbliebene zueinander in Beziehung zu setzen, in Zusammenhänge einzuordnen, ja schließlich auch zu werten; nach den eigenen Maßstäben. Bedeutet – für einen Kaufmann wie für einen literarischen Chronisten und Interpreten: Bilanz zu ziehen, eben abzurechnen; mit den Ereignissen, Geschehnissen, Personen; mit dem eigenen Leben. Daraus wiederum Erkenntnis zu gewinnen. Und auch: Diese dann mitzuteilen und weiterzugeben, an die Nach-welt auszuliefern. – Das ist der Sinn des Ganzen, so meine ich.

Darüber hinaus aber entsteht und vollzieht sich noch etwas; etwas, das über die eigene Persön-lichkeit, das eigene persönliche Schicksal, die eigene persönliche Lebensgeschichte, über das Ereignishafte und seine erzählerische Wiedergabe weit hinausgreift, in andere Bereiche und Dimensionen vordringt. – Immer, wenn von Menschen die Rede ist, geht es nicht bloß um Zufälligkeiten oder schon Schicksalhaftes. Hier geht es meist um Charaktere; darum, wie Menschen eben sind oder sein können; um ihre Veranlagungen, Wesenszüge, Eigenheiten, Dispositionen, ihr Verhalten; natürlich auch um ihre Meinungen, Haltungen, Grundsätze, Prinzipien; ihr Verankertsein in einer festgefügten, auch tradierten Wertordnung, einer jewei-ligen Moral, einer bestimmten Kultur, einer ethischen Grundhaltung; oder aber um ein Defizit in diesem oder jenem oder allem. Die Palette ist da reich, der Bogen weit gespannt: vom Gu-ten zum Bösen, von der Ehrlichkeit bis zur Niedertracht, von der Menschlichkeit bis zur Un-menschlichkeit und grauenhaften, menschenverachtenden Brutalität; auch und gerade von Ideologien, den daraus resultierenden diktatorischen Regimen, ihren Führern, Handlangern, Mitläufern, bis hin zu den Verrätern an der eigenen Sache. Und dazwischen eingestreut die nicht ausrottbare Dummheit und Borniertheit, aber vor allem auch immer die Anfälligkeit für Macht und Korruption. – Und dann noch die Opfer, oft Opfer für nichts; nur Geopferte, Aus-gelieferte, Ausgelöschte, Vernichtete. – Und die Frage: Wofür? Und die Frage und der Ruf nach Gerechtigkeit. Und die gewußte, entweder gegebene oder verschwiegene Antwort: Es gibt sie nicht! – Es darf aber auch nicht eine daraus abgeleitete Resignation, die Aufgabe, die Selbstaufgabe, das sich Hingeben an die Sinnlosigkeit geben. Irgendwo oder jeweils genau an einem bestimmten Punkt des menschlichen Lebens, der Schicksalsprüfung, spürt und weiß man genau, was es zu verteidigen gibt, trotz oder gerade wegen allem, da alles so ist wie es ist, nämlich: Die menschliche Würde; die Würde des Menschen. – Das andere, das ist das Unmenschliche, Unwürdige, das hat man erlebt und erkannt. – Ist für diese Erkenntnis viel-leicht alles so da, das Leben?

Von all dem spricht dieses Buch; auch im Gedenken an die lebensbegleitenden Personen – in der Familie, in der Schule, im Beruf; in der politischen Gesinnungsgemeinschaft, in der Schicksalsgemeinschaft durch die Zugehörigkeit zum Judentum, durch die Zugehörigkeit zum aktiven antifaschistischen Widerstand, der aus einem tiefen Gefühl, einer festen Überzeugung, aus einem Einstehen für die Idee von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Anständigkeit, Ehre und Demokratie (S. 795) resultiert und lebenslang gelebt wird. – Dazu noch die Begründung seines Lebens und seiner Lebensordnung auf ethischer und moralischer Wertebasis. Davor und zugleich noch die Werteverankerung durch Erziehung, in der Familie, durch das gelebte Beispiel. Und die Beherzigung des Sprichwortes: „Dem Tüchtigen gehört die Welt“. – So et-was bildet und stärkt die Lebenskraft, den Lebenswillen, den man braucht, wenn man überle-ben will, weil man überleben muß. Überlebenswille wird da – bei diesem Georg Pressburger, bei diesem Robert Weinmann – und dann schon früh, vor allem aber wenn und noch bevor es darauf ankommt, auf Grund eines entwickelten, erfolgreichen Überlebensinstinktes zu einer Überlebensstrategie mit selbstgelernten, wichtigen, entscheidenden Überlebenstechniken. – Und so ist er eben, zum Beispiel, als einer der wenigen aus der jüdisch-kommunistischen Strafkompanie in Rußland am Leben geblieben, als einer jener neun von 192 Häftlingen – Schicksal und Leistung zugleich. – Für viele, die das nicht sind, setzt er ein Denkmal, in und mit diesem Buch. So durch die Schilderung der Erschießung von siebzehn Mithäftlingen, Freunden und Genossen, in Rußland, als Geiselexekution. Ein Dokument des Grauens, weil der unmenschlichsten Barbarei, aber auch ein Zeugnis für die Wahrheit; ein Vermächtnis, dieser Opfer, dieser Geopferten zu gedenken. – So lapidar der Hinweis im Buch auf das Mas-saker vom 23.1.1942 an der Donau in Novi Sad – die Ermordung von 5.000 Juden, Serben, Roma und Sinti bei der sogenannten „Razzia von Novi Sad“ – ist, so spürt man hier doch sehr deutlich eine oft nur mühsam zurückgehaltene, durch Disziplin unterdrückte Emotionalität des Autors und sein Betroffensein. Was vielleicht als kühle Zurückhaltung, ja manchem vielleicht sogar als Gefühlskälte erscheinen mag, ist in Wirklichkeit nichts anderes als Haltung, als Dis-ziplin; vielleicht auch eine notwendige Überlebenstechnik, Überlebensstrategie. – Mit Tränen in den Augen findet man nicht so leicht, nicht so sicher das Gesuchte, schreibt man auch keine Bücher; vielleicht solche Passagen der Erinnerung.

Am Anfang des Buches ein Foto, der Vermerk, daß dieses Buch dem Andenken des „unver-geßlichen und geliebten Bruders“ gewidmet ist. – Und auf Seite 353 im Gedenken an die 1944 ermordeten Eltern jener Ausspruch einer so tiefgreifenden und tiefempfundenen Erkenntnis, wie eine Inschrift auf ein Wolkengrab: „… Ihre Vorstellungen von Ehre, Gewissen, Mensch-lichkeit und Nächstenliebe …. aber auch die große Liebe zu ihren Kindern kostete beiden das Leben …..“

Wenn man dies liest und begreift, dann weiß man, weil man es spürt, daß dieser Autor Georg Pressburger, dieser Robert Weinmann, nicht nur einer ist, der in seinem Buch Geschehenes mitteilt, eine Erinnerungswelt, die es nicht mehr gibt, vor uns ausbreitet, nicht nur Bilanz zieht, abrechnet, sondern auch einer ist, der jenseits des gesetzten Zieles und etwaiger literari-scher Kriterien, in und mit diesem Buch auch ein Vermächtnis gibt; und daß er darin und da-mit nicht nur erinnernd mahnt, sondern auch trauert und liebt.

Georg Pressburger – „Leben ist, wenn man trotzdem lebt“
Edition Roetzer, Eisenstadt 1997, 800 Seiten, S 390,-

Peter Paul Wiplinger
Wien, 26.11.1997


Genre: Erinnerungen
Illustrated by Edition Roetzer Eisenstadt/ Burgenland / Österreich

Nichts als Worte?

Nichts als Worte?
Ein Plädoyer für Kleinsprachen
Überlegungen zu einem Buch von Iso Camartin

,,Nichts als Worte?” – so heißt der als Fragesatz provokant formulierte Titel eines Buches des schweizerisch-rätoromanischen Sprachwissenschaftlers Iso Camartin, geboren 1944, den seine Lehr- und Forschungsaufträge bis jetzt auch schon nach Lyon, Regensburg, Harvard, Fribourg, Genf und Zürich geführt haben, der von 1978-80 Sekretär der ,,Lia Rumantscha” in Chur gewesen ist und jetzt Mitglied des Stiftungsrates von ,,Pro Helvetia” und Präsident der Herausgeberkommission der CH-Reihe ist und der auch andere Publikationen zu diesem Sachgebiet vorzuweisen hat, wie etwa die Studien ,,Rätoromanische Gegenwartsliteratur in Graubünden” (1976) und ,,Die Beziehungen zwischen den schweizerischen Sprachregionen” (1982).
Es handelt sich hier bei diesem Autor also nicht um einen Mann, der sozusagen im gesellschaftspolitisch und kulturpolitisch wertfreien Raum der Sprachwissenschaft herumphilosophiert, sondern der – zwar sehr behutsam in der methodischen Vorgangsweise, aber sehr gründlich und tiefgreifend im Denken, dazu noch sehr ausgewogen und umsichtig und mit einem großen Überblick – die aufgeworfenen Fragen zum Phänomen und zur Problematik der Kleinsprachen, der Randsprachen, der kulturell-sprachlichen Minderheiten, der Randkulturen überhaupt, mit der Genauigkeit und Seriosität des Wissenschaftlers, mit der Phantasie und dem Elan des Kulturessayisten, aber auch mit dem Engagement des in tiefer Sorge selbst Betroffenen klar und verantwortungsbewußt behandelt. Worum geht es also in diesem Buch, in dieser Auseinandersetzung, um welche Problembereiche, um welche Standpunkte, um welche Lösungsvorschläge?
Schon der Untertitel auf dem Buchumschlag, lautend als Ergänzung zum Haupttitel: ,,Ein Plädoyer für Kleinsprachen”, gibt klar Auskunft darüber, was man zu erwarten hat; auch von der Haltung und Einstellung des Autors zu diesem Thema. Er nimmt der provokanten Frage, ob die Sprache ,,Nichts als Worte” sei, das zur Denkanalyse herausfordernde Fragezeichen weg und antwortet darauf mit dem aus dem Denkprozeß gewonnenen Ergebnis, formuliert als Aussageformel: ,,Natürlich nicht!” Was also ist die Sprache? Auch oder vor allem die Kleinsprache, weil Phänomen und Problematik gerade an ihr deutlicher, weil abgegrenzter ersichtbar und erkennbar sind? Der Autor sagt es sehr deutlich: ,,Die Sprache ist mehr als die Summe ihrer Wörter” (Seite 68). Und er beruft sich bei diesem Urteil auch auf andere Instanzen der europäischen Geistesgeschichte. ,,Die Sprache ist das Haus des Seins”, formuliert der Philosoph Martin Heidegger in seinem Humanismusbrief. Für mich die klarste, prägnanteste , umfassendste, gültigste Aussage zu dieser Frage. Für Eduard Sapir ist Sprache ,,das Ausdrucksmittel ihrer Gesellschaft” (Seite 57). Und für Adorno ist sie das ,,Inventar der Vertrautheit”. Und -eingegrenzt die Thematik auf das Phänomen ,,Muttersprache” – gelangt Adorno zur Erkenntnis, ,,daß man aus der Sprache unvertreibbar ist” (Seite 63). Eine Erkenntnis, die lange vor Adorno – vielleicht in einem etwas anderen Zusammenhang, aber dafür sehr übergreifend und als Grundwertaussage zum Menschen überhaupt – der Dichter Jean Paul in seiner berühmt gewordenen Sentenz ausdrückt und zusammenfaßt, wenn er sagt: ,,Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus welchem wir nicht vertrieben werden können” (Seite 230). Und der österreichische Dichter Hugo von Hofmannsthal sieht den Bedeutungszusammenhang zwischen der Sprache und ihrem Sprecher darin, daß die Worte der Sprache in dem, was sie ganz individuell nur diesem einen Sprecher selbst bedeuten, ihm jenes ,,Selbstgefühl” geben, auf welchem ,,sein ganzes Dasein ruht”. (Seite 70).
Es ist also klar: Sprache ist mehr als die Summe von Wörtern. Und mit dem Verschwinden einer Sprache verschwindet mehr, viel mehr als nur Worte. Sprache ist Identität des Einzelnen und einer Sprech- und Sprachgemeinschaft, einer Kulturgruppe, einer kulturellen Einheit. Sprachverlust ist nicht bloß Wortverlust, sondern Kulturverlust, Lebensverlust. Keine Sprache kann durch eine andere in ihrem Eigenwert ersetzt werden. Reduktion heißt hier Verarmung: Verarmung im Geistigen, Verarmung in der kulturellen Vielfalt. Mit dem Verschwinden einer Sprache verschwindet die Ganzheit und Einheit einer kleinen, geschlossenen Welt. Die Welt wird wieder um einen Teil gleicher – und um einen gleichen Teil auch ärmer. Angleichung heißt hier Einebnung der Unterschiede, heißt: wieder einen fatalen Schritt näher zur gesichts- und gestaltlosen, entindividualisierenden internationalen Monokultur; heißt: wieder einen Schritt näher hin zur allumfassenden Funktionalität und somit zu noch mehr Sinn- und Wertverlust. Anstatt der Vielfalt der Schöpfung kommt nun die Einfalt der Menschen.
Sprache ist also mehr als ein Instrument zur Verständigung untereinander, ist mehr als ein Vehikel, als ein Transportmittel für (ver)mittelbare Denkinhalte oder Informationen. Sprache ist kein entpersönlichtes Medium mit nur linearem Bezug zwischen Sprecher und Angesprochenem. Sprache ist nicht nur, sie bedeutet auch etwas und birgt etwas in sich. Sprache bietet und begründet die Möglichkeit und den Weg der Welterfahrung und der Selbsterfahrung, der Seinserfahrung schlechthin. Sprache erzeugt, stiftet Individualität und bedingt Gruppenzugehörigkeit. Die Sprache birgt das ganze historische Erfahrungspotential einer Sprachgemeinschaft, einer Kulturgemeinschaft. In ihr unterscheiden sich einzelne, Gruppen und Völker. Sprachgemeinschaft wird oft auch zur Schicksalsgemeinschaft.
Allein zwischen 1945 und 1975 sollen auf unserer Erde über 10 Millionen Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Menschengruppe umgebracht worden sein (Harold R. Isaacs ,,The Idols of the Tribe” – “Die Götzenbilder des Stammes”, Zitat von Seite 50). Von den Völkermorden vorher – etwa am jüdischen Volk und dem der Roma und Sinti während des Nationalsozialismus oder am armenischen Volk in der Türkei kurz nach dem Ersten Weltkrieg oder am vietnamesischen und kambodschanischen Volk – ganz zu schweigen. Sprache bedeutet somit auch Zugehörigkeit zu einer Gruppe aufgrund einer gemeinsamen geschichtlichen Herkunft, ist neben Religion und nationaler Zugehörigkeit ein bestimmender Erzeugungsfaktor und ein Kriterium der Gruppenidentität. Sie gehört so auch mit zum Bezugsobjekt für Diffamierung, Unterdrückung und Völkerhaß.
Es scheint in der Geschichte der Menschheit eine alles beherrschende Tatsache und somit ein fast unumstößliches Gesetz zu sein, daß der Stärkere stets den Schwächeren unterdrückt, ihm Gewalt antut, ihn beherrschen will; daß die Mehrheit stets die Minderheit – die sie als minder(wertig) ansieht – unterdrückt, sie unterdrücken und zur Anpassung, zur Aufgabe ihrer Besonderheit und ihrer Identität zwingen will; daß alles Bestreben auf die Aufhebung der Unterschiede abzielt. Die Tendenz zur Vereinheitlichung, ja zur Vereinnahmung – auch im sozialen und gesellschaftlichen Bereich – des Individuums durch die Masse, durch den Staat, durch die Politik, durch die Medien, der Wenigen durch die Vielen, der Besonderen durch die Gleichen – ist in vollem Gange und schmerzhaft spürbar und in ihren Auswirkungen bereits überall ersichtlich und im eigenen Betroffensein auch erlebbar. Was sollen da noch kleine Sprachen, kleine Gruppen, Randkulturen, Minderheiten? Was sollen da überhaupt noch Völker, einzelne Nationen? Das Ziel ist Einheitssprache (Computer / Medien), Einheitsleben, Einheitsfunktionen, Einheitswert; die Machbarkeit von Welt und Leben und das Funktionieren anstatt Sinn; der ungestörte, reibungslose Ablauf sowie Fakten anstatt Werte. Die Informationsgesellschaft mit einer touristischen internationalen Monokultur anstatt Lebensgemeinschaft verschiedener Individuen und Gruppen in einer Region mit differenzierter sprachlicher und kultureller Identität. Die Masse und die Manipulation haben die Macht. Ist das unsere Zukunft? Oder ist das sowieso längst schon unsere Realität?
Diese Gefahr, dieses drohende Zukunftsbild sieht auch der Autor. Deshalb geht es ihm in diesem Buch nicht vordringlich um sein eigenes Problem, das der rätoromanischen Kultur und Sprache und ihrer Bedrohung, sondern dieses Buch ist – so formuliert er selbst es klar und deutlich – “in erster Linie ein Plädoyer für das Nicht-Notwendige in unserer Zeit.” (Seite 8). Das rätoromanische Problem in Graubünden ist nur ein ganz konkretes Beispiel, an dem der Autor und Betroffene Iso Camartin diese ganze kulturphänomenologische Problematik analysiert, sie bis in die letzten Winkel und Tiefen auslotet und besorgt und engagiert die Gefahr und Bedrohung von Sprache und Kultur aufzeigt. Er sieht Kultur überhaupt durch eine fatale Änderung im Kulturbewußtsein, so man dafür überhaupt noch diese Bezeichnung verwenden darf, bedroht, wenn Quantität anstatt Qualität und Fuktionalität anstatt Sinn zum Maßstab und zum Ziel werden.
Nach vorsichtigen Schätzungen gibt es heute auf der Welt an die 3.000 verschiedene Sprachen und etwa 12.000 Dialekte. Allein im europäischen Raum gibt es 67 verschiedene Sprachen. Aber nur die Hälfte davon verfügt über mehr als 1 Million Sprecher. Die andere Hälfte muß man als Kleinsprachen bezeichnen. Je mehr die Welt zusammenwächst, je mehr sie internationalisiert und somit vereinheitlicht wird, desto stärker geraten die Kleinsprachen unter Druck. Alle Kleinsprachen Europas sind von größeren Sprachen umzingelt. So hat das Russische etwa 100 Millionen Sprecher, während das Rätoromanische (unterteilt in das Surselvische und Ladinische), das sogenannte ,Bündnerromanische”, nur etwa 50.000 Sprecher hat, die obendrein alle durchwegs zweisprachig oder polyglott sind, was heißt, daß sie sich neben ihrer Muttersprache, dem Bündnerromanischen, auch einer anderen, zweiten Umgangs- oder Verständigungssprache bedienen. Das Rätoromanische gibt es also überhaupt nur noch in Symbiose mit einer anderen Kultursprache; etwa dem Italienischen oder dem Deutschen. Dadurch – also nicht allein schon durch die Anzahl der Sprecher – wird die Muttersprache zu einer Randsprache, zu einer Minderheitensprache. Das Gleiche gilt bei uns für die Slowenen in Kärnten, für die Kroaten und Ungarn im Burgenland, für den Rest der Tschechen und Slowaken in Wien, vor allem aber für das Romanes der Roma und Sinti. Natürlich mit dem einen großen Unterschied, daß in der Schweiz die Mehrsprachigkeit als selbstverständlicher nationaler Grundwert angesehen und ihm als solchem entsprechend Rechnung getragen wird. So gilt das Rätoromanische seit 1938 als vierte Nationalsprache.
Ob also eine Kleinsprache, die aufgrund bestimmter Konditionen auch eine Randsprache sein kann, zugleich auch eine Minderheitensprache ist oder dazu geworden ist, d.h. dazu gemacht wurde, das hängt neben sprachlichen Kriterien vor allem entscheidend von sozio-politischen Kriterien und Konditionen ab, vom Status und vom Prestige, den diese Sprache und ihre Sprachgemeinschaft in Mehrheitsvolk haben; also nicht nur davon, welchen Status diese sprachlich-kulturelle Minderheit a lege und de jure, sondern welchen Status sie in der Praxis und in der Realität wirklich hat. Ausschlaggebend sind dabei sowohl das Selbstverständnis der sprachlich-kulturellen Minderheit, aber auch das Kulturverständnis der Gesellschaft sowie die Demokratiereife des Mehrheitsvolkes schlechthin und die Positionen, die in dieser Frage die staatlichen Autoritäten, d.h. die Regierung und die Parteien, kurzum die Politik, einnehmen. Wie sehr Randsprache und Randkultur in einem Bedingungszusammenhang stehen, ist somit klar. Dies zeigt auch der Autor schlüssig und nachvollziehbar auf und rückt diesen Problemkreis in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Was das Verschwinden einer Randkultur – im Falle der Rätoromanen eine Bergbauernkultur – für die Randsprache bedeutet, was der anscheinend unverkraftbare Informationsschub der modernen Zivilisations- und Informationsgesellschaft sowie die allumfassende Medienherrschaft für eine Kleinsprache oder gar für die Sprache einer kulturellen Minderheit bedeutet und an Belastung und Bewältigungsproblematik mit sich bringt, das ist am Problemkatalog, den der Autor erstellt, leicht ablesbar und begreifbar. Er weist auch auf die einem Minderheitsvolk oft anhaftenden und hemmenden Untergangslegenden und Untergangsvisionen hin und resümiert die gewonnenen negativen und oft deprimierenden, auf Erfahrung und Fakten beruhenden Erkenntnisse fast resignativ und fatalistisch in dem Satz: ,,Daß Sprachen und Kulturen sterben, ist eine Tatsache; daß sich dies nicht verhindern ließ, ist ebenfalls eine.” (Seite 167). Angesichts dieser Gegebenheit kommt der Autor zur Grundfrage: ,,Sollen aber Klein- und Kleinstsprachen überhaupt erhalten bleiben? Sind sie nicht ein entwicklungsgeschichtlicher Ballast, von dem man sich wie von anderen Frühformen der Vergesellschaftung schadlos befreien darf?” (Seite 57).
Diese Frage wird zu einem der Schwerpunkte in der aufgeworfenen Themenbehandlung und der daraus resultierenden kulturphilosophisehen Analyse. Es geht um Relationen, um die Entscheidung bei der gewichtigen Beurteilung von ,,Wert” und ,,Verlust” in dieser Frage. Was kann, was darf der Vergesellschaftlichung geopfert werden? Welche Opfer sind akzeptabel, vertretbar, sinnvoll? Wo liegt die Grenze und wer oder was bildet diese?
Eines ist klar, davon ist auszugehen und das darf nie aus dem Auge gelassen werden: ,,Es verschwinden mit einer Sprache mehr als nur Worte. (Seite 8). Und mit dem Verschwinden der jeweiligen Sprache verschwindet auch die ihr zugehörige Kultur; und umgekehrt. Das ist ein gültiges Gesetz, das ist Wirklichkeit. Das ist der Denkansatz in jeder Analyse.
Was also kann und muß getan werden? Der Autor sagt es klar: Es muß mehr getan werden als nur die Vermeidung von ,,Minderheitenkonflikten” oder der Versuch ihrer Lösung, es muß mehr erfüllt werden als die ,,Minderheitenrechte”. Es muß mehr und großzügig und spontan, vor allem aber unverzüglich und konsequent gehandelt und gegeben werden. Es muß mehr gegeben werden, als das Gesetz es (ein)fordert, vorschreibt, verbürgt bzw. verbürgen sollte. Denn: ,,Soll da etwas überleben, so muß die Gerechtigkeit für eine Weile erst einmal übersehen werden.” (Seite 138). Daß dies nicht bloß eine leere Worthülsenforderung des Autors dieses Buches ist, sondern daß in diesem Anliegen der Kulturerhaltung einer sprachlich-kulturellen Minderheit, wie z.B. der Rätoromanen in Graubünden, in unserem Nachbarland, der Schweiz, sich bereits ein breiter öffentlicher Konsens gebildet hat, das ist an den bereits getroffenen Maßnahmen der legislativen und exekutiven Instanzen, der Körperschaften und Behörden in diesem Problembereich deutlich ablesbar. Im Vergleich dazu schneiden wir in Österreich, was die Behandlung unserer “Minderheiten”, d.h. Volksgruppen betrifft, mehr als beschämend schlecht ab. Aber genau das ist eine Frage der gesellschaftlichen Einstellung, der politischen Praxis und der demokratiepolitischen Reife in einem Land.
Was nötig ist und schnellstens zu geschehen hat, ist eine Umkehr. Ein neuer Denkprozeß in allen diesen Fragenbereichen mit verantwortungsvoller und kritischer Überprüfung des bis jetzt oft als allzu selbstverständlich Hingenommenen ist gefordert. Und ebenso eine Haltung, daß wir uns nicht mit den erreichten, meist nur halbwegs akzeptablen, mit fragwürdigen und zu überprüfenden Positionen zufriedengeben geben dürfen, sondern daß wir endlich fragen müssen, wohin diese oft unkontrollierte, jedoch manipulierte Entwicklung überhaupt führt. Denn: Selbstverständlich ist nichts mehr und sollte es auch gar nicht sein.
Nichts als Worte? – Ein Plädoyer für Kleinsprachen. Von Iso Camartin. Artemis Verlag, Zürich und München, 1985, 306 Seiten.

Peter Paul Wiplinger
Wien 1986


Genre: Sprache
Illustrated by Artemis Verlag Zürich und München

Das siebte Wien

SPRACHE UND EXIL
Der österreichische Lyriker Fritz/Frederick Brainin
Peter Paul Wiplinger

,,Nach Jahren kam, verstört, ich wieder her;
der alten Gassen manche sind nicht mehr,
der Ringturm kantig sich zum Himmel stemmt:
erst in der Heimat bin ich ewig fremd.”
Theodor Kramer – Wien, 28.11.1957
Wiedersehen mit der Heimat, GA III/590

Mit diesen Zeilen beschreibt der große österreichische Exildichter Theodor Kramer, dessen Andenken der Jugendfreund und Exilgenosse Fritz/Frederick Brainin sein literarisches Werk, den Gedichtband ,,Das siebte Wien”, widmet, die Zeichen seiner Heimkehr.

Es ist nicht ein momentanes Gefühl der Verzweiflung, das sich im letzten Satz dieser Verse manifestiert, keine psychische Überreaktion, hervorgerufen und gesteigert durch den psychischen Streß eines lang erwarteten und herbeigesehnten Wiedersehens mit der Heimat, nein, das ist zwar die poetisch-literarische, aber doch zugleich nüchterne Formulierung einer Selbstdiagnose betreffend die nicht mehr gegebene Integrationsfähigkeit augrund des Leidens an der Krankheit mit dem Namen „Exil“.

Wie jede Krankheit hat auch diese ihre Wurzeln, ihre Ursachen, ihre Bedingungen, ihren Ausbruchsort und ihre Ausbruchszeit, ihre Eigendynamik, ihre Schübe, ihre krisenhaften Höhepunkte, ihren chronischen Status, ihre Langzeitwirkung. Wie jede Krankheit hat auch diese ihre symptomatischen Begleiterscheinungen, die der Deformation im physischen und psychischen Bereich; für einen Dichter auch in dem der Sprache. Fritz/Frederick Brainin ist dafür ein Beispiel.

Was Kramer im letzten Satz seines Gedichtes oben ausspricht, zwei Monate nach seiner Rückkehr aus dem Exil und nur fünf Monate vor seinem Tod, das ist die allgemein gültige Formel, die für viele gilt, für viele österreichische Dichter, die, wenn schon nicht am Exil zugrunde gegangen, so doch letztendlich an ihm physisch, psychisch und oft auch literarisch zerbrochen sind. Neben Kramer und Brainin nenne ich hier noch die Namen zweier anderer österreichischer Exildichter: Friedrich Bergammer (Glückselig), ein Freund Brainins, gestorben 1981 im New Yorker Exil; und Alfred Gong, ebenfalls im New Yorker Exil gestorben, 1982. Und natürlich denkt man in diesem Zusammenhang vor allem auch an Joseph Roth.

Im Herbst 1988 kommt Fritz/Frederick Brainin nach 50 Jahren Exil in den USA (New York) zu einem längeren Besuch in sein Heimatland Österreich, in seine Geburtsstadt Wien. Aber kann und darf man hier wirklich das Wort ,,Heimatland” gebrauchen, kann und darf man dieses Wien mit seiner Geschichte seit 1934 wirklich noch als die ,,Vaterstadt” des Exilanten bezeichnen? Würde er dies selber tun, dies von anderen zulassen? Ist nicht dieses ,,Heimatland“, das seine Heimatlosigkeit durch Vertreibung und Exil um den Preis des Am-Leben-Bleibens verschuldet hat, nicht längst zur Fremde geworden; und er ein Fremder in ihr? Kann man eine Vaterstadt so nennen, die einen ausgestoßen, ausgewiesen, verbannt und auch nie zurückgeholt hat; die für diese und die anderen Vertreibungen, für die Ermordungen von Tausenden ihrer Mitbürger, ihrer Kinder, nie Sühne geleistet, nie den Versuch einer wenigstens symbolhaften, an jenen, bei denen es noch möglich gewesen wäre, „Wiedergutmachung“ unternommen hat, die sich nie der eigenen Wahrheit gestellt hat.? Muß man diese so schönen Worte der Bezeichnung für Herkunft nicht auf die emotionslose Angabe ,,Geburtsort“ bzw. „Geburtsland” reduzieren? Gerechterweise, für die Betroffenen und für die Verursacher, für die Täter und für die Opfer?

Wer aber ist nun dieser Fritz/Frederick Brainin? Was war sein Leben, was ist seine Literatur? Er ist ein Vertriebener, ein Verschollener, ein Heimatloser, der in einem anderen Land, auf einem anderen Kontinent für fünfzig Jahre seinen Aufenthalt gefunden hat. Er ist einer, der die Heimat verloren, weil man sie ihm weggenommen hat. Auch die ursprüngliche Heimat hat damit etwas verloren, auch sein Wien. Und seine Literatur, seine Gedichte legen davon Zeugnis ab. Zeugnis von diesem Fremdsein in der Fremde, in der Welt, und nicht zuletzt im eigenen Leben. Ausgestoßen, weil ein Ausgestoßener. Vertrieben, weil ein Vertriebener. Unberührbar, weil ein Unberührbarer. Unsicher, weil ein Verunsicherter. Ein Verstörter, weil man sein Leben in einem Maße gestört hat, daß es an Zerstörung grenzte. Ein unglücklicher, weil Unrecht unglücklich macht. Ein Entwurzelter, weil man ihn aus seinem Boden ausgerissen, von seinen Wurzeln getrennt hat. Ein Liebender, dem man seine Liebe mit Bedrohung, Vertreibung, mit Vergessen beantwortet hat. Ein Dichter, dem man die Sprache, seine Muttersprache, seine Dichtersprache genommen hat.

Dieser Dichter kommt nach Wien zurück und arbeitet hier 1988 an der Zusammenstellung seines Manuskriptes ,,Das siebte Wien”. Gibt seinem Buch den Titel mit dem Namen seiner – längst verlorenen Heimatstadt. Er legt ein literarisches Lebenswerk wie ein Vermächtnis vor, als Zeugnis für seine Verbundenheit mit dieser seiner ,,Heimatstadt” ,aber auch als Zeugnis für sein Getrenntsein, für seine Trennung von ihr, für die daraus entstandene Verwundung und Deformation. Und publiziert diesen Gedichtband mit diesem Titel sechzig Jahre später in jener Stadt, wo 1929 sein erster Gedichtband ,,Alltag“ erschienen war, mit den Gedichten, die er als Sechzehnjähriger in seiner damals wirklichen Heimatstadt Wien geschrieben hatte. Und widerlegt, vielleicht nur scheinbar, jene Erkenntnis, die er resumeehaft in der ,,Ballade von den Bronx Fiestas“, einem Gedicht aus den Jahren 1960 bis 1970, folgendermaßen formuliert:
,,Ein siebentes Wien, von dessen erstem verbleibt keine Spur!”

Was hier literarisch ausgedrückt wird, stimmt jedoch existentiell nicht, jedenfalls nicht ganz. Im Gegenteil: Ein Leben lang begleiten Fritz/Frederick Brainin diese Spuren vom ersten Wien, vom Wien seiner Kindheit und Jugend, vom Wien mit seiner Familie, seinen Freunden, seinen politisch-weltanschaulichen Bindungen, von seinen ersten literarischen Versuchen und Erfolgen. Diese Spuren durchziehen sein ganzes Leben, sein ganzes literarisches Schaffen, sein ganzes dichterisches Werk. Diese Spuren sind es, die ihn immer wieder auf dem Weg der Erinnerung zurückführen in das Einst, wie in ein vergangenes Leben. Diese Spuren – sie werden zu tiefen Furchen, die sein Leben durchziehen es prägen ihm jenes Gesicht gelebten Lebens geben. Und am Ende des Weges führen sie ihn wieder zurück. Gelebte Bitterkeit weicht in der Erinnerung und manchmal dann auch im Gedicht einer wieder aufdämmernden Wärme und Zärtlichkeit, die ihn umfängt, wenn er an dieses erste Wien denkt. Die Wehmut aus dem Wissen um den bevorstehenden Abschied mischt sich ein, mildert die Trauer, die Enttäuschung, die Verbitterung; verringert die Distanz zum Schuldpotential der Verursacherstadt, verringert seine Resignation, verkürzt die einst unüberwindbar scheinenden Abstände und Gräben zu seiner Jugendstadt. Das erste Wien, das Wien seiner Kindheit rückt in diesem Alter wieder näher mit dem zusammen, das er jetzt erlebt. Geburt und Tod, frühe Kindheit und spätes Alter, liegen nahe beisammen.

Aus einem späten Gedicht Brainins aus den Achtzigerjahren, betitelt ,,Österreich – Ein kürzliches Selbstbildnis” ist dies vielleicht zu entnehmen: ,,Seit neunundvierzig Jahren hier in New York City,/ auf meiner amerikanischen Kriegsinvalidenpension, /hab ich noch immer mitten in der Nacht den Traum,/ wo unter vielen Rot und Braun-Wandschrift-Graffiti/ ich noch immer in der Lessinggassen wohn/ (noch unrasiert den Ober-Bundesrealschülerflaum!)”

In diesen sechs Zeilen sind ganz wichtige. Schlüsselwörter enthalten, mit denen uns der Autor Fritz/Frederick Brainin den Zugang auf der Ebene der Textinterpretation zu seinem Leben und zu seinem dichterischen Werk ermöglicht. Die Wortzusammensetzung „Wandschrift-Graffiti” ist eine für Brainin typische Wortverbindung aus Deutschsprachigem und Fremdsprachigem, wobei jedes der beiden Wörter eigentlich das Gleiche bedeutet, sodaß die Zusammensetzung beider Wörter nichts anderes als eine Tautologie ergibt. Hier werden also die beiden Sprachebenen, das Deutsche und das Fremdsprachige, meist Anglo-Amerikanische, auf denen die dichterische Exilsprache beruht, die so etwas ist wie eine individuelle, künstliche Kunstsprache, die mit vielen Alltagsfloskeln aus beiden Sprachen durchsetzt ist, sichtbar. Beide Sprachebenen sind im Werk Fritz/Frederick Brainins immer wieder ineinander geschoben, durchdringen und durchsetzen das literarische Werk. Die Bewußtseinsebenen, aus denen das Gedicht entsteht, diese wiederum liegen wie die verschiedenen Schichten von mehreren Graffiti übereinander. Immer wieder wird die Schicht eines soeben fertiggestellten Graffitos durch die eines neuen ersetzt, überdeckt, wobei das Bild des vorhergehenden Graffiti jeweils verändert, übermalt, zerkratzt, perforiert und zum Teil auch zerstört wird. Den verschiedenen Zeit-, Erinnerungs- und Bewußseinsebenen – unter Einbeziehung des Unterbewußten in den künstlerischen und dialektischen Prozeß -entsprechen die verschiedenen tektonischen Schichten der übereinander gelegten Graffiti, die sich am Ende als bruchstückhaftes Gesamtbild, als ein vielschichtiges Netzwerk, aufgebaut aus einer Aktionseinheit von schöpferischer Konstruktion und Destruktion, präsentieren.

Die Worte Rot und Braun haben natürlich einen realen Sprachbezeichnungscharakter als Bezeichnung für eine Farbe, darüber hinaus aber sind sie symbolhafte Metaphern für Blut, Gewalt und Tod,, aber auch für „das Rote Wien“, für die Arbeiterbewegung und die Sozialdemokratie, der Fritz Brainin als Mitglied der Roten Falken nahestand. Und Braun steht selbstverständlich für die Nazis, für die Braunhemden, für die SA.Farben, als Metaphern für politische Richtungen und Organisationen, als Symbole für Uniformen und Fahnen, für Gedankengut und politische Einstellung.

Und dann ist da noch das Wort „Traum“. Ein solcher Traum, von dem Brainin hier spricht, ein solcher Traum, den es ,,noch immer mitten in der Nacht…seit neunundvierzig Jahren…in New York…“ gibt, in dem eine über ein halbes Jahrhundert sich erstreckende Erinnerung gespeichert ist, die im Traum deutlich sichtbar und erlebbar wird, ein solcher Traum hat auch etwas mit dem Wort des gleichen Wortstammes zu tun, nämlich mit dem Wort „Trauma“. Laut Duden ein Begriff für Verletzung, Verwundung, Wunde,, seelischer Schock, starke psychische Erschütterung, Verletzung durch äußere Gewalteinwirkung.

Ein Traumbild also, in dem unter vielen Schreckensbildern, die wie Graffiti in verschiedenen tektonischen Schichten, aber nicht deckungsgleich, übereinander lagern, das Bild der Kindheit und Jugend in Wien in der Lessinggasse bruchstückhaft hervorleuchtet, als Spur vom ersten Wien. Ein Traumbild als Widerspiegelung des Bewußtseins: Das eigene, ursprüngliche, jetzt verletzte und zum Teil zerstörte Selbstbildnis, wie es im Titel des Gedichtes heißt.

Was war das für ein Wien, an das sich Brainin im Traum erinnert? Wie war dieses Wien, wie war die Leopoldstadt damals, dieses Viertel, das ,,Mazzesinsel” genannt wurde? War es ein Ort inmitten der ,,Insel der Seeligen”, um diese verlogene Österreichbezeichnung, diesen Inbegriff selbstgefälligen Selbstbetruges anzuführen, dessen Wurzeln in der Verdrängung und Verfälschung der Wirklichkeit liegen, gerade auch in der heutigen Gesellschaft und Zeit?

Am 22. August 1913 wird Fritz Brainin in ein Wien der zu Ende gehenden Österreichisch-Ungarischen Donaumonarchie hineingeboren. Sein Vater, aus Litauen stammend, Schüler des Bildhauers Anton Hanak, nimmt am Ersten Weltkrieg teil, wird verwundet, kehrt 1919 aus der italienischen Kriegsgefangenschaft endlich heim, wird ein kleiner Beamter im Heeresministerium. Also schon von Anfang an war die Kindheit überschattet durch unruhige Verhältnisse in der Familie, durch Krieg, durch den großen politischen und gesellschaftlichen Umbruch nach dem ersten Weltkrieg. Brainin verbringt die Jahre 1914-1919 mit seinem älteren Bruder Max und seiner Mutter bei den Großeltern. in Leipnik in Mähren. Fritz absolviert seine Schulpflicht in Wien, besucht die Realschule in der Vereinsgasse, gleich um die Ecke von der Lessinggasse. Sein Bruder und sein Freund und dichterischer Mentor, Theodor Kramer, sind einige Klassen vor ihm. Später erinnert er sich noch immer an die ,,bösartige Traumatik” (Gedicht: Ein kürzliches Selbstbildnis), die ihn mit diesem pädagogischen Institut verband. 193l legt er dort die Matura ab und beginnt anschließend ein Studium der Philosophie an der Universität Wien, das er jedoch 1932 wieder abbricht. Schon in der Realschule ist er Mitglied bei den Roten Falken, hat Kontakt zur Jugendberatungsstelle Viktor Frankls, der nicht weit entfernt, jenseits der Praterstraße in der Czerningasse wohnt, und zur ,,Gruppe der Jungen”, der auch Hermann Hakel, Fritz Hochwälder und Richard Thieberger angehören. Aus dieser Zeit stammt auch seine Freundschaft mit dem anderen österreichischen Exildichter Friedrich Bergammer, der mit seinem Familiennamen eigentlich Glückselig heißt. Unter dem Einfluß von Frankl und dessen Freund, dem Verleger Erwin von Barth-Wehrenalb, beginnt Brainin schon früh zu schreiben, erreicht schon früh eine erstaunliche Fertigkeit und eine große Reife in seinen Gedichten, die natürlich noch an großen Vorbildern (Brecht, Tucholsky, Kästner) und den herrschenden literarischen Strömungen (Spätexpressionismus, Balladenform des genrehaften Arbeitergedichtes) orientiert waren. Und doch erreicht er schon früh, mit sechzehn Jahren schon, eine starke persönliche Aussagekraft und eine literarische Gestaltungsform, wie dies das wunderschöne Liebesgedicht ,,Hauptallee”, eines der schönsten Liebesgedichte der deutschen Literatur, beweist, das er als etwa Zwanzigjähriger schrieb. Hier dieses Gedicht.

Hauptallee, an Thea S.

Kühl wirds auf der Bank. Rück nah. Dein Kleid ist dünn.-
Liebst du so wie ich den Herbst in dieser Stadt?-
Leichter gibt sich seiner Traurigkeit hier hin,-
wenn die Nacht wächst und die Tage kürzer glühn,-
einer, der wie ich jetzt keine Arbeit hat, Geliebte.

Lass dein Haar an meiner Wange ruhn, es riecht
so herb wie eine Wiese im Oktoberdunst.
Die Autos hupen fern; uns trifft kein Bogenlicht.
Mit meinen Lippen nur begreif ich dein Gesicht –
und das Sein trotzalledem als eine Gunst,
Geliebte.

Dieses Gedicht atmet noch ,,trotzalledem“ eine ergreifende, unbeschreibliche Geborgenheit aus, die noch nicht erschüttert ist von den umliegenden und später noch kommenden Ereignissen, die dann das Weltbild Brainins erschüttern, destabilisieren und das Ich- und Seinsgefühl traumatisieren und brüchig werden lassen. Gerade in der Hinwendung zu einem geliebten Du, in einer noch so jugendlichen, aber doch schon reifen Liebesbeziehung, mag der Autor eines solchen Gedichtes noch die tragfähige Brücke über die schon sich auftuenden Gräben, über den wenig später aufbrechenden Abgrund, gesehen und erlebt haben. Dieses Gedicht ist noch getragen und gezeichnet von einem Gefühl der Hoffnung und Zuversicht; als ob die Liebe etwas sei, sie allein, die den Abgrund überspannen und überwinden könnte. Aber die Gewalt spricht eine andere Sprache. Und die Gewalt ist es, die zerstört, die alles zerstören wird. auch das Urvertrauen in die Unverletztbarkeit der eigenen, ja überhaupt der menschlichen Existenz. Von dieser Zerstörung werden die anderen Gedichte Brainins, die aus den nächsten fünfzig Jahren, dann sprechen; exemplarisch und als Paradigma anhand seiner physischen, psychischen. intellektuellen und literarischen Existenz. Das ist das Zeichen seiner Exilliteratur, in der Sprache des Exils: Das literarische Zeugnis vom Zerbrechen einer ursprünglich vorhandenen und gegebenen Einheit und Unverletztheit seines Persönlichkeits- und seines Weltbildes.

Noch einmal ein Blick zurück auf das Wien der Zwanziger- und Dreißigerjahre. Es ist die Zeit des großen Umbruchs nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, in der alle bisherigen Ordnungen sich aufgelöst hatten und keine tragfähigen Neuordnungen gefunden und aufgebaut werden konnten. Es ist ein Wien voller Flüchtlinge aus dem Osten, ein Wien voller Armut und Not, aber auch ein Wien, in dem neue solzialpolitische Ideen große Hoffnungen wecken, auch zu berechtigen. 1919 flüchten über 350.000 Menschen aus den ehemaligen Ost- und Südostgebieten nach Westen, darunter viele Juden. 25.000 Ostjuden, alle die Ärmsten der Armen, siedeln sich in Wien, in der Leopoldstadt, in der Mazzesinsel an; womit die Zahl der Juden in der Leopoldstadt auf über 60.000 ansteigt: Jeder zweite Leopoldstädter ist ein Jude. Insgesamt gibt es in Wien an die 120.000 Juden, jüdische Mitbürger, wie es seit dem Toleranzpatent Kaiser Joseph II. sprachamtlich heißt. Über 120 jüdische Vereine regeln das Alltagsleben der Juden in Wien. Das Ansteigen der jüdischen Bevölkerung steigert auch – provoziert durch die Hetzpropaganda der Deutschnationalen und der Christlichsozialen und durch gezielte antijüdische Aktionen wie die vom ,,Deutschösterreichischen Schutzverein Antisemitenbund”, der Progromaufrufe in der Leopoldstadt verteilt, den Antisemitismus unter der nicht-jüdischen Bevölkerung, sowohl in der Leopoldstadt als auch im gesamten Wien, sowie überhaupt in Österreich. Keine politische Partei, auch nicht die Sozialdemokraten, keine kirchlichen oder sonstige Organisationen treten offen und geschlossen gegen den aufflammenden Antisemitismus auf. Seit 1925 agieren Nazis und andere Völkische gemeinsam gegen die Juden. 1929 wird von ihnen das Café Produktenbörse überfallen, die Einrichtung wird zertrümmert, die Juden werden mit Gewalt bedroht. 1932 stürmen sie am jüdischen Neujahrsfest das provisorische jüdische Bethaus im Café Sperl in der Großen Sperlgasse und schlagen auf die Betenden mit Stahlruten ein (Ruth Beckermann in „Die Mazzesinsel“, Seite 20). Und die Menge schaut zu. Den Tätern passiert nichts. Es ist wie eine Generalprobe zur Reichskristallnacht am 9. November 1938, in der alle Synagogen und jüdischen Geschäfte zerstört und die jüdischen Mitbürger mißhandelt wurden; voll Zynismus, voll Verachtung, voll Haß, mit Gewalt.

Eine Anmerkung zum sozialen Hintergrund dieser Zeit, die nichts entschuldigt, sondern nur veranschaulichen soll, auf welchem Boden und vor welchem Hintergrund sich diese Ereignisse abspielen. 1925 gewinnen die italienischen Faschisten die Wahl mit 65% Mehrheit. Mit dem ,,Schwarzen Freitag” an der New Yorker Börse beginnt 1929 die Weltwirtschaftskrise mit der Folge einer ungeheuren Inflation in ganz Europa und ca. 30% Arbeitslosen und Ausgesteuerten in Deutschland und in Österreich. Zwischen 1929 und 1937 begehen allein in Wien 27.000 Menschen Selbstmord, weil ihnen ihre Lage unerträglich und ausweglos erscheint. Hoffnung für viele und die breite Masse ist der Kommunismus, ist auch die Sozialdemokratie, ist die nationale Bewegung, die 1934 in Österreich zur Diktatur, zum Bürgerkrieg, zum Ständestaat führt. Und vor allem die erstarkende die Nationalsozialistische Partei, die 1932 in Deutschland stimmenstärkste Partei wird, 1933 an die Macht kommt und mit Zustimmung des Reichstages zum ,,Ermächtigungsgesetz” die Parteidiktatur der NSDAP mit ihren Organisationen einführt. 1938 kommt es zum Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich, unter dem frenetischen Jubel der Mehrheit der Österreicher. Darauf folgen sogleich die planmäßigen Verhaftungen und Deportationen in die Konzentrationslager, folgt die systematischen Judenverfolgung, folgt die Ermordungen der Juden sowie der Roma und Sinti und anderer Menschen im Holocaust. Insgesamt eine Ausrottung und Auslöschung von über sechs Millionen Menschenleben, was heute noch viele Zeitgenossen leugnen. Der Neonazismus erblüht zu neuem Leben. Und wird noch da und dort geschützt.

Zurück zu Brainin! Am 1. Juli 1938 verläßt Fritz Brainin, zum Exil gezwungen um den Preis, am Leben zu bleiben, seine Vaterstadt Wien, sein Heimatland Österreich, das aufgehört hatte, für ihn und für viele noch Heimat zu sein. Damit endete nicht nur ein Lebensabschnitt für ihn und seine so hoffnungsvoll begonnene literarische Karriere. Im Jahr 1929 war sein erster Gedichtband „Alltag“ erschienen, dem 1934 noch sein Gedichtband „Die eherne Lyra“ ,folgte, was seinen Namen nicht nur in literarischen Kreisen, sondern durch die Veröffentlichung seiner Gedichte in der Arbeiterzeitung auch einem breiteren Publikum bekannt machte, sodaß er 1936 seinen ersten und einzigen Literaturpreis, den „Julius-Reich-Preis“, zugesprochen erhielt. Die Emigration ins Exil war für ihn der Beginn eines zweiten Lebens, einer anderen Existenz, die – ein halbes Jahrhundert dauernd – mit seinem ersten Leben in Wien nichts mehr gemeinsam hatte, ihn von seinem eigenen Ursprung und auch von seiner ersten und eigentlichen Literatursprache für ein ganzes weiteres Leben trennte.

In dieser zwanghaften Vertreibung, in dieser erzwungenen Emigration, in diesem Begreifen des plötzlich Ausgesetzseins, des Vogelfreiseins, des Andersseins, des Nicht-mehr-Dazugehörens, des Mit-dem-Tode-Bedrohtseins, liegt der ganze gewaltige Schock, das Trauma seines Lebens, von dem er stigmatisiert wird und stigmatisiert bleibt, sein Leben lang. Sein weiteres literarisches Schaffen – in der ersten Zeit der Emigration schreibt er noch in seiner Muttersprache Deutsch, später, als aus der als vorübergehend gedachten Emigration längst ein lebenslanges Exil geworden war, schreibt er in Anglo-Amerikanisch – und die Sprache der Literatur erweisen sich nicht als die therapeutisch geeigneten Instrumente, diesem schweren Trauma beizukommen, es mit Hilfe der Literatur zu überwinden. Je länger die Emigration, das Exil dauert, insbesondere nach 1945, da vielleicht eine Rückkehr nach Österreich wieder möglich gewesen wäre, ihm aber nicht mehr möglich war oder möglich schien, ihm wie so vielen anderen Exilanten auch nicht möglich gemacht wurde, umso tiefer versinkt er in dieses Trauma, immer mehr wird er sein eigener Gefangener, immer mehr – und dies in ,,Schüben” – erfolgt eine Deformierung und Destabilisierung seiner psychischen Existenz, was sich auch in seinem literarischen Schaffen abzeichnet. Immer größer und bedrohlicher wird die Brüchigkeit seiner inneren Lebensgrundlage, immer deutlicher und schmerzhafter, auch für ihn spürbar, ablesbar wiederum am Stil und Sprachgestus seiner Gedichte. Der äußere Zwang erzeugt inneren Zwang, Beklemmung. Zwangsreime und Klammernsetzung sind Zeichen dafür, nicht für einen literarischen Manierismus. Aus Brainin und seinen Gedichten spricht das Gefühl in der Sprache des Vertriebenen, des Entwurzelten, des Ausgestoßenen, des Heimatlosen, des Verbannten; eben genau die Sprache des Exils. Sich selbst als physische Person vermochte er zu retten, seine ursprüngliche Sprache nicht.

Weitere Stationen seines Lebensweges: Von 1939 bis 1942 arbeitet er als Kabelbote bei verschiedenen deutsch-amerikanischen Zeitungen. 1943 wird er zum amerikanischen Militär eingezogen, bewacht österreichische Kriegsgefangene. Eine schwere Krankheit, welcher Art geht aus keinen Aufzeichnungen hervor, bringt eine neue Krise, einen neuen „Schub” an psychischer Destabilisation; bedingt sein Ausscheiden aus der Armee 1945. Die ersten Nachkriegsjahre verbringt er im Kiegsveteranen-Krankenhaus im New Yorker Stadtteil Bronx. 1949 heiratet er die gebürtige Russin Florence Priluk, 1959 kommt ihr Sohn Perry Isak zur Welt. Die Familie übersiedelt im gleichen Jahr in einen New Yorker Gemeindebau für Kriegsverletzte, Brainin arbeitet in den nächsten Jahrzehnten als Patentübersetzer im technischen Bereich und als Redakteur. Gleichzeitig schreibt er Gedichte und Prosa in englischer bzw. amerikanischer Sprache, übernimmt mit der neuen Sprache, die er als nunmehrige zweite Literatursprache für sich adaptiert, auch deren Sprachduktus und Sprachgestus, was sich später, als er wieder zum Deutschen als Literatursprache zurückkehrt, in einer Anhäufung von Amerikanismen und gängigen Kürzeln niederschlägt, ein literarisches Sprachgebilde erzeugt, das oft so sehr verklausuliert und mit Chiffren durchsetzt ist, daß der verschlüsselte Sinn und die Bedeutung oft nur mehr ,,Eingeweihten” zugänglich ist. Fast so etwas wie eine reine Ich-Sprache, eine geheime Tagebuchsprache entsteht: die Exilsprache Frederick Brainins. Eine neue literarische Gattung, eine neue ,spezifische Form innerhalb der Lyrik scheint entstanden zu sein, eine die mit anderen Kriterien der Ästhetik und Formalkritik behandelt werden muß, als man sonst gewohnt ist und dies tut, und die sonst üblich sind in der Wissenschaftsmethode der Germanistik. Um die Literatur Frederick Brainins verstehen, beurteilen und bewerten zu können, muß man sein Leben, seinen Lebensbruch, sein Bruchleben verstehen, es richtig einordnen, auch wertschätzen, wenn man es würdigen will.

Äußerlich scheint in diesen dreißig Jahren, von 1950 bis 1980, alles soweit in Ordnung zu sein, soweit man mit solchen Beurteilungsbegriffen überhaupt operieren kann und darf. Ein zweites Leben scheint über das erste drübergelegt zu sein, es zu überdecken, die Wunden zu Verschleißen. So etwas wie eine künstlich-technische Stabilisierung scheint dem Leben Brainins Halt zu geben, es zu umschließen, vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren.

Bis der nächste große, schwere Schock kommt: Durch einen tragischen persönlichen Schicksalsschlag. Am 3.6.1981 wird sein Sohn Perry Isak von einem ,,faschistisch angehauchten” (Thunecke) Puertorikaner, der Hitlers „Mein Kampf“ in einer Übersetzung ins Amerikanische gelesen hatte (Konstantin Kaiser), in seinem Studio in Brookly ermordet. Die Folge: Brainins Frau wird wahnsinnig, wird als unheilbar krank in eine Heilanstalt eingeliefert, verbleibt für immer dort. Das ist der dritte große Schock, nach dem ersten der Zwangsvertreibung aus Wien und dem zweiten nach seiner schweren Erkrankung, den er erleidet und der ihn wahrscheinlich an einer Rückkehr nach Österreich gehindert hat, sodaß er ein Exilant auf Lebenszeit geworden ist. Jetzt bricht auch die mühsam aufgebaute zweite Welt zusammen. Brainin ist wieder ein Zurückgebliebener, ein Ausgesetzter, zum zweiten Mal ein Heimatloser. So etwas wie ein inneres Exil beginnt für ihn. Er zieht sich zurück, in ein kleines Jungesellen-Apartment im 18. Stock eines modernen Hochhauses in New York (Thunecke). Er wird isoliert, isoliert sich selbst und vereinsamt.

Seine Gedichte, die er nun wieder in Deutsch schreibt oder die er aus dem Amerikanischen rückübersetzt, weisen jetzt nicht nur zwei verschiedene Sprachebenen auf, sondern auch zwei divergente Mitteilungsebenen. Immer wieder geschieht es, daß er neben der im Gedicht publizierten „offiziellen Mitteilung“, nun in Klammern gesetzt und angefügt, noch ,,private” Anmerkungen dazugibt, ganz als wolle er irgendeinem Vertrauten, dem einzigen, den er noch hat, nämlich sich selber, oder einem unbekannten Leser, das geschilderte Geschehen auf einer ganz persönlicher Basis erläutern. Die Ich-Identität des Autors bricht auseinander in zwei verschiedene Worte-Verwender und Sprecher. Der Zweite interpretiert – und ironisierend, oft aus einem Gefühl der Bitterkeit heraus, ja der Verbitterung, und aus einer Haltung zwanghafter Vertraulichkeit die Aussage des literarischen Autors durch eine persönliche Aussage des privaten Ichs. Die künstliche, oft krampfhaft wirkende Distanz zum Geschehen und seiner Schilderung, die in den vorherigen Zeilen vom literarischen Ich des Autors aufgebaut werden, wird wie in einem verzweifelten und somit aussichtslosen Versuch des persönlichen Ichs des Autors zu einem letzten personalen Mitteilungsgespräch wieder aufgehoben und eliminiert. Die Brücke vom Ich zum Du, auch die im Gedicht, ist nicht mehr tragfähig, nicht mehr wirklich begehbar; das spürt auch Brainin.

,,Doch einmal im Herbstlicht (ihr Kinder werdet schon sehn!)
wann ihr stoppt für einen Alten wie mich,
da steh ich wartend (ihr drosselt und hupt zehn
Mal!) auf Godot wie ein dummes Viech,
das nichts von Geheimnis-Labors braucht zu verstehn:
Er stoppt, GANZ STOPP, bei der Verkehrskleeblatt-Kurv,
für mich allein, seinen Passagier….
Das Gridlock senkrecht hinauf durchbricht er für mich!
Er lächelt, und meint meinen Zeitmaschinen-Entwurf,
wir fliegen nach Viennas Hauptquartier.”

(VIENTIANE, LAOS; Vienna, Virginia, 2, S.110)

Im Herbst 1988 kommt Brainin wieder nach Wien, nur zu Besuch, um an der Zusammenstellung des Manuskriptes für sein nun vorliegendes Buch „Das siebte Wien“ zu arbeiten.

Was ist das für ein Wien, was ist das für ein Österreich, in das er, wenn auch nur für kurze Zeit, zurückkehrt? Welche Erfahrungen macht er hier, wie schlagen sie sich, wenn überhaupt, literarisch nieder? Wie wissen es nicht.

Im Herbst des gleichen Jahres, als er hier weilt, gibt es einen Vorfall, der keinen Aufschrei der breiten österreichischen Öffentlichkeit hervorruft, sondern nur zum Rücktritt des betreffenden, aber nicht betroffenen Parteifunktionärs als Parteisekretär der ehemals christlich-sozialen Partei führt. Dieser Politiker, ein Rechtsanwalt und Parlamentsabgeordneter zieht die Grenzen für politische und moralische Verantwortung im Zusammenhang mit dem Holocaust und dem damaligen Wehrmachtsoffizier und späteren Bundespräsidenten der Republik Österreich, Dr. Kurt Waldheim, etwa folgendermaßen: „Solange jemand nicht mit eigenen Händen sechs Juden erwürgt hat, kann man nicht von persönlicher Schuld sprechen.” Das also ist es! Das ist die Lehre, die aus der Geschichte, um es so wertfrei und distanziert zu formulieren, in Österreich gezogen wurde und wird. Das ist das Ergebnis der nicht geleisteten ,,Trauerarbeit“, von deren Verpflichtung und Notwendigkeit -von Sühne sei ohnedies nicht gesprochen – ein in Österreich sehr bekannter Starkolumnist einer in jeder Hinsicht kleinformatigen Zeitung als einem unzumutbaren ,,Aberwitz” und ,,Hirngespinst” spricht. Und von einem ,,sogenannten Bedenkjahr” im Jahre 1988 als einer – den erweiterten Bedeutungsradius im Wienerischen miteinbezogen – ,,absoluten Unnötigkeit”.

Ein weiterer Schock wird das für den amerikanischen Staatsbürger, den ehemaligen Wiener, den Wiener Juden, nicht mehr gewesen sein. Eine solche Haltung ist hier bereits wieder etwas Alltägliches, gehört zum politischen und gesellschaftlichen Alltag, wird protestlos akzeptiert.

Mit Erschütterung jedoch entnehme ich, daß in der vorliegenden Endfassung des druckreifen Manuskriptes bei den biographischen Angaben über Fritz/Frederick Brainin entgegen der vorherigen Fassung der Passus „geboren als Sohn jüdischer Eltern” – wahrscheinlich auf Anordnung des Autors – gestrichen ist. Womit der letzte Faden zum ersten Wien durchgeschnitten, die letzte Spur zum ureigensten Ich von diesem Ich selbst zerstört worden ist. Es ist der letzte Versuch dieses Menschen, sein zweites Leben anzunehmen, auch um den letzten Preis der Verleugnung seiner Herkunft, seiner Identität. Ein Verzweiflungsakt, eine Art psychischen Suizid. Es ist die letzte Äußerung, die letzte Handlung des Exilanten. Es ist das Opfer eines Opfers. Es ist die Sprache des Exils. Diese mündet – in einem Akt des Verschweigens – nun endgültig ins Schweigen.

PS: Während der Zeit, da ich an diesem Essay schreibe, fahre einmal ich in einer Nachdenkpause mit dem Fahrrad zum Geburtshaus Brainins in der Lessinggasse Nummer 8 in der Leopoldstadt (2. Wiener Bezirk). Ich trete vor das Haus, hinein kann ich nicht, das Haus ist verschlossen. Ich sehe an der linken Ecke des Hauses im Parterre ein vergilbtes, vielleicht mit einem Messer oder einer Rasierklinge in der Form eines Judensternes zerschnittenes Plakat, vermutlich vor langer Zeit, zur Zeit des Wahlkampfes, der mit der Wahl des früheren Deutschen Wehrmachtsoffiziers und späteren UNO-Generalsekretärs Dr. Kurt Waldheim zum Bundespräsidenten der Republik Österreich endete, von einer linken Organisation achiffiert. Die Headline des Plakates lautet: „Das hat Österreich nicht nötig!” Darunter angeführt sind die persönlichen Bekenntnisaussprüche des österreichischen Gerichtspsychiaters, des Arztes und ehemaligen Parlamentariers Dr. Scrinzi, des früheren SA-Sturmbannführers, den die NDP (Nationaldemokratische Partei) als Kandidaten für die Bundespräsidentenwahl unserer Republik Österreich aufgestellt hatte, unterstützt von vielen öste


Genre: Lyrik
Illustrated by Verlag für Gesellschaftskritik, 1989 (Antifaschistische Literatur und Exilliteratur) Wien

Črna dvorišta / Schwarze Höfe

Stimme aus dem Inferno

Stimme aus dem Inferno. Aufschrei des gequälten Menschen. Klage um die Zerstörung und den Verlust der Menschlichkeit. Traum von einer anderen Welt: jener jenseits des Stacheldrahtes. Spuren der Hoffnung. Zeugnis und Mahnung. Ort des Geschehens, On des Grauens: Keraterm. KZ der serbisch-jugoslawischen Volksarmee im Bosnien-Krieg; nahe bei Prijedor, der Heimat des Autors. Zeit: 1992.

Man weiß, was geschah: Krieg, Vertreibung, Terror; Systematische Vergewaltigung, Folter, Mord; Massaker (Srebrenica), ,,Ethnische Säuberungen”; Genozid. Im Angesicht der Weltöffentlichkeit, begleitet von sensationslüsterner Medienberichterstattung. Konferenzen. Politische Naivität und Unfähigkeit bis zur Schamlosigkeit, bis zur Lächerlichkeit. Währenddessen wird weitervertrieben, weitergemordet, weitergesäubert. Man schafft Realitäten.

Der Schrei der Gefolterten aber verhallt im Niemandsland. Einer, ein Dichter, Muhidin Šarić, schreibt eine Chronik dieses Grauens, eine seiner eigenen Qual, seines Erniedrigtseins; seiner Namenlosigkeit: Man ist Opfer; sonst nichts. Kein Mensch mehr. Was bleibt, ist Verzweiflung, untröstbare Trauer. Und nach dem Überleben: die Heimatlosigkeit; eine für immer.

Davon sprechen diese Gedichte: Von den schwarzen Höfen, von den Hinterhöfen, in denen menschliches Leben zerstört wurde, zerstört wird. Und von der Sehnsucht nach dem, was einmal war und was es nicht mehr gibt; nie mehr geben wird. Literatur, Poesie als Aufschrei, als Zeugnis, als Mahnung; auch als Überlebenstherapie. Und als Träumen von einer Welt jenseits des Irrsinns vom Menschen.

Muhidin Šarić lebt als Stipendiat der Institution ,,Städte der Zuflucht” seit 1992 in Graz.

Muhidin Šarić: Črna dvorišta / Schwarze Höfe. Gedichte, bosnisch-deutsch, Drava Verlag: Edition Niemandsland, Klagenfurt/Celovec, 1999;80 Seiten, öS l97,- DM 27,-. Übersetzung aus dem Bosnischen durch Emina Šarić und Klaus Detlef Olof.


Genre: Erinnerungen
Illustrated by Drava Verlag Klagenfurt/Celovec in Kärnten / Österreich