Ein Buch für die Stadt
Als «Asphaltliteratur» mit antideutscher Tendenz standen die Bücher von Irmgard Keun auf der Schwarzen Liste der Nazis, kurz nachdem die Schriftstellerin mit «Das kunstseidene Mädchen» 1932 ihren zweiten Roman mit großem Erfolg publiziert hatte. Kein Geringerer als Alfred Döblin hatte sie nach erfolglosen Versuchen als Schauspielerin zum Schreiben animiert, und Kurt Tucholsky prophezeite ihr dann als neuem Stern am Literaturhimmel eine große Zukunft. Nach Jahren im Exil konnte sie nach dem Krieg aber an ihre frühen Erfolge nicht mehr anknüpfen, erst Ende der siebziger Jahre wurde sie wiederentdeckt als prominente Vertreterin der «Neuen Sachlichkeit», einer literarischen Strömung in der Zwischenkriegszeit, für die der vorliegende Zeitroman als archetypisches Beispiel gilt.
Der Plot ist zeitlich Ende der Weimarer Republik angesiedelt, seine Ich-Erzählerin, – autobiografische Bezüge zur Autorin sind unverkennbar -, ist eine junge Frau aus der Unterschicht einer mittleren Stadt. Ihre Mutter arbeitet als Garderobiere am Theater, ihr Stiefvater ist arbeitslos. Nachdem die achtzehnjährige Doris als Stenotypistin entlassen wurde, versucht sie sich als Edel-Statistin, hat diverse Männerbekanntschaften und stielt in einem unbedachten Moment einen wertvollen Fehmantel. Aus Angst vor der Polizei flieht sie nach Berlin und sucht dort ihre Chance. Ihr Traum vom «Glanz», womit sie in ihrer unbedarften Sprache eine glänzende Karriere am Theater oder beim Film meint, aber auch eine Ehe mit einem reichen Mann, erfüllt sich in der Metropole ebenfalls nicht. Jede Form von Arbeit lehnt sie als Lebedame vehement ab, damit könne man keinen «Glanz» erreichen, glaubt sie, und schnorrt sich durch bei wechselnden Männern, hält sich jedoch nicht für eine Hure. So irrt sie also zwischen ihren verschiedenen Männerbekanntschaften und der Obdachlosigkeit hin und her, übernachtet schlimmstenfalls im Wartesaal des Bahnhofs. Vorübergehend lebt Doris im Luxus bei einem ihrer reichen Freier, wobei diese Beziehungen nie von Dauer sind und allesamt abrupt enden. Auch wenn es gegen Ende des Romans beinahe danach aussieht, eine positive Zukunft für die zwar clevere, aber ungebildete junge Frau aus dem Prekariat ist letztendlich kaum absehbar. Wenn Karl sie nicht wolle, «arbeiten tu ich nicht», dann gehe sie lieber auf den Strich. «Auf den Glanz kommt es nämlich vielleicht gar nicht so an» heißt es dazu im letzten Satz.
Dieses Melodram vom armen Mädchen in der bösen Großstadt ist in einer wunderbar dem Sujet angepassten, amüsanten Sprache geschrieben, ein alle Grammatik missachtendes falsches Deutsch wie in einem grottenschlechten Schüleraufsatz. Nach anfänglicher Irritation liest man sich schnell ein in eine derartige, auch Gossenjargon, Schlagertexte und Werbesprüche mit einbeziehende, holprig naive Prosa. Die damit aber eine Welt des Bildungsbürgertums insinuiert, in der sich statt Standeszugehörigkeit die fehlende Bildung als ein absolut gnadenloses Ausschluss-Kriterium erweist. Trotz ihrer mühelosen Erfolge bei Männern fühlt die attraktive Doris sich deshalb wie ein Niemand, sie bleibt als Frau immer ein schlechter Ersatz, Kunstseide eben statt echter Seide. «Man sollte nie Kunstseide tragen, denn die zerknautscht dann so schnell mit einem Mann» heißt es an einer Stelle im Buch. Und Gott solle ihr doch bitte «eine feine Bildung» machen, wünscht sie sich, das übrige mache sie selbst, «mit Schminke».
Immer wieder schreibt Doris trotz ihrer sprachlichen Unbeholfenheit in ihr liniertes Notizbuch. Die beißende Gesellschaftskritik mithin, die wir da lesen, erscheint quasi als Autobiografie der sympathischen Protagonistin. Deren unbeirrter Lebensmut behält stets die Oberhand in dem kunstvoll angelegten Plot, allen Rückschlägen zum Trotz. Dieser unbedingt lesenswerte Roman wurde 2003 von einer beherzten Jury in Köln zum Auftakt der Aktion «Ein Buch für die Stadt» ausgewählt. Chapeau, kann ich da nur sagen!
Fazit: erfreulich
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