Verlorener Morgen

Rumänisches Epos

Der im Original 1983 erschienene Roman von Gabriela Adameșteanu ist unter dem Titel «Verlorener Morgen» nun auch ins Deutsche übersetzt worden, sehr spät allerdings. Wird doch dieses wichtigste Werk der in ihrer Heimat äußerst prominenten rumänischen Schriftstellerin vom Feuilleton als Meisterwerk des vergangenen Jahrhunderts gefeiert. Wobei erstaunlich ist, dass in der Ära Ceaușescu ein durchaus düsterer, sozialkritischer Roman wie dieser überhaupt publiziert werden konnte. Er wurde verschiedentlich als rumänische Version von «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» apostrophiert, einerseits wohl, weil die 76jährige Autorin einst ihre Examensarbeit über Proust geschrieben hatte, andererseits aber gibt es auch thematisch und im ausschweifenden Erzählgestus Ähnlichkeiten.

In vier Teilen erzählt sie von der wechselvollen Geschichte ihres Heimatlandes, wobei die den ersten und letzten Teil des Buches füllende Rahmenhandlung nur einen einzigen Tag im Bukarest des Jahres 1980 beschreibt. Deren Protagonistin ist eine griesgrämige Alte, die in einem atemlosen Wortschwall mürrisch fluchend über ihr Schicksal klagt. Schon mit elf Jahren musste sie für eine ganze Horde von kleinen Geschwistern sorgen. Während der Ehe hatte sie dann ganz allein einen armseligen kleinen Vorstadtladen betrieben, der sie nur recht und schlecht ernährt hat, ihr nichtsnutziger Mann hatte sich nie darum gekümmert. All das wird zumeist als innerer Monolog während des einen Tages erzählt, an dem sie durch Bukarest streift und vergebens bei ihrer Schwägerin und bei der Tochter einer ihr von früher her verpflichteten Arbeitgeberin um Geld bettelt. Diesem vom Elend der Jugendjahre, jahrzehntelanger harter Arbeit und bitterer Altersarmut erzählendem, plebejischem Außenroman steht in zwei Kapiteln ein Innenroman gegenüber, der in die Jahre 1914 beziehungsweise 1916 zurückspringt. Im Milieu bürgerlicher Salons wird da, mit französischen Phrasen und Redewendungen durchsetzt, in der Villa eines Professors über die aktuelle Politik Rumäniens schwadroniert sowie über ein künftiges Rumänien. Des Professors Tagebücher, in denen im dritten Teil des Romans die Frage nach den künftigen Kriegsverbündeten diskutiert wird, sind ohne geschichtliches Vorwissen allerdings kaum zu verstehen.

Dieser aus typisch weiblicher Sicht geschriebene Roman des persönlichen und gesellschaftlichen Scheiterns gleitet trotz seiner unerquicklichen Grundstimmung niemals ins Sentimentale ab. Er beschreibt vielmehr sachlich, aber äußerst assoziationsreich das Schicksal seiner vielen Figuren, thematisiert mit scharfem Blick Vergänglichkeit und Altern. Historisch steht einerseits die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg im Blickpunkt, dessen Folgen den Romanfiguren ebenso wenig bekannt sind wie der 1980 noch nicht absehbare Sturz des Diktators Ceaușescu und der Zusammenbruch des kommunistischen Regimes. Beides sind faszinierende Perspektiven der noch völlig ahnungslosen Rumänen vor zwei weitreichenden politischen Zäsuren.

Erzählt ist dieses gesellschaftliche Panorama einerseits im wüsten Jargon der Unterschicht, in der Gossensprache einer verbitterten alten Frau, durchsetzt mit vielen Flüchen, andererseits im gehobenen Parlando des Bildungsbürgertums mit seinen vielen französischen Einsprengseln, die allerdings nur frankophile Leser goutieren dürften. Der historisch brisante Mittelteil des Zwanzigsten Jahrhunderts mit den beiden Weltkriegen ist hier völlig ausgespart, offensichtlich ein Tribut an die Zensur. Gabriela Adameșteanu deutet letztendlich das Elend der kommunistischen Neuzeit in Rumänien als Folge des großbürgerlichen Untergangs. Bei aller Virtuosität des Romankonstrukts und der Vielfalt an verwendeten Erzählperspektiven stört dann irgendwann doch die weit ausholende Erzählweise, anders als bei Proust ist die Textflut hier nämlich nüchtern und sachlich, also nicht poetisch und schöngeistig. Als langatmiges Epos allenfalls für rumänisch orientierte Leser zu empfehlen!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Die andere Bibliothek

Süßer Ernst

Die Liebe eines Spindoktors

Die schottische Schriftstellerin Alison Louise Kennedy hat jüngst mit «Süßer Ernst» einen Liebesroman der besonderen Art vorgelegt, weit ab vom gewohnten, genretypischen Herz-Schmerz-Kitsch. Was bei ihrem großen irischen Kollegen der 16. Juni 1904 war, ist bei ihr der 10. April 2015, sie erzählt wie Joyce von einem einzigen Tag im Leben ihrer beiden Protagonisten. Womit die Gemeinsamkeiten aber noch nicht erschöpft sind, denn wie beim «Ulysses» gleicht auch dieser besondere Tag ihrer im Fokus stehenden Figuren einer Odyssee, hier nicht durch Dublin, sondern kreuz und quer durch London.

Meg und Jon heißt das Paar, das ganz unzeitgemäß per Zeitungsannonce zusammenfindet, er hatte anonym über einen Postfach-Absender angeboten, bis zu zwölf Liebesbriefe an alleinstehende Frauen zu schreiben, auf die er keine Antwort erwartet. Meg hat ihm aber geantwortet, sie ist hin und weg von der unglaublichen Einfühlsamkeit, die seine Trostbriefe erkennen lassen. Und sie bricht denn auch die Anonymität, indem sie tagelang die Postfiliale belauert, wo sich sein Postfach befindet, und kann ihn nach einigen Fehlversuchen auch tatsächlich identifizieren als den anonymen Briefschreiber. Beide sind seelisch zutiefst beschädigt, geradezu traumatisiert, und die exakt 24 erzählten Stunden des Romans spiegeln das chaotische Leben im Moloch London im ebenso wirren Tagesablauf der beiden Protagonisten wider, von 6:42 Uhr bis 6:42 Uhr des Folgetages.

Der labile, 59jährige Jon ist von seiner untreuen Frau geschieden und hat sich resigniert in eine armselige Einzimmerwohnung eines prekären Stadtteils zurückgezogen. Als Spindoktor in Westminster muss er, der politischen Räson wegen, die oft unerquickliche Realität geschmeidig so umformulieren, dass sie der Öffentlichkeit, also dem Wähler, als weniger negative «Wahrheit» präsentiert werden kann. In seinem Ministerium ist er der überaus geschätzte Meister solch geschönter Verlautbarungen – und hasst sich dafür! Meg ist eine 45jährige, alkoholkranke, bankrotte Wirtschaftprüferin, die, völlig deprimiert, in ihrem Leben keinen Sinn mehr erkennen kann. Nach ihrem erfolgreichen Entzug mit Hilfe der Anonymen Alkoholiker hat sie einen schlechtbezahlten Job im Tierheim angenommen und lebt in einem verwahrlosten kleinen Haus, das sie von ihren Eltern geerbt hat, – sie fühlt sich «scheißallein». Am jenem 10. April 2015 ist sie seit genau einem Jahr trocken und will das nun bei ihrem ersten Treffen mit Jon, als eine Art zweiter Geburtstag, gebührend feiern. Für beide ist dieser Tag jedoch eine Odyssee mit immer neuen Hindernissen und unerwarteten Begegnungen, ihre Verabredung zu Essen muss mehrfach verschoben werden, es bleibt schließlich sogar fragwürdig, ob es überhaupt dazu kommen wird.

Die als Desillusionistin bekannte Autorin verknüpft in ihrem Abgesang auf das Modern Life gekonnt die sozialen und politischen Probleme ihres Landes und verdeutlicht sie durch die Berufe ihrer verstörten, frustrierten Protagonisten, zeigt deren seelische Unbehaustheit und tiefe Skepsis in Liebesdingen auf. Ihrer latenten Sehnsucht nach Geborgenheit stellt sie kritisch eine heutige, wenig erfreuliche Lebensrealität gegenüber, die den steten Niedergang des einst so stolzen British Empire überdeutlich aufzeigt. Die im steten Wechsel auktorial und, – als kursiv gesetzter, innerer Monolog -, multifokal aus der Perspektive beider Protagonisten erzählte Geschichte über die Verheerungen, die ein solcherart manifestierter Selbsthass anrichten kann, wird häufig durch kurze, meist einseitige Einschübe unterbrochen. In denen dann zusammenhanglos erfreuliche, tröstliche, herzerwärmende Begebenheiten aus dem Alltag erzählt werden, die eine den gesamten Text überlagernde Melancholie angenehm konterkarieren. Es ist faszinierend zu lesen, wie A. L. Kennedy nicht nur die Widersprüche der britischen Gesellschaft offenlegt, sondern sich auch mit viel Empathie behutsam dem hier allzu zarten Pflänzchen der Liebe widmet.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Ich war Diener im Hause Hobbs

Retardieren als Stilmittel

Mit ihrem dritten Roman «Ich war Diener im Hause Hobbs» hat die österreichische Schriftstellerin Verena Rossbacher geradezu ein Paradebeispiel für die literarische Methode des unzuverlässigen Erzählens geliefert. Und beginnt damit gleich im Prolog: «Dies ist eine einfache Geschichte», – was ja auch schon der ins wohlgeordnet Beschauliche weisende Buchtitel suggeriert. Das stimmt sogar bis weit über die Buchmitte hinaus, dann allerdings wird ihre Geschichte von Täuschung und Betrug im letzten Drittel denn doch zunehmend kompliziert. Und lockt bewusst auf falsche Fährten, um dann in einem verwirrenden Sumpf von Andeutungen und Mutmaßungen mit dem Satz zu enden: «Es ist ein wahnsinnig schlampiger Tag». Gleich zu Beginn findet der Diener und Ich-Erzähler im blutbespritzten Pavillon der pompösen Villa seiner Arbeitgeber einen Toten, und auch da schon wird der Leser zunächst im Unklaren gelassen, wer der Tote denn eigentlich ist. Wie konnte es dazu kommen? Er versucht im Nachhinein, die Hintergründe des damaligen Geschehens zu verstehen.

Aus dem Abstand vieler Jahre erzählt Christian von seiner ersten Anstellung als frischgebackener Absolvent einer renommierten Dienerschule bei der neureichen Züricher Familie Hobbs, bei der er mehr als zehn Jahre beschäftigt war. Ausführlich berichtet er als stiller, zur Diskretion verpflichteter Beobachter vom mondänen Leben in der Villa am Zürichsee, von der Familie des vielbeschäftigten Staranwalts Hobbs und seiner ebenso attraktiven wie charmanten, kunstinteressierten Frau, den beiden netten kleinen Kindern und dem Zwillingsbruder des Hausherrn, der im Gartenpavillon wohnt, in dem sich auch sein Maleratelier befindet. Christian hält unbeirrt an den altehrwürdigen Ritualen der snobistischen Butler-Zunft fest, deren verstaubtes Image geradezu ideal zum servilen Selbstverständnis des jungen Mannes passt. In ausgedehnten Rückblicken erzählt er zudem von seiner Jugendzeit als Hipster und eher passiver Teil eines vierblättrigen Kleeblatts von aufmüpfigen Schulfreunden, die auch Jahre später noch sehr eng befreundet sind. Als seine Freunde mit der weltoffenen Frau Hobbs anlässlich eines Besuchs in Feldkirch, dem Vorarlberger Geburtsort von Christian, zusammentreffen, entwickelt sich zu seinem Entsetzen eine kumpelhafte Beziehung zu der unkomplizierten Dame des Hauses, die ihm als distinguierter Butler äußerst peinlich ist. Von ihm ungewollt entwickelt sich eine Eigendynamik, mit der das Schicksal seinen Lauf nimmt.

In seiner geradezu zwanghaft betriebenen Rekonstruktion deckt der traurige Held schichtweise nicht nur diverse verborgene Geheimnisse auf und schaut in menschliche Abgründe, er betreibt damit en passant auch eine Suche nach der eigenen Realität. In großen Bögen erzählt Verena Rossbacher von dieser Selbstverwirklichung, von Schein und Sein, von Lüge und Betrug. Sie tut dies ironisch und demaskiert dabei genüsslich den Kunstbetrieb ebenso wie die heutige Wohlstandsgesellschaft. Die allesamt sympathischen Figuren ihrer rätselhaften Geschichte sind stimmig beschrieben, ihre Diktion erinnert allerdings an die verstaubte Vorlage eines Arthur Conan Doyle und wirkt dadurch, trotz der oft eher surrealen Wendungen in ihrem verzwickten Plot, ziemlich artifiziell.

Die im Prolog listig geweckte Neugier wird leider durch lange Exkursionen des gedanklich trägen, schwerfälligen Protagonisten auf eine harte Probe gestellt: «Aber ich schweife ab» heißt es öfter, – und oft vergisst er dabei sogar die Frage, die er selbst aufgeworfen hat. Störend ist vor allem, dass vieles allzu lange offen bleibt und man sich als Leser dann in einem Wirrwarr verschiedenster Erzählfäden irgendwie zurechtfinden muss. Dieses künstliche Retardieren mit allen Mitteln, mit erzählerischen Umwegen und gedanklichen Sackgassen, mit immer neuen Wendungen stört den Lesegenuss erheblich, zumal es letztendlich zu nichts hinführt, sondern in einer enttäuschenden Leere endet. Nichts stimmt da mehr!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Das Handbuch der Inquisitoren

Der Leser als literarischer Großinquisitor

Eine Befragung simulierend erzählt der portugiesische Schriftsteller António Lobo Antunes in seinem Roman «Das Handbuch der Inquisitoren» vom Ende des Salazar-Regimes, das er am Schicksal seines Protagonisten und dessen Familie spiegelt. Das 1997 erschienene Buch gilt als ein Klassiker der Weltliteratur, sein Autor wird zudem seit Jahrzehnten als Nobelpreiskandidat gehandelt, – bisher vergebens. Der Kommunist und Psychiater rechnet in diesem vielschichtigen Werk rigoros vor allem mit der verhassten Diktatur des sogenannten Estado Novo ab, wobei er konsequent die Perspektive der «kleinen Leute» einnimmt. Neben unglücklichen Liebesgeschichten werden dabei auch Krankheit, Alter und Tod thematisiert, und die Angst vor den Gewaltexzessen dieses autoritären Regimes ist ebenfalls allgegenwärtig. Wir haben es, wie in vielen Romanen seines umfangreichen Œuvres, hier auch wieder mit einer düsteren Geschichte des Untergangs zu tun.

Der Protagonist Francisco, genannt «der Doktor», ist ein einflussreicher Minister unter Salazar und lebt wie ein Feudalfürst auf seinem pompöse Landgut Palmela in der Nähe Lissabons. Auf ein Wort von ihm erledigt ein Major vom Geheimdienst skrupellos alle seine Aufträge, diskret und zuverlässig. Das Unglück dieses Tyrannen beginnt, als seine Frau Isabel ihn betrügt und schon bald auch verlässt. Die Frau des Apothekers wird seine Geliebte, kein Dienstmädchen ist vor ihm sicher, und die Köchin bekommt heimlich ein Kind von ihm, bei dem der Veterinär als Geburtshelfer fungiert. In einer jungen Kurzwarenhändlerin meint er schließlich Isabel zu erkennen und macht sie zu seiner Mätresse. Mit der Nelken-Revolution 1974, dem Sturz des Salazar-Regimes, endet schließlich seine Allmacht, er wird entlassen, verarmt, das Gut verkommt zusehends, er verbarrikadiert sich aus Angst vor den Kommunisten und droht, jedem von ihnen «eine Kugel zwischen die Hörner» zu verpassen, der sich ihm auch nur nähert. Am Ende des Romans liegt er als Greis hilflos in einer Pflegestation: «Pipi Herr Doktor Pipi wir wollen doch nicht den sauberen Schlafanzug schmutzig machen nicht wahr Herr Doktor?»

Folgt man Heimito von Doderer, könnte man folgern, dies ist ein Werk der Kunst, weil man kaum eine kurzgefasste, stimmige Inhaltsangabe davon schreiben kann. Der in fünf Abschnitte unterteilte, gesellschaftskritische Roman mit 29 Kapiteln, abwechselnd als Bericht oder Kommentar betitelt, lässt nicht weniger als 19 Ich-Erzähler zu Wort kommen. Wer da jeweils spricht bleibt oft erst mal im Dunkeln, bis dann irgendwann beiläufig ein Hinweis Klärung bringt. Äußerst hilfreich ist hier übrigens der detaillierte Artikel in Wikipedia, welcher das Wirrwarr dieses komplexen Stimmen-Konstrukts aufdröselt und die inneren Zusammenhänge auch in zeitlicher Hinsicht verdeutlicht. Denn sprachlich unterscheiden sich diese Erzählerfiguren selbst in ihrem Bewusstseinsstrom nicht voneinander, obwohl sie doch ganz verschiedenen sozialen Schichten angehören. Stilistisch auffallend sind die häufig fehlende Interpunktion sowie die nach einem Absatz durch Gedankenstrich eingeleitete wörtliche Rede, vor allem aber kommen einem viele sich wörtlich wiederholende, längere Textpassagen zunächst recht befremdlich vor.

«Ich möchte die Kunst des Romans verändern. Ich möchte eine neue, nie dagewesene Art erfinden, die Dinge auszudrücken», hat António Lobo Antunes selbstbewusst erklärt. Trotz der anfänglichen Schwierigkeiten liest man sich schnell ein in diese vielstimmige, anspruchsvolle Prosa und folgt gespannt dem dramaturgisch verwickelten Geschehen. Der Leser selbst fungiert dabei als literarischer Großinquisitor, es gibt nämlich keine moderierende Autorenstimme. Und so ist er als Leser es folglich auch, bei dem die Fäden der Handlung zusammenlaufen und richtig sortiert und aneinander gefügt werden müssen, selbst wenn sich ihm nicht immer alles sofort und stimmig erschließt. Aber es lohnt sich allemal und öffnet neue Horizonte!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Fräulein Nettes kurzer Sommer

Frauenfeindliche Spätromantik

Mit dem Katastrophenjahr der Anette von Droste-Hülshoff hat die äußerst vielseitige Schriftstellerin Karen Duve einen faszinierenden Stoff gefunden, mit dem sie der berühmten Dichterin in ihrem Roman «Fräulein Nettes kurzer Sommer» ein weiteres Denkmal gesetzt hat. Die fiktional angereicherte Geschichte spielt im kleinadeligen Milieu ihrer weitverzweigten, im Münsterschen angesiedelten Familie, ergänzt um viele Geistesgrößen der Zeit, die als gerngesehene Gäste dort verkehren. Mit «kurzer Sommer» im Titel wird auf eine Zäsur im Leben des im Familienkreis nur «Nette» genannten, aufmüpfigen Freifräuleins angespielt, die sich nicht nur prägend auf das weitere Leben des Dichterin, sondern auch auf ihr späteres Werk ausgewirkt hat.

«Was tatsächlich im Sommer 1820 auf dem Böckerhof vorgefallen ist, liegt im Dunkeln», heißt es im ersten Satz des dickleibigen Romans. Heinrich Straube, ewiger Student in Göttingen, von seinem Studienfreund August von Haxthausen, dem Onkel von Nette, alimentiert und als neuer Goethe hoffungslos überschätzt, ist 1819 Gast der Familie. Er wird von August überschwänglich als «Phänomen an scharfem Verstande» vorgestellt, «… von dem schon jetzt das Licht des zukünftigen Ruhmes ausstrahlt», «… und ein Geruch wie von einem nassen Hund», ergänzt Nette vorlaut. Trotz dieses peinlichen Fauxpas verliebt Straube sich in die wenig attraktive, aber geistig brillante Nichte seines Freundes und stellt ihr nach. Als sich das Freifräulein in einem schwachen Moment von dem eher hässlichen jungen Mann küssen lässt, wähnt der sich am Ziel seiner Wünsche, «Sein Glück war gemacht», heißt es dazu im Roman. Eine grandiose Fehleinschätzung, denn sowohl der Standesunterschied als auch die konträren Konfessionen der Beiden lässt eine Ehe absolut undenkbar erscheinen.

Nach dieser Einleitung und einem kurzen Hinweis auf den verheerenden Ausbruch des Vulkans Sumbava östlich von Java, der das Wetter weltweit auf Jahre hin verändert hat und durch monatelangen Dauerregen auch in Westfalen Missernten und Hungersnöte zu Folge hatte, erzählt Karen Duve im Rückblick vom ereignislosen Leben ihrer Protagonistin im Kreise der adeligen Großfamilie auf ihren verschiedenen Landgütern, ein im Ritual erstarrtes Dasein. Sie berichtet zudem vom lustigen Studentenleben in Göttingen, von langweiligen Kuraufenthalten und beschwerlichen Reisen. Neben anderen Bewerbern bemüht sich der charismatische Jurastudent August von Arnswaldt um Nette, insgeheim und vorgeblich, um ihre Treue zu testen, was dem Schönling denn auch gelingt, – die ach so sittsame Nette lässt sich von ihm küssen. Als Fräulein Nette ihn nach diesem Ausrutscher strikt zurückweist und ihre unverbrüchliche Liebe zu Straube beteuert, berichtet Arnswaldt Straube von diesem Vorfall. Beide wenden sich von ihr ab und sehen sie nie wieder, und auch die Familie hat sie nun gegen sich, alle hacken auf ihr herum, – ein Katastrophenjahr für sie!

Mit fleißig recherchierter Detailfülle, von der ein zwölfseitiges Literaturverzeichnis zeugt, erzählt Karen Duve in ihrem spätromantischen Gesellschaftsroman kenntnisreich vom Leben auf den westfälischen Landgütern und von den vielen interessanten Gästen und Freunden. Zu denen gehören die eifrig Märchen sammelnden Gebrüder Grimm ebenso wie Hoffmann von Fallersleben. Und sogar Heinrich Heine taucht darin auf und widerspricht Straube, der ihn im Gespräch den letzten Romantiker nennt: «Ich bin die Überwindung der Romantik!» Die eher lakonisch erzählte Geschichte ist unterhaltsam und bereichernd zugleich, sie vermittelt ein authentisch wirkendes Bild dieser frauenfeindlichen Epoche. Leider bleibt ausgerechnet die berühmte Protagonistin in ihren literarischen Aspekten ziemlich blass in diesem ansonsten in epischer Breite erzählten Roman, der mir speziell beim ritualisierten, immer gleichen Familienleben denn doch zu ereignislos erscheint. Trotzdem ist er eine den Horizont des Lesers erweiternde, angenehme Lektüre.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Galiani

Töchter

Auf Kolportage-Kurs

Lucy Fricke hat mit ihrem Bestseller «Töchter» einen Roman vorgelegt, der thematisch an zwei Roadmovies erinnert, die sie in ihrer Geschichte sogar selbst anspricht. Wie in «Thelma und Louise» und auch in «Tschick» geht es um eine groteske Flucht mit dem Auto, welches hier nicht nur als Gefährt, sondern auch als Rückzugsort aus prekären Verhältnissen dient. Und die zwei Heldinnen in Frickes Roadtrip stehen, – genau wie in den genannten Spielfilmen -, auch ziemlich bald vor der Frage, wie finden wir da wieder raus? Die Autorin hätte als Titel eben so gut «Väter» wählen können, denn um die geht es den beiden Frauen letztendlich.

Die Ich-Erzählerin Betty ist eine alleinstehende Schriftstellerin um die vierzig, deren gleichaltrige Freundin Martha sie bittet, ihren todkranken Vater in eine Sterbeklinik in der Schweiz zu bringen. Der möchte unbedingt in seinem eigenen Auto dorthin gefahren werden, und da Martha sich nach einem schweren Unfall nicht mehr selbst ans Steuer setzt, soll ihre beste Freundin sie beide chauffieren. Während der Fahrt in dem klapperigen alten VW-Golf, die die Frauen nur widerstrebend antreten, gesteht der Vater irgendwann, dass die Sterbeklinik nur ein Vorwand war, in Wirklichkeit wolle er an den Lago Maggiore. Seine Jugendliebe, eine gelernte Krankenschwester, habe ihn dorthin eingeladen, um ihn bis zum nahen Tod selbst zu pflegen. Die beiden Freundinnen beschließen, nachdem sie ihn dort abgesetzt haben, nicht sofort wieder heimzufahren. Betty möchte nach ihrem geliebten Ziehvater suchen, der sie und ihre Mutter einst so schmählich verlassen hatte und sich dann nie mehr gemeldet hat, angeblich sei er seit zehn Jahren tot. In einem kleinen Dorf in Italien findet sie tatsächlich sein Grab, bei weiteren Recherchen stößt sie allerdings auf eine Front des Schweigens und bekommt Zweifel. Bis sie schließlich doch noch den Tipp erhält, auf einer abgelegenen griechischen Insel weiter zu suchen.

Dieser Roman über die Leerstellen, die durch Vaterlosigkeit entstehen, zählt zur Kategorie der Pageturner, mit flotter Feder erzählt Lucy Fricke ihre Geschichte in einer leicht lesbaren Sprache. Ihr Plot ist klug konstruiert und erzeugt mit seinen immer wieder überraschenden Wendungen den geschickt dosierten Sog beim Leser, der turbulenten Handlung weiter zu folgen. Die Autorin streut dabei allerlei philosophische Betrachtungen und Lebensweisheiten in ihre tragische Geschichte ein und betont ihren Realismus, indem sie zum Beispiel im Buch Esoterik definiert als «Die schlimmste vorstellbare Wahrnehmung der Wirklichkeit». Das alles ist amüsant zu lesen, ohne dass es einem gleich «die Lachtränen in die Augen treiben» würde wie dem im Klappentext zitierten, für Klamauk anfälligen Dennis Scheck. Über ihren oft abgetauchten, zwielichtigen Ziehvater tröstete Betty ihre Mutter mit den Worten: «Mach dir keine Sorgen, Mama, er ist bloß für die Mafia unterwegs. Wahrscheinlich wäre sie erleichtert gewesen. Besser einer, der nachts Leute umlegte, als dass er Frauen flachlegte».

Die allesamt maroden Figuren dieses satirischen Romans sind ziemlich konturlos, ihre Vita bleibt weitgehend im Dunkeln, man wüsste aber gerne mehr, das würde auch das Verständnis des Plots erleichtern. Bei der von Lebensbilanzen und Sterbensfragen dominierten Thematik des Romans stehen den beiden Heldinnen in ihrer nicht nur altersbedingt kritischen Lebensphase zwei lebensmüde Vaterfiguren gegenüber. In der Dramatik dieser illusionslosen Geschichte vor zumeist malerischer Kulisse ist allerdings ein gewisses Pathos nicht zu übersehen. Lakonisch wird immer wieder seelisch Verschüttetes zutage fördert, bedauerlich aber ist, dass diesem narrativen Element nicht weiter nachgegangen wird, es fehlt an gedanklicher Tiefe. Neben einigen Ungereimtheiten werden leider auch derart viele Klischees bedient, dass die Geschichte allzu vorhersehbar wird, sie gleitet teilweise sogar in die Kolportage ab, das Ende ist dann nur noch purer Kitsch!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Rameaus Nichte

Warum liebe ich diesen Mann?

Das erste in Deutschland erschienene Buch der US-amerikanischen Schriftstellerin Cathleen Schine spielt mit seinem Titel «Rameaus Nichte» auf ein von Goethe 1805 übersetztes Werk Diderots an, aber nicht nur damit. Es zitiert auch thematisch das posthum veröffentlichte und vielbeachtete Buch «Rameaus Neffe», ein philosophisch feinsinniger Lehrdialog zwischen Meister und Schüler, der die Seele eines gescheiterten Künstlers offenlegt und als erstes Auftreten des Typus ‹Intellektueller› gilt. Bei Cathleen Schine wird diese Thematik auf eine unerwartet äußerst erfolgreiche Buchautorin angewendet, die an der Realität und an sich selbst scheitert bei ihrer verzweifelten Suche nach der eigenen Identität.

Margaret Nathan, eine attraktive New Yorker Geisteswissenschaftlerin Ende zwanzig, verheiratet mit einem charismatischen Literaturprofessor, findet ein unveröffentlichtes Manuskript mit dem Titel «Rameaus Nichte», eine anonym verfasste Einführung in die Philosophie. Sie übersetzt das Traktat, stellt dabei aber fest, dass es in weiten Teilen aus Plagiaten verschiedenster Autoren des 18ten Jahrhunderts kompiliert ist und in Wahrheit einen geschickt kaschierten pornografischen Inhalt hat. Durch diese Arbeit gerät ihre Gewissheit über die seit zwölf Jahren glückliche Ehe mit Edward Nathan immer mehr ins Wanken, sie beginnt ihre Liebe und ihre Rolle als rundum zufriedene, beneidenswerte Ehefrau kritisch zu hinterfragen: «Warum liebe ich diesen Mann»? In einem von ihrer sinnlichen Phantasie angeheizten Prozess der Selbstfindung sucht die an sich eher schüchterne junge Frau schließlich den Kontakt mit potentiellen Sexpartnern. Sie bandelt, nachdem ihr schwuler Lektor von vornherein ausscheidet, zaghaft zuerst mit einem belgischen HiFi-Hersteller an, der sie aber abweist. Dann versucht sie, obwohl sie keiner lesbische Orientierung hat, ebenfalls vergeblich, ihre lebenslustige Freundin Lilly, eine feministische Autorin, zu verführen, um dann endlich doch noch mit ihrem adonisgleichen Zahnarzt im Bett zu landen. Den von ihr als Befreiung gedachten und herbeigesehnten Ehebruch hat sie nun wirklich in die Tat umgesetzt, – ohne dabei aber das gefunden zu haben, was sie suchte. Ihre sexuelle Selbstverwirklichung erweist sich als totaler Fehlschlag, sie ändert nichts.

Der dreiteilig aufgebaute Roman schildert im ersten Teil die Uni-Szene, Partyleben und Small Talk der New Yorker Intellektuellen mit belanglosen Disputen um Halbwahrheiten, im zweiten dann eine kunstsatte, bereichernde Reise der Heldin nach Prag, bei der sie erstmals seit der Hochzeit ganz auf sich selbst gestellt ist, da ihr smarter Mann sie nicht begleiten kann. Der dritte, die Hälfte des Buches umfassende Hauptteil schließlich behandelt die Irrungen und Wirrungen ihrer schwierigen Selbstfindung, ihre hilflosen Eskapaden, die allesamt nicht zur gewünschten Emanzipation führen. Sozialer Schein und privates Sein sind nicht unbedingt deckungsgleich, lautet das Fazit dieses puzzelartig angelegten Eheromans.

Wie schon die Titel andeuten, handelt es sich hier um zwei ineinander verschachtelte, gleichnamige Romane, zwei ironisch durchleuchtete Zeitepochen also, das Buch im Buch ist dabei das von der Heldin übersetzte Manuskript von «Rameaus Nichte». Diese innere, die Verführung und Entjungferung eines Mädchens, – der Nichte Rameaus nämlich -, erzählende Geschichte vom Anfang des 18ten Jahrhunderts ist in einer der Barockzeit nachempfundenen Sprache geschrieben, die zwar zeitgerecht ist, aber auch bis zur Unlesbarkeit verklausuliert. Hingegen ist die Ende des 20ten Jahrhunderts angesiedelte Geschichte einer modernen Lebens- und Liebeskrise amerikanisch knapp und salopp erzählt. Sie glänzt mit den funkelnden, geistreichen Dialogen ihrer durchweg sympathischen Figuren und den weitläufigen inneren Monologen der Protagonistin. Der Lesegenuss dieser intellektuell anspruchsvollen Lektüre wird zusätzlich durch einen köstlichen Humor bereichert.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Schlafes Bruder

Hypnos und Thanatos

Der Debütroman «Schlafes Bruder» des österreichischen Schriftstellers Robert Schneider blieb sein bis heute mit Abstand größter Erfolg. Das 1992 erschienene Buch wurde in mehr als dreißig Sprachen übersetzt, diente als Vorlage für den gleichnamigen Spielfilm und erfuhr diverse weitere Adaptionen. Der von einem Bergbauern-Ehepaar aus Vorarlberg adoptierte Autor hat darin offensichtlich nicht nur Erfahrungen der eigenen Jugendzeit verarbeitet, er hat vor allem seine fundierten musikalischen Kenntnisse als Organist für das Hauptmotiv seiner Erzählung verwendet. Trotz ähnlichem Schauplatz ist der zeitlich am Anfang des 19ten Jahrhunderts angesiedelte Roman alles andere als einer der typischen, kitschigen Alpenromane. In diesem Entwicklungsroman wird vielmehr eine düstere, mystische Geschichte aus einem so gar nicht idyllischem Bergbauerndorf in Vorarlberg erzählt. Weiterlesen


Genre: Roman
Illustrated by Reclam Verlag

NSA – Nationales Sicherheits-Amt

Was wäre geschehen, wenn die Nazis schon über die heutige Computertechnologie verfügt hätten, wenn sie ihre Bürger hätten total überwachen und aus den Datenbergen Bewegungsprofile erstellen können? – Andreas Eschbachs Ausgangsfrage in seinem Roman »NSA« ist ebenso klug wie spannend. Weiterlesen


Genre: Dystopie, Endzeitthriller, Roman, Science-fiction
Illustrated by Bastei Lübbe

Baron Wenckheims Rückkehr

Zwiespältige Parabel

László Krasznahorkai, ein Meister der Apokalypse, gehört zu den bedeutendsten ungarischen Schriftstellern der Gegenwart. Sein jüngster Roman «Baron Wenckheims Rückkehr» bedeute eine Wende in seinem bisher «melancholischen und resignativen Werk», wie er im Interview erklärt hat, es sei sein erster humorvoller Roman. Der vor allem im englischen Sprachraum gefeierte Autor wurde 2015 mit dem dort wichtigsten Literaturpreis ausgezeichnet, die Jury des Man-Boocker-Preises bezeichnete ihn als «einen visionären Schriftsteller von außergewöhnlicher Intensität, dessen sprachlicher Ausdruck die Beschaffenheit der heutigen Existenz in Szenen einfängt, die besorgniserregend, befremdlich, erschreckend komisch und oft überwältigend schön sind». Das in der schwülstigen Laudatio als visionär Gelobte endet auch hier allerdings wieder in einer Apokalypse, der Weg dorthin ist jedoch urkomisch.

Der vor 46 Jahren aus Ungarn vertriebene Baron Béla Wenckheim hat sich in Südamerika durch seine Spielleidenschaft in den Ruin getrieben, er sitzt in Haft. Seine wohlhabende Familie holt den verwirrten, spindeldürren Mann nach Wien zurück und kleidet den völlig Verwahrlosten neu ein, ehe sie ihn mit dem Zug in seinen ungarischen Geburtsort Gyula weiterschickt, den der alte Mann vor seinem Tod unbedingt noch einmal sehen will. Boulevardpresse und Fernsehen bauschen diese Heimkehr medial derartig auf, dass die wildesten Gerüchte entstehen, angeblich würde der steinreiche Adelige seine Stadt finanziell äußerst großzügig unterstützen. Verwaltung und Einwohnerschaft malen sich eine glänzende Zukunft aus für die hoffnungslos heruntergekommene Stadt, manche Leute beginnen sogar schon, sich zu verschulden in Erwartung des Geldsegens, der da bald auf sie nieder regnen wird.

Mit seinem üppigen Ensemble wahrhaft wunderlicher Figuren zeichnet László Krasznahorkai das Panorama einer Provinzstadt im Ungarn von heute, die auf ihren Heilsbringer wartet. Da ist der unfähige Bürgermeister, der korrupte Polizeichef mit seiner aus zwei Dutzend Rockern bestehenden Motorrad-Bande, ein verwilderter Professor, der im Dornbusch-Ödland dahinvegetiert, Marika, die Jugendliebe des Barons, Dante Szolnoki, ein redegewandter Krimineller, der sich dem Baron als Sekretär andient, und viele skurrile Typen mehr. Der Autor beschreibt das alles in einer glanzvollen Sprache mit vielen parallelen Erzählsträngen und erschließt seinen Plot großenteils mit stimmigen Dialogen, oft aber auch als Bewusstseinsstrom oder innerer Dialog. Wobei seine kunstvoll konstruieren Sätze sich immer über mehrere Seiten hinweg erstrecken und die direkte Rede ohne Satzzeichen einbinden, «ungewöhnlich lang, weil ja auch unser Denken ein endloser stürmischer Prozess ist und keine Punkte kennt», hat er dazu angemerkt. Nach anfänglichen Problemen liest man sich aber doch schon bald ein in diese virtuos konstruierten Endlossätze, sei skeptischen Lesern versichert.

In seiner zeitgeschichtlichen Parabel über ein rückständiges, korruptes Ungarn, das ihm offensichtlich peinlich ist, hat László Krasznahorkai ein vernichtendes Urteil über seine Heimat gefällt, auch wenn er dies deutlich erkennbar satirisch überzeichnet, sich am Ende gar ins Surrealistische hineinsteigert. Unfähigkeit, Faulheit und grenzenlose Dummheit sind fürwahr nicht gerade schmeichelhafte Wesensmerkmale seiner Landsleute, auch wenn er recht wohlwollend über sie schreibt. Seine hanebüchene Story ist mit häufigen kontemplativen Einschüben angereichert und bietet gute Unterhaltung vor allem durch den köstlichen Humor, der das verrückte Geschehen permanent überlagert, nicht selten aber auch in Klamauk ausartet. Mehr als ein Wermutstropfen ist außerdem eine gewisse Langatmigkeit, manches ist erzählerisch einfach zu breit ausgewalzt in dem fast 500seitigen Roman, dessen apokalyptisches Ende mich ebenfalls nicht überzeugen konnte. Und so hinterlässt dieses stilistisch erstklassige Buch leider einen sehr zwiespältigen Eindruck.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Von den fortschreitenden Übertretungen des Major Aebi

Homer-Komplex

Der Roman «Il maggiore Aebi» des italienischen Schriftstellers Gianluigi Melega ist 1997 mit dem bandwurmartigen Titel «Von den fortschreitenden Übertretungen des Major Aebi» auch in Deutschland erschienen. Mit Übertretungen sind sexuelle Grenzüberschreitungen eines pathologischen Lüstlings gemeint, ein Sujet mithin, für das der Marquis de Sade hier einige Motive beigesteuert hat, SM allerdings ausgenommen. Die obsessiv ausgelebte Libertinage des steinreichen, pensionierten Majors bildet die narrative Oberfläche dieses Romans, unter der – durchaus ironisch – philosophische Betrachtungen nach dem Sinn des Lebens abgehandelt werden, und nebenbei auch noch Interna der Schriftstellerei.

Der Schweizer Major Aebi ist nach dem frühen Tod seiner Frau unerwartet reich geworden und kommt auf die famose Idee, seinem biederen Leben zu entfliehen, die Grenzen seiner geheimen Lüste auszuloten, seiner bis dato unterdrückten Sexualität nunmehr freien Lauf zu lassen. Der Sechzigjährige fährt nach Wien, um sich eine dralle junge Kellnerin, die ihm beim letzten Besuch mit seiner Frau im Hotel Sacher aufgefallen war, gefügig zu machen, was ihm mühelos gelingt. War bei Trude noch Geld im Spiel, erobert er Frau Grunwald, eine etwas ältere Filialleiterin aus der ererbten Firma, allein durch seine Überredungskünste, die bei ihr bis dato tief verborgene Gelüste auslösen, sie ihm bedingungslos hörig machen. Die Dritte im Bunde einer Ménage à quatre ist die lesbische Filmschauspielerin Gerda, die er mit tätlicher Hilfe von Frau Grunwald als weitere Gespielin dazu gewinnt. Die ausufernden Orgien dieses sexuellen Quartetts nehmen immer gewagtere Formen an, werden auch ins Freie verlegt und damit zusätzlich exhibitionistisch aufgeheizt, bis es schließlich so weit kommt, dass auch Kinder einbezogen werden. Das bringt den perversen Major letztendlich dann für sieben Jahre ins Gefängnis.

Während dieser Zeit schreibt er ein Buch über die Geschichte seiner Ausschweifungen, die er mit seiner absurden philosophischen Theorie als legitimes, sinnstiftendes Menschenrecht ansieht. Dieses unveröffentlichte Manuskript eines kriminell gewordenen Erotomanen landet nach dessen Tod bei dem namenlos bleibenden Ich-Erzähler, und was der da liest, könnte von ihm selbst sein. Als Journalist beginnt er zu recherchieren, er will den nachgelassenen Text ergänzt und überarbeitet dann selbst herausbringen, wir lesen quasi das Buch im Buch. In Rückblenden berichtet er von seinen Gesprächen mit dem Wüstling und von dessen libertären Phantasien, wobei das eher dröge, schweizerische Naturell des Majors hier ironisch einen kontrastierenden Hintergrund bildet. Es geht also um perverse Altmänner-Phantasien in diesem erotischen Roman, der hart an der Grenze zur Pornografie vorbeischrammt bei den – allerdings eher distanziert beschriebenen – schamlosen Sexszenen, die bei aller Deutlichkeit aber nie abstoßend obszön wirken.

Dieses Spiel mit lasziven Phantasien wird abwechselnd aus Sicht des Majors und aus der personalen Perspektive des Ich-Erzählers in einer sehr kultivierten Sprache erzählt, mit stimmigen Dialogen, einem raffiniert konstruierten Plot folgend. Besonders reizvoll fand ich die üppige Intertextualität des Romans, immer wieder stößt man auf Bücher und Schriftsteller. Das gipfelt dann im «Homer-Komplex», einem literarischen Äquivalent zum Universalgesetz der Schwerkraft: «Es ist das Gefühl, das jeder Schriftsteller kennt: den Schöpfungsakt zu wiederholen, wie ein hypothetischer Allmächtiger die Dinge aus dem Nichts heraus entstehen zu lassen. Dieses Allmachtsgefühl ist es, das alles, was man schreibt, zu etwas Neuem und Erlaubtem macht, ohne dass damit irgendein Gefühl von Schuld verbunden wäre». Den Prozess des Schreibens handelt Gianluigi Melega durch sein Alter Ego im Roman ab, dem Ich-Erzähler, der an vielen Stellen den Leser ganz direkt anspricht.  Und beziehungsreich lautet schließlich der letzte Satz: «Odysseus segelte einen Meter neben mir, dem ewigen Acheron zu».

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Ammann Verlag Zürich

Animal triste

Ohne Liebe kein Leben

Aus dem Œuvre der Schriftstellerin Monika Maron ist insbesondere der Roman «Animal triste» von 1996 bekannt geworden, nicht zuletzt durch konträre Besprechungen im Feuilleton, dem aber eine fast einmütig positive Beurteilung durch die Leserschaft entgegensteht. Zwei Wörter aus jenem – keinem der üblichen Verdächtigen zuzuordnenden und häufig in abgewandelter Form anzutreffenden – lateinischen Zitat «Post coitum omnia animal triste» bilden den wunderbar deskriptiven Titel dieses Buches. Denn auch hier herrscht stets Tristesse nach dem Beischlaf, glaubt man der Autorin.

«Doch von zwei Dingen schnell beschloss ich eines, dich zu gewinnen oder umzukommen» sagt Penthesilea im Liebeswahn. Es geht um die Kraft der Liebe in diesem Roman, und um deren zerstörerische Wirkung, dieses Kleist-Zitat wird hier zum oft artikulierten Leitmotiv. Die namenlose Ich-Erzählerin, Paläontologin in einem Ostberliner Museum für Naturkunde, erzählt als Greisin im Rückblick von ihrer grenzenlosen Liebe zu Franz, einem Ameisenforscher aus Ulm, den sie unter dem riesigen Skelett eines Brachiosaurus kurz nach dem Mauerfall kennenlernte. Für sie war es die versäumte Jugendliebe, eine Liebe, die einmalig ist, die sie weder erwartet noch gesucht habe, eine Leidenschaft zumal, von der sie bisher nur geträumt hatte. Fortan lautete ihr Credo: «Man kann im Leben nichts versäumen als die Liebe», bedingungslos stürzte sie sich in diese Amour fou und verlor jeden Kontakt zur Realität. Beide waren etwa fünfzig Jahre alt damals, sie hatte eine Ehe hinter sich und den Kontakt zu ihrer einzigen Tochter verloren, er war verheiratet und musste ihre Liaison unbedingt geheim halten, er könne seine Frau nicht verlassen, weil sie «so wenig für ein Unglück trainiert sei». Er hat ihr das gleiche Parfüm geschenkt, das auch seine Frau benutzt, nach gehabtem Coitus fährt er immer pünktlich um halbeins nach Hause und raucht im Auto Pfeife, um verräterische Gerüche zu überdecken. Diese unterschiedliche Art von Liebe, ihre grenzenlose Leidenschaft gegenüber seiner ausschließlich lustgesteuerten Liebe, ist natürlich zum Scheitern verurteilt, die rasende Eifersucht der Protagonistin zerstört am Ende denn auch ihren Liebestraum. Sie entflieht endgültig der Welt, zieht sich in eine Art innere Emigration zurück und lebt völlig isoliert nur noch von der Erinnerung.

Erzählt wird diese eskapistische Geschichte als innerer Monolog, in dem die Heldin die Beziehung zu Franz noch einmal intensiv durchlebt. Wobei hier, ganz im narrativen Stil des unzuverlässigen Erzählens, permanent Wunsch und Wirklichkeit durcheinander geraten. Sie weiß niemals sicher, ob sie etwas tatsächlich gesagt hat oder nur sagen wollte. Aber auch, wie viele Jahrzehnte das alles her ist, weiß sie nicht, sie hat sich geistig völlig aus Zeit und Wirklichkeit herausgelöst. Der sonst meist nüchterne, eher essayistische Stil von Monika Maron ist hier einer einfühlsamen Prosa gewichen, die in einfachster Diktion eindringlich und stimmig von den Ungeheuerlichkeiten der Liebe berichtet, von den inneren Tumulten, die sie auslöst, von der Liebe als Fluch. Eine Handlung ist kaum vorhanden, berichtet wird vielmehr über einen Zustand, den man in seiner Unbedingtheit als Liebeswahn bezeichnen muss. Die Ich-Erzählerin begreift den Sinn ihres Lebens im Nachhinein, aus dem Abstand von Jahrzehnten, einzig und allein im Einssein mit ihren Geliebten.

Der Epochen-Wandel, das Scheitern der DDR, wird in diesem introvertiert angelegten Roman zwar angedeutet, spielt aber nicht wirklich eine Rolle, liefert vor allem auch keine nachvollziehbare Begründung für das Geschehen. Vielmehr wird hier der Frage nachgegangen, was es bedeutet, im Alter zu begehren und, aus Frauensicht, dem Verfall der körperlichen Attraktivität unterworfen zu sein. Es sind zudem Reflexionen über das Alleinsein im Alter, über das Vergessen und das Verdrängen. «Ohne Liebe kein Leben» ist ja Penthesileas Maxime, ein Naturereignis mithin!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by S. Fischer

Unterwelt

Ein Kanon-Roman

Mit dem berühmten «Schuss, der um die ganze Welt zu hören war» beginnt das Opus magnum des US-amerikanischen Schriftstellers Don DeLillo, der mit seinem umfangreichen Œuvre alle Jahre wieder auch als Kandidat für den Nobelpreis im Gespräch ist. Auf fast tausend Seiten breitet dieser üppige, postmoderne Roman mit dem Titel «Unterwelt» ein fulminantes Panorama der amerikanischen Gesellschaft vor dem Leser aus. Vom 3. Oktober 1951, dem Datum des legendären Baseballspiels zwischen den Giants und den Dodgers, in dem dieser gewaltige Schlag in die Zuschauerränge hinein das Spiel überraschend entschieden hatte, bis hin zum Jahre 1992 reicht die Erzählzeit dieses in epischer Breite erzählten Gesellschaftsromans, der die Spezifikationen einer «Great American Novel» sogar übertraf. Denn Don DeLillo hat das amerikanische Leben hier nicht nur wirklichkeitstreu und einfühlsam dargestellt entsprechend der einschlägigen Definition von William De Forrest, er hat es in popkultureller Weise narrativ ausgeweitet in Richtung Hyperrealismus.

Der historische Ball dient als Leitmotiv, er taucht bis zum Schluss immer wieder mal auf in diesem vielstimmigen Erzählreigen und landet auf verschlungenen Wegen am Ende bei Nick Shay, einem der Protagonisten. Zudem stellt der Ball assoziativ die Brücke dar zu einem weiteren Grundmotiv, denn der Kern einer Atombombe hat den gleichen Durchmesser wie der Ball. Aber dass einen Tag nach dem berühmten Ballschlag von der UDSSR ein Atombombentest durchgeführt wurde, bleibt da fast schon eine Marginalie. «Ich glaube, ich habe versucht, die Unterwelt des Kalten Krieges zu erzählen» hat der Autor angemerkt. Ein weiteres, sich wiederholendes Motiv ist der Müll, Nick ist Manager eines Unternehmens der Müllverwertung. Die Straßen der Bronx wiederum, dem berüchtigten Stadtteil von New York, in dem der italienischstämmige Autor aufgewachsen ist, ersticken regelrecht im allgegenwärtigen Abfall, der dort scheinbar niemandem auffällt, geschweige denn stört. Nicks ehemalige Geliebte, die Künstlerin Klara Sax, bemalt Militärschrott, ausgemusterte und in der Wüste abgestellte B-52 Bomber der US Air Force, und auch die Probleme des Atommülls werden in einem Kapitel thematisiert, in Kasachstan besichtigt Nick eine Anlage zur Vernichtung radioaktiven Abfalls.

Das Prekariat nimmt einen breiten Raum ein in diesem Gesellschafts-Panorama, zu dessen handelnden Figuren Penner, Drogendealer, Nutten, Graffitisprayer oder Autodiebe zählen, aber auch ein ganzes Panoptikum von Personen aus dem Mittelstand. Sogar einige Prominente aus Politik und Showbusiness geben ein kurzes Gastspiel wie der FBI-Direktor John Edgar Hoover oder der berühmte Filmschauspieler Frank Sinatra mit seinen unrühmlichen Mafiakontakten. Der in sechs Teile mit jeweils mehreren Unterkapiteln sowie einem Prolog und Epilog gegliederte Roman vom American Way of Life lässt kaum eine soziologische Thematik aus, Ehe, Fremdgehen, Klosterleben, skrupelloser Kapitalismus, Konsumfetischismus, Medienterror, Pubertätsnöte, Vater-Sohn-Problematik und anderes mehr. Immer wieder mal wird das traumatische Bild vom ohne Abschied spurlos verschwundenen Vater in dem prägnanten Satz zynisch heraufbeschworen: «Vater ging Zigaretten holen». Geradezu bedrückend ist auch die Passage, in der sich ein bekannter Komiker peinlich unbedarft über die Kubakrise auslässt.

Don DeLillo verknüpft die vielen Motive seiner Amerika-Saga aus der Epoche des Kalten Krieges kunstvoll miteinander, er leuchtet in einer journalistisch knappen Sprache mit realitätsnahen Dialogen deren unzählige Facetten aus, wobei sich auktoriale und personale Erzählperspektive abwechseln. Das liest sich angenehm leicht, ist unterhaltend und kontemplativ anregend, wobei er weitsichtig den Cyberspace mit einbezieht, die neue Welt künstlicher Intelligenz, die er ebenso skeptisch wie ironisch vorausdeutet. Die Lektüre dieses dem literarischen Kanon zugerechneten Romans lohnt sich also in jeder Hinsicht.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Liebe als Therapie

Ehe mit Liebe als Therapie

Charlotte, Steve und die Psychotherapeutin Sandy treffen sich jede Woche zum selben Termin: der Eheberatung. Eigentlich sind die beiden schon getrennt und führen auch andere Beziehungen, aber scheiden wollen sie sich dennoch (noch) nicht lassen. Sandy widdert gerade darin eine Chance für die Ehe der beiden. Auch wenn sie nur bei 1:1000 steht.

Liebe ist die beste Therapie

In der Praxis von Sandy stehen immer vier Stühle. Einer für die Frau, einer für den Mann sowie einer für die Paartherapeutin mit unorthodoxen Methoden. Denn den vierten Stuhl hat sie reserviert, der bleibt leer, er steht für die Ehe, die die beiden aufgebaut haben. In den Gesprächen geht es natürlich auch immer wieder um die gemeinsamen Kinder und wer sie schlussendlich bekommt, sie dienen beiden Ehepartnern als Druckmittel gegenüber dem jeweils anderen. Aber da Steve für die Trennung verantwortlich ist, weil er Charlotte während der Ehe betrog, hat er argumentativ immer das Nachsehen, auch wenn er sich redlich bemüht, ein besserer Vater zu sein. Als Ehemann ist er ja gescheitert. Plötzlich will er die Kinder nämlich nicht mehr nur jedes zweite Wochenende sondern die ganze Zeit. „Eine Trennung ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass man wieder zusammenkommt“, meint die Therapeutin. Aber hat sie überhaupt noch Hoffnung?

Chance 1:1000

In witzigen Dialogen wird eine Eheleben nacherzählt, das seine Höhen und Tiefen hatte und nun zu einer einfachen Beziehung wurde. Denn eine Beziehung ist es nach wie vor, das, was Charlotte und Steve verbindet. Auch wenn sie das nicht glauben wollen. Es gehe nicht um Rechte und es gehe nicht um Regeln, so Sandy, sondern darum, seine Gefühle zu zeigen und nicht zu verstecken. „Der Trick ist, das Muster zu erkennen“, sagt Sandy bei einer Einzelsitzung, denn auch das ist möglich und fördert den Erfolg der Paarsitzung. Die Alternative zu einer nicht funktionierenden Ehe ist eben nicht „Die große Liebe“, die bekommt man ohnehin nicht. Aber vielleicht sollte man einfach öfter mit seiner „Ehe“ reden. Sie sitzt ja ohnehin im Stuhl vis a vis.

Unterhaltsame Prosa in pointierte Dialoge gebettet. Ein Buch für alle Therapiefans und solche die es noch werden wollen.

John Jay Osborn
Liebe ist die beste Therapie
Aus dem Amerikanischen von Jenny Merling
2018, Hardcover, 288 Seiten
ISBN: 978-3-257-60922-6
€ (D) 18.99 / sFr 24.00* / € (A) 18.99
Diogenes Verlag


Genre: Roman, Therapie
Illustrated by Diogenes Zürich

Selbstbild mit russischem Klavier

Elegischer Musikerroman

Wolf Wondratschek, erfolgreicher Lyriker und Enfant terrible der deutschen Literaturszene, hat mit seinem neuen Roman «Selbstbild mit russischem Klavier» eine Hommage an die Musik vorgelegt, wie sie eindrücklicher kaum je geschrieben wurde. Sein Image als Störenfried rührt einerseits her von seiner radikalen Opposition herkömmlicher Literatur gegenüber, andererseits von seiner teilweise praktizierten Abkehr von der gängigen Vermarktung mittels Verlagen. Manche seiner Gedichte nämlich, aber auch den kompletten Roman «Selbstbildnis mit Ratte» von 2014, hat er als Manuskripte an Sammler verkauft, sie befinden sich als nicht zur Veröffentlichung bestimmt in Privatbesitz, nur die Eigentümer können sie lesen. Seinen Kultstatus hatte Wondratschek schon mit seinem Debüt von 1969 erworben, einem Prosaband mit dem originellen Titel «Früher begann der Tag mit einer Schusswunde». Wie man sieht ein kämpferischer Autor!

So ganz anders mutet da der vorliegende neue Roman an, der, wie es sich für einen Literaten gehört, in einem Wiener Kaffeehaus angesiedelt ist. Dort trifft der namenlos bleibende Poet und Ich-Erzähler zufällig einen alten russischen Pianisten namens Suvorin, dessen einst glanzvolle Karriere längst beendet ist. Was der verwitwete greise Mann zu erzählen hat aus seinem bewegten Leben in der Welt der Musik, das gleicht einem künstlerischen Testament und fasziniert den Schriftsteller zunehmend, er hört ihm gebannt zu. Immer wieder treffen sich die Beiden am gleichen Ort, das «La Gondola» ist ihr Stammlokal geworden. Außer von sich selbst erzählt Suvorin von bekannten Musikern, denen er begegnet ist, eine längere Passage ist dem Cellisten Heinrich Schiff gewidmet, aber man begegnet auch der Pianistin Elisabeth Leonskaja. Suvorin macht in seiner Innensicht aus der Welt der Musik zum Beispiel feinsinnig auf den kleinen Unterschied zwischen Klavierspieler und Pianist aufmerksam, und über wichtige Komponisten der Klaviermusik äußert er sich apodiktisch: «Ich kann mir keinen Pianisten vorstellen, der Bach aufgibt. Er gehört zur Hygiene unseres Berufs, also unverzichtbar. Das ist wie Zähneputzen. Es ist Gymnastik für die Ohren».

Der Roman ist unübersehbar autofiktional, mit Heinrich Schiff zum Beispiel war Wolf Wondratschek selbst eng befreundet, vieles, was wir da lesen, ist real. Über die üppige Bibliothek des unduldsamen Cellisten, die massenhafte Ansammlung von Büchern überall in dessen Wohnung, lässt er seinen, im Roman mit Schiff ebenfalls befreundeten Protagonisten sagen: «Den Letzten, den er aus der Wohnung geschmissen hat, war einer, der wissen wollte, ob er sie alle gelesen hat. Ein Dummkopf.» Und setzt noch hinzu: «Es gibt nirgendwo so viele Dummköpfe wie unter den Liebhabern der Musik». Dazu passt auch der Abscheu seines Helden vor Applaus, für Suvorin ist ein Konzert wie eine Messe, und in der Kirche werde ja auch nicht geklatscht. Neben solchen Reflexionen über die Musik findet man in dieser kontemplativen Prosa auch viele Gedanken über Liebe, über die Zumutungen des Alterns, den Verlust der Würde des Kranken, über das Sterben und den Tod.

All das ist zweifellos recht informativ, auch wenn man sehr aufmerksam sein muss beim Lesen. Denn nicht immer gelingt es in diesem monologischen Text, den Ich-Erzähler vom erzählenden Pianisten und diesen wiederum von Heinrich Schiff zu unterscheiden. Das «Ich» bleibt jedenfalls meistens nebulös bei den vielen, unvermittelten Perspektivwechseln, die es zu bewältigen gilt, wozu das Fehlen von Anführungszeichen dann ergänzend noch eine weitere, nicht unwesentliche Hürde aufbaut. Dieser elegische Musikerroman ist ebenso bereichernd wie unterhaltend, obwohl er weitgehend ohne einen Plot auskommt, auf den diese Bezeichnung wirklich zutreffen würde. Es wird also ein findiger, mitdenkender Leser vorausgesetzt bei der meist geistreichen Plauderei im Kaffeehaus, die sich stilistisch übrigens in auffallend kurzen Sätzen artikuliert, leicht lesbar mithin.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Ullstein Berlin