Das was mal Unschuld war, meint Dirk Bernemann in seinem Erstlingswerk, nimmt nun Drogen, tötet aus Lust, ist viel zu frei erzogen, um klar und geordnet zu denken, aber entwickelt sich scheinbar natürlich, gar übernatürlich. Und es ist vor allem unaufhaltsam und nennt sich irgendwann, also bald, gar dreist: Die neu definierte Unschuld.
Hinter dieser Unschuld entdeckt der Autor in erster Linie Schlampen, die sich in Discotheken abfüllen, um sich dann kurz vor dem Koma abschleppen zu lassen. Früh erwacht der voll gedröhnte Erzähler neben einer derartigen Göttin, die wie ein flügellahmer Engel bis an den Rand gefüllt mit Alltagsgift auf einem durchgefickten Sperrmüllsofa liegt. Er übergibt sich, tritt in seine eigene Kotze, das Mädchen fällt auf einen Glastisch und erwacht. Er schlägt ihr eine Flasche Bier ins Gesicht, gerät über ihre Nichtreaktion in Rage, prügelt sie brutal nieder, bis sie kein Gesicht mehr hat und keinen Muckser tut.
Der Polizist, der den Mörder der jungen Frau ausmerzen will, hat keinen Erfolg bei seiner Fahndung und wird schon mit einem neuen Fall betraut. Ein Typ bringt seine Frau und deren Lover um, weil dieser seine Gattin um den Verstand ficken konnte, was dem Ehemann aufgrund seiner jämmerlichen Ausstattung nicht vergönnt war.
Ein Familienvater wird ermordet. Der Täter ist ein Serienkiller, der alles für seine Freundin Lydia tut, die in ihm einen Handlungsreisenden sieht. Lydia wiederum lässt sich als Prostituierte für einen Hungerlohn von stinkenden Unbekannten benutzen und erzählt ihrem Freund, sie sei Designerin.
Ein Straßenbahnfahrer reagiert geschockt, als Lydia vor seinen Zug springt, um ihrem sinnlosen Leben ein Ende zu setzen. Er besäuft sich in einer Kneipe, um den Vorfall zu vergessen, gerät mit der Bedienerin in Streit, wird zusammen geschlagen und erwacht am nächsten Morgen neben einer Marion, die den Malträtierten aus Mitleid mit auf ihr Lager schleppte.
Ein Mädchen namens Sophie freut sich über das plötzliche Glück ihrer Freundin Marion und versucht, ihr Befinden mit Koks, Ecstasy und Techno zu verbessern. Sie landet in der Notaufnahme. Der Rettungsfahrer, der sie wieder ins Leben zurückholt, wird zu einer von Attentätern in die Luft gesprengten Chemiefabrik gerufen. Ein guter Freund, der den Anschlag auf den Industriepalast plante und ausführte, wird ihm tot zu Füßen gelegt.
Eine Chemielaborantin, die in der Fabrik arbeitete, empfindet klammheimliche Freude mit dem Attentäter. Sie ist Schlagzeugerin in einer Frauenrockband namens »Gestures & Sounds« mit der lesbischen Franziska am Bass, der magersüchtigen Eva am Keyboard und ihrer besten Freundin Luisa an der Gitarre. Bei einem Auftritt in einem Jugendclub zieht Eva plötzlich eine Knarre und schießt ins Publikum. Luisa schließt die Eingangstür ab und zaubert ebenfalls eine Schusswaffe hervor. Die beiden Frauen zwingen das traumatisierte Publikum zum Applaus. Nach einer dreiviertel Stunde sieht Luisa glücklich aus, setzt sich die Waffe an die Schläfe und bläst sich ihr Gehirn aus dem Schädel. Eva landet in einer Nervenheilanstalt.
»Ich hab die Unschuld kotzen sehen« ist Prosa aus Versatzstücken. Die kurzen Texte spiegeln den täglichen Wahnsinn und sind eng ineinander verwoben. Bernemann übt sich im schnellen Perspektiv- und Rollenwechsel. Im Ergebnis belichtet er auf diese Weise den Bodensatz einer Gesellschaft, die nur oberflächlich heil ist.
Bernemanns Kurzprosa ist brutal, brachial und blutig, und sie schwimmt in Körperflüssigkeiten. Diese Literatur verlangt deshalb entsprechend geübte Leser.