Frank Schätzing erzählt in seinem Roman »Die Tyrannei des Schmetterlings«, wie ein Provinzpolizist eine geheime Forschungsanlage entdeckt, in der ein Hightech-Konzern eine lernfähige künstliche Intelligenz (KI) entwickelt hat, die außer Kontrolle geraten ist. Dabei gerät allerdings vor allem Schätzings Roman außer Kontrolle.
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Die Tyrannei des Schmetterlings
Ragtime
Und das war gut so
Hoch geehrt, mit Preisen überhäuft geradezu, gehört Edgar Lawrence Doctorow zu den Maßstab setzenden Autoren Amerikas, ihm gelang 1975 der Durchbruch mit «Ragtime», dem besten seiner zwölf Romane, der Charly Chaplin zum Weinen brachte und vom ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama als sein Lieblingsbuch genannt wurde. Doctorow wurde von seinen Eltern dezidiert nach einem anderen literarischen Giganten benannt, Edgar Allen Poe nämlich, – nomen est omen! Zu seinen deutschen Fans zählt insbesondere Daniel Kehlmann, – auch kein literarisches Leichtgewicht übrigens -, der E. L. Doctorow in einem FAZ-Artikel so überschwänglich gelobt hatte, dass ich mich, neugierig geworden, spontan an die Lektüre von «Ragtime» machte. Und das war gut so!
Den Gattungsbegriff «Historischer Roman» hat der Autor abgelehnt für sein Buch, gleichwohl ist es mit seinen vielen realen Figuren eine ebenso informative wie amüsante Zeitreise durch das Amerika der Epoche zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg. Zu den prominenten Protagonisten zählen der Autopionier Henry Ford und der Banker J. P. Morgan ebenso wie die Anarchistin Emma Goldman und der Entfesselungskünstler Harry Houdini, aber auch der Polarforscher Robert Edwin Peary und der Pionier der Psychoanalyse Siegmund Freud. Ein nicht in die Handlung einbezogener, namenloser Ich-Erzähler berichtet in der Rahmenhandlung vom stereotypen Leben seiner Familie in der Kleinstadt New Rochelle unweit von New York, sein Vater ist Fabrikant von Fahnen und Feuerwerkskörpern. Held des Romans ist ein farbiger Jazzpianist, den der Autor, – offensichtlich nach erfolgter Kleist-Lektüre -, Coalhouse Walker jr. nennt, ein amerikanischer Michael Kohlhaas. Dessen Furor wird ausgelöst durch eine demütigende Begegnung mit einem rassistischen weißen Pöbel, den Männern der Feuerwehr, die seinen funkelnagelneuen Ford Model T in purer Bosheit übel zurichten. Und auch hier findet der gnadenlos Gedemütigte, wie sein deutsches Vorbild, keine Unterstützung, wird sein Verlangen nach Gerechtigkeit, nach Bestrafung der Täter und Wiedergutmachung des Schadens, höhnisch abgewiesen. «Ein Mann sieht rot» lautet der Titel eines Spielfilms mit ähnlicher Thematik, und auch Coalhouse rächt sich auf unglaublich raffinierte und ebenso fürchterliche Weise.
Die leider heute noch bestehende Rassenproblematik und die skandalösen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten im «Land der unbegrenzten Möglichkeiten», – welche ja auch im Negativen unbegrenzt sind -, stehen thematisch im Mittelpunkt des Romans. Sprachlich dem Titel folgend wird die Geschichte in einfachen Sätzen rhythmisch vorangetrieben, den Synkopen eines Scott Joplin vergleichbar, stakkatoartig eng aufeinander folgend. Die Charaktere sind stimmig beschrieben, sie stehen plastisch vor dem Auge des Lesers in parallelen Erzählsträngen, die klug ineinander verwoben den Plot voranbringen, wobei sich die Spannung, dramaturgisch geradezu mustergültig, ständig steigert bis hin zum letzten Kapitel. Dem bis dorthin geradezu zwingend vorgezeichneten und Amerika-typischen Showdown folgt ein kurzer, versöhnlicher Ausblick auf das weitere Schicksal der Figuren.
Die raffinierte Verknüpfung von historischen Fakten, die als Versatzstücke in den Roman eingebaut sind, mit den fiktionalen Erzählmotiven des Romans ist wahrhaft meisterlich, die deutlich durchscheinende Ironie gibt häufig Anlass zum Schmunzeln. Mit seiner in Episoden erzählte Geschichte ist der Roman eine kluge Abrechnung mit dem «American Dream», jenem laut Sigmund Freud «gigantischen Irrtum», dem die vielen Figuren gleichwohl unbeirrt nachjagen. Dieses breit angelegte Panorama mit New York als zentraler Bühne ist nicht nur beste Unterhaltung, ein Stimmungsbild dieser Epoche, es bietet auch einiges Wissenswerte. «Das Leben eines Schriftstellers ist so riskant, dass alles, was er tut, schlecht für ihn ist», soll Doctorow gesagt haben. Wie auch immer, «Ragtime» zu schreiben war jedenfalls gut für den Leser.
Fazit: erstklassig
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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war (Alle Toten fliegen hoch Band 2)
Der junge Held in Meyerhoffs zweitem Roman wächst zwischen Hunderten von Verrückten als jüngster Sohn des Direktors einer Kinder- und Jugendpsychiatrie auf – und mag es sogar sehr. Mit zwei Brüdern und einer Mutter, die den Alltag stemmt – und einem Vater, der in der Theorie glänzt, in der Praxis aber stets versagt. Wer schafft es sonst, den Vorsatz, sich mehr zu bewegen, gleich mit einer Bänderdehnung zu bezahlen und die teuren Laufschuhe nie wieder anzuziehen? Oder bei Flaute mit dem Segelboot in Seenot zu geraten und vorher noch den Sohn über Bord zu werfen?
Am Ende ist es aber wieder der Tod, der den Glutkern dieses Romans bildet, der Verlust, der nicht wieder gutzumachen ist, die Sehnsucht, die bleibt – und die Erinnerung, die zum Glück unfassbar pralle, lebendige und komische Geschichten hervorbringt.
Nun habe ich vier der geplanten 7 Bände des autobiografischen Romans von Joachim Meyerhoff gelesen. Dieser Band ist Band 2, obwohl er mE Band 1 sein sollte, denn hier geht es um Meyerhoffs Kindheit. Einer Kindheit inmitten Geisteskranker, die zugleich – weil für den Jungen Normalität – eine Art erweiterter Familie waren. Manche überaus geliebt, andere gefürchtet oder belächelt. So wie er selbst, denn die beiden älteren Brüder necken und verspotten ihn allzugern. Nur seine beängstigenden Tobsuchtsanfälle bringen sie zur Räson.
Den Auftakt bildet ein Toter, den der knapp Siebenjährige findet. Schon früh erkennt er, dass Leben und Tod untrennbar verbunden sind.
Liebevoll und detailliert beschreibt Meyerhoff den Alltag in der Psychiatrie, wir lernen die Insassen genau kennen, ihre Macken, die zum Teil amüsieren, dann traurig machen oder sie uns fürchten lassen. Der Autor behält auch in den berührendsten oder erschreckendsten Situationen einen leichten, sehr nahen Tonfall, übrigens einen literarisch ausgezeichneteten, bei. Niemals kitschig oder abwertend den gezeigten Personen gegenüber. Dieses Buch ist mir bisher das schönste und nahegehendste seiner Erinnerungsreihe.
Die Zweisamkeit der Einzelgänger (Alle Toten fliegen hoch Band 4)
Endlich verliebt! In Hanna, Franka und Ilse. Eine blitzgescheite Studentin, eine zu Exzessen neigende Tänzerin und eine füllige Bäckersfrau stürzen den Erzähler in schwere Turbulenzen. Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse ist physisch und logistisch kaum zu meistern, doch trotz aller moralischer Skrupel geht es ihm so gut wie lange nicht.
Am Anfang stand eine Kindheit auf dem Anstaltsgelände einer riesigen Psychiatrie mit speziellen Freundschaften zu einigen Insassen und der großen Frage, wer eigentlich die Normalen sind. Danach verschlug es den Helden für ein Austauschjahr nach Laramie in Wyoming. Fremd und bizarr brach die Welt in den Rocky Mountains über ihn herein. Kaum zurück bekam er einen Platz auf der hochangesehenen, aber völlig verstörenden Otto-Falckenberg-Schule, und nur die Großeltern, bei denen er Unterschlupf gefunden hatte, konnten ihn durch allerlei Getränke und ihren großbürgerlichen Lebensstil vor größerem Unglück bewahren.
Nun ist der fragile und stabil erfolglose Jungschauspieler in der Provinz gelandet und begegnet dort Hanna, einer ehrgeizigen und überintelligenten Studentin. Es ist die erste große Liebe seines Lebens. Wenige Wochen später tritt Franka in Erscheinung, eine Tänzerin mit unwiderstehlichem Hang, die Nächte durchzufeiern und sich massieren zu lassen. Das kann er wie kein Zweiter, da es der eigentliche Schwerpunkt der Schauspielschule war. Und dann ist da auch noch Ilse, eine Bäckersfrau, in deren Backstube er sich so glücklich fühlt wie sonst nirgends. Die Frage ist: Kann das gut gehen? Die Antwort ist: nein.
Der junge Schauspieler Meyerhoff ist mitten im Sturm-und-Drang-Alter, hat sein erstes echtes Engagement, trifft auf die ersten Frauen, lebt erste Liebesaffären und natürlich wilden Sex. Dazu kommt, dass er wie alle Jungschauspieler vor Leidenschaft brennt, endlich große Rollen spielen zu dürfen, keine “Bäume”, die maximal einen Satz sagen dürfen. Im verknöcherten Provinztheater ein Ding der Unmöglichkeit. So experimentiert der junge Mann nicht nur in der Liebe – die ihm einiges an Termin-Exaktheit abverlangt, auf dass keine der Damen mit der anderen Geliebten kollidieren möge – nein, er versucht ein One-Man-Stück auf die Bühne zu zwingen. Übt vor dem Spiegel, seinen sündteuren Lederschwanz perfekt peitschen zu lassen, zieht sich den Unmut des Theater-Prinzipals zu, da der Schwanz die Theaterwerkstatt eine irre Summe gekostet hat. Ergebnis der Vorstellung: vernichtend.
Meyerhoff führt die Leser in altbekannter Manier durch einen Abschnitt seines Lebens; humorvoll, selbst in den fürchterlichsten Situationen, Peinlichkeiten und Niederlagen. Ich halte ihn für einen ausgezeichneten Autor, der dementsprechend vielfach ausgezeichnet wurde. Ein Mann, der kein Blatt vor den Mund nimmt, dennoch literarisch schreibt. Er gibt sein letztes Hemd fürs Theater, fürs Schreiben. Ich bleibe Fan.
Amerika (Alle Toten fliegen hoch Band 1)
Mit seinem Erstling »Alle Toten fliegen hoch« begibt sich Joachim Meyerhoff auf das schlüpfrige Parkett der Autobiografie. Der in einer norddeutschen Kleinstadt aufgewachsene Autor, Baujahr 1967, setzt im Alter von 17 Jahren mit seiner Ich-Erzählung an. Chronologisch schildert er ein Jahr, das er als Austauschschüler in Amerika verbrachte und ihn ganz offensichtlich prägte. Weiterlesen
Der Lärm der Zeit
Mit einem Bild, das haften bleibt, charakterisiert Autor Julian Barnes seinen Titelhelden Schostakowitsch: Der weltberühmte Komponist wartet im Mantel auf gepackten Koffern vor seiner Wohnungstür darauf, dass ihn Stalins Geheimdienst abholt und in das »Hohe Haus« verschleppt, aus dem es kein Entrinnen gab. Der Musiker will seiner Familie den Schrecken des Eindringens grober Geheimpolizisten in seine Privatsphäre ersparen, darum sitzt er innerlich zitternd vor der Wohnung in Positur und wird letztlich doch nicht abtransportiert. Weiterlesen
Herzog
Genie und Wahnsinn
«Das Kind in mir ist entzückt, der Erwachsene in mir ist skeptisch» war der Kommentar des US-amerikanischen Schriftstellers Saul Bellow zur Verleihung des Nobelpreises 1976. Mit «Herzog» gelang ihm 1964 der literarische Durchbruch, dieser Roman gilt heute als bedeutendstes Werk des jüdisch geprägten Autors und war zudem kommerziell erfolgreich, er machte ihn als Autor letztendlich auch in Deutschland bekannt. Wie in vielen anderen seiner Werke analysiert der hellsichtige Denker, – ein einsamer Solitär seiner nationalen Zunft -, hier die Lebensumstände einer dem Individuum immer weniger verständlichen, modernen Gesellschaft, in der seine intellektuellen Protagonisten hoffnungslos unterzugehen drohen.
«Wenn ich den Verstand verloren habe, soll’s mir auch recht sein, dachte Moses Herzog». Schon im ersten Satz ist ja, nach der Erkenntnis von Edgar Allen Poe, oft die ganze Geschichte enthalten, so auch hier. Ein an der Welt verzweifelnder, zerstreuter Professor mit Forschungsschwerpunkt Romantik hat nach der Scheidung von seiner zweiten Frau, die ihn mit seinem besten Freund betrogen hat, und nach einem von ihr erbarmungslos geführten Rosenkrieg, völlig den Boden unter den Füßen verloren. Der an Nabokovs «Pnin» erinnernde Held taumelt zunehmend orientierungslos durch das Leben, ist ständig in irgendwelche Gedankengänge verfangen und agiert meist völlig irrational, er scheitert am eigenen Unvermögen, was den profanen Alltag anbelangt. In Wissenschaftskreisen ist er weithin bekannt und hoch angesehen, und auch die Bindungen innerhalb der Familie sind sehr eng, seine durchweg lebenstüchtigen Brüder mögen ihn und helfen ihm, wo es geht. Bei schönen Frauen ist er überraschend erfolgreich, seine diversen Affären werden von Freunden recht neidisch registriert. Diese Frauen übrigens werden hinreißend beschrieben, fiel mir auf, aber Moses als Don Juan passt wirklich nicht so recht. Als der fünfmal verheiratete Saul Bellow mit 89 Jahren starb, hinterließ er eine 5-jährige Tochter (sic!), – das erklärt’s vielleicht, Charlie Chaplin lässt grüßen!
In immer wieder neuen Rückblenden wird die Vita eines tragisch-komischen Helden ohne religiöse Bindung vor uns ausgebreitet, der in vielerlei Aspekten übrigens unverkennbar ein Alter Ego des Autors ist. Mit brillanten philosophischen Exkursen hinterfragt Bellow in seinem Roman den Sinn des Lebens und erörtert soziologische Probleme der modernen Gesellschaft und der sich immer schneller wandelnden Lebensverhältnisse in den üppig wuchernden Metropolen der USA, – der Roman wirkt insoweit wie eine literarische Feldstudie des in Chikago beheimateten Autors. Diesen mühsamen Prozess der Selbstfindung realisiert der Autor sprachlich mit einem originellen Erzählstil, in dem er seinen verwirrten Helden Don Quichotte-artig immer neue Briefe an die unterschiedlichsten Personen schreiben lässt, ein wüstes Sammelsurium von Gedanken politischer, soziologischer und kultureller Art, ergänzt um viele wissenschaftliche Diskurse. Adressaten der fast immer nur imaginierten, nicht wirklich aufgeschriebenen und auch nie abgeschickten Briefe sind lebende wie auch tote Personen. Obwohl all diese inneren Monologe kursiv gesetzt und somit leicht erkennbar sind, erfordert die Lektüre doch einige Lesedisziplin nicht nur in Hinblick auf den geistigen Gehalt des Erzählten, sondern auch der abrupten Wechsel wegen, mit denen Bellow diese Gedankensplitter ins Textganze integriert.
Moses Herzog endet bei seiner Sinnsuche in einer Ablehnung des Nihilismus moderner Prägung, wie ihn Viele in seiner Umgebung praktizieren. Er beginnt nach dem Rückzug in sein entlegenes Landhaus die seelisch wohltuende Wirkung einsamer Natur zu entdecken, erkennt zudem den Wert selbstloser Liebe, wie sie ihm seine attraktive neue Freundin entgegenbringt, vor der er verstört dorthin geflüchtet war, – ein hoffnungsvoller Lichtblick am Ende des Tunnels seiner von Einweisung in die Psychiatrie bedrohten Existenzkrise.
Fazit: erstklassig
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Flauberts Papagei
Ein Vexierspiel
Mit «Flauberts Papagei», seinem dritten, 1984 für den Booker Prize nominierten Roman, gelang dem britischen Schriftsteller Julian Barnes der Durchbruch. Inzwischen liegt ein stattliches Œuvre dieses Autors vor, der literarisch der Postmoderne zugerechnet wird. Kennzeichnend für seine subjektivistische Prosa sind zum einen die Betrachtungsweise aus einer dezidiert individuellen Perspektive, ferner seine häufige Beschäftigung mit historischen Themen sowie sein deutlich spürbares Faible für französische Lebensart und Literatur. Wobei Letzteres viele intertextuelle Bezüge mit einschließt, im vorliegenden Roman natürlich vor allem zu dem literarischen Olympier Gustave Flaubert. Und, – last, but not least -, gehört natürlich auch der typisch britische Humor dieses Romanciers dazu, dessen hintergründige Ironie ja schon im Titel des Romans aufblitzt.
Protagonist und Ich-Erzähler ist Geoffrey Braithwaite, Landarzt im Ruhestand und als Privatgelehrter ein geradezu fanatischer Flaubert-Forscher. Seine Spurensuche durch Museen und Archive, durch Bibliotheken und Antiquariate bezieht auch jenen ausgestopften Papagei mit ein, der als Leihgabe zeitweise auf dem Arbeitstisch des Romanciers stand und ihm wohl als Inspirationsquelle diente. In «Ein schlichtes Herz», erste Erzählung des erfolgreichen Triptychons «Trois Contes» von 1877, jenem spöttischen Abgesang auf illusionäre Idealsuche, spielt der Vogel denn auch eine tragende Rolle. Barnes benutzt ihn als Leitmotiv in seinem Roman und erzählt in 15 Kapiteln von den laienhaften Forschungen des verwitweten Arztes. Dabei bleibt kein Aspekt aus der Vita des verehrten Schriftstellers ausgespart, seine Liebesaffären werden ebenso thematisiert wie seine zurückgezogene Lebensweise und diverse Marotten, zu denen zum Beispiel sein Hass auf die Eisenbahn gehört. Im Kapitel «Die Flaubert-Apokryphen» wird lebhaft über seine nicht geschriebenen Bücher spekuliert, in anderen stehen seine Beziehung zu Tieren im Vordergrund, und natürlich auch die gesellschaftlichen Anfeindungen, die der Roman «Madame Bovary» hervorgerufen hatte, ein gefährlicher juristischer Strudel damals, aus dem er glänzend rehabilitiert wieder aufgetaucht ist.
Selbstverständlich ist diese eindeutig bekannteste Romanfigur Flauberts im Roman allgegenwärtig, Julian Barnes lässt Emma Bovary geradezu lebendig werden, erhebt die Ehebrecherin beinahe zu einer historischen Figur. Und so wird denn auch die köstliche Anekdote erzählt, dass man in Hamburg schon ein Jahr nach Erscheinen des Romans eine «Bovary» mieten konnte, eine zum Kopulieren zweckentfremdete, ziellos herumfahrende Pferdedroschke, so benannt in Anspielung auf die berühmte Fiakerszene. Der Protagonist kann sich nach einem Museumsbesuch dann auch die Anmerkung nicht verkneifen, dass ihm die ausgestellten Droschken aus jener Zeit beängstigend klein vorgekommen sind und allesamt kaum geeignet seien für den von Flaubert ersonnenen, zweckentfremdeten Gebrauch. Typisch Barnes!
Mit seinem dilettierenden Literaturforscher Braithwaite karikiert der Autor gekonnt die ganze Zunft, weist auf Absurditäten und Hirngespinste hin, denen da so übereifrig nachgegangen wird. Ein Leser, der Flaubert nicht kennt, nichts von ihm gelesen hat, wird kaum auf seine Kosten kommen bei dieser Eloge auf den berühmten Romancier, zu häufig wird doch auf dessen Werk Bezug genommen. Das Fiktionale des Romans wird hier durch massenhaft Historisches unterfüttert, man glaubt sich beim Lesen zuweilen eher in einer Schriftsteller-Biografie angesichts der vielen Daten und Fakten, die da ausgebreitet werden. Aber die Rahmenhandlung mit ihrem Ich-Erzähler holt einen dann doch immer wieder ins Fiktionale zurück. Der experimentell aufgebaute Plot ist hervorragend durchdacht mit vielen stimmigen Verweisen, er wird in einer brillanten Sprache erzählt und vermittelt en passant eine Menge Wissenswertes über Gustave Flaubert. Einfach zu lesen ist dieses gekonnte Vexierspiel allerdings nicht.
Fazit: erstklassig
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Die Toten
Für alle, die es noch nicht wissen: Christian Kracht hat einen neuen Roman geschrieben. Über das aufstrebende Filmmilieu der dreißiger Jahre zur Zeit der NS-Machtübernahme. Titel: „Die Toten“. Ja, den Titel hat es schon mal gegeben. Bei James Joyce. Anspruch will eben formuliert sein.
Trailer ab. Es treten auf :
In den Hauptrollen:
Emil Nägeli, ein Schweizer Avantgarde-Regisseur, mit einem ausgewachsenen Vaterkomplex behaftet.
Masahiko Amakasu: Japanisches ex-Wunderkind, als Erwachsener vor allem durch sein Faible für deutsches Brauchtum und Mythen auffallend.
In den Nebenrollen: eine dralle, blonde deutsche Schönheit namens Ida, ferner UFA-Tycoon Hugenberg, Charlie Chaplin, Siegfried Kracauer, Lotte Eisner, Ernst „Putzi“ Hanfstaengl und Heinz Rühmann (geschickter Schachzug, auf nickende Kennermienen der Leser und Kritiker abgestellt).
Schauplätze:
das Berlin der Weimarer Republik
Japan vor einer Zeitenwende
Hollywood als vermeintlicher Rettungsanker
diverse Berge und Bauernhöfe
Handlung: Mit deutschem Geld soll in Japan ein Vampirfilm gedreht werden – sozusagen als Zelluloid-Achse, um die faschistoide zu unterstützen. Mit Vampiren, viel Blut und nicht ganz soviel Kultur gegen den amerikanischen Kulturimperialismus, der allerdings schon da ist – in Gestalt des gerade in Japan nahezu gottgleich verehrten Charlie Chaplin. Dazu Fressorgien, Besäufnisse und reichlich historische Ereignisse (die zwar nichts zur Sache tun, aber wenn sie sich schon zum Zeitpunkt der Handlung ereignen. Man will ja nicht umsonst recherchiert haben).
Trailer Ende.
Doch bevor es im Buch um den Plot geht, (sieht man mal vom in allen Details beschriebenen Harikiri eines japanischen Offiziers direkt zu Beginn ab) ist die Hälfte des Buches schon um. Denn zunächst geht es in epischer Breite um die Leiden des jungen Nägeli und des jungen Amasuko. Kann man ja nicht unter den Tisch fallen lassen. Problematische Vater-Sohn-Beziehungen oder frühe Traumata wie der Tod des weißen Nicht-Kuscheln-Wollen-Hasen geben literarisch ja auch richtig was her. Und erst die autoritäre Kadettenanstalt, die das kleine Genie Masahiko den Flammen überlässt.
Das alles taugt zwar nicht als Rahmenhandlung oder gar als roter Faden, ist auch komplett bedeutungslos für die weitere Handlung, aber gepflegtes Leiden ist schließlich auch wichtig. Und das alles schön parallel montiert. Es geht ja um den Film als Kunstform. Im Film ist Parallelmontage sehr gefragt. So kann man gleich ganz klug und beseelt schließen, ah ja, hier ist die filmische Kunstform ins Literarische übersetzt. Und gelitten wird später auch noch. Wenn auch eher kunstblutig. Aber vielleicht ist das ja der rote Faden. Irgendwie will man als Leserin den Kreis ja dann doch geschlossen kriegen.
Kommt man dann zum Plot, treffen sich Nägeli und Amakasu endlich in Japan, wird dummerweise die (gemäß Verlagsbeschreibung „…das Geheimnis des Films als Kunstwerk der Moderne feiernde“) begonnene Handlung schon wieder unterbrochen. Schade. Aber was will man machen, wenn die blonde Ida dem japanischen Genie den Kopf verdreht und auf ganz andere vampirische Art als die geplante saugt. Dem Nägeli bleibt immerhin noch die „Augenblicklichkeit des Universums“ und die blonde Spielverderberin kriegt ihre Kunstblut-Strafe. Und nicht zu vergessen: die Toten. Die haben wir ja auch noch. Die mischen sich dauernd zwischenrufend ein. Sind wahrscheinlich sowas wie das Kinopublikum für edel leidende junge und ältere Herren. Dass hingegen der Roman der dramatischen Struktur des japanischen No-Theaters folgt, das braucht man gar nicht groß herauszufinden. Kracht ist so stolz drauf, dass er einen mit der Nase draufstößt. Aber schön, oder? Da haben wir doch so einiges, was die Nicht-Rahmenhandlung und den kleinen Plot zusammenhält.
Der Roman schafft das Kunststück, viel zuviel Information bei gleichzeitiger Inhaltslosigkeit zu liefern. Aber immerhin in schön gedrechselten Sätzen, beinhaltend eine wahre Fundgrube für die beliebte Sammlung „Schöne, fast vergessene Wörter“. Die „Ästhetisierung des Schrecklichen“ passt dazu, aber es bleibt eine elegante Spielerei. Statt Herzblut spritzt einem auch dort nur Kunstblut entgegen und es ist einem ganz unglaublich egal, ob man Gewalt so beschreiben darf, weil diese Passagen so bemüht wirken, dass sie einen nur kalt lassen können. Christian Kracht ist sicherlich ein feinsinniger Autor, aber was nach der Lektüre dieses Romans bleibt, ist der Eindruck, inhaltsleere Manierismen eines klugen Kopfs gelesen zu haben. Und Fragen bleiben: Die nach dem Warum und Wozu? Und vor allem: Warum wird das derart gefeiert? Alles, was ich sehe, ist eine Klamotte, eine langweilige noch dazu. Garniert mit dem Muff deutschen Mythen, von denen einem auch nicht im Ansatz erklärt wird, warum sie so toll sind und schon gar nicht, welche Lehren man daraus für die Zukunft ziehen könnte. Irritierend.
Abspann: Vielleicht ist die Entstehung des Romans mit einem drängenden Bedürfnis des Autors zu erklären, sich mit aller Macht und Gewalt um jeden Preis aus den Schubladen lösen zu wollen, in die man ihn hineingepresst hat: Wunderkind, Popliterat und was da nicht immer alles an überfrachteten Erwartungen zu lesen ist. Dieser Intention und dem ganzen Roman hätte dafür allerdings eine Rückbesinnung auf Krachts Begabung als Satiriker gut getan.
Erstveröffentlichung dieser Rezension in den Revierpassagen.de
Lebensstufen
Ein literarisches Taj Mahal
In seinem neuen Buch «Lebensstufen» verarbeitet der englische Schriftsteller Julian Barnes seine Trauer über den Tod seiner innig geliebten Frau. «Zwischen Diagnose und Tod lagen 37 Tage», wie er schreibt, und diese wenigen Tage waren beherrscht von «Angst, Schrecken, Sorge, Entsetzen». Nun könnte jemand, der das Buch schon kennt, einwenden, es gäbe neben dem letzten Teil über die Trauerarbeit des Autors ja noch zwei weitere, vorangehende Teile, in denen es um Anderes geht. Und in der Tat, der für sein Romanwerk mit bedeutenden Literaturpreisen geehrte Autor hat im vorliegenden Band versucht, so Verschiedenes wie die Anfänge der Ballonfahrt und der Fotografie mit solchen Themen wie Liebe und Trauer zu verbinden. Dieser Versuch aber ist gescheitert, es würde dem Buch nichts fehlen, hätte er die beiden ersten Teile einfach weggelassen. Denn die wenigen Stellen, in denen vage Bezüge zwischen ihnen geknüpft werden, sind keineswegs überzeugend, sie wirken konstruiert und nur dazu bestimmt, die seltsame literarische Melange aus einem Essay, einer Kurzgeschichte und einem autobiografischen Bericht irgendwie zu rechtfertigen.
Unter der Überschrift «Die Sünde der Höhe» wird im ersten Teil von den Anfängen der Ballonfahrt erzählt, als kühne Männer den Traum vom Fliegen verwirklicht haben auf den Spuren von Ikarus. Der von mir ungemein geschätzte, ironische Erzählton von Julian Barnes, sein trockener britischer Humor, blitzt hier – aber leider nur hier – an einer Stelle kurz auf. Wenn nämlich die englischen Ballonfahrer nach glücklicher Landung in Frankreich dem Wind dankbar sind, der sie dorthin getrieben habe, der kulinarischen Genüsse wegen, denen sie bei der Begrüßungsfeier entgegensehen, kein Vergleich mit dem, was sie bei einer Landung irgendwo auf englischem Boden erwarten würde, erklärt der frankophile Autor. Auch «La divine Sarah» wagt sich in den Ballon, die legendäre Schauspielerin Sarah Bernhardt, die Göttliche, und Gaspard Félix Tournachon alias Nadar macht aus der Gondel die ersten Luftaufnahmen. Zu den kühnen Aeronauten gehört auch Fred Burnaby, der sich im mehr fiktional angelegten zweiten Teil «Auf ebenen Bahnen» in die Diva verliebt und natürlich scheitert, eine Göttin heiraten zu wollen muss ja schiefgehen.
«Ein Buch über das Wagnis zu lieben» kündet der Klappentext an, und so ist denn schließlich, nach einem Zeitsprung von mehr als hundert Jahren, auch der dritte Teil das, worum es eigentlich geht: Die tiefe Liebe des Autors zu seiner Frau Pat Kavanagh und der Schrecken, als er sie nach dreißig Ehejahren plötzlich verliert. Es ist eine wahrhaft grenzenlose Liebe, die da vor uns ausgebreitet wird, man ist geschockt und tief gerührt als Leser über den unbewältigten Schmerz dieses Mannes, der mit seiner neuen Lebenssituation nicht umgehen kann, sie nicht akzeptieren will, auch nach mehreren Jahren noch nicht. Mit einer Fülle von Gedanken und leidvollen Erfahrungen als Hinterbliebener versinkt Julian Barnes in eine scheinbar nicht enden wollende Trauer, bei der ihn, der sich einmal selbst als glücklichen Atheisten bezeichnet hat, keine Jenseitsversprechen, kein Glaube an Wiedergeburt oder den Eingang ins Nirwana trösten.
In seiner posthumen literarischen Liebeserklärung, die souverän konventionelle Gattungsgrenzen ignoriert, hat Julian Barnes, den man der Postmoderne zuordnet als Autor, in beeindruckender Weise die Schrecken geschildert, die der Tod auf den hinterbliebenen Partner auszuüben vermag, ja die in seinem Fall sogar Gedanken an Suizid ausgelöst haben. Nicht alle seiner diesbezüglichen Reflexionen sind überzeugend, manche Vergleiche erscheinen mir missglückt in seiner sehr persönlich gehaltenen Geschichte. Er erzählt unpathetisch und atmosphärisch dicht von der unsäglichen Trauer um seine Frau, der er mit diesem intimen Buch eine Art literarisches Taj Mahal errichtet hat, das mir allerdings in etlichen Aspekten nicht als gelungen erscheint.
Fazit: lesenswert
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Das Geheimnis des Luca
Vierzig Jahre Schweigen
Unter dem Pseudonym Ignazio Silone hat der italienische Politiker und Autor Secondino Tranquilli ein relativ kleines Œeuvre geschaffen, wobei einige seiner Werke eine liebevolle Hommage an seine Heimat in der Provinz L’Aquila der Region Abruzzen darstellen. Und dazu gehört zweifellos auch der Roman «Das Geheimnis des Luca», ein bedeutendes Werk der italienischen Literatur, das im Jahre 1956 im Original erstmals erschien, ein Jahr später dann schon in deutscher Übersetzung vorlag und den Autor auch hier bekannt machte.
Silone hatte ein bewegtes politisches Leben in verschiedensten Funktionen, er war für die Sozialisten und eine Zeit lang auch für die Kommunisten Italiens vor allem journalistisch tätig. Wegen seiner politischen Gesinnung wurde er mehrmals interniert und musste während der Zeit des Faschismus dann ins Schweizer Exil gehen. Als Mitglied des Komintern für die Kommunistische Partei Italiens erlebte er aus nächster Nähe den Aufstieg Stalins zum verabscheuungswürdigen Diktator, eine Erfahrung, die ihn mit dem Kommunismus brechen ließ, er trat aus der Partei aus und wandte sich wieder den Sozialisten zu. Seine politische Orientierung ist Ergebnis seiner Erfahrungen in der Jugend, das Leben in einer kargen, rauen Bergregion, die ihre Bewohner in besonderer Weise prägt. Schon als Fünfzehnjähriger verlor er seine Mutter und fünf Geschwister bei einem schweren Erdbeben, kämpfte mit den Landarbeitern gegen die feudalen Großgrundbesitzer und engagierte sich beim Protest gegen die Tatenlosigkeit der Politiker bei der Aufarbeitung der Erdbebenschäden. Ein Unvermögen übrigens, an dem sich auch Jahrzehnte später rein gar nichts geändert hat, wie jeder erstaunt feststellen wird, der nach dem Erdbeben vor fünf Jahren die besonders stark betroffene Stadt L’Aquila heute mal besucht.
Der vorliegende Roman erinnert mit seiner scheinbar zeitlosen, ebenso weltentrückten wie unbeirrbaren Liebesbindung an Gabriel Garcia Marquez, nur dass Florentino dort nach fast lebenslanger Wartezeit am Ende seine Hermina doch noch bekommen hat in dem berühmten Roman «Die Liebe in den Zeiten der Cholera». Solch ein spätes Happyend ist Luca aber nicht beschieden, so viel kann hier gesagt werden, ohne der Geschichte, die allein mit dem Wort «Geheimnis» im Titel ja schon neugierig macht, ihre Spannung zu nehmen. Denn man ahnt gleich zu Beginn, als ein alter Mann nach vierzig Jahren, die er unschuldig im Zuchthaus verbracht hat, in sein Heimatdorf in den Abruzzen zurückkehrt, dass hinter den vielen Rätseln eine Frau stecken dürfte. Luca wird von fast allen Dorfbewohnern argwöhnisch beäugt und gemieden, nur der alte Pfarrer Don Serafino und der ehemalige Dorflehrer Andrea Cipriani, der vom Schuldienst in die Politik übergewechselt ist, halten zu ihm. Letzterer ist es dann auch, dem das Geheimnis keine Ruhe lässt, ganz besonders nämlich treibt ihn die Frage um, warum Luca sich im Prozess einst nicht verteidigt hat und ihm auch jetzt, nach seiner Begnadigung, immer noch kein Sterbenswörtchen zu entlocken ist. Denn dass er den ihm zur Last gelegten Raubmord nicht begangen hat, ist inzwischen längst belegt, mehr will ich aber hier nicht verraten.
Der Reiz dieses Romans liegt in der klug erdachten, spannenden Geschichte, die der Autor ruhig und gelassen erzählt, ohne jede dramatische Effekthascherei, die karge Landschaft gibt also auch sprachlich die Richtung vor. Alle Figuren sind sehr liebevoll gezeichnet, sie wirken glaubwürdig und oft auch sympathisch, besonders in den vielen, durchweg lebensechten Dialogen, die den Leser häufig mal schmunzeln lassen. Eine solch angenehme, in schnörkelloser Sprache verfasste Lektüre legt man ungern zur Seite, ehe man nicht den letzten Satz gelesen hat, ehe nicht alles geklärt ist in dieser emotional anrührenden Geschichte.
Fazit: lesenswert
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Odessa Star
Satire oder nicht
Wer da glaubt, die Romane eines Comedians müssten doch lustig oder zumindest amüsant sein, der irrt sich. Herman Koch nämlich, niederländischer Autor, Schauspieler, Kolumnist und TV-Comedian, ist eher ein schreibender Misanthrop, sein Roman «Odessa Star» von 2003, zehn Jahre später auch auf Deutsch erschienen, zeigt dies sehr deutlich. Es ist dies nämlich eine geradezu niederschmetternde Geschichte, thematisch der Fernsehserie «Breaking Bad» verwandt, die sich aus einer derart bösartigen Erzählhaltung heraus entwickelt, dass man sich als Leser am Ende einfach nur resigniert wünscht: Hätte man doch dieses unerfreuliche Buch nie zur Hand genommen!
Den Durchbruch zum Bösen begeht hier Fred Moorman, ein Endvierziger in der Midlife-Crisis, der unter seinem so völlig unspektakulären Leben leidet, sich als Versager fühlt. Er wünscht sich sehnlich einen anderen Bekanntenkreis, schämt sich für seinen popligen Opel, träumt stattdessen von einem schwarzen Jeep Cherokee mit allem Schnickschnack. Als ihm sein protzig auftretender ehemaliger Schulkamerad Max G. begegnet, sieht er in dem vermutlich mafiosen Jugendfreund einen Helfer für den Aufstieg aus seinem drögen Mittelstandsdasein. Was folgt ist eine haarsträubende Geschichte, in deren Verlauf wir nicht nur die bucklige Verwandtschaft des fragwürdigen Helden näher kennen lernen, sondern auch ihn selbst, wir erleben ihn samt Frau und halberwachsenem Sohn zum Beispiel bei einem Urlaub auf Menorca. Währenddessen sorgen der zwielichtige Freund und dessen Bodyguard dafür, dass die unliebsame Mitbewohnerin in Freds Haus spurlos verschwunden ist, als er zurückkommt.
Die dezent eingebauten Thrillerelemente kontrastieren mit vielen geradezu unappetitlichen Szenen im Leben dieses Antihelden, dessen Häme vor nichts haltzumachen scheint. Seien es die schon eine viertel Stunde vor Öffnung des Speisesaals «wie eine Herde an einem Wasserloch» wartenden Senioren im Hotel, über die er sich ärgert, die einen penetranten Geruch nach Apotheke und Windeln ausströmen und dann binnen kurzem das Buffet ratzeputz leer fressen, oder der mongoloide Junge, dessen Anblick ihn so stört, dass er ihn am liebsten im Pool ertränken würde. Er mokiert sich aber auch über die grottenhässlichen Belgier und die ewig Fish and Chips mampfenden Engländer, der menschenfeindliche Protagonist gehört also unzweifelhaft zur Spezies der Kotzbrocken. Man fragt sich als Leser, mit welchem Kalkül der Autor seine wirre Geschichte mit so unappetitlichen Szenen wie die Kopulation des Nägel kauenden Französischlehrers mit seiner hässlichen Frau oder die Ekel erregenden Zustände in der Wohnung seiner dementen Mitbewohnerin anreichert. Ist es der pure Spaß am Unkorrekten, Geschmacklosen, Gehässigen? Ist diese sarkastische, zynische Erzählhaltung ein bewusst eingesetztes Stilmittel, trickreich die Erwartungen der Leser zu konterkarieren, sind alle diese Tiraden eines Egomanen also nur als Satire zu verstehen?
Dann aber wäre die Übertreibung als typisches Kennzeichen der Satire hier auf die Spitze getrieben, die Grenze zur Verunglimpfung ist eindeutig überschritten. Ich hatte vielmehr das ungute Gefühl, dem Autor ist seine Story irgendwie entglitten. Denn vieles daran ist derart haarsträubend und verworren, dass man sich nur wundert, – die völlig abstruse Szene um die TV-Sendung «Wer wird Millionär» ist ein beredtes Beispiel dafür, aber auch der Mord an Max G. oder die manipulierte Gasleitung des Schwagers. Und wenn der Junge mit Dow-Syndrom als «Mongo» bezeichnet wird, als ein Halbmensch, dessen Eltern sich schämen müssten, ihn gezeugt zu haben, dann ist man einfach nur angewidert von diesem unsäglichen «Thriller». Nun könnte man einwenden, all diese Tabubrüche begeht ja nur der fiese Ich-Erzähler Fred, eine Romanfigur also, stünde dem nicht entgegen, dass dieser unsägliche Held ja durchaus wohlwollend beschrieben wird von seinem Schöpfer Herman Koch, eine abgrenzende Distanz ist da für mich nicht erkennbar.
Fazit: miserabel
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Das Mädchen
Kein Wohlfühl-Roman
«Scheiße fliegt durch die Luft, streift die Äste einer Linde, trifft das Dach eines vorbeifahrenden Busses, landet auf dem Strohhut einer jungen Frau, klatscht auf den Bürgersteig». Ob schon im berühmten ersten Satz die ganze Geschichte steckt, wie Edgar Allan Poe als bedeutender Literaturtheoretiker des Neunzehnten Jahrhunderts konstatierte, sei dahingestellt, aber dieser erste Satz hier führt uns gleich äußerst brutal hinein in das bedrückende Leben eines heranwachsenden Mädchens. Und das Foto auf dem Buchumschlag passt so gar nicht dazu, aber auch der Klappentext, in dem von trockenem Humor in der Prosa der Autorin die Rede ist, führt uns in die Irre, denn Humor ist an keiner einzigen Stelle dieses Romans zu finden. Im Gegenteil! Beklemmend, düster, brutal geradezu werden etwa fünf Jahre im Leben der namenlos bleibenden Protagonistin geschildert, der Zeitraum der Pubertät dieses bedauernswerten Menschenkindes. Eine der eher seltenen Geschichten aus dem Prekariat der DDR, die aber ebenso stimmig in der Bundesrepublik hätte angesiedelt sein können, Politik ist kein Thema also, auch wenn immer wieder mal ein Foto von Honecker an der Wand hängt. Der Handlungsort deutet vielmehr auf die biografische Nähe der Verfasserin zu ihrer Figur hin, in der Berufswahl Zootechniker/Mechanisator am Ende des Romans stimmen beide darin jedenfalls überein.
Distanziert, emotionslos, geradezu lakonisch erscheint Klüssendorfs Sprache, in der die Erzählung permanent für Spannung sorgt, indem sie ständig zwischen Ausweglosigkeit und Hoffnung pendelt, den Leser damit aber auch einem ständigen Wechselbad der Gefühle aussetzt, ihn immer wieder zwischen Abscheu und Mitleid schwanken lässt in dieser unsäglichen Geschichte. «Das Mädchen» lebt völlig vernachlässigt mit ihrer alkoholsüchtigen Mutter und ihrem kleineren Bruder in einer familiären Hölle aus Armut, Lieblosigkeit und brutaler Gewalt bis hin zum Sadismus. Die Wirkungen sind verheerend, das malträtierte, vernachlässigte Mädchen reagiert ihrerseits mit Hass, wehrt sich gegen den psychischen und physischen Terror, gleitet in die Kleinkriminalität ab, flüchtet sich aber auch in ihre Träume, sucht verzweifelt einen Halt in der Literatur, versucht dem sozialen Abstieg entgegenzusteuern, die Opferrolle los zu werden. Es gibt keinen Spannungsbogen in diesem Roman, keinen Höhepunkt, auf den alles zuläuft, lauter kleine Begebenheiten reihen sich gleichberechtigt aneinander bis hin zum abrupten Ende, das uns ohne jeden positiven Ausblick in völliger Hoffnungslosigkeit zurücklässt.
Zu dieser düsteren Thematik passt die knapp und kühl wirkende Sprache ideal, durchgängig im Präsens formuliert, fast reportageartig wirkend und sich sehr radikal zurückhaltend mit Deutungen oder Hinweisen, damit den Leser in eine Stimmung versetzend, die nicht gerade als erfreulich bezeichnet werden kann, ihn aber eher wütend macht als melancholisch. Man kommt ins Sinnieren, inwieweit hier Realität abgebildet wird, hofft, es wäre nicht so, ahnt aber, leider doch, es ist real! Was kann aus Menschen werden, die so heranwachsen, die kaum eine Chance haben nach ihrer traumatischen Kindheit, an der sie selbst ja überhaupt keine Schuld tragen?
Ein Wohlfühl-Roman ist dieses schmale Buch also nicht, irgendwie ist man froh, wenn man das Ende erreicht hat, kann aber dann nicht umhin, immer wieder noch mal auf die Geschichte zurückzukommen, ihre Botschaft zu ergründen, auch wenn sich die Autorin jedweder Interpretation enthalten hat. Wofür man ihr dankbar sein muss! Was die Lektüre bewirkt beim Leser, unterscheidet sich erheblich voneinander, aber auch wenn die Mehrheit begeistert ist, ich war es nicht! Was natürlich ganz allein meine Schuld ist, mich hat letztendlich weder der Plot noch die karge Sprache überzeugt in ihrer fragwürdig erscheinenden Sprunghaftigkeit.
Fazit: mäßig
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Fegefeuer
Eine Ahnung vom Ende
Die finnische Autorin Sofi Oksanen hat die Handlung ihres dritten Romans «Fegefeuer», dem ein Jahr vorher ein gleichnamiges Theaterstück vorausging, in Estland angesiedelt, dem sie durch ihre estnische Mutter verbunden ist und dessen Sprache sie beherrscht. Als ausgewiesene Feministin angesehen, sind ihre bisherigen Themen konsequent frauenbezogen gewesen, sie widmen sich Problemen wie Gleichberechtigung oder Gewalt gegen Frauen in patriarchalisch geprägten Gesellschaften. Schon der Titel dieses autofiktiven Romans, in dem sie Autobiografisches mit Erfundenem vermischt, deutet voraus, dass es um Unerquickliches gehen dürfte, dass die Hölle darin zur Realität wird, und diese Hölle heißt hier UDSSR. Die zornige Autorin scheut sich nicht vor schwierigen Themen, das kommunistische System, nach ihren eigenen Worten eines der schlimmsten der Weltgeschichte, sei bisher im Gegensatz zum Nationalsozialismus viel zu selten thematisiert worden.
Zara, eine junge russische Prostituierte, landet auf der Flucht vor ihren brutalen Zuhältern bei Aliide, einer alten Bäuerin in Estland. Widerwillig nimmt diese die geschundene junge Frau auf und versteckt sie in ihrem Haus. Erst allmählich stellt sich heraus, dass Zara nicht zufällig bei Aliide Unterschlupf gesucht hat, ihre Oma ist deren Schwester. Diesem nur wenige Tage im Jahre 1992 dauernden Handlungsstrang, also nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Unabhängigkeit Estland, steht ein zweiter gegenüber, der zeitlich mehr als vierzig Jahre zurückliegt und Aliides Leben als junge Frau schildert. Deren Schwester heiratet Hans, einen estnischen Nationalisten, und stürzt sie damit in ein lebenslanges Trauma, war Hans doch ihr Märchenprinz. Sie selbst heiratet später einen kommunistischen Apparatschik, und in einer spannenden Geschichte um Schicksal, Gewalt, Eifersucht, Verrat, Angst und Scham schält sich nach und nach das Bild einer menschlichen Tragödie heraus, die sich damals abgespielt hat, während Stalins Schreckensherrschaft. Bei dieser kurzen Skizzierung will ich es bewenden lassen, mehr zu verraten wäre einfach unfair den potentiellen Lesern gegenüber.
Die Autorin versteht es meisterhaft, mit einfacher Sprache verwickelte Zusammenhänge zu schildern, sie erweitert immer nur fein dosiert mit zusätzlichen Details ihr fiktionales Werk, das sich dann allmählich puzzleartig zu einem Panorama fügt. Und trotz der sprachlichen Schlichtheit schafft sie es, ihre Figuren und das Umfeld, in dem sie leben, glaubhaft und plastisch vor dem Auge des Lesers entstehen zu lassen, das Rotlicht-Milieu in Berlin ebenso wie das Landleben in Estland. Ähnlich polarisierend sind auch ihre beiden Protagonistinnen angelegt, Russin aus Wladiwostok gegen Estin, Jung gegen Alt, Nutte gegen Bäuerin, und die zwei wichtigen Männerfiguren sind ebenfalls konträr, estnischer Nationalist gegenüber sowjetischem Apparatschik. All das verleiht der atmosphärisch dicht erzählten Geschichte eine zusätzliche Dramatik. In Form der erlebten Rede rekapitulieren ihre Figuren häufig das Geschehene und dessen Hintergründe, eine detektivische Methode zur Klärung des Erkenntnisstands, die auch dem Leser hilft, den Durchblick zu behalten. Ergänzend werden Tagebucheinträge des untergetauchten estnischen Nationalisten eingeblendet, letzte Klärung bringen dann viele am Ende des Romans angefügte KGB-Dossiers, die das fünfte Kapitel bilden, ein raffinierter Schluss, der dem Roman fast so etwas wie Authentizität verleiht.
Ohne Pathos stellt Oksanen mit ihrem großartigen Roman geschundene Frauen in den Mittelpunkt, denen jedwedes Grundvertrauen abhanden gekommen ist, die ihr Martyrium mit unglaublicher Zähigkeit ertragen, es mutig abzuwenden versuchen und dabei selbst auch nicht schuldlos bleiben. Trotz der menschlichen Abgründe, in die uns Sofi Oksanen blicken lässt, trotz aller brutalen Härte, ist am Ende ihres raffinierten Psychodramas ein versöhnlicher Ausgang immerhin zu erahnen.
Fazit: erfreulich
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Im Lichte der Vergangenheit
Ein sprachliches Fest
In seinem Roman «Im Lichte der Vergangenheit» erzählt der irische Schriftsteller John Banville aus der Perspektive eines älteren Mannes, der auf sein Leben zurückblickt und merkt, wie fragwürdig seine Erinnerung ist, ein dramaturgisches Verfahren, das sich auch in anderen Romanen von ihm findet. Im Schatten seiner großen irischen Kollegen James Joyce und Samuel Beckett stehend, wird der mit renommierten Buchpreisen ausgezeichnete Autor von Literatur-Insidern zuweilen auch als Nobelkandidat angesehen. Mit Recht?
«Billy Gray war mein bester Freund, und seine Mutter war meine erste Liebe» lautet der für die Rezeption wichtige erste Satz. In vielen Werken Banvilles ist der Einfluss von Vladimir Nabokov unverkennbar, in diesem Roman hier wird das deutlich schon im Sujet, der Liaison eines altersmäßig ungleichen Paares nämlich, allerdings in konträrer Konstellation zur berühmten Vorlage. Theaterschauspieler Alex Cleave, der sich schon in den Ruhestand zurückgezogen hat, erinnert sich an seine Zeit als fünfzehnjähriger Junge, der eine intime Beziehung zu einer zwanzig Jahre älteren Frau hatte. Das halbe Jahr dieser leidenschaftlichen Affäre, die abrupt beendet wird, als die Beiden in flagranti von Kitty, der Tochter Mrs Grays, überrascht werden, diese sein Leben prägende Episode zieht sich in fortschreitend erzählten Rückblenden durch den ganzen Roman, sie bildet quasi das Gerüst des Plots. Ebenfalls in diversen Fragmenten erinnert sich der Ich-Erzähler immer wieder auch an seine psychisch kranke Tochter Cass, die vor zehn Jahren als Schwangere in Italien Selbstmord beging. Als Alex, für einen reinen Theatermann ziemlich überraschend, das Angebot bekommt, die Hauptrolle in einem Spielfilm zu übernehmen, trifft er am Set auf den berühmten Filmstar Dawn Devonport, die die weibliche Hauptrolle spielt. Vor Abschluss der Dreharbeiten unternimmt der Star einen Suizidversuch, Alex fährt deshalb mit ihr für einige Tage nach Italien, als Reha gewissermaßen, den Spuren seiner suizidalen Tochter folgend.
Banville legt bewusst falsche Fährten an in seiner Geschichte, so zum Beispiel, dass Cass in Italien einen gewissen Swidrigailow getroffen hat, dann vermutet er, es könnte auch der Literaturkritiker Alex Vander gewesen sein, der Mann, dessen Rolle sein Protagonist in dem Film spielt. In den Cinque Terre trifft der Romanheld auf einen geheimnisvollen Mann, der auf ihn gewartet zu haben scheint, auch das eine falsche Fährte. Als er zu einer Festveranstaltung für Alex Vander eingeladen wird, sinniert sein Held: «Ich gehe nach Amerika. Ob ich dort Swidrigailow suchen soll? JB und ich werden zusammen reisen, kein ideales Paar, ich weiß». Der Autor bezieht sich also selbst mit ein, und auch seinen Leser lässt er teilhaben an der Genese seines Textes, spricht ihn direkt an, ein mir persönlich sehr sympathisches Stilmittel, das eine intime mündliche Erzählsituation simuliert. Wie brüchig Erinnerungen sind, «im Lichte der Vergangenheit» betrachtet, wie der Titel es ja vorgibt, das klärt sich am Ende, als Kitty erzählt, wie es wirklich war damals, der Eklat mit ihrer Mutter.
Das Besondere an diesem anspielungsreichen Roman mit seinen vielen Querverweisen und intertextuellen Bezügen ist für mich die mit stimmigen Metaphern und klugen Reflexionen gleichermaßen brillierende Sprache, in der er geschrieben ist, genau beobachtend, äußerst detailreich, gleichwohl im Plauderton, oft auch launig, mit kreativen Wortbildungen erzählt. «Wie herrlich, jung zu sein und frisch gebeichtet» heißt es da zum Beispiel nach der Initiation des jungen Helden und seinem reuevollen Kirchenbesuch. Ein Mann wird beschrieben als «Albert Einstein in mittleren Jahren, in seiner präikonischen Periode». Die kongeniale Übersetzung hat einen wesentlichen Anteil an dem sprachlichen Fest, das die Lektüre dieses Romans für den geduldigen und aufnahmefähigen Leser bedeutet. Ob für die Herren in Stockholm auch, das bleibt abzuwarten.
Fazit: erfreulich
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