Am Morgen des zwölften Tages

Hochaktuell

Aus zwei nicht nur zeitlich unterschiedlichen Perspektiven berichtet Vladimir Vertlib in seinem Roman «Am Morgen des zwölften Tages» über orientalische Männer. Dabei geht es dem österreichischen Autor russisch-jüdischer Herkunft hauptsächlich um die Islam-Erfahrungen seiner zwei Protagonisten, die als Großvater und Enkelin, also aus der Perspektive verschiedener Generationen, über das religiös gesteuerte Verhalten von Muslimen berichten. Da ihre Geschichten völlig unabhängig voneinander in Ich-Form erzählt werden, sind es eigentlich zwei Romane, die man da in ständigem Wechsel liest.

«Gnädige Frau, wären Sie bereit, mit mir zu schlafen», fragt gleich zu Beginn in einer Bar der 57jährige Adel die 39jährige Astrid, die seit jeher eine Schwäche für orientalische Männer hat. Die alleinerziehende Mutter einer erwachsenen Tochter bricht 1988, gleich nach dem Abitur, aus ihrer süddeutschen Universitätsstadt zu einer Reise nach Marokko auf, kommt aber nur bis Stuttgart. Dort lernt sie am Bahnhof Khaled kennen, der sich im Kaffeehaus an ihren Tisch gesetzt hat. Die mollige junge Frau kann seinem Charme nicht widerstehen, die Beiden erleben eine rauschhafte Nacht miteinander. Sie verschiebt daraufhin die Weiterreise von Tag zu Tag. «Am Morgen des zwölften Tages verschwand er», – und zwar auf Nimmer-Wiedersehen, sie weiß so gut wie nichts von ihm, außer dass er aus einem Dorf im Irak stammt. Neun Monate später kam ihre Tochter zur Welt. Ähnlich desaströs verläuft auch zwanzig Jahre und viele Männer später ihre Affäre mit Adel, denn schon bald schlägt er sie im Streit. Sie sinnt auf Rache und schließt sich einer Selbsthilfe-Gruppe nicht-muslimischer Frauen an.

Ihr verstorbener Großvater war als Orientalist durch sein Buch «Faschistische Perspektive für die Welt des Islam» berühmt geworden. Im Krieg war er für das Propaganda-Ministerium und die deutsche Abwehr tätig und wurde in eine Delegation berufen, die 1941 mit dem Auftrag in den Irak reiste, dort einen Aufstand gegen die britischen Besatzungs-Truppen anzuzetteln und sich als Verbündete zu inszenieren, wobei ja allein schon der Antisemitismus als Bindemittel diente. Die schriftlich festgehaltenen Ereignisse der Nazi-Mission bilden den größten Teil des Romans. Sie erinnern in ihrer Abenteuerlichkeit zwar an Karl May, sind aber offensichtlich gut recherchiert und durchaus bereichernd zu lesen. Zum Lesegenuss trägt insbesondere die deutliche Ironie des Autors bei, der nicht ganz klischeefrei, aber gut nachvollziehbar die Wurzeln im machohaften Weltbild islamischer Männer in ihrer extrem frauenfeindlichen Religion verortet. Dem Autor deshalb allerdings Islamophobie zu unterstellen, «gerade er als Jude dürfe so nicht über den Islam schreiben», geht allerdings völlig an der Sache vorbei, weist er doch deutlich auf dafür gleichermaßen vorhandene europäische Ursprünge hin.

Man macht es sich auch zu einfach, wenn man das bis heute gültige, mittelalterliche Weltbild des Islam nur als eine Frage der Koran-Auslegung interpretiert. Dieses antike Märchenbuch trägt, übrigens genau wie Talmud und Bibel, zum Leid jener Mehrheit von naiven Gläubigen bei, deren Intellekt den Schwachsinn nicht zu durchschauen vermag, der ihnen da von Kindesbeinen an eingetrichtert wird. Angesichts des islamistischen Terrors wird deutlich, wie gefährlich dieser «explosive Religionskitsch» tatsächlich ist. Die köstlichste Stelle im Buch ist die lebhafte Diskussion der Selbsthilfegruppe-Damen über die 72 Jungfrauen, die im Jenseits auf die Märtyrer des Islam warten. Der dem realistischen Erzählen verhaftete Vladimir Vertlib hat seine Thematik gründlich durchleuchtet und auf humorvolle Weise sehr unterhaltsam darüber geschrieben. Sollte, was Allah verhüten möge, Marine Le Pen am Sonntag zur Präsidentin gewählt werden, droht, wie Emmanuel Macron gestern im TV-Duell prophezeit hat, mit dem von ihr geplanten Kopftuchverbot ein Bürgerkrieg in Frankreich. Hochaktuell also, worüber der Autor hier schreibt!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Deuticke Wien

Miss Bohemia

Roman im Roman

Letzter Teil der Berlin-Trilogie von Mathias Nolte ist der Roman «Miss Bohemia», der, vom Feuilleton weitgehend ignoriert, in der Leserschaft eine einhellig positive Aufnahme fand. Zweifellos handelt er sich um grandiose Unterhaltungs-Literatur mit einer schon im Buchtitel anklingenden, verheißungsvollen Thematik. Es geht um eine wahrhaft unkonventionelle, schöne junge Frau, die als Femme fatale bei den Männern allerlei Verheerungen anrichtet. Wobei es sich bei den Männern um Schriftsteller handelt, was ja Literatur affine Leser per se schon mal neugierig macht.

«Ich hatte mir geschworen, nie wieder einen Gedanken an Tara zu verschwenden», lautet der erste Satz. Der Ich-Erzähler Lukas, ein mittelmäßiger Roman-Schriftsteller, entdeckt in der New York Times eine Meldung, die über den Tod des bekannten Schriftstellers Philipp Bach berichtet. Auf dem Foto von der Verteilung seiner Asche im Meer erkennt er Tara. Lukas hatte sich vor zwei Jahren für seinen neuen Roman ein Ferienhaus auf Key West gemietet, um in Ruhe arbeiten zu können. Überraschend hatte ihn dort sein erfolgreicher Kollege Philipp Bach besucht, zusammen mit seiner wesentlich jüngeren Freundin und Muse. In Rückblenden erzählt Lukas, wie ihn schon am ersten Morgen die attraktive Tara zu einem Strandausflug überredet hat, um dort den Sonnenaufgang zu erleben, ihr Lover hat noch tief geschlafen. Und an dem menschenleeren Strand hat sie Lukas dann auch verführt, – sie war die Aktive, er wusste gar nicht, wie ihm geschah.

In einem raffinierten Konstrukt entwickelt Matthias Nolte auf verschiedenen Zeitebenen seinen Plot um eine Menage à trois im Schriftsteller-Milieu. Tara hat ihre Examens-Arbeit über den hoch dekorierten DDR-Schriftsteller Franz Krohn geschrieben, und der wiederum war Mentor von Philipp Bach. Kurz nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann hat Krohn über seine guten Beziehungen zur Staatsführung Bach sogar zur Flucht in den Westen verholfen. Dort hat Bach dann mit «Miss Bohemia» seinen äußerst erfolgreichen Debütroman veröffentlicht. In häufigen, durch die Kapitel-Überschriften aber deutlich zugeordneten Zeitsprüngen erzählt Matthias Nolte seine Geschichte mit mehreren, kunstvoll verflochtenen Handlungs-Strängen. Seine drei Protagonisten sind sehr eigenwillige Typen. Der dem Autor biografisch ähnelnde Lukas ist ein ewiger Zweifler, der fast alles geduldig hinnimmt, von dem man ansonsten aber wenig erfährt. Er arbeitet an dem Roman, den wir in Händen halten, und lässt den Leser an seinen Recherchen und am Schreibprozess teilhaben, eine reizvolle ‹Roman im Roman›-Konstellation. Freund und Nebenbuhler Philipp Bach ist ein überheblicher, unsympathischer und cholerisch veranlagter Schriftsteller, der ein dunkles Geheimnis birgt. Nach seinem Debüt schreibt er nun seit vielen Jahren an dem gigantischen Werk «Der Roman des Jahrhunderts». Tara ist eine selbstbewusste, schlagfertige und lebenskluge Frau, die besonders im unkonventionellen Umgang mit ihrer Sexualität verblüfft und es im Übrigen mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Von Lukas nach ihren bisherigen festen Freunden gefragt, erklärt sie ihm beispielsweise, es gab bisher nur einen: «Nach Johnny kam nichts Festes mehr, nein. Nach ihm habe ich à la carte gelebt». Auf seine verblüffte Nachfrage ergänzt sie: «Oder glaubst du, nur weil ich nicht den richtigen Kerl gefunden habe, […] habe ich mich in Verzicht geübt? Ich gebe meinem Körper, was ihm gut tut, und er dankt es mir jeden Tag».

Dieser aufregende Roman ist schwungvoll erzählt, wobei die Ironie darin unübersehbar ist. Trotz des nicht unbeträchtlichen Wirrwarrs, das die Geschichte mit ihren vielen Andeutungen erzeugt, folgt man ihr gerne, zumal die Spannung immer mehr steigt, was denn nun hinter all dem steckt. Übertrieben hat es Mathias Nolte allerdings mit den vielen Zufällen, auf denen sein Plot aufbaut. Überzeugend und angesichts der trickreichen Verflechtungen hilfreich ist, dass er das Erzählte häufig rekapituliert. Und nicht wenige Leser dürften sich zudem an der üppigen Intertextualität erfreuen.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Lucia Binar und die russische Seele

Psychotherapeut ohne Waffenschein

Der österreichische Schriftsteller Vladimir Vertlib hat in seinem 2015 publizierten Roman «Lucia Binar und die russische Seele» nach der Migration als autobiografisch grundierte Thematik hier ein eher gesellschaftskritisches Thema aufgegriffen. Seine Geschichte ist im zweiten Wiener Gemeindebezirk Leopoldstadt angesiedelt, einst Zentrum des jüdischen Lebens in Österreichs Hauptstadt. Aber auch hier prägen die russisch-jüdischen Wurzeln des Autors wieder seinen Erzählstoff, «Ich habe mich bemüht, die einzigartige, gleichsam irritierende wie inspirierende Atmosphäre des zweiten Bezirks in meinem Roman einzufangen». Die Nominierung für den Deutschen Buchpreis bedeutete für ihn, wie er bekannte, «eine große Bestätigung für mein Schreiben, die mir auch viel Kraft für die Zukunft gibt».

In zwei Handlungssträngen entwickelt Vladimir Vertlib seine amüsante Geschichte um eine 83jährige ehemalige Lehrerin, die von einem androgynen Wesen an der Wohnungstür um ihre Unterschrift für eine Petition gebeten wird. Lucia Binar ist empört, will doch eine örtliche Anti-Rassismus-Initiative aus falsch verstandener Political Correctness ernstlich die Große Mohrengasse, in der sie von Geburt an wohnt und auch zu sterben gedenkt, in große Möhrengasse umbenennen lassen. Die schlagfertige alte Dame verweigert mit bissigen Bemerkungen ihre Unterschrift und schickt den Aktivisten empört weg, nicht ohne das androgyne Wesen vorher noch nach seinem Vornamen gefragt zu haben. Moritz ist Student, und wie sich schon bald herausstellt, ein netter, hilfsbreiter Mensch, mit dem sie sich bald anfreundet und später sogar duzt. Und er steht ihr dann auch bei, als ihr gewissenloser Vermieter auf perfide Art versucht, durch kostenlose Überlassung bereits lange leerstehender, heruntergekommener Wohnungen an üble, asoziale Störenfriede die Altmieter aus dem Haus zu ekeln, um es nach einer Luxus-Sanierung dann teuer wieder neu vermieten zu können. Diese Handlungsebene wird von der resoluten Ich-Erzählerin mit dem wahrhaft denkwürdigen ersten Satz eingeleitet: «Wenn ich jetzt sterbe, dann kann ich damit leben».

Von einem auktorialen Erzähler werden in der zweiten Handlungsebene weitere zum Teil sehr skurrile Figuren eingeführt. Zu denen gehört auch die unfreundliche Call-Center-Dame, bei der sich Lucia Binar über die ausgebliebene Lieferung von ‹Essen-auf-Rädern› beschwert hatte. Mit der hat sie noch ein Hühnchen zu rupfen, weiß aber leider nur ihren Vornamen, und wie sich bald herausstellt, gibt es nicht weniger als sechs Mitarbeiterinnen mit dem Namen Christine. Die sucht sie nun alle nacheinander auf, wobei Moritz sie begleitet. In einem turbulenten, slapstickartigen Plot münden die eng ineinander verschlungenen Handlungsfäden in ein ins Absurde abgleitendes Finale, bei einer wahrlich aberwitzigen Séance ist Viktor Viktorowitsch Vint die zentrale Figur. Nach eigenem Bekunden «Magier, Vermittler von Selbsterfahrungen, Experte für die russische Seele, Psychotherapeut ohne Waffenschein, also ein Scharlatan auf hohem Niveau», oder, wie er an anderer Stelle beschrieben wird, «eine Mischung aus Rasputin und Wladimir Kaminer». Er erinnert den Leser ein bisschen an Bulgakows faunische Figur ‹Wolant› in «Meister und Margarita».

Mit viel schwarzem Humor und in den soziologischen Aspekten oft sarkastisch wird hier leichtfüßig eine Geschichte erzählt, deren realistische Komplexität aber im Verlauf immer deutlicher wird. Ziemlich störend sind die vielen eingestreuten Lyrik-Zitate, die sich einem eingeschworenen Prosaleser kaum erschließen können. Sogar die Protagonistin Lucia Binar ist lyrikbegeistert und vermag bei Gelegenheit jeweils einige passende Gedichtzeilen zu rezitieren. Größte Stärke des Romans ist jedenfalls diese zentrale Figur, die sich ebenso tapfer wie schlau allen Widrigkeiten entgegenstellt und schlagfertig niemandem eine – oft ironische – Antwort schuldig bleibt, man kommt aus dem Schmunzeln kaum noch raus als Leser.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Suchbild mit Katze

Henisch_Suchbild mit Katze_110216.inddÜber Henisch` leise, feinfühlige Art zu schreiben ist schon viel gesagt worden. Im vorliegenden Roman besticht zudem sein sachter Humor, der nie zu Schenkelklopfern animiert. Sympathisch schon, dass im Romantitel eine Katze erwähnt wird – für sowas nehmen sich die Autorinnen und Autoren der Wichtigkeit heute nicht Zeit. Dann der Rekurs auf den Kater Murr. Auf E.T.A. Hoffman, der die Ahnung erweckt, dass Peter Henisch zur Handvoll Autoren und Autorinnen im deutschen Sprachraum zählt, die im Herzen sich Romantik und Fantastik auf liebevolle Art bewahrt haben. Auch Dr. Dolittle mitsamt Affen, Papagei und Schwalben bevölkern die Buchseiten. Und denen möchte der kleine Protagonist, der Ich-Erzähler in seiner Kindheit, eben eine Katze hinzugesellen. Und so will er eigentlich mit dem Schreiben beginnen. Daneben als Hauptfigur die Stadt Wien der Nachkriegszeit. Und zeitgeschichtliche Sequenzen – etwa der mögliche Atombombeneinsatz, den ein US-General gegen die Chinesen im Koreakrieg empfahl. Und der Bub schmiss alle seine Spielfiguren mit einem gewaltigen Ruck um, sodass die Katze Murli entsetzt davonsprang.
Do little: tu das Kleine, sieh es, erzähle davon, rücksichtsvoll mit gedämpfter Stimme. So entsteht Zärtlichkeit, Sympathie, Nächstenliebe. Die vermeintlichen Großartigkeiten und Besonderheiten, das Lamento und das Geschrei lass den Napoleons und Alexandern des Zeitgeistes, die permanent das Aller-Neueste plärren – selbstinszenierende Marktschreier oder Jammerer in Eitelkeit. Henisch stellt auf wundervolle Art das Gegenteil all dieser Negativismen dar. Der Roman versöhnt mit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, die einem ganzheitlich Fühlenden ansonsten sehr wenig abzugewinnen imstand ist.
Manfred Stangl
Peter Henisch: „Suchbild mit Katze“, Deuticke, Wien, 2o16, 2o8 S, geb.; ISBN: 978-3-552-o6327-3


Genre: Humor, Romane
Illustrated by Deuticke Wien

Ethischer Welthandel

Felber_135x210_Welthandel_1410.inddFelber enttarnt die Mathematisierung der Wirtschaft seit David Ricardo und die Berufung der WTO und der EU auf dessen Lehre als Effizienzfalle, die Konzernen fette Gewinne bringt, aber Menschen- Arbeits- Sozialrechte und die Rechte der Natur missachtet. Es ginge gemäß Aristoteles um keine chrematistische – also rein geld- und profitorientierte – Wirtschaft, sondern um „oikonomia“ die dem „guten Leben“ aller Haushaltmitglieder dient. Speziell die Welthandelsorganisation aber handle nach Richtlinien und Gesetzen, die den „Frei-Handel“ als wichtiger als gar die Menschenrechte ansehen. Felber spricht sich überhaupt nicht gegen Welthandel aus, er zeigt allerdings im Buch, wie ein gerechterer Handel aussehen könnte – nämlich einer, der Zölle einhebt auf Waren, die aus menschenunwürdiger Produktion stammen (von denen es mehr als zu viele gibt), während entsprechend einer Gemeinwohl-Ökonomie hergestellte Produkte frei gehandelt werden sollten. Kein TTIP oder CETA sollten uns knebeln, sondern eine Eintrittskarte in eine „Ethische Handelszone“ erworben werden. Die „Lizenz zum Plündern“ jedoch verurteilt. Ein hohes Maß aktueller Machtlosigkeit der Bürger verortet Felber in der Übergabe der Souveränitätsrechte an die Regierungen, statt an den Souverän: das Volk, wie es ja eigentlich in den meisten europäischen Verfassungen hieße. Kommt es zum Volksentscheid gegen die Durchsetzung von Konzernwillen in einem der EU-Staaten machen alle andern so lange Druck, bzw. wird solange erneut abgestimmt, bis die Reichen recht erhalten.
Die Regelung des Welthandels habe sich an Menschen- und Arbeitsrechten zu orientieren. An Umweltschutzabkommen, Klimaschutz, kultureller Vielfalt, Ernährungssouveränität. Die Ziele des Handels habe eine souveräne Demokratie zu entscheiden, nicht von Lobbyisten geköderte Parlamente.
Felber gibt nicht nur Einblick in die unseriösen Methoden von WTO und Konsorten sondern entwirft eine durchaus verwirklichbare Alternative, sodass nicht von Nörgelei sondern konkret-verantwortungsvollen Alternativen gesprochen werden kann. Mit andern Worten: Vom ethischen Welthandel.

Christian Felber: „Ethischer Welthandel – Alternativen zu TTIP, WTO & Co.“, Deuticke, 2o17, Paperback, 224 S, ISBN: 978-3-552-o6338-9


Genre: Sachbuch
Illustrated by Deuticke Wien

Gemeinwohlökonomie

Das Werk stellt im essentiellen Sinn gesellschaftliche Verhältnisse „vom Kopf auf die Füße“. Nicht weiter soll die pure Zunahme von finanziellen Mitteln den Reichtum einer Gesellschaft anzeigen, sondern Geld wird zum Mittel, ein Mehr an Freiheit, Lebensglück, Sinnhaftigkeit und Solidarität zu erlangen. Der Unfug, dass im wirtschaftlichen Bereich entgegengesetzte Werte herrschen als wir uns in privaten Beziehungen wünschen – nämlich Konkurrenz und Übervorteilung statt Zusammenhalten, Teilen und Vertrauen – soll menschlichkeitsstiftend beendet werden.
Gefordert wird demgemäß das Umstellen der Finanzbilanz von Unternehmen auf eine Gemeinwohl-Bilanz. Je sozialer, demokratischer, ökologischer, solidarischer Unternehmen handeln, desto mehr Punkte in der Gemeinwohlbilanz erlangen sie. (Und kommen damit in den Genuss von Förderungen und Krediten sowie das Vertrauen der KundInnen). Auf der volkswirtschaftlichen Ebene wird das BIP durch das Gemeinwohl-Produkt abgelöst.

Felber verortet dieses System in die Marktwirtschaft (aber keine kapitalistische), da ja private Unternehmen nicht durch staatliche ersetzt werden sollen, sondern deren Zielsetzung durch Interventionen wie Förderungen zu solidarischem, nachhaltigem, natur- und menschenfreundlichem Verhalten umgepolt wird.
Die Mehrzahl der (gerade heimischen Unternehmen) stelle ohnehin keine gr
oße Bedrohung für Demokratie und Menschlichkeit dar, die augenfällige Machtkonzentration der Multis und Großbanken würde aber gerecht beschnitten.
Die Börsen bzw. das Finanzkasino zu schließen beendet ebenso wie Abschaffung von Zins und Aktionärs-Dividende die alleinige Fokussierung aufs Geldmachen. Betriebe können beim Format ihrer optimalen Größe verbleiben, statt unbedingt wachsen zu müssen, um Kreditschuld und Konkurrenzdruck standzuhalten. Die horrenden Einkommensunterschiede sollen gerechteren Verhältnissen weichen, in dem kein Manager beispielsweise mehr als das Zehnfache des gesetzlichen Mindestlohns verdient. Das Erbrecht wird dahingehend reformiert, dass eine „demokratische Mitgift“ gleiche Chancen für alle ins Erwerbsleben Einsteigenden schafft. Das verhindert die Zuspitzung feudaler Verhältnisse, wo die 3 % der Reichsten, die 8o % des Vermögens besitzen, vermittels ihrer Kinder Geldkonzentrationen in undemokratischen Ausmaßen produzieren. Ab einer gewissen Betriebsgröße gehen zudem Firmenanteile an Mitarbeiter über und ebenso Mitspracherechte. Es ist nicht einzusehen, warum das gerade heute so eifrig beschworene Prinzip der Demokratie nicht innerhalb des Alltags im täglichen Arbeitsprozess gilt, wo wir grad alle 5 Jahre einmal eine Regierung wählen dürfen. Felber schlägt dementsprechend umfangreiche Reformen hin zu einer direkten Demokratie vor.

Eine demokratische Bank gewährleistet zinsenfreie Kredite an Gemeinwohlunternehmen, die ökologische, nachhaltige und soziale Projekte initiieren; auf internationaler Ebene ist der Globo oder Terra Garant für ein funktionierendes, den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr regelndes Zahlungsmittel, das durch Regionalwährungen zur Ankurbelung lokaler Projekte ergänzt wird. Spareinlagen werden garantiert, nicht nur weil es krisenanfällige und Dilemmata auslösende Finanzmärkte in der heutigen Form nicht mehr gibt.

Ich finde, dass Felber zum revolutionären, visionären Entwurf einer gerechteren Zukunft unverhohlen konkret auch die Schwierigkeiten bei der Umsetzung benennt.

Die meisten von uns sind extrinsisch motiviert: d.h. sie besitzen wenig Selbstwertgefühl, sind kaum durch innere Sinnhaftigkeit und Freude angespornt sondern bloß durch von der Gesellschaft oktroyierte (Un-)Werte. Bessersein, erfolgreich, einzigartig, besonders sein heißen die „Werte“ einer Kultur, die auf geringem Selbstwahrnehmungsgefühl, auf keinerlei Urvertrauen basiert. Ich schrieb an anderer Stelle, dass eine Gesellschaft, die selbstbestimmte Menschen verhindert, uns leicht allerlei Unsinn einreden kann, der fürs angebliche Glück benötigt wird. Zur Selbstbestimmung zählen meiner Ansicht nach neben dem Vorhandensein des Urvertrauens, eine hohe inter- und intrapersonale Intelligenz und Empathie. Felber wiederrum fordert eine Bildungserweiterung, bei der Kinder den Wert von Emotionen lernen, solidarisches Handeln, Kooperation, das Annehmen des eigenen Körpers und die Liebe zur Natur. Gerade die am gierigsten sich an äußern Werten wie materiellen Reichtum und Ansehen klammernden sind oft die unglücklichsten Menschen. Ihr Weltbild sich diktieren zu lassen stürzt die Mehrheit ins Unglück und zerstört Natur und Planeten. Warum sollen wir ihnen in den Abgrund folgen?

Die Stärke der Gemeinwohlökonomie liegt darin, dass sie keine realitätsfremde Utopie darstellt, sondern jeder einzelne zu ihrer Umsetzung beitragen kann, sei es als verantwortungsvoller Konsument, der fair gehandelte ökologische Produkte kauft und frägt, ob der Betrieb eine Gemeinwohlbilanz erstellt oder als Initiator von Gemeinwohlunternehmen, wie sie bereits in beachtenswerter Menge existieren. Wir brauchen nicht auf das Subjekt der Geschichte warten, wie es Marx in der Arbeiterklasse vermutete – quer durch alle Gesellschaftsschichten finden sich Unterstützer und Akteure der Gemeinwohlökonomie. Die Schwierigkeit wird wohl dennoch darin liegen, die narzisstische Psyche, die in unseren Breiten herrscht, soweit mit Mitgefühl und Leben zu erfüllen, dass Gerechtigkeit, Einfühlungsvermögen und Solidarität, nach dem Werteverlust durch die Postmoderne, wieder zu anstrebenswerten Inhalten erhoben werden. Nur so können Ich-Sucht, Gier und Neid von uns abgeschüttelt werden – möglicherweise erst nach einer – alle betreffenden – absehbaren Krise (der Wirtschaft wie der Umwelt).


Genre: Sachbuch
Illustrated by Deuticke Wien