Einer von vielen

Alles hängt mit allem zusammen

Wer das Buch von Norbert Zähringer mit dem Titel «Einer von vielen» aufschlägt, den empfängt auf dem Vorsatzblatt eine organigramm-artige Handskizze mit dem Namen Edison Frimm im Zentrum eines großen Netzes mit dutzenden von Namen. Damit wird grafisch das dem Plot dieses komplexen Romans zugrunde liegende «Kleine-Welt-Phänomen» der sozialen Vernetzung von Stanley Milgram verdeutlicht, nach dem alle Menschen über eine Kette von durchschnittlich nur sechs Zwischenkontakten miteinander verbunden sind. Und das gilt natürlich unter dem Aspekt von Vorsehung und Zufall auch für die vielen Figuren dieses narrativ äußerst virtuos konzipierten Romans mit seiner Schicksalsthematik.

In einer Art Rahmenhandlung wird im ersten und letzten der 56 Kapitel des siebenteiligen Romans vom Suizidversuch des achtzigjährigen, gerade aus dem Gefängnis entlassenen Edison Frimm an einem Dezembermorgen des Jahres 2003 erzählt. Mit einem atemberaubenden Konstrukt von Rückblenden und Zeitsprüngen in diversen Handlungssträngen entwickelt der Autor seine actionreiche Geschichte. Sie beginnt mit dem Großen Kantō-Erdbeben vom 1. September 1923, als in Tokio ein junger Polizist seine Eltern verliert, während gleichzeitig in Berlin Siegfried Heinze als Sohn eines strammen Nazis das Licht der Welt erblickt und in der Mojave-Wüste Kaliforniens die Zentralfigur ‹Eddi› Frimm geboren wird. Dessen abwechslungsreiches Leben als Komparse während der Stummfilmzeit in Hollywood und über die Zeit des Zweiten Weltkriegs hinweg bildet den roten Faden des Romans. Parallel verlaufen, oft lose miteinander verknüpft und abwechselnd erzählt, eine Fülle von kleinen Geschichten, Anekdoten und Szenen mit all den anderen Figuren, zu denen ‹Siggi› Heinze ebenso gehört wie der nazifeindliche Kriminalkommissar Mauser, der schwule Filmschauspieler und Pilot Scott LaMont, der japanische Expolizist und zen-buddhistische Gärtner Koga, ferner der idealistische Sektengründer Dan Schmidt mit seiner Wüsten-Gemeinde Josua Ridge, in deren Gemeinschaftsküche ‹Eddi› zur Welt kommt. Als prominente Figur ist ein Ölmillionär und Filmmogul eingebunden, für den Howard Hughes Pate gestanden hat, aber auch Ronald Reagan und Willy Brand haben ihr Cameo. Politisch ist die Handlung insbesondere durch den Angriff der Japaner auf Pearl Harbor, den Bombenkrieg der Alliierten, die Invasion in der Normandie, das dramatische Kriegsende in Berlin und die turbulente Nachwendezeit geprägt.

Die oft lediglich assoziative Verknüpfung der diversen Erzählfäden dieses komplexen Romans über die Ironie der Geschichte erfordert in Verbindung mit dem riesigen Figurenensemble die volle Aufmerksamkeit des Lesers. Dabei wird dieses achtzig Jahre umfassende Panorama der Geschichte auch noch aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt. Die sieben Romanteile werden jeweils mit einem Kapitel eingeleitet, in dem ein Ich-Erzähler, von dem man nicht viel mehr erfährt, als dass er bei einer Berliner Wach- und Schließgesellschaft arbeitet, im Jahr 2003 von Geschehnissen aus seiner Clique berichtet, was eine reizvolle zweite Perspektive bildet.

Mit seinem Sprachwitz erinnert der temporeiche, unterhaltsame Roman an den journalistisch knappen, manchmal lakonischen Erzählstil einiger amerikanischer Autoren. Wobei die überbordende Fülle des Stoffs es mit sich bringt, dass vieles nur angerissen werden kann, tiefer ausgeleuchtet hätten sonst auch doppelt so viele Buchseiten kaum ausgereicht. ‹Eddi› und ‹Siggi› bilden den Kontrapunkt des Plots, sie sind in einer Szene am Kriegsende als Feinde schicksalhaft nur wenige Meter voneinander entfernt, ohne jedoch aufeinander zu treffen, – eine raffiniert angelegte Schlusspointe. Und so ist denn dieser ebenso amüsante wie spannende Roman ein süffig zu lesender Pageturner, originell erdacht und viel Obskures erzählend. «Was macht die Zeit mit uns» heißt die Kernfrage dieses Romans, und «Alles hängt mit allem zusammen» lautet hier eine der möglichen Antworten.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Aus und davon

Überdeterminiert

Auch in ihrem vierten Roman mit dem Titel «Aus und davon» greift Anna Katharina Hahn thematisch wieder auf die Familie zurück. Aus einer strikt feministischen Warte heraus umfasst ihr erzählerischer Bogen vier Generationen von Frauen und reicht von der Jetztzeit bis zur Weltwirtschaftskrise zurück. In parallelen Handlungssträngen entwickelt sie dabei ein desolates Bild schwäbischer Hausfrauen im Kampf mit den widrigen Umständen, zu denen auch der leidige Generationenkonflikt ihrer Protagonistinnen einiges beiträgt.

Im Mittelpunkt des Plots steht Cornelia, eine von ihrem griechischen Mann verlassene Stuttgarter Physiotherapeutin mit zwei Kindern, die restlos erschöpft eine dringend benötigte Auszeit nimmt und kurz entschlossen auf den Spuren der Großmutter für vier Wochen in die USA fliegt, bereits der Buchtitel deutet diesen zentralen Handlungsfaden an. Ihre ebenfalls gerade erst von ihrem lebenslustigen, katholischen Mann verlassene, evangelikale Mutter Elisabeth merkt schnell, dass sie als Oma mit der Aufgabe überfordert ist, sich derweil um ihre Enkel Stella und den kleinen Bruno zu kümmern. Das pubertierende Mädchen treibt sich mit Jungen herum und lässt sich nichts mehr sagen, der adipöse Bub wird wegen seiner Dickleibigkeit dauernd von den anderen Schülern bös gehänselt und schwänzt die Schule, um dem zu entgehen. Hinzu kommt der chaotische Haushalt ihrer Tochter, in den Elisabeth mit Mühe ein wenig von jenen schwäbischen Hausfrauen-Standards einzubringen versucht, die sie für unverzichtbar hält. Nun ist Eskapismus in Zeiten ständig eingeschalteter Smartphones schwierig zu realisieren, die Familie bleibt in regem Austausch, die Probleme der Oma sind für Cornelia rund um die Uhr präsent. Und so tritt sie resigniert nach kurzem Aufenthalt in New York, einem ernüchternden, eher frustrierenden Besuch der Verwandten in Pennsylvania und abschließendem One Night Stand, den sie sich ganz bewusst mal gönnt, den vorzeitigen Rückflug nach Stuttgart an.

In 23 Kapiteln wird aus unterschiedlichen Perspektiven abwechselnd auktorial vom Geschehen in Stuttgart erzählt, während Cornelia als Ich-Erzählerin aus den USA berichtet. Eine märchenhafte dritte Perspektive benutzt die Autorin für die Geschichte der pietistischen Urgroßmutter, die aus der Sicht vom Linsenmaier erzählt ist. So heißt eine selbst genähte Puppe, heißgeliebtes Maskottchen der als junges Mädchen während der Weltwirtschaftskrise zu Verwandten in die USA geschickten, pietistischen Mutter von Elisabeth, die ihre hungernde schwäbische Familie von dort aus finanziell unterstützt hat. Mit Bleistift schreibt Elisabeth, oft nachts, als «Selbstberuhigungsversuch», die Linsenmaier-Geschichte für ihren Enkel Bruno auf, «Zwei Schulhefte voll sind es geworden», heißt es am Ende, selbst Stella ist beeindruckt.

Besonders am Anfang liest sich diese abgründige Familiengeschichte ziemlich quälend, die von äußeren und inneren Zwängen geprägten Figuren stehen sich gegenseitig im Weg. Wobei das heutige, total konsumbestimmte Alltagsleben, die höchst ungesunde Ernährung, für die Bruno den lebenden Beweis darstellt, sowie die alle Generationen einschließende, in Sucht ausgeartete Smartphone-Hörigkeit einiges Unbehagen beim Lesen aufkommen lässt. Angereichert ist dieser Roman mit einer Fülle von Motiven, zu denen ein Taubenschlag ebenso gehört wie der Pietismus schwäbischer Auswanderer, ein Ausflug zu den Amischen Pennsylvanias, Fastfood und Convenience-Produkte, aufopfernde Krankenpflege oder der bei deutschen Pflegeeltern lebende, syrische Flüchtling. Obwohl mit schwarzem Humor erzählt, wirkt dieses Panorama moderner Lebenswirklichkeit eher abstoßend als amüsant. Der Plot ist deutlich überdeterminiert, weniger Motive mit psychologisch tiefer ausgeleuchteten Figuren wäre literarisch mehr gewesen. Diese Geschichte vom glanzlosen Leben zeigt ungeschminkt eine unerfreuliche Gegenwart, wie es sie ohne Zweifel so auch tatsächlich gibt, – nicht nur in Stuttgart!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Was davor geschah

Moderner Jahrmarkt der Eitelkeiten

Im breitgefächerten Œuvre des mit dem Büchnerpreis ausgezeichneten Schriftstellers Martin Mosebach wird bei den Romanen häufig das Scheitern thematisiert, so auch in «Was davor geschah». Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung nannte den Autor 2007 in ihrer Laudatio nicht nur einen «genialen Formspieler», er verbinde zudem «stilistische Pracht mit urwüchsiger Erzählfreude». Ein derart überschwängliches Lob löst in der Fachwelt regelmäßig erbitterte, vom Neid befeuerte Debatten aus, von «affektierten Vokabeln» und «verzopften Phrasen aus der bürgerlichen Mottenkiste» konnte man da lesen. Nach der Lektüre des vorliegenden Romans wird man diesem Verdikt vehement widersprechen, vielleicht auch gerade deshalb, weil der Autor gottlob mit seinen intellektuell hochstehenden Romanen unbeirrt nichts bestsellertauglich Profanes abliefert!

Es gibt wohl kaum eine explosivere Frage in einer aufkeimenden Liebesbeziehung als die nach der Zeit davor, nach dem also, «was davor geschah». Dieser drängenden Frage seiner Liebsten kommt der namenlose Ich-Erzähler, ein 35jähriger Bankkaufmann, der vor sechs Monaten nach Frankfurt gezogen ist, gerne nach, seine Erlebnisse in der Stadt am Main bilden letztendlich den alleinigen Erzählstoff dieses Gesellschaftsromans. Er lernt gleich zu Beginn den Sohn der ebenso kultivierten wie wohlhabenden Familie Hopsten kennen, der ihn zur nächsten der allsonntäglich in ihrer pompösen Villa stattfindenden Party einlädt. Prompt verliebt er sich hoffungslos in die schöne Phoebe, die Schwester seines Freundes. Er lernt zudem einen illustren Kreis von Stammgästen kennen, die zusammen mit dem prominenten Ehepaar Bernward und Rosemarie Hopsten das Figuren-Ensemble dieses Romans bilden. Dazu zählen insbesondere der zuverlässig jede Konversation in Gang haltende Schwadroneur und hochrangige Ex-Politiker Schmidt-Flex mit Frau sowie dessen dröger Sohn und seine attraktive, weinselige Frau Silvi. Diesen inneren Kern der Partygesellschaft ergänzen Helga, Freundin und Beraterin der Hausherrin in stilistischen und ästhetischen Fragen, sowie der ebenso zwielichtige wie charismatische Geschäftsmann und Schürzenjäger Joseph Salam.

Genüsslich erzählend breitet Martin Mosebach das vielfach verknüpfte Beziehungsgeflecht dieser Figuren in einer geradezu süffigen Sprache vor dem Leser aus. Von der ersten Seite an erinnert er damit stilistisch an Thomas Mann oder Lew Tolstoi, nur dass sein Sittenbild einer bourgeoisen Gesellschaft sich auf einen deutlich kleineren, überschaubaren Kreis von Figuren stützt – und mit wesentlich weniger Seiten auskommt! Es gehört zur narrativen Kunst des Autors, dass er dem Leser seine lebensechten Protagonisten menschlich derart nahe zu bringen vermag, dass man jeden von ihnen zu kennen glaubt in seiner realistisch erscheinenden Charakterzeichnung, – und niemand von ihnen wirkt unsympathisch oder gar abstoßend. Was den Leser da so sinnlich mitreißt in diesem Vexierbild einer gehobenen Gesellschaft unserer Tage, das ist vor allem ein kontemplatives Vergnügen, bei dem scheinbar bedeutungslose Szenen wie eine nächtliche Schlittenfahrt der ganzen Partytruppe im Taunus oder die akribische Federputz-Prozedur eines weißen Kakadus äußerst subtil und anschaulich geschildert werden.

Derart wortmächtig und elegant schreibt niemand anderes in der gegenwärtigen deutschen Literatur. In seinem – bis auf die Rahmenhandlung – klug konstruierten Plot entlarvt der Autor moralisch streng, aber auch unverkennbar ironisch den Aberwitz in seinem ‹Jahrmarkt der Eitelkeiten› moderner Prägung mit seinen amourösen Verstrickungen. Der scheherazadeartige Handlungsrahmen allerdings mit seinen gelegentlich eingestreuten, typografisch abgesetzten, kurzen und irrealen Dialogen ist wenig überzeugend, und auch der unbestimmt zwischen personaler und auktorialer Warte changierende, konturlose Ich-Erzähler ist literarisch ein kleiner Wermutstropfen in dieser ansonsten makellosen Erzählung.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Das amerikanische Hospital

Ethische Versuchsanordnung

Der Roman «Das amerikanische Hospital» von Michael Kleeberg stellt geradezu eine ethische Versuchsanordnung dar. Der Autor verknüpft in seiner ambitionierten Poetik die Conditio humana mit der hoffnungslosen Tragik des Menschseins, wie er es mal in einem Gespräch erläutert hat. Es sei die Suche nach «Gesetzmäßigkeiten im Individuellen», die es dem Epiker möglich mache, seinem Narrativ den Anschein des Möglichen zu geben. Der Buchtitel bezieht sich auf das hoch angesehene, durch Spenden finanzierte ‹Hôpital américain de Paris›, das im Roman als prominenter Handlungsort einen erzählerischen Fixpunkt bildet.

Vor den Augen der dreißigjährigen Hélène bricht im Korridor dieser Klinik unkontrolliert zuckend ein Mann mittleren Alters zusammen, um den sie sich sofort bemüht, ehe Helfer herbeieilen und ihn wegführen. Die glücklich verheiratete, junge Frau versucht, mit Hilfe der Spezialisten für künstliche Befruchtung in diesem Hospital endlich ihren Kinderwunsch zu verwirklichen, was sich aber als langwierige und äußerst schwierige Prozedur erweist. Bei der nächsten Routineuntersuchung trifft sie wieder auf diesen Mann. Er bedankt sich für ihre Hilfe, sie kommen ins Gespräch, beide lieben Lyrik und tauschen sich erfreut darüber aus. David ist ein amerikanischer Offizier, der in der Botschaft arbeitet und wegen posttraumatischer Belastungsstörungen aus dem Irakkrieg in Behandlung ist. In ihren Begegnungen, die sich schließlich über fünf Jahre hinweg wiederholen, offenbaren sie sich ihre Probleme. Das führt anfangs zu heftigen Wortwechseln zwischen dem amerikanischen Captain und der französischen Pazifistin, denn er erzählt immer wieder von den Gräueln des Krieges. Die kann er seelisch nicht verarbeiten, während sie von ihrem dornenreichen Weg zum Kinderglück berichtet.

Als Parabel auf die Körper-Seele-Problematik des Menschen werden hier zwei Schicksale geschickt miteinander verknüpft. Dabei werfen insbesondere Davids in ausgedehnten Rückblenden erzählte Kriegserlebnisse immer wieder Fragen nach ethischer Verantwortung in derart extremen Ausnahme-Situationen auf. Aber auch der beharrlich verfolgte, egoistische Kinderwunsch von Hélène wird nach diversen vergeblichen Versuchen letztendlich als Krieg gegen den eigenen Körper moralisch immer fragwürdiger. Michael Kleeberg schildert all diese Seelenpein in anschaulichen Bildern, ohne den falschen Ehrgeiz zu entwickeln, sie bis in ihre innersten Ursprünge aufdröseln zu wollen. Neben der Klinik steht besonders Paris als Ort des Geschehens im Fokus des Autors, er benutzt sprachlich gekonnt anschauliche Bilder der Metropole als Kulisse für viele seiner Szenen. Wobei insbesondere der Generalstreik am Schluss eine starke Wirkung erzeugt als allegorische Anspielung auf das Chaos, das seelisch auch in den beiden Protagonisten herrscht. Auffallend ist die Häufung von ornithologischen Einschüben, die zur Thematik allerdings rein gar nichts beitragen. Sie eskalieren in einem Vogeldrama, als eine Schar Ibisse auf einem riesigen Ölsee landen, – eine von den Irakern bei ihrer Flucht vor den US-Truppen verursachte und für die Vögel verhängnisvolle Umweltkatastrophe.

Wie ein Deus ex machina taucht im Schlusskapitel der bereits nach zwei Buchseiten spurlos verschwundene, namenlose Ich-Erzähler als Hélènes Mann plötzlich wieder auf. Er erzählt nun in einer raffinierten narrativen Volte, was aus den beiden Protagonisten schlussendlich geworden ist. Und es ist erfreulicherweise nicht das, was so mancher Leser hypothetisch hinein geheimnissen mag, alles bleibt nämlich völlig kitschfrei. Die unübersehbare Ambivalenz zwischen einer teilweise deutlich überfrachteten, vom Autor eitel vorgetragenen Detailfülle bei Paris-Spaziergängen oder In-vitro-Fertilisation einerseits und der raffinierten Konstruktion des Plots mit seiner brillanten sprachlichen Umsetzung andererseits mindert den Lesegenuss dieses vielschichtigen psychologischen Romans leider ein wenig.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by DVA München

Young Donald Duck: Immer ich! Vom Pech verfolgt – Ein Comic-Roman

Fotogalerie

Schon der 12-jährigeDonald ist vom Pech verfolgt: Der Hof seiner Großmutter, und damit sein Zuhause, soll verkauft werden. Donald könnte den Hof retten, wenn er an der Elite-Schule PRIMA als Schüler aufgenommen werden würde. Aber leider ist Donald nicht gerade ein guter Schüler.

Seine Freundin Dolly beschließt ihm zu helfen und schickt heimlich eine Bewerbung anstelle Donalds an die PRIMA. Und tatsächlich: Donald wird als Schüler aufgenommen – allerdings nur wegen eines Missverständnisses. Er soll angeblich Meister von “Lagoo” sein. Aber niemand weiß, was das eigentlich ist, schon gar nicht Donald.

Damit er an der Schule bleiben und damit Omas Hof retten kann, überlegen er und die anderen Schüler, den Begriff “Lagoo” mit Inhalt zu füllen und veranstalten den ersten Lagoo-Wettbewerb der Geschichte.

“Lustiges Taschenbuch Lesespaß” heißt das neue Experiment von Ehapa, welches Comic und Lesebuch miteinander kombinieren und so mehr Spaß am Lesen erzeugen will. Um es vorweg zu sagen: Dieses Crossover ist durchaus gelungen.

Zum einen werden die beiden Genres gut miteinander verzahnt, was sich schon im Textbild widerspiegelt. Erzählertext, Panels, Geräusche und unterschiedliche Textfarben für die verschiedenen Figuren gehen geschmeidig ineinander über. Betonungen im Text werden über Schriftgröße und Großbuchstaben geregelt. Zum anderen interagiert der fiktive Erzähler mit der Leserin /dem Leser und den Figuren, sodass auch hier Grenzen aufgelöst werden.

Das alles erzeugt ein lebendiges Leseerlebnis, das durch den Humor des fiktiven Erzählers noch verstärkt wird. “Lustig” und “Lesespaß” können also selbstbewusst die Brust herausstrecken.

Natürlich wird auch mit den Farben gespielt und so Stimmung erzeugt. Kater Karlo und Hugo kommen in gedeckten, dunklen Farben daherher; auch gefährliche Situationen werden mit dunklen Farben unterstützt. Der (blut-)rote Pulli Donalds steht für seine impulsive und lebendige Seite, ebenso seine in rot gedruckten Wortbeiträge. Wobei leider auch hier das Rollenklischee zuschlägt: Donald trägt eine (marine-)blaue Hose, die berockten Mädels Minnie, Dolly und Daisy trifft man v.a. in Lila und Rosa an.

Dazu ein erhellendes Zitat aus dem Lady’s Home Journal von 1918: “Die allgemein akzeptierte Regel ist Rosa für Jungen und Blau für Mädchen. Der Grund dafür ist, dass Rosa als eine entschlossenere und kräftigere Farbe besser zu Jungen passt, während Blau, weil es delikater und anmutiger ist, bei Mädchen hübscher aussieht.”

Der Hintergrund: Rosa galt lange Zeit als das kleine Rot. Und Rot wurde mit Blut, Krieg, dem Kriegsgott Mars assoziiert und war damit eine männliche Farbe. Die neue Farbe Blau für das männliche Geschlecht konnte sich erst nach der Vorbereitung durch die marineblaue Kleidung, die Blue Jeans und die blaue Arbeitskleidung in den 1940ern durchsetzen. Vorher galt Hellblau als Mädchenfarbe und Blau wurde als Sinnbild von Ganzheit und Zyklus des ewig wiederkehrenden Kreislauf des Seins gesehen, sowie als Suche  nach der Geborgenheit im Mutterschoß und als Farbe des Matriarchats.

Ähnliches gilt für Rock, Hose, Kleid und Stöckelschuhe, die allesamt bei weitem nicht so geschlechtszementiert waren, wie man es uns heute weismachen will. Dafür steht auch die seit den 1990ern (wieder) aufkommende Männerrockbewegung. Wer sich darüber schlau machen möchte: https://dress2kilt.eu/ferdi.htm. Auch mein kleiner Sohn ärgert sich darüber, dass Mädchen unkritisiert Röcke und Kleider tragen dürfen und er nicht. Die patriarchalisch-einseitigen Klischees wenden sich also auch gegen die XY-Chromosomträger.

Damit wären wir bei einer allgemeinen Kritik an Comics angekommen: Gerade Comics, die von Männern gezeichnet und getextet werden, transporierten immer noch unhinterfragt die unrühmlichen und einengenden, oft genug diskriminierenden Rollenklischees. Da macht auch dieser Comic-Roman keine Ausnahme. Zeit, dass sich was ändert. Schließlich sind wir schon im 21. Jahrhundert angekommen.

Fazit: Gekonntes humorvolles Crossover von Comic und Lesebuch, das auch für ältere LeserInnen durchaus lesenswert ist. Leider werden aber auch hier – wie in der Comic-Branche bisher großteils üblich – Rollenklischees unkritisch übernommen.


Genre: Comic, Roman
Illustrated by Egmont Ehapa

Die langen Abende

Wer bin ich gewesen?

Der Name ‹Olive Kitteridge› ist seit der Verleihung des Pulitzer Preises für den gleichnamigen Roman von Elisabeth Strout bekannt, nun hat sie zwölf Jahre später mit «Olive, Again» eine Fortsetzung geschrieben, die kürzlich unter dem Titel «Die langen Abende» auch auf Deutsch erschienen ist. Ein Blick in ihre Vita erklärt die Thematik ihrer Geschichte, die amerikanische Autorin hat neben Jura auch Gerontologie studiert und ist folglich bestens vertraut mit der Misere des alternden Menschen. Wie der deutsche Titel schon andeutet, geht es um Verlorenheit und Einsamkeit in diesem Roman, eine innere Leere, von der auch die toughe Protagonistin im Alter nicht verschont bleibt.

Die Heldin ist pensionierte Mathematik-Lehrerin in einer kleinen Küstenstadt des US-Bundesstaats Maine, sie ist für ihre kratzbürstige Art berüchtigt. Nachdem ihr Mann gestorben ist, bahnt sich zwischen ihr und einem ehemaligen Harvard-Professor eine Beziehung an. Beide sind sehr einsam, ihre Kinder sind ihnen fremd geworden, sie haben kaum noch Kontakt zu ihnen. In Rückblenden erzählt die Autorin von den Vorbedingungen dieser Entfremdung, deren Ursache oft auch in ihnen selbst zu finden ist. Und zwar in ihrem wenig empathischen Verhalten sowohl den eigenen Kindern gegenüber, für das es im Nachhinein kaum eine Erklärung gibt, ebenso aber auch zu den Enkeln. Sie heiraten und erleben ziemlich überraschend und von Olive unerwartet doch noch eine zufriedenstellende, fast glücklich zu nennende Zeit miteinander. Zusätzlich werden anekdotisch diverse andere Figuren eingebunden, die alle nur lose mit der zynischen, geradezu verbiesterten alten Frau verbunden sind. Die schließlich durch alle Plagen des Alterns hindurch muss, als 83Jährige aber noch munter Auto fährt, auch wenn sie schon mal das Brems- mit dem Gaspedal verwechselt.

Elisabeth Strout erzählt ihre beklemmende Geschichte aus einer resignativen Sicht und in einer nüchternen, auf das Nötigste reduzierten, manchmal etwas holperigen Sprache. Zu den wenigen Lichtblicken gehören die in der Biestigkeit ihrer Heroine liegenden, komischen Situationen, aber auch deren verblüffende Schlagfertigkeit gibt öfter mal Anlass zum Schmunzeln. Als Olive am Pick-up ihrer Putzfrau einen Aufkleber «mit dem Namen dieses orangehaarigen Kotzbrockens, der jetzt Präsident war» entdeckt, «hätte sie fast den nächsten Herzinfarkt bekommen». Schließlich stellt sich bei ihr im Verlauf der Erzählung aber ein gewisses Maß an Altersmilde ein, ihre Kampfeslust lässt jedenfalls deutlich nach, und Vieles, was sie sonst in Rage gebracht hätte, lässt sie schon mal unkommentiert einfach so durchgehen. Ihre zunehmenden Selbstzweifel machen sie am Ende fast sympathisch, und so notiert sie als Schlusssatz ihrer Erinnerungen, mit denen die Hochbetagte sich so manches von der Seele geschrieben hat: «Ich könnte nicht sagen, wer ich gewesen bin. Ganz ehrlich, ich begreife gar nichts».

Dieser episodisch angelegte Roman lässt kaum ein Klischee aus, um die familiären Zerrüttungen zu beschreiben, die beim Lesen ein frostiges Klima erzeugen. Der Plot plätschert vorhersehbar und an immer den gleichen Schauplätzen in einer drögen Kleinstadt nahezu ereignislos vor sich hin. Auch die wortkargen Dialoge der wenig sympathischen, blutleeren Figuren tragen kaum etwas dazu bei, ihre psychischen Leerstellen aufzudecken als mögliche Ursache ihrer bedrückenden Hoffnungslosigkeit. So etwas wie Lebensfreude ist bei keiner der geradezu verstockten Figuren zu erkennen, auch bei den Nebenfiguren nicht. Großenteils also Menschen, die man als Leser nicht kennen möchte in der Realität, – und die so geballt wohl auch nur in einem Roman vorkommen! Es herrscht nur Bitternis, schicksalhafte Tragik dominiert das Narrativ. Als Versuch, heutiger Lebenswirklichkeit näher zu kommen, scheitert dieser Roman grandios an der unzureichenden stilistischen Umsetzung, ein kreativer oder gar originärer Impetus ist vor lauter Stereotypen nicht erkennbar.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Der abenteuerliche Simplicissimus

Die Weisheit des Narren

«Der abenteuerliche Simplicissimus» von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, dessen erste fünf Bücher 1668 erschienen sind, ein Jahr später von «Continuatio» als Fortsetzungsband gefolgt, zählt als barocker Schelmenroman nach pikareskem Vorbild des Don Quijote zum literarischen Kanon. Der umfassend belesene Autor verarbeitet in seinem als erster deutschsprachiger Prosaroman von Weltrang geltenden, vielschichtigen Hauptwerk eigene Erfahrungen während des Dreißigjährigen Krieges. Er stützt sich aber auch auf eine schier unüberschaubare Fülle von Versatzstücken aus der Mythologie und aus antiken Werken, ferner verwendet er zahlreiche Erkenntnisse seiner Zeit aus den unterschiedlichsten Wissengebieten für seine Geschichte. Stellt ein vor mehr als 350 Jahren geschriebenes Werk auch für den heutigen Leser eine bereichernde und erfreuliche Lektüre dar? Beides kann vorab schon mal bejaht werden!

Als Kind lebt der Romanheld als Viehhirte auf dem Bauernhof seiner Eltern, er flüchtet nach der Brandschatzung des Elternhauses durch marodierende Soldaten in den tiefen Wald. Dort wird er von einem frommen Einsiedler aufgenommen, der ihn Simplicius nennt, ihn zu asketischer Frömmigkeit erzieht und ihm Lesen und Schreiben beibringt. Als der Einsiedler zwei Jahre später im Sterben liegt, legt er ihm als Tugenden für seine künftige Lebensführung Selbsterkenntnis, Beständigkeit und Welterkenntnis ans Herz. Nach dieser Initiationsphase gelangt Simplicius in das von Schweden besetzte Hanau und wird zunächst Page des Kommandanten. Seiner Einfalt wegen wird er als «Simplicissimus» schon bald ins höfische Narrenkostüm gezwungen, schließlich gerät er in Gefangenschaft kroatischer Soldaten. Sein weiteres Leben gestaltet sich als wildes Auf und Ab, er wird selbst Soldat, lebt in Saus und Braus und erlangt schließlich durch sein furchtloses Draufgängertum als ‹Jäger von Soest› hohes Ansehen bei Freund und Feind. Auf seinen vielen Raubzügen macht er reiche Beute, verliert aber eben so oft alles wieder, auch seine zwei Ehen enden tragisch. Bei einem unfreiwilligen Aufenthalt in Paris wird er als ‹Beau Alman› berühmt, er verdient viel Geld als Gigolo hochgestellter Damen, wird erneut ausgeraubt, kommt aber als Quacksalber schnell wieder zu Geld. Ein Husarenstück reiht sich an das andere in diesem turbulenten Roman, und auch die Geisterwelt kommt nicht zu kurz mit einem Ritt auf den Hexentanzplatz und einer Begegnung mit dem Wassergeist am Mummelsee. Nach vielen haarsträubenden Abenteuern auf seinen Reisen in alle Welt endet der Roman schließlich in einer Robinsonade, die für den selbstreflexiven Helden zu einem Erweckungserlebnis wird. Er erkennt sein bisheriges frevelhaftes Leben und kehrt bußfertig in die Askese eines frommen Einsiedlers zurück, womit sich narrativ der Kreis schließt.

Leitmotiv dieser häufig allegorisch hinterlegten Handlung ist die individuelle Desillusionierung, ‹erkenne dich selbst› ist seine Botschaft. Neben allem Pikaresken und christlich erbaulicher Frömmelei enthält diese satirische Geschichte mit ihrem episodisch angelegten Plot sehr deutliche gesellschaftskritische Anspielungen auf die Verwilderung der Sitten. Das mag einer der Gründe dafür gewesen sein, dass der Roman anfangs noch unter Pseudonym erschien.

Thomas Mann sprach begeistert von einem «Literatur- und Lebens-Denkmal der seltensten Art». Nun ist ein barockes Werk wie dieses trotz sorgfältiger sprachlicher Überarbeitung für uns Heutige natürlich nicht leicht zu lesen. Ein umfangreiches Register hilft dem Leser aber über fast alle Verständnisklippen hinweg und erweitert en passant auch seinen Horizont in Sachen ‹Dreißigjähriger Krieg›. Die atmosphärisch dazu passende, derbe Sprache schildert das oft grausame Geschehen scheinbar ungerührt, und auch die vielen Romanfiguren wirken emotional eher unterkühlt. Wer Geduld hat mit der geradezu ausufernden Reihe von Szenen und Episoden, der wird seine Freude haben an diesem satirischen Roman.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Patmos Verlag Eschbach

Echos Kammern

Ziel erreicht

Wohl dem Leser, der wie die Schriftstellerin Iris Hanika in der Sprache das beste Mittel sieht, die Gegenwart auszuhalten, wie sie im Interview erklärte, und mit Sprache spielt sie dann auch gleich sehr virtuos in ihrem neuesten Roman «Echos Kammern», wovon schon der Titel kündet. Ovid berichtet in seinen «Metamorphosen» von Narziss, dem in sein eigenes Spiegelbild verliebten Schönling, dem die Nymphe Echo, die nie ein eigenes Wort sagen kann und immer nur wiederholt, was der andere sagt, mit Haut und Haaren verfällt. Und so ist denn dieser Roman in seinem zweiten Teil auch ein diesem griechischen Mythos folgender Liebesroman, im ersten Teil jedoch erinnert er an den grandiosen New-York-Roman von John Dos Passos, er beschreibt fast hundert Jahre später das heutige urbane Leben in dieser faszinierenden Metropole.

Die fünfzigjährige Dichterin Sophonisbe aus Berlin, bekannt geworden durch ihren Gedichtband «Mythen in Tüten», reist zum Big Apple, um sich für ein neues Buchprojekt inspirieren zu lassen. Sie durchstreift die Stadt und notiert ihre Eindrücke in der 1925 erfundenen, deutsch-amerikanischen Kunstsprache ‹lengevitch›: «Ich will berichten von was ich habe gesehen und was ich habe erlebt in New York City, aber nicht in ganze Stadt New York, sondern nur in Stadtteil Manhattan …». Schon am zweiten Tag landet sie, einer seltsamen schwarzen Gestalt folgend, die sich schon bald als ihr ureigener Engel entpuppt, auf einer Party bei der Pop-Ikone Beyoncé. Dort lernt sie Josh kennen, einen ungewöhnlich schönen jungen Amerikaner, der an einer Dissertation über eine wissenschaftlich bisher vernachlässigte Periode der ukrainischen Geschichte arbeitet. Mit ihm zusammen besucht sie später auch alte Berliner Freunde, die eine feudale Wohnung in dem angesagten Wohnquartier Upper East Side besitzen. Durch Vermittlung dieses Paares findet sie dann auch Ersatz für ihre winzige Berliner Wohnung, die etwa gleichaltrige Roxana in Berlin, erfolgreiche Autorin von Ratgeberbüchern, suche jemanden, der zu ihr passt und in ihre riesige Altbauwohnung mit einziehen wolle. Im zweiten Teil des Romans wird von der ebenso desaströsen Gentrifizierung auch in dieser Großstadt berichtet, und als Josh schließlich zu Besuch kommt, verliebt sich Roxana prompt unsterblich in den langweiligen Schönling, der selbstverliebt darauf überhaupt nicht reagiert.

Gemeinsam ist beiden Städten, dass sie, angefeuert durch die Finanzkrise und die nachfolgende, nach Anlagemöglichkeiten suchende Geldschwemme, Stadtteil für Stadtteil einem permanenten Aufwertungsdruck ausgesetzt sind. Diese Viertel werden einerseits immer feudaler, verlieren gleichzeitig aber auch ihr besonderes Flair, werden unbezahlbar, verdrängen die ursprüngliche Bevölkerung und veröden letztendlich. Was hier nüchtern geschildert wird, ist im Roman durchaus streitbar und mit an Zynismus grenzender Ironie beschrieben, die oft sehr amüsant ist. Dem schließt sich die unerfüllte Liebesgeschichte an, wobei nicht erkennbar ist, was die beiden Romanteile thematisch verbindet, die Motive erscheinen völlig willkürlich aneinander gereiht.

Die Autorin treibt in heiterem Tonfall ein virtuoses Spiel mit verschiedenen Erzählstimmen, die das teilweise bizarre Geschehen distanziert beschreiben. Ihrer Figur Josh fehlt die Selbstverliebtheit von Narziss, die liebestolle Roxana wiederum kann sich im Gegensatz zu Echo sehr wohl sprachlich frei ausdrücken, und Sophonisbe muss anders als ihre antike Namensgeberin keinen Giftbecher trinken. Diese Anspielungen auf die mythologischen Vorbilder wirken allesamt wie intellektuelle Selbstbespiegelungen einer eitlen Autorin. Echokammern dienen in der Akustik der Verstärkung des Halls, ob dies analog hier im Roman auch literarisch funktioniert, darf für beide bedienten Genres mit Fug und Recht bezweifelt werden, für den New-York-Teil ebenso wie für die Liebesgeschichte. Ihr erklärtes Ziel, mal etwas völlig Sinnloses zu schreiben, hat Iris Hanika jedenfalls erreicht.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Droschl

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Klamauk mit Katharsis

Wenn ein Roman wie der von Alina Bronsky mit «Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche» betitelt ist, erwartet man als Leser eine unkonventionelle, lustige Geschichte. Und der zweite Roman der russisch-deutschen Schriftstellerin zeichnet sich auch tatsächlich durch eine schon fast überbordende Komik aus, mit der über allerdings weniger lustige Probleme einer resoluten Tatarin in der UDSSR und späteren Migrantin in Deutschland berichtet wird. Der Buchtitel ist genau so ironisch gemeint wie der ganze Roman ironisch erzählt ist. Dessen oft verblüffender, manchmal kindlich anmutender Witz wird darin allein durch eine ebenso unerschütterlich selbstbewusste wie grotesk naive, ungebildete Protagonistin verkörpert.

Die Geschichte beginnt im Jahre 1978 mit einem gescheiterten Abtreibungsversuch, den die 40jährige Ich-Erzählerin Rosalinda Kalganowa von einer Engelmacherin aus der Nachbarschaft an ihrer hässlichen, dummen Tochter Sulfia vornehmen lässt. Der Abbruch gelingt nur zur Hälfte, es handelte sich nämlich um Zwillinge. Von denen überlebt einer den Eingriff und kommt wohlbehalten als Enkeltochter Aminat zur Welt, die zu einem wunderschönen Mädchen heranwächst. Was folgt ist die in rasantem Tempo chronologisch erzählte Geschichte dieser drei Frauen, in der die dominante Großmutter unangefochten das Kommando führt. Zunächst sorgt sie dafür, dass ihre Tochter Sulfia, die inzwischen Krankenschwester geworden ist, endlich einen Ehemann bekommt. Dabei kommt für Rosa, ihre Tochter hat da keinerlei Mitspracherecht, schließlich nur ein deutscher Patient Sulfias in Frage, der an einem Kochbuch über die tatarische Küche arbeitet. Mit dessen Hilfe erreicht sie dann auch tatsächlich für das Frauentrio die Auswanderung aus ihrem sozialistischen Mangel- und Korruptionsstaat in das aus tatarischer Sicht paradiesische Deutschland. Dabei nutzt sie völlig unerschrocken und skrupellos die pädophile Neigung von Dieter, dem künftigen Ehemann ihrer Tochter Sulfia, der ein Auge auf die schöne Aminat geworfen hat, – Vladimir Nabokov lässt grüssen!

In einem ständigen Auf und Ab passieren in diesem Roman, der einen erzählerischen Zeitraum von etwa dreißig Jahren umfasst, die seltsamsten Dinge. Die Heldin Rosa ist in ihrem heroischen Kampf für die drei Frauen unermüdlich und mit scheinbar nie versiegender Kraft im Einsatz, um ein besseres Leben für sie alle zu erreichen. Männer sind im Roman-Geschehen allenfalls unbedeutende Randfiguren, ihren Ehemann Kalganov hat sie fest im Griff und nennt ihn demonstrativ nur beim Nachnamen. Überhaupt taugen Männer ihr persönlich allenfalls für gelegentliche Dienste im Bett und als potentielle Ernährer, mehr erwartet sie nicht von ihnen. Mit eisernem Willen lässt sie sich auch von den zahlreichen Rückschlägen nicht entmutigen, die das Leben für sie bereithält und sie bis zum elegischen Ende der Geschichte begleiten.

Ohne Zweifel ist dies eine Satire, eine mit viel schwarzem Humor karikaturhaft, manchmal sogar zynisch überzeichnete Familiengeschichte. Hinter deren amüsant «tatarischem» Duktus schimmert jedoch allzu deutlich das Elend des Sozialismus durch mit seiner absurden Mangelwirtschaft und der prekären Wohnungsnot. All das menschliche Elend, das daraus erwächst und das dieses erbitterte kämpferische Verhalten der Protagonistin zur Folge hat, wie es hier bewusst verharmlosend in beschwingt lustigem Ton geschildert wird, bildet den alles andere als lustigen Hintergrund dieses abgründigen, tragischen Romans. Und genau darin liegt seine große Schwäche, er leidet literarisch an der Ambivalenz zwischen Form und Inhalt. Nur die dem Geschehen zugrunde liegende Tragik rettet das Buch vor dem Verdikt «Klamauk». Amüsante Schundliteratur der anspruchslosen Sorte liegt hier also nicht vor, auch wenn das streckenweise so scheint und vom Buchtitel und Cover her auch suggeriert wird. Dass die Heldin am Ende schließlich resigniert, könnte man dann wohlwollend sogar als Katharsis deuten.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Notes on a Dirty Old Man. Charles Bukowski von A bis Z

Ein überraschend vielschichtiger Blick auf den Dirty Old Man

 

Pünktlich zum 100. Geburtstag, den Charles Bukowski am 16. August 2020 gefeiert hätte, veröffentlicht der Verlag Zweitausendeins das Buch „Notes on a Dirty Old Man. Charles Bukowski von A bis Z“. Der Verlag kündigt es als ein „unlexikografisches Lexikon“, eine „persönliche Bukowskipedia“ an. Diese forsche Einordnung, die von Understatement und Übertreibung zugleich geprägt ist, hätte Bukowski sicherlich gefallen. Immerhin kann sich Zweitausendeins auf die Fahnen schreiben, im Dreigespann mit dem Augsburger Maro-Verlag und dem 2012 verstorbenen Übersetzer Carl Weissner Bukowski Ende der 1970er Jahre in Deutschland bekannt gemacht zu haben. Erst diese Aufmerksamkeit sorgte für eine weiter geschärfte Wahrnehmung in seiner Heimat Amerika.

Die Schattenseite des American Dream

Charles Bukowski, dessen Romane, Gedichte und Short Stories sich vornehmlich um Verlierer, Säufer, Außenseiter, Machos, Prostituierte, Schmuddelsex und Entmenschlichung drehen – also die Schattenseite des American Dream -, war für Zweitausendeins schon immer eine Herzensangelegenheit. Für das Buchprojekt konnte man Frank Schäfer gewinnen, seines Zeichens Schriftsteller, Popkulturexperte, Heavy Metal-Freak und Bukowski-Enthusiast.

„Charles Bukowski von A bis Z“ suggeriert etwas Umfassendes, Kompendienhaftes. Der Untertitel erinnert beispielsweise an die bei Metzler/Springer erschienenen „Personen-Handbücher Literatur“, etwa zu Robert Walser, Thomas Mann oder Franz Kafka. Genau ein solches Nachschlagewerk ist „Notes on a Dirty Old Man“ jedoch nicht. Und dennoch schafft es Frank Schäfer, einen überraschend vielschichtigen Blick auf Leben, Werk und Wirkung Charles Bukowskis zu werfen.

47 Stichwörter und profundes Wissen

Unter insgesamt 47 Stichwörtern, von „Ablehnungsbescheid“ bis „Weissner“, hat Schäfer jeweils ein- bis sechsseitige Essays verfasst und in zwei Fällen Interviews geliefert, die mit profundem Wissen zu Bukowski aufwarten. Dabei zeigt sich Schäfer nicht nur auf der Höhe des jeweiligen Forschungsstandes, sondern es gelingt ihm auch, eine Fülle an Details in einer kurzweiligen Form und einem gut lesbaren, bisweilen ironisch-saloppen Schreibstil zu vermitteln.

Schäfer bestätigt zwar so manches Bukowski-Klischee, etwa den für die literarische Produktion nötigen Dauersuff (erst 1988 lebt er nach einer Therapie gegen Hautkrebs für sechs Monate abstinent). Doch zeichnet er das ebenso differenzierte Bild eines sensiblen, zu scharfen Beobachtungen fähigen Dichters, der schon in jungen Jahren aufgrund seiner schweren Akne-Erkrankung zum Außenseiter („Gesicht“) wurde. Zugleich machten ihn die fortwährenden Misshandlungen durch seinen gewalttätigen Vater zum desillusionierten Fatalisten („Vater“). Bukowski sprang nicht gerade zimperlich mit Zeitgenossen in seinem Umfeld um („Open City“), war erklärtermaßen apolitisch („Politik“) und hasste Dichterlesungen (und hielt sie doch des Geldes wegen, „Dichterlesungen“). Zudem hatte er ein merkwürdig ambivalentes Verhältnis zu den umfangreichen Textüberarbeitungen durch seinen Verleger John Martin („Verschlimmbesserungen“).

Reizthemen

Auch Kontroverses wird nicht eingeebnet: Bukowski war mitunter rassistisch, frauenfeindlich, homophob. Dennoch pflegte er eine Freundschaft zu dem schwulen Dichter Harold Norse („Homos“) oder arbeitete durchaus respektvoll mit vielen schwarzen Kollegen während seiner diversen Aushilfsjobs zusammen („Rassismus“). Gerade diese offensichtliche Beliebigkeit von Standpunkten und der nicht zu leugnende Opportunismus Bukowskis liefern seinen Kritikern bis heute genug Reizthemen für die Geringschätzung seines Werks. Doch nicht zuletzt in den unideologischen Abbildungen der Realität finden Bukowski-Fans dagegen ebenso viele Qualitätsaspekte. Die Polarisierung, die Bukowski nach wie vor erzeugt, hat unter anderem hier ihre Wurzeln.

Da es zu X, Y und Z keine Stichwörter gibt, präsentiert Schäfer unter „XYZ“ eine stichwortartige Biografie Bukowskis, die, nach Jahren geordnet, die wichtigsten Stationen in Leben und Werk nachzeichnet. Abgerundet wir der Band mit einem aufs Wesentliche beschränkte Literaturverzeichnis und mit einem Fototeil. Dieser bietet 20 Schwarzweißbilder, die der deutsche Fotograf Michael Montfort 1978 hauptsächlich während Bukowskis Lesereise nach Deutschland geschossen hatte. Diese Reise wurde seinerzeit von Zweitausendeins organisiert – so schließt sich der Kreis.

Für Kenner und Einsteiger

„Notes on a Dirty Old Man” eignet sich für Bukowski-Kenner wie für -einsteiger gleichermaßen. Man kann die Essays chronologisch lesen oder sich auch bestimmte, ausgewählte Stichwörter vornehmen. Jeder Essay ist wie ein Teil eines sich nach und nach zu einem Gesamtbild fügenden Puzzles.

Nach der Lektüre hat man den Eindruck, dem kontroversen Autor und seinem Werk nicht nur ein Stück näher gekommen zu sein, sondern auch ein differenziertes Bild fernab einseitiger Lobhudelei erlangt zu haben. Das ist eine Leistung, die eine ausführliche Bukowski-Biografie (von denen es einige gibt), nicht besser machen könnte. Insofern ist das Buch ein durchaus gelungenes und würdiges Geburtstagsgeschenk zu Charles Bukowskis Hundertstem. Der gute, alte Buk stößt sicherlich darauf an – im Himmel, in der Hölle oder irgendwo dazwischen.

 

Frank Schäfer: Notes on a Dirty Old Man. Charles Bukowski von A bis Z.
Leipzig: Zweitausendeins, 2020.
272 Seiten, 17,90 Euro.
ISBN: 978-3963180675

Zweitausendeins


Genre: Amerikanische Literatur, Amerikanistik, Biographien, Kulturgeschichte, Lyrik, Roman, Sachbuch
Illustrated by Zweitausendeins Leipzig

Die Liebe der Väter

Bereichernd und erfreulich?

Thomas Hettche thematisiert in seinem fünften Roman «Die Liebe der Väter» die unlösbar scheinenden Konflikte eines unverheirateten Paares, das nach der Trennung in einem Dauerstreit um das damals zweijährige, gemeinsame Kind lebt. Die vom Gesetzgeber als alleinerziehende Mutter grotesk einseitig mit diktatorischen Befugnissen ausgestattete Frau macht in diesem Roman bösartig von ihrer Macht Gebrauch und treibt den Vater rachsüchtig immer wieder zur Verzweifelung. Ist es dem Autor, der für seine unkonventionelle Stoffwahl bekannt ist, wirklich gelungen, mit diesem eher für ein Ratgeberbuch taugenden Thema ein belletristisches Werk zu schreiben, das man als ‹bereichernd und erfreulich› und also als ‹lesenswert› bezeichnen kann?

Vor dem Hintergrund der Atmosphäre von Sylt wird erzählt, wie der Ich-Erzähler und Vater der dreizehnjährigen Annika zwischen Weihnachten und Sylvester zusammen mit seiner Tochter bei einem befreundeten Ehepaar in deren Ferienhaus eine Urlaubswoche verbringt. Für den freiberuflichen Vertreter einiger Buchverlage ist dies eine der seltenen Gelegenheiten, seiner Tochter nahe zu sein. Außerdem sieht er die Insel wieder, auf der er als Kind mit seiner Mutter viele Sommer verbracht hat. Annika kommt in den Gesprächen mit dem Vater immer wieder auf die quälende Frage zurück, warum er damals ihre Mutter und damit ja auch sie verlassen habe, aber es gelingt ihm nicht, darauf eine für die Pubertierende befriedigende Antwort zu finden. Es kommt zum Eklat, als er die schon leicht alkoholisierte Annika wegen einer patzigen Bemerkung während der pompösen Sylvesterfeier in einem Top-Restaurant vor allen Leuten ohrfeigt. Sie läuft davon und ist für mehrere Tage nicht auffindbar, er aber traut sich nicht, ihre Mutter darüber zu informieren.

Weite Teile des Romans beschäftigen sich mit der Ohnmacht des nahezu rechtlosen Vaters der sorgeberechtigten Mutter gegenüber, aber auch mit seinen quälenden Schuldgefühlen als berufsbedingt fast immer abwesender Vater. In diversen Rückblenden berichtet er von den tragischen Vorbedingungen dieses menschlichen Dramas und von der Liebe getrennt lebender Väter, die doch so ganz anders sei als die in intakten Familien. Thomas Hettche unterminiert mit der narrativen Form des unzuverlässigen Erzählers die Glaubwürdigkeit seines Protagonisten, und allzu oft erwischt man ihn denn auch dabei, wehleidig durchaus fragwürdige, egoistische Positionen zu vertreten. Seine Freunde beginnen sich allmählich zu distanzieren von ihm und legen ihm schließlich sogar nahe, abzureisen. Diese elegische Geschichte ist mit zweifellos gekonnten, aber leider viel zu ausschweifenden Beschreibungen von Sylt garniert, ohne dass dabei eine wie auch immer geartete motivische Verbindung zum eigentlichen Thema erkennbar wird. Die eher nüchternen, knappen Dialoge sind fast schon spröde zu nennen, sie werden von häufigen inneren Monologen des parteiischen Vaters ergänzt in diesem von Aggressionen und Verletztheiten beherrschten, psychologischen Roman.

Als mit suggestiver Dringlichkeit dargestellte Vater-Tochter-Problematik leidet die larmoyante Erzählung nicht wenig darunter, dass sich zu den Protagonisten keine emotionale Nähe aufzubauen vermag, die Figuren bleiben allesamt (nordisch?) unterkühlt. Die betont einseitige Vater-Perspektive unterstreicht den Impetus des Romans, die verkorkste familiäre Konstellation als Folge äußerst konträrer Lebenskonzepte der Beteiligten begreifbar zu machen. Abgesehen davon, dass die rein juristische Problematik inzwischen ja teilweise obsolet geworden ist, bestimmt die psychische Thematik unverändert die Lebenswirklichkeit in jenen Patchwork-Familien, denen wegen tiefer Verletzungen zum friedlichen Miteinander der Wille oder die Fähigkeit fehlt. Dieser Roman mag entsprechende Diskussionen anstoßen, seine Thematik wäre aber besser in einem Sachbuch aufgehoben, als belletristische Lektüre ‹bereichernd und erfreulich› ist dieses Buch jedenfalls nicht!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Léon und Louise

Ein Glücksfall der Gegenwartsliteratur

Man ist bei «Léon und Louise» von Alex Capus an den berühmten Liebesroman von Garcia-Marquez erinnert. In beiden Geschichten finden die Paare erst im Alter zu ihrem späten Glück, dem sie in den beiden jeweils grandiosen Schlussszenen, von der Welt abgeschottet, auf einem Schiff entgegenfahren. Als Handlungsgerüst dienen dem Schweizer Schriftsteller einige Details aus dem Leben seines Großvaters, um die herum er einen klug konstruierten Plot aufbaut, den man treffend auch mit «Die Liebe in den Zeiten der Weltkriege» betiteln könnte, beide politischen Katastrophen lauern als Menetekel über dem schicksalhaften Romangeschehen.

«Wir saßen in der Kathedrale von Notre-Dame und warteten auf den Pfarrer», lautet der erste Satz. Im offenen Sarg liegt Léon Le Galle, der Großvater des Ich-Erzählers, der in einem epilogartigen ersten Kapitel berichtet, wie plötzlich eine kleine graue Gestalt durch eine Seitentür eintritt, zum Sarg eilt, den Toten küsst, eine Fahrradklingel aus ihrer Handtasche nimmt, zweimal damit klingelt, sie in den Sarg legt, sich zur Trauerfamilie umwendet und jedem kurz in die Augen schaut, ehe sie genau so schnell verschwindet wie sie gekommen ist. Es ist der 16. April 1986, die zierliche alte Dame war Louise, die langjährige Geliebte von Léon, die keiner der Hinterbliebenen je gesehen hatte, – er hat ihr genau diese Klingel kurz nach ihrer ersten Begegnung ans Fahrrad montiert.

Im Frühling 1918 lernt der damals 17jährige Léon in der Normandie Louise kennen, ihre kurze Romanze wird jäh beendet, als sie bei einem Fahrradausflug ans Meer von Tieffliegern angegriffen werden. Beide werden schwer verletzt in verschiedene Lazarette gebracht und halten den jeweils anderen für tot, wobei ein eifersüchtiger Bürgermeister seine Hand im Spiel hatte. Zehn Jahre später sieht der inzwischen verheiratete Léon in der Pariser Metro Louise in einem Zug davonfahren. Es gelingt ihm, sie zu finden, nach einer Liebesnacht beschließen sie aber, sich mit Rücksicht auf Léons Ehe nie mehr wiederzusehen. Der Zweite Weltkrieg verschlägt Louise dienstlich nach Afrika. Léon wird noch mehrmals Vater und schlägt sich als Polizei-Chemiker mit den Besatzern herum. Ein schmuckes Hausboot, das eigentlich ungewollt plötzlich sein Eigentum ist, wird nach Kriegsende das behagliche Refugium des sympathischen Mannes.

Aus der Perspektive seiner Figuren wird in diesem ebenso unsentimentalen wie originellen Roman vor allem eine äußerst unruhige politische Epoche geschildert, die sich sehr anschaulich in den Begebenheiten und Schicksalen spiegelt, von denen die kleinen Leute in Frankreich betroffen waren. Besonders die Figurenzeichnung des eher gegensätzlichen Liebespaares mit dem gutmütigen, in sich gekehrten und phlegmatischen Léon und der burschikosen, selbstbewussten, lebenslustigen Louise ist überzeugend gelungen. Ihre Beziehung ist völlig frei vom schnulzigen Herz-Schmerz-Chaos gängiger Genre-Romane, wobei man trotzdem deutlich spürt, wie tief die Beiden über Jahrzehnte hinweg emotional verbunden bleiben, allen Widrigkeiten zum Trotz. Es sind nicht so sehr ihre individuellen Charaktere, die den Leser beeindrucken, es ist vielmehr die Unbedingtheit, mit der sie scheinbar gottgewollt zueinander gehören. Sogar Léons Frau, der er bis zu ihrem Tod unverbrüchlich verbunden bleibt als verlässlicher Ehemann, erkennt diese adhäsiven Kräfte und entscheidet sich nach anfänglichen Protesten schließlich lebensklug, sie zu akzeptieren. Beeindruckend ist die klare Haltung des Ehepaares, das nach so langer Gemeinsamkeit am Sakrament der Ehe festhält. Aber Léon kann nun mal seiner Vergangenheit nicht entfliehen, die Liebe zu Louise ist sein Schicksal und bestimmt auch ganz entscheidend ihr Leben. Mit großem Einfühlungsvermögen in einer angenehm lesbaren Sprache geschrieben, gewürzt mit einer wohldosierten Portion Humor, ist dieser Roman einer der seltenen Glücksfälle unserer höhepunktarmen Gegenwartsliteratur.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Georgs Sorgen um die Vergangenheit

Éducation sentimentale

Schon der monströse Doppeltitel des Romans «Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag» von Jan Faktor reizt zum Widerspruch. Sorgen macht man sich um die Zukunft, aber gerade die sieht der Ich-Erzähler als Alter Ego des tschechischen Autors ja in blühenden Farben, sie wird phantastisch sein, da ist er sich sicher. ‹Sex sells› wusste schon Charlotte Roche, die mit ihrem unappetitlichen Roman «Feuchtgebiete» dem Leser ihre Thematik aber wenigstens nicht dermaßen obszön und plakativ schon im Titel aufdrängt, wie es hier geschieht. Andererseits vermag ein Coming-of-Age-Roman aus Prag, – einziges Wort dieses unsäglichen Titelungeheuers, das aufhorchen lässt -, der zudem auch noch in bester Schelmenroman-Tradition geschrieben ist, ja durchaus die Neugier zu wecken.

Georg wächst in einem prominenten Prager Viertel bei seiner geschiedenen Mutter auf, die für eine liberale Zeitschrift arbeitet. Mit Großmüttern, diversen Tanten und Cousinen bewohnen sie gemeinsam eine provisorisch unterteilte, ehemals hochherrschaftliche Altbauwohnung. Einziger Mann in dieser femininen WG ist sein Onkel, ein unermüdlicher, aber nicht immer erfolgreicher Do-it-yourself-Handwerker, der bei der Spionageabwehr arbeitet. Durch die weibliche Dominanz ist der Pubertierende schon früh sexuell geprägt. Seine erste – und einzige – Geliebte wird die zwanzig Jahre ältere Dana, eine gute Freundin seiner Mutter, die als naturbegeisterte Objektkünstlerin in einem Bauernhaus auf dem Lande lebt. In der Adoleszenz bestimmen brutale Jugendbanden Georgs rebellischen Alltag, er lernt Kampfsport und sieht die Welt fast ausschließlich in ihrer rein materiellen Dimension. Wobei ihn besonders jede Form von Schmutz und Unrat fasziniert, er arbeitet folglich für einige Zeit als Müllmann, nachdem er seine schulische Ausbildung vorzeitig beendet hat. Später sattelt er auf Schlosser um und verbringt schließlich zwei Jahre als Bergführer und Hüttenwart in der hohen Tatra.

Prägendes Element dieses satirischen Romans in bewährter Nachfolge von Hasek oder Hrabal ist die unbändige Fabulierlust des Autors, der aus postsozialistischer Sicht hemmungslos die triste Lebenswirklichkeit seines Volkes anprangert. Dass er dabei häufig über das Ziel hinausschießt ist eine der Schwächen dieses ständig ins Groteske abdriftenden Romans. Ein weit schlimmeres Manko aber ist das Fehlen jedweden politischen Hintergrundes, Umbrüche wie der Prager Frühling 1968 und der Einmarsch der Roten Armee werden nur nebenbei erwähnt, Georg trifft auf keinen Panzer, selbst Alexander Dubček kommt nicht vor. Auch der Versuch, den Holocaust in Form einer Reise zu den polnischen Munitionsfabriken einzubinden, in denen Georgs Mutter für die Nazis arbeiten musste, bleibt unkommentiert und wenig überzeugend. Stattdessen gerät der Weg dorthin mitten durch die DDR zu einer Schilderung der grotesken Gastronomie dieses sozialistischen Bruderlandes. Weitaus bester Teil der Erzählung ist zweifellos das zufällige Zusammentreffen mehrerer befreundeter Intellektueller verschiedenster Couleur, die auf der Straße stehend eine hochinteressante Diskussion zu kulturellen und politischen Themen führen. Georg wendet sich vehement gegen das lustige Verschwejkeln der tschechischen Misere und fasst seinen politischen Frust in dem Satz zusammen: «Unsere Scheißpartei hat die Leute um die Möglichkeit gebracht, unter normalen Verhältnissen erwachsen zu werden».

Diese eher traurige Geschichte wird nicht chronologisch erzählt, sie bewegt sich vielmehr in ständig wechselnden Zeitebenen, die eine altersmäßige Einordnung des «Kindes» Georg manchmal schwierig macht. Jan Faktor erzählt in einem geradezu übermütigen Stil, der mit kreativen Wortgebilden und unkonventionellen Gedankensprüngen eher an Hrabal als an Hasek erinnert. Eine tragische Éducation sentimentale im Flaubertschen Sinn also, die allerdings kaum bereichernd, wenig unterhaltend und viel zu lang geraten ist.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Die Infantin trägt den Scheitel links

Die Infantin trägt den Scheitel links: Die Demontage eines Heimatidylls in den Salzburger Bergen ist einer neuen, jungen und auch experimentellen Sprache verfasst, die man gerne als Expressionismus bezeichnen würde, wäre da nicht schon diese Malerei. Immerhin Nitsch und Pollock kommen auch vor, aber eigentlich geht es um eine ganze andere Familie, die Anti-Trapp Familie vielleicht. Helena Adler stellt Klischees ihrer Heimat auf den Kopf und sie hat dabei (auch noch) sichtlich Spaß. Denn in der Rolle ihres kleinen Mädchen-Ichs lassen sich leicht ein paar Tabus brechen. Ein Wimmelbild nach Pieter Bruegel?

Anti-Trapp-Idylle einer Anti-Alpen-Heidi

Da wäre einmal ihr unbändiger Hass gegen ihre beiden älteren Zwillingsschwestern und ihre Abneigung gegen ihre frömmelnde, bigotte Mutter und einen Vater mit einem fatalen Hang zu Alkohol. Selbstverständlich ist diese Konstellation nur eine sprachliche Verdichtung ihrer tatsächlichen Kindheit, denn natürlich war alles eigentlich gar nicht so schlimm. Damals. Immerhin gab es Bechertelefone, die man jederzeit unterbrechen konnte, denn man muss ja nicht immer erreichbar sein, wenn man gebraucht wurde. „Es ist die Zeit, als Jeanny im Radio rauf und runter gespielt wird. Quit livin’ on dreams.“, schreibt Adler, aber auch sonst erwähnt sie viel Kram aus den Neunzigern, etwa Schwarzenegger oder Knight Rider und natürlich MacGyver. „Der Lauf der Filmgeschichte entspricht der Chronologie der Filmgeschichte“, schreibt Adler an einer Stelle. Was konnte man am Land auch anderes tun, als den eigenen „Staubmagneten“ und „Versorger des Herzens“ zu lieben?

Infantin: Arabeske und Attitüde

Ihre Eltern konnten ihr wohl nicht genug Unterhaltung sein: „Meine Mutter rastet nicht, habe ich immer geprahlt. Und wenn sie rastet, dann rastet sie aus.“ Da hilft es manchmal, aufgeblasene Luftballons als Sauerstoffspender unter dem Bett aufzubewahren. Früher wohnten da noch Krokodile. „Der Unterschied zwischen dem und Holz ist der, dass Holz arbeitet“, meint der Vater. Die zitierten Kalendersprüche, die wir alle aus unserer Kindheit kennen, werden von Adler mit viel Sprachwitz und Situationskomik konterkariert. Es geht mehr um das Vergnügen an der Sprache und am Lesen als um eine Handlung. Und die richtigen Eltern müssen auch nicht wirklich beleidigt sein. Die rasante Abhandlung ihrer Kindheit strotzt manchmal vor banalen Obszonitäten, dann wieder wird Absurdes gereicht: Die Schwarze Anna führt eine offene Beziehung mit Prinz Valium, den sie als ihre Mätresse bezeichnet. Sie sucht einen Mann, der ihr keine Toblerone reicht, sondern die Pyramiden mit Schokolade überzieht. Ahja und für die Bildungsbürger ist auch etwas dabei: jedes Kapitel des gerade mal 150 Seiten starken Büchleins ist mit Zwischenüberschriften übertitelt, die von malerischen Werken europäischer Künstler stammen. Tatsächlich keine Frau dabei, deswegen kein –innen.

Helena Adler

Roman
2020, 176 Seiten, gebunden mit SU

ISBN: 978-3-99027-242-8

€ 20,-

Jung und Jung


Genre: Jugend, Kindheitserinnerungen, Roman
Illustrated by Jung und Jung

Gutgeschriebene Verluste

Selbstgefälliges Palaver

Mit «Gutgeschriebene Verluste» hat Bernd Cailloux das hauptsächlich für Deutschland spezifische Genre der 68er-Romane um ein Werk bereichert, dessen Klassifizierung als «Roman mémoire» allerdings unzutreffend ist. Denn es handelt sich dabei nicht um einen in Form von Erinnerungen erzählten fiktionalen Lebenslauf, sondern um eine fiktional mehr oder weniger ausgeschmückte, ansonsten aber reale Autobiografie. Ein heute bei vielen Autoren sehr beliebter, narrativer Typus übrigens, der gemeinhin als Autofiktion bezeichnet wird.

Das Alter-Ego des Verfassers wird gleich zu Beginn bei einer Verabredung mit seinem besten Freund durch dessen «so schwerwiegend wie beiläufig» vorgebrachte Bemerkung geschockt: «Dieses Café ist das Café der Übriggebliebenen». Der 60jährige Ewige Hippie ist nach mehr als zehnjähriger, anfangs erfolgreicher Tätigkeit in Hamburg als Hersteller von Discokugeln und ähnlichem Equipment 1979 wieder in Berlin gelandet. Er schlägt sich nun als Autor von Rundfunk-Kommentaren und mit anderen Gelegenheitsaufträgen durchs Leben. Als Rahmenhandlung des Romans dient dem Autor die seit zwei Jahren bestehende Beziehung seines Protagonisten zu einer fünfzehn Jahre jüngeren Frau, die kurz vor dem Scheitern steht. Hella neigt zu starken Gefühlsausbrüchen und erhofft sich mit ihm ein spätes Glück. Der angestrebte gemeinsame Nestbau aber erweist sich als Illusion, er scheitert an der geradezu pathologischen Bindungsunfähigkeit des Helden. Daran kann auch eine gemeinsame Reise zum KZ Buchenwald nichts ändern, in dessen Nähe er als Kind lebte, einige der Leerstellen in seiner Vita können jedoch dank einer alten Nachbarin dort geklärt werden. Diese gemeinsame Unternehmung ändert aber nichts an dem ständigen Zank des Paares, der sich zum Krieg der Geschlechter hochschaukelt. Nicht von ungefähr sehen sich die Beiden 2005 im Deutschen Theater Edward Albees Drama «Wer hat Angst vor Virginia Woolf» an. Ein Erbe aus der Drogen-Vergangenheit ist die nicht überwundene Hepatitis-Infektion des Protagonisten, die er nach dreißig Jahren mit unsicherem Ausgang durch eine mit reichlich Nebenwirkungen belastende Interferon-Therapie bekämpfen muss, – die 68er-Vergangenheit holt ihn wieder ein. Und bei einer Podiumsdiskussion trifft er dann auch noch auf das RAF-Mitglied Peter Jürgen Book, der 25 Jahre im Zuchthaus gesessen hat und ihm inzwischen äußerst unsympathisch ist.

Als melancholische Lebensbilanz erzählt der Autor in Rückblenden von seiner schwierigen Kindheit, die Mutter hatte die Familie 1945 verlassen, als er wenige Monate alt war. Es folgen schlaglichtartige Erinnerungen an seine Jugend, erste Kontakte zum anderen Geschlecht, Erfahrungen mit Drogen, die Firmengründung 1968 und die Rückkehr ins Berlin des New Wave. Als Dauergast porträtiert er mit scharfem Blick für Details die skurrilen Gestalten in seinem Stammcafé, das ihm quasi als ‹ambulantes Wohnzimmer› dient. Seine ironisch-nüchternen Reflexionen aus der Schöneberger Subkultur sind gespickt mit köstlichen Anekdoten, bei denen Sex und Frauen das Hauptthema bilden. Aber auch die diversen Intellektuellen und Künstler aller Couleur und unterschiedlichsten Renommees ergeben reichlich Gesprächsstoff für den unentwegt sinnierenden und schwadronierenden Althippie, der sich im Seinstaumel dieses spinnerten Milieus als Mitglied etabliert hat.

Der Titel des Romans lädt zu allerlei Deutungen ein. Es sind zweifellos Verluste, die der unsympathische Alt-68er in seinem Katzenjammer zu verbuchen hat, gutgeschrieben aber werden sie ihm nicht, er steht am Ende seines Lebens mit leeren Händen da. Stilistisch gut geschrieben aber ist diese Geschichte sehr wohl, Bernd Cailloux schildert das Geschehen in einer saloppen Sprache, die besonders in den Dialogen durchaus überzeugen kann. Weniger überzeugend ist der schleppende Fortgang der Geschichte, die durch ein Übermaß an selbstgefälligem Palaver des grandios gescheiterten Helden sehr schnell sehr langweilig wird.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin