No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit

No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit

No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit. “Die Neunziger enden am 11. September 2001. An ihrem Beginn fällt die Berliner Mauer, an ihrem Ende fallen zwei Türme in New York City.” Das Jahrzehnt, das so verheißungsvoll begonnen hatte (“Wind of Change”) endet mit einem Vatermord. Denn der Vater Osama Bin Ladens war genau der Bauunternehmer, der in Saudi-Arabien die Architektur Minoru Yamasakis umsetzte. Und in New York die Twin Towers.

Jahrzehnt der Widersprüche

Wem das jetzt schon zu konspirativ klingt, der hat die Neunziger nicht erlebt. Denn tatsächlich war es ein Jahrzehnt der Widersprüche. Nicht nur politisch, sondern auch kulturell-musikalisch. So steht 1993 gleichzeitig für “the year that grunge broke out”, andererseits auch für den weltweiten Durchbruch von Tekkno. Elektronische Musik war plötzlich gefragt, Raves wurden zum Treffpunkt der neuen Jugendkultur und die “Love Parade” in Berlin zählte bald mehr als 1,5 Millionen Besucher:innen. Das Jahrzehnt in dem jeder anders sein wollte und möglichst individualistisch daherkam, verkam zur Uniformierung und Kommerzialisierung der Jugendkultur, wie es bisher noch nie dagesessen war. Denn bald stiegen auch gewisse Sportmarken auf den neuen Jugendtrend des Abtanzens ein. Während Hakim Bei von “temporären autonomen Zonen” schwärmte, entstanden im Osten Deutschlands sog. national befreite Zonen, also das genaue Gegenteil von dem, was auf Tekknopartys (“Unity”) beschworen wurde. Dabei übertraf die Zahl der Aussiedler bei Weitem jene der Asylbewerber, wie Balzer betont. Selbst das deutsche Nachrichtenmagazin SPIEGEL unterlag der neuen Diskurshegemonie und titelte am 9.9.1991 “Flüchtlinge-Aussiedler-Asylanten: Ansturm der Armen”. Wenige Tage später ereigneten sich Hoyerswerda und Rostock, zwei Städte, die so gar nicht in das Bild der neuen Offenheit passten.

Airbag Generation und Two Socks

Aber Lichtermeere gegen Rechts gehörten ebenso zu den Neunzigern, wie die Piercings und Tätowierungen der “Modern Primitives”, die ihr Überleben in kleinen, selbstbezogenen Gemeinschaften erprobten. Selbstreferentialiät und Modifikation des eigenen Körpers führten zu solchen Auswüchsen wie dem vielzitierten Arschgeweih, das in den USA als Tramp Stamp den Feminismus in die Steinzeit zurückbombten. Dazu trugen auch Fernsehserien wie Baywatch bei, auch wenn diese stets unter der Prämisse der Selbstbestimmung der Frau liefen. Der letzte Sieg des Patriarchats? Dieser wurde auch in diversen Talkshows zelebriert, denn obwohl in den Neunzigern jeder ein Außenseiter und etwas Besonderes sein wollte, glichen sich die Drehbücher und wurden mit Laiendarstellern getastet. Nicht zuletzt gingen die Neunziger aber auch als Jahrzehnt des Big Brother und Matrix ein. Denn “1984” wurde mit der Erfindung der mobilen Kommunikation tatsächlich Realität: die Handys machten spätestens Ende des Jahrzehnts als kleine Sendeeinheiten Furore und der gläserne Mensch wurde alsbald so durchsichtig, dass im Grunde genommen jeder von uns als Klon nachproduzierbar wäre. Denn so viele Daten wie noch nie wurden über einen einzelnen Bürger:in im WWW gesammelt. Dabei hatte es mit Two Socks – der Katze Bill Clintons – so harmlos angefangen…

Ob-la-di ob-la-da

Wenn die Siebziger im Zeichen der Innovation standen, die Achtziger im Zeichen der Angst und Apokalypse, dann sind die Neunziger wohl die Aufhebung der beiden. Der Griff ins Archiv wird zum innovativen Kick, Hypertext über alles. Selbst der religiöse Fundamentalismus ist nur ein Widergänger der alten anti-westlichen, anti-aufklärerischen politischen Bewegungen des Nationalsozialismus und Faschismus: Klerikalfaschismus, so Walter Laqueur. Tristesse Royale ist dabei noch ein harmloser Titel. Die Globalisierung hat eben auch diesen Aspekt: “aus einer immer stärker vernetzten und hybrider werdenden Welt verschwindet jenes Eigene, in dem sich Sicherheit und Identität finden”. Darauf gibt es eben unterschiedliche Reaktionen, aber es ist wohl beides legitim, da real. Ob-la-di ob-la-da. Und vielleicht war das Jahrzehnt gerade wegen seiner Widersprüche das freieste, bisher…

No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit

Jens Balzer, geboren 1969, ist Autor und Kolumnist, u.a. für die «Zeit», «Rolling Stone», den Deutschlandfunk und radioeins. Er war stellvertretender Feuilletonchef der «Berliner Zeitung» und kuratiert den Popsalon am Deutschen Theater. 2016 erschien sein vielgelobtes Buch «Pop», 2019 «Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er», über das der «Tagesspiegel» schrieb: «So lehrreich wie unterhaltsam … Am Ende ist man um nie geahnte Erkenntnisse reicher – und wünscht sich, dass sich der Autor bald das nächste Jahrzehnt vornehmen möge.»

Jens Balzer
No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit
2023, Hardcover, 384 Seiten,
ISBN: 978-3-7371-0173-8
Rowohlt Verlag


Genre: Chronologie, Geschichte, Kultur, Musik, Politik, Popkultur
Illustrated by Rowohlt

Das Romanische Café

Dieses kleine Büchlein von knapp 150 Seiten hat es in sich: Géza von Cziffra hielt sich von 1923 bis 1933 regelmäßig im Romanischen Café auf, traf Gott und die Welt und sammelte Anekdoten. Das Namensregister umfasst bald 300 Einträge und die Seitenzahlen sind aufgelistet, wann die Personen auftraten, oder auch nur zitiert wurden: Shakespeare und Goethe sind dabei. Es erschien 1981, als der Autor über achtzig war und die Geschichte über diese Zeit hinweggegangen war, unter dem Titel „Die Kuh im Kaffeehaus“. So kann er Vergleiche mit der damaligen Jetztzeit anstellen, als es schon Groupies und Hippies gab.

Viele der Prominenten wurden vom Stammgast Emil Orlik porträtiert und bebildern das Büchlein. Ein Nachwort von Ingrid Feix rundet es ab.

Im R.C. gab es feste Tische, was der 23 Jahre alte von Cziffra nicht wusste, als er das erste Mal an einem leeren Tisch Platz nahm. Der Gast, der sich dazu setzte, fragte ihn, wessen Sohn er sei, und der aufgebrachte Kellner klärte ihn auf: „Das hier ist ein höchst reservierter Tisch! Setzen Sie sich bitte anderswohin.“ Später erfahren wir, dass der Stammgast des Malertisches Max Liebermann war. Und ich glaube nun, dass dieser richtig gut berlinern konnte, das hatte ich einem Spross aus großbürgerlichem Haus nie zugetraut. Von Cziffra wurde ja später Drehbuchautor und kann Dialoge. Die noch nicht arrivierten Maler saßen am Nichtschwimmertisch.

Am Tisch der Männer der Feder saßen Schriftsteller, tauschten sich aus, mal auch mit Wissenschaftlern, Einstein verkehrte hier, flirtete heftig, was ihm den Spitznamen „der relative Ehemann“ einbrachte. Mal bot er Zauberkunststücke dar, oder er erklärte die Relativitätstheorie: „Stellen Sie sich vor, Sie sitzen neben einer hübschen und geistreichen Frau, dann wird Ihnen diese Stunde wie eine Minute vorkommen. Sitzen sie aber mit dem nackten Hintern nur eine Sekunde auf einem heißen Ofen, so wird Ihnen die Zeit sicher wie eine Stunde vorkommen.“

Es geht um Freundschaften und Feindschaften, Bewunderung, Eitelkeiten, Eifersucht und Neid. Einmal droht ein Duell: Es ging um die Schauspielerin Elisabeth Bergner, von der alle Männer schwärmten. Ein stattlicher Bursche sagte etwas Abfälliges über sie, woraufhin „ihr Lieblingskameramann Adolf Schlazy“, ein kleiner Schmächtiger, ihn ohrfeigte. Als der Riese ihn angriff, wurde er zurückgehalten, fordert dann aber ein Duell. Als er erfuhr, dass Schlazy Jude war, sagte er, mit Untermenschen duelliere er sich nicht. Der war erleichtert: „Der erste sympathische Nazi, den ich kenne.“ Wir verfolgen die Biografien von vielen der Protagonisten, auch wie sie sich später, während und nach der Nazizeit, entwickelten.

Die Frauen hatten auch ihren Tisch und es gibt auch einiges an Zickenzoff. Für einen alten Herrn, der 1900 geboren wurde, berichtet von Cziffra darüber erfreulich sachlich, etwa so wie über die Männer. Nur einmal kommt ein Herrenwitz, nicht vom Frauentisch, vor dem fürchteten sich die Männer, aber vom Kükentisch: „Hier saßen laute junge Mädchen, die … mit den grimmigsten Gesichtern der Welt verkündeten, dass sie fest entschlossen wären, sich von keinem Mann verführen zu lassen. Kurz nach Mitternacht änderten sie fast immer ihren Entschluss.“

Am meisten war am Tisch der Mimen los, wir erfahren viel, etwa, wie es zur Dreigroschenoper gekommen war. Und wie erfolgreich sie war.

Eine Marke für sich waren auch die selbstbewussten Kellner, und so schließt das Buch mit dem Lied von Friedrich Holländer über die „Romanischen Kellner“, rund um die Gedächtniskirche herum.


Genre: Film, Kultur, Kunst, Unterhaltung
Illustrated by be.bra Verlag Berlin

Hinterher

Hinterher – vielversprechendes Debüt

Hinterher. Liebeskummer. Wie kann man sowas überhaupt überleben? Wer dachte dieses Lebensgefühl, Liebeskummer, sei nur ein Problem von Pubertierenden wird in “Hinterher” eines besseren belehrt. Im Debüt des in Hannover geborenen Finn Job wird dem guten alten Liebeskummer ein trashiges und gleichzeitig intellektuelles Denkmal gesetzt, das so richtig reinhaut. Ein Roman wie ein Film, kurz und schmerzlos und direkt in die Arterien. So mag man Literatur.

Wir Kinder von Neukölln

Chaim, die große Liebe von “Boy”, wie ihn sein Freund Francesco liebevoll nennt, hat sich nach Israel abgesetzt. Boy bleibt allein in Berlin-Neukölln zurück und wird von einem Fahrrad angefahren, das ihm seine missliche Lage erst so richtig zu Bewusstsein bringt. Als im selben Moment Francesco mit dem Porsche Cayenne seiner Mutter um die Ecke schießt, steigt Boy ein und es beginnt ein abenteuerlicher Roadtrip in die Normandie. Dort soll er für Gédéon, einem Freund Francescos, ein altes Hotel wieder herrichten. Stattdessen hilft er dann aber Francesco, der eine verfallene Kirche mit Alufolie verkleiden will, um damit eine ganz bestimmte Botschaft zu transportieren. Da die beiden aber schon während ihrer Autofahrt in die Normandie nicht zu koksen aufhören konnten, gelingt schließlich weder das eine noch das andere Projekt.

Dem Leben & der Liebe “Hinterher”

Dazwischen erfährt der Leser viel über die Diskurse in der sich die Neuköllner junge Erwachsenenwelt befindet. Dass Schwulsein in Neukölln immer noch ein Problem zu sein scheint und es besser ist, sich dort nicht auf der Straße zu küssen, müssen Chaim und Boy am eigenen Leib verspüren. Aber dass dann selbst die eigene WG zum “Pack” gehört, das andere aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ausgrenzt, wiegt noch schwerer. “Pack” ist nämlich genau das Wort, das Boy für ihre Verfolger verwendet und auch ihn aus dem Kreis seiner politisch (über)korrekten Freunde ausschließt. Auch deswegen versprach die Flucht mit Francesco in die Normandie ein neues L’Chaim, ein neues “Leben”.

Wilde Flucht im Cayenne

Il n’y a pas de hors-texte“. Als dann die Drogen ausgehen – oder zumindest deren Qualität nachlässt – wird alles noch viel schwieriger und es gibt bald kein Entrinnen mehr. Dass man mit Anfang zwanzig schon so kaputt sein kann, ist kaum zu glauben, aber wohl in den Großstädten dieser Welt längst bittere Realität, wie wir ja schon seit Christiane F. wissen, die sogar noch viel jünger war, als sie auf den berühmten Hund kam. Finn Job hat seine surreale Reise in einer packenden Sprache geschrieben, die richtig über die Seiten fliegen lässt und bis zur letzten Sekunde spannend und hochtrabend bleibt. “Es war, als hätte ich mein Leben angehalten und wäre dennoch sehr alt geworden.” Finn Job bezieht sich nicht nur auf die aktuelle Populärkultur wie Songs u.ä., sondern auch viele literarische Vorbilder und kennt auch einige gute Maler.

Hinterher: vielversprechendes Debüt

Seine Referenzen sind gut nachvollziehbar und lohnen dem Nachverfolgen. Einer, der seine Hausgaben gründlich gemacht hat. Denn seine sprachlichen Bilder sitzen auch farblich. Er begibt seine Protagonisten in absurde und aberwitzige Situationen und es ist ein wahres Vergnügen, dabei förmlich zuzusehen, wie den beiden alles entgleitet. Vieles mag als purer Zynismus abgetan werden, aber hat ein Mensch, der vor enttäuschter Liebe buchstäblich zerbricht, nicht jedes Recht der Welt?

Ein Roman-Ende das förmlich nach einer Fortsetzung schreit. Bitte mehr!

Finn Job
Hinterher. Roman
2022, 192 Seiten. Klappenbroschur
ISBN 978-3-8031-3348-9
Wagenbach Verlag
Buch 22,– € / E-Book 18,99 €


Genre: Große Liebe, Kultur, Popkultur, Roman
Illustrated by Wagenbach