Nochmal von vorne

Da capo

Auch der zweite Roman von Dana von Suffrin mit dem Titel «Nochmal von vorne» widmet sich dem Thema jüdisches Leben in Deutschland, die promovierte Historikerin beschreibt darin die komplizierte Geschichte einer vierköpfigen Familie aus der Perspektive der jüngeren Tochter. Dabei deckt diese unverkennbar autobiografisch gefärbte, fragmentarisch erzählte Geschichte einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren ab. Sie beginnt in der Jetztzeit mit dem Tod des aus Siebenbürgen stammenden Vaters, um dann in vielen Rückblenden bis in die 90er Jahre hinein, bis in die Kindheit der Ich-Erzählerin Rosa zurück zu schweifen. Schon der Buchtitel deutet auf ein Da capo hin, denn der Debütroman «Otto» handelte von ebendieser chaotischen Familie, die in dem neuen, für den Deutsche Buchpreis nominierten Roman nun erneut im Fokus steht.

Diese deutsch-rumänische Familie ist von extremen Fliehkräften geprägt, denn alle Vier, Vater, Mutter, Rosa und ihre ältere Schwester Nadja, trachten aus ganz unterschiedlichen Gründen danach, ihrer Familie zu entkommen. Beweggründe dafür sind unerfüllte Sehnsüchte, Heimatlosigkeit, Freiheitsdrang, Überdruss der Ehepartner, dauernde Streitereien und die Divergenz der intellektuellen Fähigkeiten, die da ungebremst aufeinander prallen. Der Vater hat in Rumänien ein Studium der Chemie absolviert, das aber in Deutschland nicht anerkannt wird. Er arbeitet deshalb nun als Laborant der Münchner Stadtwerke und kontrolliert Proben des Abwassers. Studienabbrecher sind auch die beiden ungleichen Schwestern. Rosa ist wenigstens im Archiv ihrer Fakultät an der Uni untergekommen, Nadja hingegen schlägt sich mit ständig wechselnden Jobs mehr schlecht als recht durchs Leben. Am Ende des Romans lebt sie mit einer Professorin für Medien-Theorie in deren, nach Ansicht Rosas, hässlichem Einfamilienhaus zusammen und führt, ganz ungewöhnlich für sie, den gemeinsamen Haushalt.

Nach dem Tod des Vaters ist die Ich-Erzählerin gezwungen, sich um die Auflösung seiner Wohnung in Rumänien zu kümmern. Mit ihrer älteren Schwester hat Rosa seit sechs Jahren keinen Kontakt mehr, also muss sie sich alleine um den Nachlass kümmern. Sie bestellt eine Firma, um die Wohnung auszuräumen und den armseligen Hausrat zu entsorgen. Und da sie auch keine irgendwo versteckten Ersparnisse fand, muss sie auch noch allein für die Bestattungs-Kosten aufkommen, denn sie kann die exzentrische Nadja nicht mal mehr telefonisch erreichen. Zwischen Vater und Mutter tobte ein ständiger Streit, der meistens von der aggressiven Mutter ausging, die ihren Mann für einen Schlappschwanz hielt, der sich antriebslos in seiner unter-qualifizierten Stellung eingerichtet hat, wodurch die Familie zu einem sehr bescheidenen Leben gezwungen war. Ein Ausbruch der Mutter aus diesen bedrückenden Verhältnissen war dann ihre Selbstfindungs-Reise nach Thailand, von der sie nie mehr zurück gekehrt ist. Sie war zu weit ins Meer hinaus geschwommen, kam nicht mehr zurück und wurde nach zwei Wochen für tot erklärt. Schlimmer noch als die Mutter ist die launische Nadja mit ihren Neurosen, die oft nicht reagiert, wenn man sie anspricht, oder einfach mitten im Gespräch wegläuft. Sie ist eine Exzentrikerin durch und durch, die sich keinen Konventionen beugt, sich wie ein Paradiesvogel herrichtet und anzieht, manchmal von einem Tag zum anderen wieder ganz anders.

Unter Verzicht auf einen linear erzählten Plot und mit nicht immer nachvollziehbaren Szenewechseln  wird in dieser Familiengeschichte ein Jahrhundert voller politischer Verwerfungen gespiegelt, ohne dass ein Holocaust-Roman daraus geworden ist. Erzählt wird in einer schlichten, leicht lesbaren und vorwärts drängenden Sprache, in der unverkennbar eine leichte Ironie mitschwingt und manchmal auch die jüdische Abart des schwarzen Humors.

Fazit:  lesenswert

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Genre: Roman
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Die einzige Frau im Raum

Die einzige Frau im Raum. In der Reihe “Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte” sind von derselben Autorin schon Biografien zu Lady Churchill, Mrs Agatha Christie, Frau Einstein u.a. erschienen. In vorliegendem Briefroman erzählt sie die Geschichte der Schauspielerin und Erfinderin Hedwig Eva Maria Kiesler besser bekannt als Hedy Lamarr.

Ikone der Frauenbewegung

“Lady Bluetooth” wurde sie in einer Ausstellung, die ihrem Lebenswerk gewidmet war, genannt. Ihre Zusammenarbeit mit dem Komponisten George Antheil wurde mit dem Ergebnis frequency hopping gesegnet. Dieses frequency hopping stellte die Grundlage für das heutige wifi zur Verfügung. Lamarr wollte es während des Krieges auch der US-Armee zur Verfügung stellen, um Torpedos abzuwehren, allein, die amerikanischen Betonköpfe waren nicht intelligent genug das Potential ihrer Erfindung zu erkennen. Und so ging Hedy Lamarr vorerst als “schönste Frau der Filmgeschichte” in die Annalen ein, bis sich findige Journalist:innen mit ihrem Vermächtnis genauer auseinandersetzten. Ein Ergebnis war auch der Film “Calling Hedy Lamas”, der in Zusammenarbeit mit ihrem Sohn Anthony Lauder entstanden war. Oder später auch “Bombshell”, eine Dokumentation über ihre beiden Karrieren vom ersten Nacktmodell der Filmgeschichte zur Ikone der Frauenbewegung als Erfinderin.

Hedy Lamarr Forever

Marie Benedict widmet sich Hedy Lamarr, die durch ihre Heirat mit einem österreichischen Waffenhändler Zugriff auf die Pläne des Dritten Reichs erlangte. Ein Wissen, das sie später nutzte, um an der Seite der Alliierten zu kämpfen. Im Jahr 1937 verließ sie ihren gewalttätigen Ehemann und floh über Paris und London nach Hollywood. Dort wurde sie zu Hedy Lamarr, dem weltberühmten Filmstar. Was keiner wusste: Sie war Erfinderin. Und sie hatte eine Idee, die dem Land helfen könnte, die Nazis zu bekämpfen und die moderne Kommunikation zu revolutionieren. Wenn ihr nur jemand zugehört hätte. Der Hype um die schönste Frau der Welt mit Köpfchen reißt also auch mit diesem Briefroman nicht ab. Denn nach einem nach ihr benannten Wissenschaftspreis, einem Theaterstück von Peter Turrini, einem Song von Johnny Depp über sie, zwei Dokumentationen, einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof, was kann da noch kommen? Als Ikone der Popkultur gilt sie übrigens auch spätestens nach der Adaptation als Catwoman in der Comicwelt, wie alte Zeichnungen beweisen. Auch Anne Hathaway berief sich auf Lamarr für ihre Interpretation von Catwoman. Oder Disney’s Snow White? Was kann da also noch kommen? Naja, vielleicht das WonderWoman Hedy Lamarr spielt? Sehen Sie hier selbst!

Marie Benedict
Die einzige Frau im Raum. Roman
Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte, Band 4
Übersetzt von: Marieke Heimburger
2023, KiWi-Paperback, 304 Seiten
ISBN: 978-3-462-00492-2
Kiepenheuer & Witsch


Genre: Biographie, Briefe, Roman
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Eurotrash

Christian Kracht ist Schweizer mit deutschen Wurzeln. Er sieht sich selbst als Kosmopolit. Nach eigener Aussage begreift er seine Romane eher „humoristisch“, löst mit seinem Werk und Leben allerdings häufig heftige Kontroversen aus. Ein Mensch und Autor, der nicht einzuordnen ist, und der in Eurotrash offensichtlich immer noch nach seinem eigenen Platz und Stellenwert in einem Leben sucht, dessen materielle Rahmenbedingungen andere bei einem flüchtigen Blick neidvoll als beste Voraussetzungen für unbeschwertes Glück ansehen würden. Weiterlesen


Genre: Autobiografie, Erinnerungen, Gesellschaftsroman, Politik und Gesellschaft, Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Cinema Speculation

Cinema Speculation

Cinema Speculation. Kinospekulationen. Quentin Tarantino’s zweites Buch bei Kiepenheuer&Witsch dreht sich um wichtigsten amerikanischen Filme der 1970er Jahre, also das, was gemeinhin als New Hollywood bekannt wurde.

Hollywood Sozialisation in den 70igern

Im “Tiffany” fand der damalige Pimpf (Jahrgang 1963) Tarantino seine geistige Heimat. Denn seine Eltern nahmen ihn schon im Alter von sieben, acht Jahren mit ins Kino und so erlebte er nicht nur die Filme, sondern wie sich Erwachsene beim Betrachten von Filmen in einem dunklen Raum benehmen. Bei einer Vorstellung von “Black Gunn” mit seinem Stiefvater Reggie kam ihm auch sein erstes “S… my D…” über die Lippen. Er war gerade mal zehn Jahre alt und hatte die anderen Zuschauer nachgemacht. Das Tiffany zeigte damals vor allem “gegenkulturelle Filme von 1968 bis 1971“, schreibt Tarantino himself, “sie waren nicht alle gut, aber sie waren alle aufregend“. So etwa “Joe“, eine “rabenschwarze Komödie über das amerikanische Klassensystem” (O-Ton), in der ein Vater so erbost ist über die neue Generation, die Hippies, dass er aufs Versehen sogar seine eigene Tochter erschießt. Wenn der kleine Quentin zu viele Fragen stellte, musste er allerdings beim nächsten Mal zuhause bleiben, so war das mit seinen Eltern ausgemacht.

Film-Diskurse im Auto

Die Autofahrten nach Hause, nach dem Kinobesuch, gehören heute noch zu seinen schönsten Kindheitserinnerungen, weil seien Eltern dabei über die Filme, die sie eben gesehen hatten, diskutierten. So wurde er früh Teil der Erwachsenenwelt und bildete ein bestimmtes kinematographisches Filmgespür heraus, von dem wir heute alle profitieren. Denn sein immenses Film-Wissen setzt Quentin Tarantino, der wohl größte Regisseur der Gegenwart auch bei seinen eigenen Filmen ein. Damals schon hielten seine Klassenkameraden ihn für “mondän“, denn er hatte schon filme gesehen, von denen die anderen Gleichaltrigen nur träumen konnten.

Film-Rezensionen eines Regisseurs

Ob die Filme ihn denn nicht traumatisiert hätten? Seine Mutter antwortete darauf stets, dass sie sich eher Sorgen mache, wenn er die Nachrichten schaue. “Ein Film wird dir nicht wehtun.” Am ehesten hätte ihn der Film “Bambi traumatisierte, schießt Quarantino ironiefrei nach. “Black Gunn” mit Jim Brown wurde schließlich zur Initialzündung für Tarantino. In dem Kino in der Größe des Metropolitan Opera House waren 850 Schwarze und er, 800 davon männlich. “Und ehrlich gesagt war ich danach nicht mehr derselbe.” Die “maskulinste Erfahrung” seines Lebens wurde leider vom Abschied seines Stiefvaters Reggie begleitet, der nach diesem Abend nicht mehr bei seiner Mutter aufgetaucht war. Der Erzähler Tarantino setzt seinen Reigen dann mit ausführlichen Rezensionen seiner Lieblingsfilme fort, die mit so viel Detailinformationen aufwarten, dass man es am besten selbst liest.

New Hollywood and beyond

Der Reigen beginnt mit einer Hymne auf Steve McQueen in “Bullit” (1968), Dirty Harry (1971), Deliverance (1972), The Getaway (1972), The Outfit (1973), Rolling Thunder (1977), Paradise Alley (1978), Escape from Alcatraz (1979), Hardcore (1979), The Funhouse (dt. Das Kabinett des Schreckens, 1981), Sisters (dt. Die Schwestern des Bösen, 1972), Taxi Driver (1976) und eine seiner für dieses Buch titelgebenden Kinospekulationen (“Cinema Speculation”) ist ein Kapitel, in dem er sich dem Funfact widmet, was denn aus Taxi Driver geworden, wenn er tatsächlich Brian de Palma gedreht worden wäre. (Das Drehbuch ging von ihm an Martin Scorsese).

Die Floyd-Fußnote

Weiters ein Kapitel an den “Samurai der zweiten Garde, eine Hommage an Kevin Thomas, das New Hollywood in den Siebzigern, sowie als letztes Kapitel seine “Floyd-Fussnote”. Floyd Ray Wilson war ein Freund der Mitbewohnerin seiner Mutter mit dem Quentin oft über Action- und Blaxploitation-Filme redete. Hier erfahren wir auch sehr viele persönliche Dinge über Quentin Tarantino und auch wem er den großen Erfolg von Django Unchained sowie viel andere seiner größten Erfolge (indirekt) verdankt. Ein freimütiges Bekenntnis, das lesenswert und unterhaltsam auch als weiterführende Lektüre für künftige Drehbuchautoren und Cineasten empfohlen werden kann.

Quentin Tarantino
Cinema Speculation
Übersetzt von: Stephan Kleiner
2022, Hardcover, 400 Seiten
ISBN: 978-3-462-00429-8
Kiepenheuer&Witsch


Genre: Biographie, Film, Hollywood, Kino
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Glaube Hoffnung und Gemetzel

Glaube, Hoffnung und Gemetzel

Glaube, Hoffnung und Gemetzel. “Hoffnung ist ein Optimismus mit gebrochenem Herzen“, lautet einer der letzten Sätze dieser schonungslos offenen Beichte eines der herzlichsten Rockstars unserer Gegenwart. Erst gegen Ende des vorliegenden Interviewbuches gelingt es dem englischen Journalisten Sean O’Hagan (Guardian, Observer) das Gespräch mit seinem Interviewpartner, Nick Cave, auch auf das zweite Wort im Titel zu lenken. Von Glaube und Gemetzel ist nämlich weit ausführlicher die Rede. Nicht nur weil das vorläufig letzte Album von Nick Cave und Warren Ellis “Carnage” (dt.: Gemetzel) heißt.

Verlust, Trauer und Rastlosigkeit

Jeder Mensch, der es schafft, die magische Grenze der 50 zu überschreiten, wird spätestens dann mit Verlust und Trauer konfrontiert. Diese beiden Gespenster gehören zum Leben wie das Amen zum Gebet. Aber sie müssen nicht unbedingt das Ende bedeuten. Nick Cave, der im selben Jahr nicht nur einen Freund, seine Mutter, seinen Sohn und seine Freundin verlor, weiß am besten wie man damit umzugehen lernt. Kurz vor Drucklegung des Buches starb auch noch ein weiterer Sohn von Nick Cave, wie Sean O’Hagan im Epilog erschüttert vermerkt. Sein Verlust war ein jüngerer Bruder und vielleicht hat genau das die beiden so unterschiedlichen Männer einmal zusammengeführt: gemeinsam zu trauern. Über den Zeitraum des ersten Lockdowns ist durch einige Telefongespräche ein Buch entstanden, das jedem, der trauert, helfen wird, diese zu überwinden.

Arbeit als Antidepressivum

Nick Cave schaffte es sogar die Aufnahmen zu seinem “Skeleton Tree” Album fertigzustellen, da das einzige Antidepressivum das für ihn wirkte, Arbeit war. Das vorletzte Album mit den Bad Seeds enthält eine Menge Songs, die vor dem Tod seines Sohnes Arthur geschrieben wurden, aber dennoch genau auf die Situation nach seinem Tod passen. Es ist, als hätte Nick Cave das vorweggenommen, was später geschah. Andrew Dominik (“Blonde”) machte darüber den beeindruckenden Film “One More Time With Feeling”. Als dann auch noch “Ghosteen” erschien, das vorläufig letzte Album mit den Bad Seeds, kam die Pandemie und vereitelte die groß angelegte Tournee eines Albums, das die Welt so noch nie gehört hatte.

Man in Dark Black

Vor allem nicht von Nick Cave. Und so hatte Sean O’Hagan mehr Zeit den “Man in Dark Black” zu interviewen. Natürlich geht es auch um Kunst, Freiheit, Beziehung, Musik, die Red Hand Files, “In Conversations”, Australien und andere interessante Themen, die von Nick Cave stets mit dem gewohnten Schuss Selbstironie präsentiert werden. Sean O’Hagan, der Nick Cave schon über dreißig Jahre kennt, weiß auch, wie man den Egomanen in die Schranken verweist und so ist eine lesenswerte Lektüre entstanden, die einen Menschen zeigen, der seinen Weg zu Gott selbständig gefunden hat.

Glaube, Hoffnung und Gemetzel

Es ist ein erschütterndes und gleichzeitig sehr hoffnungsvolles Buch, denn es ist auch viel von Reue und Vergebung die Rede. Man kann den Schmerz den Eltern, die eines ihrer Kinder verlieren, haben, wohl kaum beschreiben, aber sehr wohl nachempfinden, wie es ist, wenn einem der Teppich unter den Füßen weggezogen wurde. Jedem ist es vielleicht schon einmal so gegangen, wenn eine Beziehung zu Ende ging, aber was der Verlust eines Kindes bedeutet ist wahrscheinlich unermesslich. Dennoch haben es Susi und Nick geschafft: “Wir haben überlebt, weil wir zusammengeblieben sind. So einfach ist das. Wenn einer hinfiel, hat der andere übernommen. Das war entscheidend.”

Gesunde Egomanie

Denn die meisten Paare die so etwas erleben zerbrechen, machen sich gegenseitig Schuldzuweisungen und Vorwürfe. Also auch das ist ein Wunder. Aber Nick Cave spricht noch von viel mehr Wundern, denn das Trauern kann sehr unterschiedliche und unvorhergesehene Formen annehmen. Bei ihm mündete sie in noch mehr Aktivität und Kreativität, rastlos und egomanisch bestimmt, ja, aber es hilft auch anderen Menschen, wenn einer zeigt, dass man es trotzdem schafft.Und so ist auch “Glaube, Hoffnung und Gemetzel” zu verstehen, als Ermunterung, sich nicht unterkriegen zu lassen.

Leiden als menschliche Verbindung

Wir erkannten auf eine sehr tiergehende Weise, dass Menschen liebenswürdig waren. Die Menschen sorgten sich um uns. Ich weiß, dass das simplifizierend klingt, vielleicht sogar naiv, aber ich kam zu dem Schluss, dass die Welt am Ende doch nicht so schlecht war – dass letztlich das, was wir für böse halten oder als Sünde bezeichnen, eigentlich Leiden ist.” Und genau das verbindet uns Menschen, denn das Leiden haben wir alle gemeinsam. Man muss sich nur entscheiden, ob man sich auf diese liebende Kraft hinbewegt, die einem Trost spendet, oder lieber zugrunde gehen will. “Niemand hat Kontrolle über die Dinge, die einem zustoßen, aber wir haben die Wahl, wie wir darauf reagieren.”

Ein unvergleichliches, absolut empfehlenswertes Buch, das viel Weisheit enthält und nicht nur an Allerheiligen, dem Tag der Toten, viel Trost über die Verluste und Wunden, die das Leben eines jeden schlägt, bietet.

Nick Cave/Sean O’Hagan
Glaube, Hoffnung und Gemetzel
Übersetzt von: Christian Lux
2022, Hardcover, 336 Seiten
ISBN: 978-3-462-00331-4
Kiepenheuer&Witsch


Genre: Biographie, Interview
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Atme

Nile kauft in einer Boutique ein Kleid. Ihr Freund wartet im Vorraum, als sie es anprobiert. Doch als sie zurückkommt, ist er fort. Die Verkäuferin kann sich nur erinnern, dass er da saß. Auf der Straße ist er auch nicht. Die Freunde, die sie anruft, behaupten, lange nichts mehr von ihr gehört zu haben.
Bis auf seine Ex-Frau, mit der Nile verfeindet ist …

Alle Menschen suchen Liebe.
Alle.
Und dabei ist Liebe so schwer zu finden.
Manche denken, dass man Liebe lernen kann. Dass man
sie berechnen kann. Oder bestellen. Dass man an sich selber
arbeiten muss. Oder am anderen. Dass man dafür sehr besonders sein muss. Oder so wie alle.
All das ist falsch. Das weiß ich. Denn das Einzige, was
man wirklich braucht dafür, das ist der passende Andere.
[…]
Der dich in
den Arm nimmt und sagt: Hab keine Angst. Der zu dir unter
die Decke schlüpft und sagt: Mach die Augen zu. Der nach
deiner Hand greift und sagt: Wir schaffen das. Oder: Du bist
schön. Oder: Alles wird gut.
Hüte dich vor allem vor seiner Exfrau, am allermeisten aber vor dem Vorhang
einer Umkleidekabine.
Halt ihn einfach fest, jede Sekunde.
Sonst kann es sein, dass du eines Tages auf der Straße
stehst und begreifst, dass etwas Schreckliches geschehen ist.
So wie ich.
Vor mir lärmen Autos von links nach rechts, hupen,
quietschen, stoßen stinkende Wolken aus …

Ein ganz ungewöhnlicher Krimi, in dem es gar nicht um eine Mordaufklärung geht. Eher darum, die Geschichte der Ich-Erzählerin aus den hingeworfenen Puzzleteilen zu rekonstruieren. Und warum sie so seltsam ist.
Judith Merchant hat sich völlig in ihre Hauptfigur verwandelt, wir erleben sie mit, ihre Geschichte, wie sie ihren Freund kennenlernt, auf den sie sich absolut verlässt, an den sie sich klammert und den sie verzweifelt sucht.
So entsteht ein spanndes Personenportrait anhand eines kriminellen Verschwindens, das den Leser in Bann schlägt und nicht mehr loslässt.

#atme #krimi #psychostudie


Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Der Silberfuchs meiner Mutter

Wahrheit gibt es ja sowieso nicht

In seinem neuen Roman «Der Silberfuchs meiner Mutter» erzählt der österreichische Schriftsteller Alois Hotschnig eine berührende Geschichte. «Dieses Buch gäbe es nicht ohne die Begegnung mit dem Schauspieler Heinz Fitz, der es mir erlaubt hat, entlang seiner Lebensgeschichte diesen Roman frei zu entwickeln», erklärt er in seiner Danksagung. Ich-Erzähler des Romans ist, wenig originell, Heinz Fritz, ebenfalls Schauspieler, der erst als Sechzigjähriger seinen richtigen Vater kennengelernt hat und zeitlebens auf den äußerst dürftigen Spuren seiner Herkunft das Schicksal seiner Mutter Gerda aufzuklären sucht.

Der einzige konkrete Beleg ist ein Dokument der Lebensborn-Organisation der SS, die in ihrem Arierwahn seine norwegische Mutter mit ihrem Sohn über Oslo, Kopenhagen, Berlin, München nach Hohenems in Vorarlberg geschickt hat, zur Familie seines Vaters. Der war Anfang 1942 als Obergefreiter verwundet nach Kirkenes im Norden Norwegens gekommen, sie war Krankenschwester dort und hatte sich mit dem Feind eingelassen. Das äußere Symbol ihrer Verbundenheit war der Silberfuchs, den Anton ihr dort geschenkt hat. Als sie dann schwanger wurde, hat ein Teil ihrer Familie sie als «Nazi-Hure» brüsk verstoßen. Aber auch in Hohenems ging es ihr nicht besser, die schöne Frau wurde von der österreichischen Familie ihres Geliebten als «Norweger-Hure» zunehmend abgelehnt, teils spielten allerdings auch religiöse Gründe eine Rolle dabei. Und sogar der leibliche Vater distanzierte sich plötzlich von ihr. Das Kind sei nicht von ihm, behauptete er, sondern von einem Russen, der ertrunken sei. Sie musste sich also allein durchschlagen, ein Zurück nach Norwegen gab es für sie als Kollaborateurin nun nicht mehr. Ende 1942 kam dann Heinz zu Welt, aus gesundheitlichen Gründen brachte sie ihn bei einem Bauern unter und sah ihn erst 4 Jahre später wieder. Als seine Mutter wieder heiratet, leidet Heinz sehr unter dem übergriffigen, sadistischen Stiefvater. Seinen leiblichen Vater aber hat er nur zweimal im Leben kurz gesehen, er hat jeden Kontakt abgelehnt.

Dieser Roman ist der breit angelegt Versuch des Ich-Erzählers, aus den offensichtlichen Lügen, ungeheuren Begebenheiten und aus den allerkleinsten Erinnerungs-Fetzen seine eigene Biografie zu rekonstruieren. Nicht nur seine Mutter, auch er selbst kommt in seelische Abgründe, begeht sogar unbeholfene Suizid-Versuche. Gleichwohl verbinden sie die Bücher, die Mutter liest ihm aus «Peer Gynt» vor, später auch aus «Andorra», und weckt damit sein Interesse an Literatur. Begeistert spielen sie einzelne Szenen nach, womit der berufliche Lebensweg von Heinz bereits vorgezeichnet ist. Er strebt eine Laufbahn als Schauspieler an und bereitet sich mit Hilfe seiner diversen Brot- und Butter-Jobs auf die Schauspiel-Schule vor.

«Bis ich mit sechzig Jahren, erst mit sechzig meinen richtigen Vater kennengelernt habe, diesen Anton Halbsleben in Hohenems, durch einen Theaterportier, der auch aus Hohenems war.» Unbekümmert um Grammatik verwendet Alois Hotschnig schon im ersten Satz eine holperige, häufig stockende, monologische Sprache. Die ist dazu angetan, dem Denken seines wurzellosen Helden einen Möglichkeits-Raum zu schaffen, um moralische und ethische Grenzen zu überwinden. «Wen lässt der Autor sprechen und wie» ist für Hotschnig die entscheidende stilistische Frage. In diesem düsteren und beklemmenden Psychogram geht es um die verzweifelte Suche eines zutiefst zerrissenen Menschen nach Liebe. Das Einzige übrigens, was zählt, denn Wahrheit gibt es ja sowieso nicht. Prompt wird das dann bestätigt, wenn ganz am Ende mit dem plötzlichen Auftauchen von Briefen der Mutter einige der bisherigen Gewissheiten ins Wanken kommen. Neben dem sperrigen Stil stören auch die seltsam blutleer bleibenden Figuren bei der Lektüre, was übrigens auch für beide Protagonisten gilt, vor allem aber ist ein nur rudimentäres Handlungsgerüst das größte Manko für den enttäuschten Leser.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Die rote Pyramide

Irgendwie kommt es mir so vor, als könne man einen Text des russischen Schriftstellers Vladimir Sorokin nicht langsam lesen. Grundsätzlich nicht. Ich weiß nicht genau, woran es liegt, hege jedoch den Verdacht, dass es etwas mit Sorokins Schreibgeschwindigkeit zu tun hat. Siehe auch die neun Erzählungen, die im Band “Die rote Pyramide” auf 190 Seiten versammelt sind. Im Original sind die Texte in verstreuten Medien erschienen; als die von Kiepenheuer & Witsch 2022 veröffentlichte Zusammenstellung gibt es sie nur im deutschen Sprachraum. Sorokin lässt jede Handlung zu einem anderen Zeitpunkt in der russischen Geschichte spielen – nach dem 2. Weltkrieg und während der Jahrzehnte danach, während des Kalten Krieges, im Putin-Russland. 
Sorokin ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur, an Putin und seinem Apparat arbeitet sich der Schriftsteller mit allen literarischen Mitteln ab. Weder produziert er dabei plumpe Satire noch eindimensionale Polemik. Literatur ist letztlich immer die Erzählung vom Menschen: Er glaube, der Mensch sei die höchste Lebensform, sagt Sorokin, allerdings eine sehr beängstigende. Das untersucht er nicht zuletzt in den Erzählungen in “Die rote Pyramide”, etwa durch einen Ausflug in die sowjetische Vergangenheit. “Der Tag des Tschekisten”: Mark und Iwan spielen den Tschekisten abwechselnd, indem sie sich einen sowjetischen Uniformmantel umwerfen und sich von ihrem Gegenüber verhören lassen: “Hast du Provokateure eingeschleust? … Hast du Geiseln genommen? … Warst du selbst an Massenerschießungen beteiligt?” Jede Frage beantworten sie mit Ja, ob man sich schäme, verneinen sie rundheraus. Bis plötzlich das Hin und Her aufhört und Mark eine Geschichte über sexuelle Nötigung und Ausbeutung in einem Pionierlager erzählt.
       Registerwechsel, Wechsel des Schauplatzes oder der Bewusstseinsebene können in Sorokins Erzählungen (und nicht nur dort) jederzeit auftreten. “Hiroshima” besteht aus fünf Szenarien, in denen jeweils zwei Menschen sich gegenseitig würgen. Fünf von ihnen erleben während des Würgeprozesses nichts Auffälliges. Die anderen fünf teilen miteinander eine Vision, in der eine nackte Frau über Asche, Ruinen und sterbende Körper schreitet und sich einiger frisch geborener Hundewelpen annimmt. In diesen Visionen zeigt Sorokin eine kollektive Angst oder eine kollektive Heimsuchung: wie im Fall der titelgebenden roten Pyramide. Jura, der Protagonist der Erzählung, kann die Pyramide – nachdem er vor Jahrzehnten zum ersten Mal von ihr erfahren hat – erst im Moment des Todes sehen. Ihre Grundfläche nimmt den gesamten Roten Platz ein. Von Lenin in Gang gesetzt, verstrahlt sie das rote Rauschen, in dem die Menschen versinken, “das rote Rauschen deckte sie alle zu”. Die Erzählung “Lila Schwäne”, übrigens eine durch die aktuellen Geschehnisse aufgefrischte Satire auf das von Waffen starrende Putin-Russland, besteht aus einem Ineinander von Träumen. Aus irgendeinem Grund sind die russischen Atomsprengköpfe in Zuckerhüte verwandelt worden. Eine Abteilung Funktionär:innen aus unterschiedlichen Bereichen pilgert zu dem wundertätigsten Eremiten des Reiches, um ihn kniefällig zu bitten, er möge mit seinen Kräften die Atommacht wiederherstellen.
       Sorokin zu lesen ist wie Achterbahnfahren. Man hält sich die Hand über die Augen und linst zwischen den Fingern durch – man ahnt, etwas wird kommen, aber man weiß nicht, was. Der postmoderne Schriftsteller Sorokin beherrscht viele Tonarten und Stile, er kann subtil und einlullend sein, aber auch frech bis grotesk (siehe “Der Fingernagel”). Vom Magischen Realismus über die ländliche Erzählung à la Tolstoi bis hin zu Thrillerartigem, das an Filme von Christopher Nolan denken lässt, findet man bei ihm die unterschiedlichsten Erzählweisen. Vladimir Sorokin hat für die Art, wie er das literarische Schreiben in Russland neu aufgestellt hat, viel Gegenwind ausgehalten. Während Putins erster Amtszeit verbrannten dessen Sympathisanten vom rechten Flügel öffentlich Sorokins Bücher oder warfen sie demonstrativ in ein riesiges Klosett aus Papiermaché. Sorokin zu lesen, kann man heutzutage als Ausdruck einer friedlichen Solidarität sehen. “Die rote Pyramide” bietet einen guten Einstieg in seinen literarischen Kosmos und die Geschehnisse darin.

Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

In der Männer-Republik: Wie Frauen die Politik eroberten

In der Männer-Republik: Wie Frauen die Politik erobertenProminente Männer wurden von Torsten Körner schon oft beschrieben, von Heinz Rühmann über Beckenbauer zu Willy Brandt gibt es Biografien. Dabei ist als Beifang so viel Material über in der bundesdeutschen Politik aktive Frauen zusammengekommen, dass es nun ein eigenes Buch brauchte. Es erschien 2020, inzwischen gibt es auch den Film Die Unbeugsamen, der im Mai 2021 herauskam.

Um die Sicht der Frauen zu erfassen, las Körner verfügbare Aufsätze und Biografien, wenn möglich, interviewte er Protagonistinnen, manche waren über neunzig Jahre alt. Die Literaturliste umfasst sieben Seiten. Als Bildmaterialien dienen ihm für die Zeit der Gründung der Bundesrepublik die Wochenschauen. Diese waren, wie zur Nazizeit, staatliche Medien und Adenauer, mit dem es begann, wusste sie zu nutzen.

Frauen brauchte er nicht zum Regieren. Als ein Sitzstreik der weiblichen CDU/CSU Abgeordneten ihn zwang, 1961 als Alibi die Ministerin Dr. Elisabeth Schwarzkopf im Kabinett zuzulassen, redete er sein Kabinett weiterhin als „seine Herren“ an.

Die Darstellung geht chronologisch vor, in 18 Kapiteln werden die Frauen vorgestellt, mit einer Fülle von Zitaten, wie mit und über sie gesprochen wurde. In den Anfangsjahren geht es um die Familienpolitik von Wuermeling, die Körner als: „Familie als Vätergenesungswerk, als Vorschein des Paradieses für Männer auf Erden“ beschreibt. Wie Frau Schwarzkopf die Sicht der Herren, in einer Ehe müsse der Mann das Sagen haben, präzise hinterfragt, ist nur ein Beispiel dafür, wie Frauen das Niveau der Debatten erhöht hatten.

Manchen Kapiteln werden Merksätze vorgestellt, etwa „Was Du erbst von deinen Müttern, das musst du bewahren. Du musst weitermachen, damit es fest ist.“ von Ursula Männle (CSU), deren Biografie in Buch und auch im Film Raum erhält.

Sie war eine Sarghüpferin: wie damals oft, wurden Frauen in der Liste weiter hinten geführt und rutschten ins Parlament, wenn der Platzhalter gestorben war. Ihre Haltung war parteienübergreifend frauenfreundlich, früh begann sie, sich mit anderen Frauen zu treffen, mit Renate Schmidt (SPD) und Waltraut Schoppe (Grüne), erst im Büro, später öffentlich in der Kantine. Da dies argwöhnisch von den Männern beäugt wurde, hat irgendwann Renate Schmidt Frau Männle angeboten: „Soll ich Dich mal wieder beschimpfen, damit deine Männer dir wieder vertrauen?“

Als die Grünen Frauen das Feminat gründen, gratuliert sie brieflich und wird dafür von ihrer Partei gerügt. Die SPD-Frauen fremdeln eher. Und Joschka Fischer schrieb: „Wie kann man nur so verdiente und profilierte Leute wie Petra Kelly und Otto Schily abwählen und—doppelt verrückt—an deren Stellen sechs Frauen wählen?“ Er war, übrigens, auch einer der abgewählten Verdienten und Profilierten.

Andere Kapitel zeigen Zeitgeschichte: Erinnern sie sich noch an den Internationalen Frühschoppen? Oder den Mut einer Abgeordneten, im Hosenanzug zu erscheinen? Ausführlich werden die Abwahl Schmidts und die neue Koalition behandelt, in deren Folge mehrere der FDP-Frauen, ihre Partei verließen.

In „Auf dem Standesamt“ kämpft Ingrid Matthäus-Maier 1974 um ihren Doppelnamen. Der nicht informierte Standesbeamte verabschiedete sie als Frau Maier, und glaubte der Juristin nicht, dass nun Doppelnamen möglich wären. Sie weigert sich, das Standesamt zu verlassen, was der Hochzeitsgesellschaft peinlich ist. Oder es wird dokumentiert, wie Rita Süßmuth die Verhüllung des Reichstags gegen geballte Männerformationen durchsetzt.

„Sie auch …“ ist der Titel des Kapitels, in dem bearbeitet wird, wie Sexismus auch von den Frauen verschwiegen wurde, da sie wussten, man hätte sie selbst als Ursache für Anzüglichkeiten oder Angriffe ausgemacht. Als eine Abgeordnete in einem Länderparlament sich als lesbisch bezeichnete, wurde ihr auf dem Flur zugeraunt, sie könne Mann ja noch nicht einmal vergewaltigen.

Und wie anregend dagegen die Rede von Waltraut Schoppe über Ehebettroutinen inklusive Penetration, und vorzuschlagen, gemeinsam mit Kanzler Kohl andere sinnlichkeitsstiftende Formen der Erotik zu entwickeln. Dies wird als ein Wendepunkt beschrieben, der mit bewirkte, dass dann 15 Jahre später die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt wurde. Als hätte er dies Ergebnis schon geahnt, schwänzte Helmut Kohl diese Sitzung.

Mehr als den Anspruch, Fakten zu dokumentieren, gibt es weitergehende Gedanken, so wie immer wieder über Macht und Charisma: Wie anderes war das Charisma einer Petra Kelly als das von Willy Brandts?

Die Schicksale von Hannelore Kohl und Petra Kelly, die im Film zusammen als Opfer auf dem Altar der Männerrepublik behandelt wurden, sind hier einfühlsam beschrieben.

Im Vorwort schreibt Körner: „Wer als Mann die Chance hat, die Grenzen des eigenen Geschlechts und Denkens im Dialog mit anderen zu begreifen, auch zu verstehen, worin die Zumutungspotenziale des eigenen Sprechens und Schreibens liegen mögen, welche Gewalt von Männern bewusst oder unbewusst ausgeht, sollte die Möglichkeit nutzen.“ Er versteht es, sie zu nutzen und macht das Lesen zu einem wachsenden Vergnügen. Fast poetisch wird er, wenn er männliche Selbstdarstellung parodiert. Das hätte keine Frau besser gekonnt. Ich werde das Buch oft verschenken.


Genre: Frauen, Politik
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Regeln für einen Ritter

Regeln für einen Ritter – Ethan Hawke

Schauspieler Ethan Hawke ist auch ein Autor, das hat er mit schon vier Romanen (auf deutsch alle bei KiWi) schon ausreichend bewiesen. Sein fünftes Buch, Regeln für einen Ritter, ist kein Roman, sondern vielmehr ein Brief an seine Kinder. Aber nicht von Ethan Hawke, sondern von Ritter Sir Thomas Lemuel Hawke, ein angeblicher Vorfahre Ethans, der an seine Kinder Mary-Rose, Lemuel, Cvenild und Idamay aus Cornwall schreibt.

Die Ewigkeit in der Stille

Du bist wie diese überlaufende Tasse Tee“, sagte sein Großvater zu Thomas, “Du kannst nichts aufnehmen und festhalten. Es geschieht viel zu viel auf einmal, und du spritzt in alle Richtungen und verbrennst, was immer du berührst”. Auch Ritter Sir Thomas, war einmal jung, aber er hatte Gottseidank einen weisen Großvater: “Wenn du nicht ruhig und leer bis, kannst du nie etwas festhalten“. Wie die Tasse, nicht wie der Tee also. “In der Stille können wir die Ewigkeit spüren, die in uns schlummert“, heißt es im ersten Kapitel, “Einsamkeit”, das von einer Feder geziert wird, die Ethans Frau Ryan gezeichnet hat. In jedem von uns wohnen zwei Wölfe, aber es kommt eben darauf an, welchen du fütterst. Auch Demut (Kapitel 2) ist eine gute Übung für einen künftigen Ritter. Zu allem was gewesen ist sagt ein Ritter “danke”, zu allem, was kommt, sagt er “ja”. Das ist die Dankbarkeit in Kapitel 3, die hier mit einem Kranich vorgestellt wird und mittels einer kurzen Geschichte erklärt wird. Ebenso das Kapitel IV, der Stolz, der aus Würde und Selbstachtung wächst, nicht aus Unsicherheit, wie der Hochmut. Sei stolz, nicht hochmütig! Zusammenarbeit wird mit einer Zeichnung einer Vogelschar verbildlicht und dem Vergleich oder der Konkurrenz eine Absage erteilt. Sind doch alle Talente nur Ausdruck ein und derselben universellen Kraft. Deswegen ist es unnütz sich mit anderen zu vergleichen und Eitelkeit und Verbitterung herbeizuführen. Beides ist wertlos.

Ballade vom Hirschen mit Vierzig-Ender-Geweih

Ein Freund leibt dich, weil du dir selbst treu bist, weil du ihm zustimmst. “Der wahre Geist einer Freundschaft wird im Alltag des Lebens geschmiedet.“, meint Sir Thomas im Kapitel Freundschaft, das ein wichtiger Bestandteil des Lebens eines Ritters ist. Auch Vergebung gehört zu diesen positiven Eigenschaften eines Ritters: “Suche das Beste in dir und den andren!” Ehrlichkeit, Mut, Haltung, Geduld, Gerechtigkeit, Großzügigkeit, Disziplin, Hingabe, Rede, Glaube, Gleichheit und schließlich Liebe und Tod werden von Ritter Sir Thomas mit einer kurzen Geschichte erklärt und nachvollziehbar gemacht und zuletzt folgt noch die Ballade vom Hirschen mit dem Vierzig-Ender-Geweih, das jeden Veganer freuen wird. Ritter Sir Thomas Lemuel Hawke steht am Vorabend einer großen Schlacht des Jahres 1483 und keiner weiß, ob er sie überleben wird. Aber er weiß, was er seinen Kindern hinterlassen möchte. Eine gerechte Welt in der alle gütig zueinander sind.

Im Gewand eines mittelalterlichen Handbuchs für Ritter, versehen mit zwanzig feinen Zeichnungen seiner Ehefrau Ryan, erzählt Ethan Hawke die verzaubernde Geschichte von seinem Vorfahren, der wusste, worum es im Leben wirklich geht. In 20 kleinen Geschichten über Schönheit, Werte wie Dankbarkeit, Freundschaft und Ehrlichkeit und das Zusammenleben an und für sich. Alles Lebensweisheiten, die bis heute Gültigkeit haben und jede/r mal ab und zu wieder nachschlagen sollte. Denn was ist wirklich wichtig im Leben?

Ethan Hawke
Regeln für einen Ritter
Der letzte Brief von Sir Thomas Lemuel Hawke
Übersetzt von: Kristian Lutze
Mit Illustrationen von Ryan Hawke
2016, Hardcover, 192 Seiten
ISBN: 978-3-462-31583-7
KiWi Verlag


Genre: Ratgeber
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Lavaters Maske

Die Nöte eines Schreiberlings

Der Titel «Lavaters Maske» von Jens Sparschuh verrät, dass es um die Maskerade des Lebens geht, um Physiognomik, hier im Roman speziell um die wissenschaftliche Methode, aus den Gesichtszügen auf den Charakter eines Menschen zu schließen. Johann Caspar Lavater war im achtzehnten Jahrhundert Begründer und wichtigster Vertreter dieser Lehre, heftig angefeindet von Lichtenberg, später auch von seinem Jugendfreund Goethe. Das Thema des 1999 erschienenen Romans ist insoweit hochaktuell, als China die heutigen technischen Ressourcen radikal nutzt, um einen lückenlosen Überwachungs-Staat zu realisieren. Dieses totalitäre Regime kontrolliert seine Bürger auf Schritt und Tritt mit modernster Software zur Gesichts-Erkennung, um Rückschlüsse auf ihre seelische Verfasstheit zu ziehen. Die Orwellsche Dystopie «1984» ist also doch noch Realität geworden.

Ich-Erzähler des Romans ist ein ehemaliger Germanist und wenig erfolgreicher Schriftsteller, dem für sein letztes Buch das «Wühlischheimer Ehrenstipendium» zugesprochen worden war, damit er eine Zeit lang in ländlicher Ruhe schreiben kann. Er führt nun ein mit Residenzpflicht verbundenes, ziemlich langweiliges Stadtschreiber-Dasein. Ausgerechtet jetzt aber leidet er an einer Schreib-Blockade, ihm fällt partout kein neues Thema ein. Auf telefonische Nachfrage seines Agenten, woran er denn derzeit arbeite, antwortet er ohne lange zu überlegen mit einer Notlüge: Er schreibe über Lavater. Er hat das gar nicht vor, aber daraus wird dann tatsächlich Ernst, als sich nämlich auch noch ein Filmboss für den eher ungewöhnlichen Stoff interessiert. Da winken ihm ja schließlich dringend benötigte Vorschüsse. Er beginnt also, über seinen Protagonisten zu recherchieren, und stößt dabei schon bald auf eine Selbstmord-Geschichte. Enslin, der jugendliche Sekretär von Lavater, hatte sich mit einem Gewehr erschossen, ein mysteriöser Suizid, der bis heute viele Fragen aufwirft.

Die Recherchen zu dem Exposé für den geplanten Film nehmen breiten Raum ein in diesem Roman, unterbrochen nur von gelegentlichen Lese- und Vortragsreisen, mit denen der Ich-Erzähler zwischendurch seine notorisch klamme Kasse wieder auffüllt. Dieser ergänzende Erzählstrang ist witzig und zeugt davon, dass der Autor wohl vertraut ist mit den Gegebenheiten und Ritualen, denen sich heute ein Schriftsteller unterziehen muss als Promoter seiner eigenen Werke. Weniger lustig ist allerdings, was man in Form von historischen Briefen, Lexikonbeiträgen und zeitgenössischen Zitaten über Lavater und seinen Schreiber Enslin erfährt. Dieser eigentliche Haupt-Strang des Romans ist äußerst langweilig zu lesen, er führt zudem mit den wilden Spekulationen des Ich-Erzählers, was denn nun wirklich passiert ist in der Causa Enslin, ins Leere. Ebenso ins Leere führen auch die wirren Versuche des schreibenden Romanhelden, seinem Exposé eine tragfähige, glaubhafte und zündende Idee als Handlungsgerüst zu Grunde zu legen. Das Ganze wird nur immer wirrer, er macht die aberwitzigsten Erfahrungen, trifft auf die merkwürdigsten Leute und scheitert letztendlich auch im privaten Bereich, das Zwischenmenschliche ist nicht seine Stärke.

Ähnlich ergeht es auch Jens Sparschuh, es ist ihm nämlich nicht gelungen, das Lavater-Thema mit dem seiner Romanfigur, des Schriftstellers in der Identitäts-Krise, stimmig zu verbinden, beides steht in dieser doppelbödigen Geschichte unabhängig voneinander für sich. Da passt es dann auch, dass der eher trottelige, gleichwohl aber sympathische Protagonist am Ende des Romans in einer Festrede zum Thema Physiognomik kläglich scheitert. Gerade diese fachspezifischen Passagen wirken als Störfaktor, sie sind einfach nicht stimmig in ein erzählerisches Werk zu integrieren. Insoweit ist dieser anekdotenreiche Roman allenfalls wegen seiner gekonnt erzählten, amüsanten Einblicke in die Nöte eines mittelmäßigen Schreiberlings zur Lektüre zu empfehlen, als Ganzes aber ist er leider misslungen.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Böse Schafe

Brief an einen Toten

Als einer ihrer wichtigsten Romane wurde «Böse Schafe» von Katja Lange-Müller vom Feuilleton einhellig positiv aufgenommen, sein Thema ist das komplizierte Beziehungsgeflecht von gesellschaftlichen Außenseitern. Die in der Vorwendezeit in West-Berlin angesiedelte Liebesgeschichte zweier kaputter Typen überzeugt nicht nur durch die völlig unsentimentale, sprachlich nüchterne Umsetzung des Stoffs, sondern auch durch die intime Nähe zu den Figuren. Diese besonders intensive Wirkung wird vor allem durch die sehr spezielle Erzählform als fiktiver Brief an einen Toten erzeugt.

Die vierzigjährige Schriftsetzerin Soja, Republikflüchtling aus der DDR, die sich in Berlin mehr schlecht als recht mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, trifft 1987 am U-Bahnhof Nollendorfplatz auf Harry, der als schöner Mann, «blauäugig, bleich, aschblond», eine geradezu unwiderstehliche, spontane Anziehungskraft auf sie ausübt. In dem posthumen Brief, den sie ihm vier Jahre später schreibt und den wir als Roman lesen, sieht sie einen Film ablaufen und fragt selbstkritisch: «Hätte ich mich, als unser Film in Echtzeit lief, als wir zu fotografieren gewesen wären, nach deinen Empfindungen erkundigen sollen?» Denn wie sie merkt, gibt der schweigsame Traummann wenig preis von sich und bleibt ihr gegenüber sogar als Liebhaber merkwürdig zurückhaltend. Trotzdem ignoriert sie zunächst alle Indizien, bis dann nach und nach aber heraus kommt, dass er auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen wurde, wo er eine zehnjährige Strafe wegen Raubüberfalls abzubüßen hat. Außerdem hat er auch gegen Bewährungs-Auflagen verstoßen, weil er seine Drogentherapie abgebrochen hat. Soja kämpft um eine neue Therapie für ihn, setzt sich selbstlos für ihn ein und unterstützt ihn sogar finanziell, obwohl sie selbst in eher prekären Verhältnissen lebt. Es dauert nicht lange, bis die nächste, bisher verschwiegene Hiobsbotschaft sie erreicht, die sie dann sehr direkt plötzlich auch selbst betrifft.

«Mein Lebensthema sind, glaube ich, die Widersprüche» hat die Autorin im Interview bekannt. Das wird hier verkörpert durch die große Liebe einer unbeirrbaren, starken Frau aus dem Osten zu dem kriminellen Junkie aus dem Westen, der ihre Gefühle in keiner Weise erwidert hat, wie sie ihm in ihrem Brief posthum vorwirft. Die Autorin lotet nüchtern aus, wie weit Hingabe tatsächlich gehen kann, ohne jedoch pathetisch zu werden, was in diesem Genre ja eher selten anzutreffen ist. In ihrem Rückblick auf den vierjährigen Abschnitt ihres Lebens mit Harry stellt Soja ihm existentielle Fragen, um zu verstehen, was für ein Mensch er wirklich war. Und trotz der durch sein Verhalten ihr gegenüber ausgedrückten, emotionalen Defizite wirkt dieser schräge Vogel nie unsympathisch, er strahlt auch in verstörenden Momenten immer noch einen gewissen Charme aus, und zwar nicht nur auf Soja, sondern erstaunlicher Weise auch auf den Leser. Der lange, quälende Sterbeprozess von Harry schließlich, der am Ende einsam stirbt und Soja mit seinen Habseligkeiten auch ein Schulheft mit Aufzeichnungen hinterlässt, ruft Mitgefühl beim Lesen hervor, er ist im Grunde eigentlich nur ‹ein armer Hund›. Harrys undatierte Notizen über seine Zeit mit ihr sind, kursiv abgesetzt und in kurzen Abschnitten über den gesamten Text verteilt, in den fiktiven Brief eingefügt. Es sind geradezu schreckliche Aufzeichnungen, die Soja da ahnungslos liest, denn in seinen insgesamt neunundachtzig Sätzen kommt sie mit keinem einzigen Wort vor, so als hätte es sie nie gegeben.

Eine derartige, nicht auf Gegenseitigkeit beruhende Amour fou wirft natürlich allerlei interessante Fragen auf. Kann man Sojas demütige Hingabe überhaupt noch Liebe nennen? Kann denn die nicht wiedergeliebte Liebende jemals glücklich gewesen sein? Neben seiner Liebesthematik ist «Böse Schafe» auch ein typischer Berlin-Roman mit stimmigen Milieu-Schilderungen. Dieser stilistisch ungewöhnliche, komplexe Roman ist eine unterhaltsame, bereichernde Lektüre.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Die See

Der Weg ist das Ziel

Der größte Erfolg für den irischen Schriftsteller John Banville war 2005 die Verleihung des britischen ‹Booker Prize› für den Roman «Die See». Er sei, so die Begründung der Jury, «eine meisterliche Studie der Trauer, der Erinnerung und der Liebe». Damit ist er typisch für die Kunst des Autors, Geschichten über elementare Lebens-Erfahrungen zu erzählen, denen er dann im Stil des unzuverlässigen Erzählers immer wieder den Boden der Realität entzieht. So auch hier, wobei dieser Roman im Feuilleton seinerzeit durchaus kontrovers besprochen wurde. In einer Reihe mit den Großen der irischen Literatur wird John Banville schon lange in Fachkreisen als Kandidat für den Nobelpreis gehandelt.

Ich-Erzähler ist der Kunsthistoriker Max, dessen Frau Anna an Krebs gestorben ist. Um endlich seine Trauer zu verarbeiten, reist er ein Jahr später an den Badeort, wo er als Schüler regelmäßig die Sommerferien verbracht hat. Dort wird er von vielen Erinnerungen überwältigt, über die er nun als in die Jahre gekommener, desillusionierter Mann berichtet, zu deren positivster insbesondere auch seine damals erwachende sexuelle Neugier gehört. Dabei verleiht die raue irische See als erzählerischer Hintergrund dem Geschehen eine düstere, schwermütige Grundierung. Der zehnjährige Max freundet sich mit einem etwa gleichaltrigen Zwillingspaar aus der Nachbarschaft an, mit der quirligen Cloe und dem rätselhaften Myles, die geradezu symbiotisch aneinander hängen. Die zunächst von deren Mutter ausgelösten, erotischen Phantasien wenden sich bald schon Cloe zu, die ihn mit dem ersten Kuss beglückt. Als beide später bei weiteren Intimitäten überrascht werden, kommt es zu einer tragischen Reaktion. In einer zweiten Handlungsebene berichtet Max von seiner glücklichen Ehe mit Anna. Deren reicher Vater hat ihr eine üppige Erbschaft hinterlassen, die ihm ein sorgenfreies Leben als Privatgelehrter ermöglicht. Die Art und Weise, wie der Autor von dem einjährigen Sterbeprozess Annas erzählt, mit dem sein Protagonist sehr brutal konfrontiert ist, zeugt von seinem tiefgehenden psychologischen Einfühlungs-Vermögen.

In diesem monologartig angelegten Roman geht John Banville den großen Fragen der Menschheit nach, zu denen vor allem ja der Tod gehört, der für ihn «immer überflüssig und unmotiviert» bleibt. Und ergänzend heißt es dazu: «Die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tode oder einer Gottheit, welche die Fähigkeit besitzt, ein solches zu gewähren, ziehe ich nicht in Betracht». In vielerlei Erinnerungen und Reflexionen verliert sein Held zunehmend den Kontakt zur Realität. Immer neue Phantasien vermischen sich dabei, sind als Traum und Wirklichkeit für Max kaum mehr unterscheidbar, bis schließlich nur noch der Alkohol als letzte Zuflucht bleibt. Es ist die Vergänglichkeit, die der Autor hier, stilistisch weitgehend in Form des Bewusstseins-Stroms, an Hand von Verlust-Erfahrungen thematisiert. Im Interview hat er dazu erklärt: «Jeder, der über die Vergangenheit nachdenkt, merkt sehr schnell, dass diese auf einer traum-gleichen Ebene viel mehr Gewicht besitzt als die Gegenwart». Wobei für ihn die Erinnerung, trotz aller gedanklichen Schärfe, immer unzuverlässig bleibe, wie er ernüchtert festgestellt hat.

Der als Autor erkennbare, sich zuweilen an den Leser wendende John Banville bezieht in verschiedenen Anspielungen sehr intensiv Beispiele aus der Malerei in seine gedanklichen Exkurse und philosophischen Deutungen mit ein. Eine zielführende Methode, die man auch aus anderen seiner Romane kennt und die hier durch Rückgriffe auf die Mythologie noch ergänzt wird. Zu Recht wird er als großer Stilist gefeiert, dieser anspruchsvolle, geradezu elitäre Roman aber sei, wie der Guardian schrieb, «kaum für den Normalleser geeignet». Damit teilt er das Schicksal anderer, handlungsarmer Romane, die nicht von einem einprägsamen Plot leben, sondern von ihrer stilistischen Brillanz, immer frei nach der berühmten Erkenntnis von Konfuzius: «Der Weg ist das Ziel»!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

The Hottest State – Hin und weg

„Hin und weg“ ist der erste Roman des Schauspielers Ethan Hawke, den man sowohl aus Action-Filmen als auch aus Liebes-Filmen kennt. Die „Before“-Trilogie von Regisseur Richard Linklater (bei Studiocanal gerade als solche im Bundle als BluRay und DVD erschienen) zeitigte auch ein neues Format mit Hawkes schriftstellerischem Lieblingsthema: Beziehungs-Kino. Ganz groß. In Cinemascope sozusagen. Auch zwei Buchdeckeln.

The Bitter End im Hottest State

Wahrscheinlich hat noch nie jemand so ehrlich über das „Thema Nr. 1“ in unser aller Leben, Beziehungen, geschrieben, wie Ethan Hawke. „Hin und weg“ ist sein erster Gehversuch in diese Richtung, der erstmals 1996 unter dem Originaltitel „The Hottest State“ erschien. 1997 erstmals auf Deutsch bei KiWi. Auch wenn der Romanautor sich beizeiten hinter dem Schauspieler William Harding, seinem Protagonisten, der auch in seinem vierten Roman „Hell strahlt die Dunkelheit“ (ebenfalls bei Kiepenheuer & Witsch 2021) wiederkehrt, versteckt. In „Hin und Weg“ ist er noch zarte 20 Jahre alt und lernt in einer New Yorker Bar im Bitter End (sic!) ausgerechnet am Ferragosto Sarah kennen. Seine erste große Liebe, die ihn in Bann schlägt. Jeder von uns kennt es. Aber noch niemand hat es mit so treffenden und aufregenden Worten beschrieben, was diese erste so verheißungsvolle Fantasie mit uns allen macht. In nur drei Monaten erlebt William sämtliche Höhen und Tiefen der ersten Liebe, den alles übertreffenden Irrsinn und den heftigsten Schmerz. Und natürlich auch die ganze Idiotie dahinter.

Hin und weg zwischen New York und Paris

„In Paris ging alles den Bach runter.“ Was in New York beginnt kommt in einem vorläufigen Höhepunkt, der Peripetie, in Paris zu einem jähen Ende. William muss aufgrund von Dreharbeiten dorthin und nimmt Sarah kurzerhand mit. Aber sie haben nur eine Woche Zeit, sich im Hotel de Nesle aufeinander abzustimmen. Denn dann muss William arbeiten und Sarah wieder zurück nach New York. Aber was in diesem Hotelzimmer in Saint Germain de Près, mitten in Paris, passiert, verändert ihrer beider Leben. Zumindest wollen sie, dass es ihr Leben verändert. Für immer. Doch als William nach seinen Drehtagen in Paris wieder nach New York zurückkehrt, hat Sarah sich verändert. William versucht sie mit einem Romeo-Monolog vor ihrer Wohnung zu beeindrucken, doch er macht sich mehr lächerlich als nützlich. In einem letzten Showdown lädt sie ihn dann an ihren Arbeitsplatz ein und zeigt ihm ihr Leben. Aber kann es jetzt noch zu einem Happy-End kommen? Ebenfalls bei Kiepenheuer & Witsch erschienen sind der zweite Roman und die „Regeln für einen Ritter“ (2010, dt.: 2016), ein Handbuch mit feinen Zeichnungen und einer bezaubernden Geschichte für die Helden unserer Tage.

Ethan Hawke
Hin und weg. Roman
Übersetzt von: Kristian Lutze
2016, KiWi-Taschenbuch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-462-04962-6
Kiepenheuer & Witsch
9,99 €


Genre: Beziehungen, Bilderbuch, Gespräche, Große Liebe, Liebe, Philosophie, Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Drei Kameradinnen

Ambivalente Leserbeschimpfung

Fünf Jahre nach ihrem vielbeachteten Debüt hat Shida Bazyar, Tochter iranischer Eltern, unter dem Titel «Drei Kameradinnen» ihren zweiten Roman veröffentlicht. Er wurde jüngst für den Deutschen Buchpreis nominiert und thematisiert den Alltags-Rassismus im Deutschland unserer Tage, hier geschildert aus der Perspektive dreier «nichtweißer» Mädchen. Mit ‹Identitti› von Mithu Sanyal, der auf der Shortlist gelandet ist und sich ebenfalls mit dieser Thematik beschäftigt, sind gleich zwei derartige Romane unter den diesjährigen Nominierten.

Der Roman beginnt mit dem vorgeschalteten Zeitungsartikel «Jahrhundertbrand in der Bornemannstraße», in dem von vielen Todesopfern berichtet wird. Die radikalisierte Islamistin Saya M. wird der Brandstiftung in der Mietskaserne verdächtigt, sie hatte einen Streit mit dem dort wohnenden Volker M., dem Anhänger einer ‹patriotisch› orientierten Gruppierung, was als mögliches Tatmotiv gedeutet wird. Ich-Erzählerin ist Kasih, Teil des Dreierbundes mit Saya und Hani, mit denen sie seit frühester Jugend eine unverbrüchliche Freundschaft verbindet. Sie stammen aus einem ghettoartigen Stadtbezirk, der überwiegend von Migranten bewohnt wird. Trotz ihrer Herkunft aus prekären Verhältnissen finden alle drei ihren Weg, als Mitte-Zwanzigjährige haben sie sich allerdings ein wenig aus den Augen verloren und wollen nun mal wieder einige Tage zusammen verbringen, um die alten Zeiten aufleben zu lassen. Kashi hat Soziologie studiert, eine brotlose Kunst, sie ist trotz erstklassigem Abschluss arbeitslos und fast ohne Chancen auf eine adäquate Stellung. Die aufmüpfige Saya veranstaltet erfolgreich Workshops zur Berufswahl und Rassismus-Prävention, und die bienenfleißige, aber eher zurückhaltende Hani ist als umsichtige rechte Hand der Firmenchefin unersetzlich.

Mit vielen Rückblenden entwickelt Shida Bazyar in diesem Setting ihre Geschichte vom Leben in einer den Migranten oft feindlich, zumindest aber skeptisch gegenüber stehenden Gesellschaft. Auf dem Flug zum Treffen der «drei Kameradinnen» beobachtet Saya die unschöne Szene einer Kopftuchfrau mit einem feindseligen Deutschen auf dem Sitzplatz neben ihr. Im Internet findet sie ihn anschließend unter seinem Namen, er stellt sich tatsächlich als einschlägig bekannter, rassistischer Blogger heraus. Als Hintergrund dieser Geschichte dient der ein wenig verfremdete NSU-Prozess. Der Alltag der Freundinnen, deren fremdländische Abstammung nach wie vor zu Ressentiments ihnen gegenüber führt, ist geprägt von unausrottbaren Vorurteilen und haltlosen Verdächtigungen, denen sie, mehr oder wenig deutlich erkennbar, unentwegt ausgesetzt sind. «Uns gibt es in dieser Welt nicht. Hier sind wir weder Deutsche noch Flüchtlinge, wir sprechen nicht die Nachrichten und wir sind nicht die Expertinnen», heißt es im Roman. Sie sind in Deutschland geboren, werden aber nicht als Deutsche wahrgenommen. Schon der fremdländische Name ist bei jeder Stellen- oder Wohnungssuche ein verhängnisvolles Handicap, sehr oft sogar der alleinige Ausschluss-Faktor.

Mit deutlichem Furor entwickelt sich aus den Perspektiven der handelnden Figuren ein wenig schmeichelhaftes Bild deutscher Ressentiments allem Fremden gegenüber. Dabei erweist sich die den Leser zuweilen direkt ansprechende und auch anklagende Autorin als unzuverlässige Erzählerin, die zuweilen sogar über den Schreibprozess als solchen berichtet. So bemerkt sie an einer Stelle, als ihre Heldinnen sich die Folge einer seichten TV-Serie reinziehen, sie würde sich «auch viel lieber mit Serien ablenken, statt weiterzuschreiben, oder habt ihr gedacht, ich mache das hier gerne?» Dieser kreativen Umkehrung feindseliger Anwürfe auf die ‹weiße› Leserschaft in Form einer veritablen ‹Leser-Beschimpfung› wird der ambivalente Roman stilistisch allerdings nicht gerecht, seine Figuren sind wenig glaubwürdig. Er wirkt zudem eher rüde und unbeholfen berichtend, als dass er wirklich unterhaltsam oder bereichend erzählen würde.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln