Lügen in Zeiten des Krieges

begley-1Keine Todsünde

Der Schriftsteller Louis Begley wurde als Sohn polnisch-jüdischer Eltern in der heutigen Ukraine geboren und emigrierte nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA, wo er als Rechtsanwalt eine steile Karriere machte. Erst mit 58 Jahren veröffentlichte er seinen Debütroman «Lügen in Zeiten des Krieges», der 1991 wegen seiner Holocaust-Thematik literarisch einiges Aufsehen erregt hat. Darin verarbeitet er eigene Erlebnisse, es handele sich aber keineswegs um Memoiren, wie er betonte, er könne sich mehr als fünfzig Jahre später nur sehr unzureichend an diese Zeit erinnern.

In einer Vorbemerkung stellt der Autor seinen Ich-Erzähler als einen Mann älter als fünfzig vor: «Er bewunderte die Äneis. In ihr fand er zum ersten Mal ausgedrückt, was ihn quälte: die Scham, mit heiler Haut, ohne Tätowierung davongekommen zu sein, während seine Verwandten und fast alle anderen im Feuer umgekommen waren, unter ihnen so viele, die das Überleben eher verdient hätten als gerade er». Und dieser Maciek,«ein paar Monate nach dem Reichstagsbrand» geboren, wie es gleich am Anfang heißt, erzählt im ersten Kapitel des Romans von seiner wohlbehüteten Jugend in Polen, er war ein verhätscheltes Einzelkind, der Vater ein angesehener Arzt, die Mutter im Kindbett verstorben. Ihre Schwester Tanja übernahm Macieks Erziehung, auch seine Großeltern kümmerten sich liebevoll um ihn. Mit dem Anschluss Österreichs fielen erste Schatten auf die familiäre Idylle, nach dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 änderte sich die Situation für die jüdische Familie dann dramatisch, der Vater zog in den Krieg, es begann der Kampf ums nackte Überleben.

Tante Tanja erweist sich dabei als selbstbewusste, äußerst listige Frau, die es immer wieder schafft, sich und ihren Neffen Maciek vor den Judenverfolgungen im besetzten Polen zu retten. Von Versteck zu Versteck hetzend, mit immer neuen Tarnungen, gefälschten Papieren und beherztem Auftreten ihre jüdische Herkunft verbergend, gelingt es den Beiden, den Holocaust zu überleben. Sie nehmen dafür eine falsche Identität als katholische Polen an, Maciek bereitet sich sogar gewissenhaft auf seine Erstkommunion vor. Dabei jagt ihm das strikte Verbot der Lüge als Todsünde eine naive Angst vor der Hölle ein, schließlich ist ja sein ganzes Leben auf Lügen aufgebaut, die ihn vor der sicheren Vernichtung bewahren. Ihre Odyssee führt sie schließlich nach Warschau, wo sie 1943 den Aufstand im Ghetto aus sicherer Entfernung miterleben. Nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes im Herbst 1944 entkommen sie durch Tanjas beherztes Auftreten der Deportation nach Auschwitz und flüchten aufs Land, wo sie einige Monate auf einem Bauernhof arbeiten. Die Befreiung durch die Rote Armee erleben sie dann in der Stadt Kielce, – ihre falsche Identität behalten sie vorsichtshalber bei.

Was sich als lebensrettend erweist. Im letzten Kapitel nämlich, jetzt wieder aus der Perspektive des älteren Mannes erzählt, wird vom Pogrom von Kielce im Jahre 1946 berichtet, «und was glauben Sie? Über vierzig Juden hat es noch gegeben, die man erschießen musste!» Lakonische Ergänzungen wie diese und einige eingestreute Exkursionen zum Inferno in Dantes »Divina Comedia» konterkarieren trickreich die kindliche Perspektive von Macieks melancholischer Erzählung. Sehr anschaulich wird das Leben in verschiedenen Gesellschaftsschichten Polens beschrieben, vom wohlhabenden Gutsbesitzer mit zahlreicher Dienerschaft bis zum zerlumpten Flüchtling im Luftschutzkeller, dem nur noch das nackte Leben zu retten bleibt. Eine Fülle von stimmig beschriebenen Figuren verkörpern glaubhaft das Gute und das Böse als Erfahrungen einer traumatischen Jugend, die man sich schlimmer kaum vorzustellen vermag als Leser. Der Roman ist gleichermaßen berührendes Zeitzeugnis und dicht an der historischen Realität entlang erzählte Fiktion, die lesenswerte Chronik einer schlimmen Zeit, in welcher der Holocaust als Menetekel stets präsent – und Lügen keine Todsünden waren.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Venedig unter vier Augen

Noch ein Buch über Venedig? Nicht, dass sich der amerikanische Romancier Louis Begley und seine Frau, die Biographin Anka Muhlstein nicht auch diese Frage gestellt hätten. Glücklicherweise hat sie das aber nicht davon abgehalten, „Venedig unter vier Augen“ zu schreiben. Begley eröffnet den Band mit einer Erzählung, nach deren Lektüre die Koffer gedanklich schon gepackt sind. Anka Muhlstein schließt sich mit der Beschreibung ihrer Lieblingsorte und Lieblingsrestaurants in der Lagunenstadt an. Danach möchte man den Rest des Buches nur noch auf der Reise in die Serenissima lesen. Dieses Buch ist nichts mehr und nichts weniger als eine überaus gelungene Liebeserklärung an Venedig.

Das im Mare-Buchverlag schon 2003 erschienene Buch, nun auch als Taschenbuch bei Fischer zu haben, besteht aus vier Teilen. Den Reigen eröffnet Louis Begley mit einer Erzählung, die von der erotischen Initiationsgeschichte eines amerikanischen Studenten und natürlich in Venedig handelt. Lilly, einer Mitstudentin aus vermögendem Hause nach Venedig nachreisend, hat er nach seinem Aufenthalt in der Lagunenstadt ebensoviel über Lilly erfahren, wie von der Topographie, von Kunst und Kultur in Venedig. Die Liebe zu dieser außergewöhnlichen Stadt überdauert die Begierde nach Lilly, die ihm zu Beginn der Erzählung erklärte, wie man am besten nach Venedig komme: „Der Königsweg nach Venedig, sagte Lilly, ist in einer Gondel. Alles andere wäre Frevel.“ Diesem Ratschlag, das schreibt uns Begley mit einem Zitat hinter die Ohren, wäre Thomas Mann nicht gefolgt. Dieser nämlich meinte, dass auf dem Bahnhof in Venedig anzukommen, einen Palast durch die Hintertür betreten hieße. Welche Wege die Begleys in Venedig betraten, davon handelt der zweite Teil des Buches.

Anka Muhlsteins beschreibt in „Die Schlüssel zu Venedig die Lieblingsorte und die Restaurants in Venedig, „die Begegnungen mit ihren Padroni und dem Bedienungspersonal“, die den Begleys die Stadt und ihre Einwohner auf besondere Weise näher gebracht habe. Kulinarisch darf man dabei nicht allzu viel erwarten. Im Gegenteil wird eingangs über eines der Lokale lobend berichtet: „Louis erklärte, er habe noch nie einen so guten Hamburger gegessen“. Die Orte und Lokale, von denen Anka Muhlstein erzählt, werden durch die Menschen lebendig, die sie bevölkern und die in ihnen arbeiten. So wird Muhlsteins Beschreibung vor allem eine Hommage an das Venedig der Venezianer und nicht das der Touristen.

Diesen beiden Texten folgt ein Fotoalbum mit Fotografien der Begleys, ihrer Kinder und Enkel in Venedig. Eine Abhandlung von Luois Begley über Venedig und die Literatur beschließt das Buch. Begley schreibt über den Ort und seine Schriftsteller und über die Frage, wie sich die Lektüre eines Buches verändert, hat man Venedig erst einmal kennengelernt.

Und um die Frage noch einmal aufzugreifen, die wir am Anfang dieses Literaturtipps gestellt haben, sei hier Louis Begley zitiert, der widerrum einen berühmten Kollegen zitiert:
„Venedig: es ist eine Freude, das Wort zu schreiben, aber ich weiß nicht, ob es nicht eine gewisse Anmaßung wäre, wollte man so tun, als sei dem noch etwas hinzuzufügen. Venedig ist tausendfach gemalt und beschrieben worden und von allen Städten der Welt am leichtesten zu besichtigen, ohne dass man eigens dorthin reist…“ Dieses Zitat stammt von Henry James, der zu seinem Ruhm und unserem Glück – gegen den eigenen Rat wieder und wieder über „la Serenissima“ schrieb.


Genre: Belletristik
Illustrated by marebuch-verlag Hamburg

Ehrensachen

Eine ganze Lebensspanne…

Drei Freunde, deren Schul- und Studienzeit samt ein fast komplettes Leben danach. Von nichts weniger und doch von viel mehr handelt dieser Roman, den der Autor, Louis Begley einen Ich-Erzähler vortragen lässt. Die USA der 50er bis späten 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, das ist der Zeitrahmen und Harvard, New York, Paris, Rom und die Ostküste der Vereinigten Staaten sind die Orte der Handlungen.
Der Ich-Erzähler, Sam Standish lernt in Harvard seine Mitbewohner im Studentenwohnheim kennen: Archie und Henry. Henry ist, wie Louis Begley selbst, als Jude nach dem Zweiten Weltkrieg aus Polen in die USA geflohen. Archie, mit vollem Namen Archibald T. Palmer III., ist Sprössling eines Army-Generals, aufgewachsen in verschiedenen Kasernen, in denen sein Vater stationiert war und ein ebenso liebenswerter wie von Selbstzweifeln unangetasteter Hallodri.
Diese drei jungen Männer entwickeln über die ganze Länge des Romans, also eine lebenslange Freundschaft. Archie stirbt als erster. Sam und Henry bleiben nicht nur übrig, sondern sind die eigentlichen Zentralgestalten dieses Romans. Wir erleben lesend die Entwicklung dieser Freundschaft, die Beziehung dieser Jungen und Männer zu ihrer Umwelt, geprägt von den Aufstiegsszenarien des „amerikanischem Traumes“. Wir sehen zu, wie für die Heranwachsenden der Versuch, Mädchen aus der Upperclass zu Erobern ebenso wichtig wird, wie die Abgrenzung zur eigenen Familie, der jeweils eigenen Herkunft. Sam stammt aus einem „Upperclass Haushalt“, seine Eltern sind vermögend, aber lieblos ihm gegenüber. Henry, der den Faschismus und den Holocaust in Polen als Kind und Jugendlicher versteckt überlebte, der mit seiner Mutter und dem Vater in die USA übersiedelte, kommt aus einem Haushalt, in dem es zwar materiell keine wirkliche Not herrschte, wohl aber eine für ihn auf andere Weise beklemmende Situation: „Solange es Leute gibt, die es kümmert, ob ich ein Jude bin, der vorgibt, keiner zu sein, so lange muss ich Jude bleiben, auch wenn ich mir innerlich nicht jüdischer vorkomme als ein geräucherter Schweineschinken. Wenn jemand mich fragt, muss ich sagen, daß ich Jude bin – es sei denn, diese Wahrheit bringt mich in ein Konzentrationslager oder kostet mich das Leben. Das bin ich mir schuldig, sonderbar für einen wie mich, der nicht glaubt, daß er irgendwem irgendwas schuldet. Aber es ist eine Ehrensache für mich“ lässt Begley den jungen Henry in einer Schlüsselstelle des Textes sagen.
Dass diese Erzählung so fesselnd bleibt, ja mehr noch, dass man sich sogar in fast melancholischen Stimmung wiederfindet, wenn die letzte Seite gelesen ist – das ist eine schriftstellerische Großleistung.


Genre: Romane
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main