Der Glückliche schlägt keine Hunde

Eine ebenso kenntnisreiche wie persönliche Biographie Loriots liefert Stefan Lukschy, der den Mann mit dem feinsinnigen Humor Jahrzehnte persönlich begleiten durfte und sich dabei zu einem engen Weggefährten enwickelte. Er schenkt dem Leser eine vergnügliche Begegnung mit Loriot und seiner Welt.

Eher zufällig bekommt der damals an der Westberliner Film- und Fernsehakademie studierende Autor die Chance, 1975 als Assistent bei Vicco von Bülow alias Loriot anzufangen. Das Paar konnte unterschiedlicher kaum sein: auf der einen Seite ein junger vom Freigeist der 68-er Studentenrevolution inspirierter langhaariger junger Mann mit speckiger Lederjacke, auf der anderen Seite ein konservativ gekleideter preußischer Edelmann, der bereits damals ein Star war.

Lukschy begleitet Loriot von nun an durch die meisten seiner Produktionen und findet in ihm einen väterlichen Freund, dem er bis zu dessen Tod im Jahr 2011 treu bleibt. Er schildert en detail den Perfektionismus, der dem Künstler eigen war und die technischen wie materiellen Bedingungen, unter denen gearbeitet wurde. Dadurch, dass Lukschy sich selbst stark zurücknimmt und stets als treuer Helfer und Freund, aber nie als der heimliche Genius hinter dem Meister auftritt, atmet sein Buch eine Herzlichkeit und Wärme, die in Künstlerbiographien selten zu spüren ist.

Die Lektüre verschafft selbst dem Fan, der viele der Werke des Meisters auf DVD oder Video-Tape gesammelt hat, zusätzlichen Einblick. Das Buch schenkt Freude, weil es Informationen und Facetten rund um die Kunstfigur Loriot zeigt, die ohne Lukschys intimen Zugang kaum zugänglich wären.


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Aufbau Taschenbuch Berlin

Adieu Atlantis

Valentina Freimane führte ein Leben, in dem es keinen Mangel an historischen Katastrophen gab. Die Theater-,Film- und Kunstwissenschaftlerin wurde 1922 in Riga in eine lettisch-jüdische Familie hineingeboren und ist heute eine der letzten Überlebenden des Holocaust im Baltikum.
Adieu Atlantis  
 Ihre Familie war eine der Kunst und Kultur zugeneigte kosmopolitische, wie es sie heute kaum mehr gibt. In ihrer frühen Kindheit pendelte sie mit ihren Eltern zwischen Riga, Paris und Berlin, in der über ganz Europa verteilten Großfamilie werden die verschiedensten Sprachen gesprochen. In Berlin bekleidete ihr Vater die exponierte Stelle des Rechtsberaters der UFA, man residierte nahe des Kurfürstendamms, frühe Stars der erwachenden Leinwandkunst, Regisseure und Schriftsteller waren ständige Gäste der Familie. Das große Vorbild der damals kleinen Valentina war der Filmstar Anny Ondra.

Mit diesen unbeschwerten Erinnerungen beginnen ihre Memoiren. In Adieu Atlantis blickt Valentina Freimane zurück auf den ersten Teil ihres Lebens. Auf die unbeschwerten, von kultureller Großzügigkeit geprägten Jahre folgten Jugendjahre in Riga, in denen sie die dreifache Okkupation des Baltikums – zunächst durch die noch junge Sowjetunion, dann durch den Einzug der deutschen Wehrmacht und schließlich wieder durch die Rückkehr der Sowjets – durchlitt. Sie verlor ihre Eltern, ihren Ehemann und fast alle weiteren Verwandten. Valentina Freimane selbst fand an verschiedenen Orten Unterschlupf, unter anderem beim Minderheitenpolitiker und Journalisten Paul Schiemann, der im Gegensatz zu den meisten Deutschbalten nicht umgesiedelt war und der ihr während dieser Zeit seine Memoiren diktierte.

Zunächst aus der Perspektive des unbeschwerten, von allen Seiten geliebten Kindes, später dann aus der Sicht der jungen Frau läßt sie für den Leser in Adieu Atlantis ein spannendes Zeitgemälde entstehen. Ihre Erinnerungen sind ein Zeugnis einer untergegangen Welt, eines versunkenen Atlantis, das bisher in den Geschichtsbüchern wenig Würdigung erfuhr und gerade in unseren Breiten weitgehend unbekannt ist. Daneben sind es auch die Erinnerungen an die ihr Schutz gewährenden Menschen, die einen breiten Raum in ihren Erinnerungen einnehmen und denen sie damit eindrucksvoll Reminiszenz erweist.

Die Lebensgeschichte Valent?na Freimanes ist eng mit der Geschichte nicht nur Europas, sondern vor allem auch mit der Lettlands verknüpft und eröffnet einen vielschichtigen Blick auf diese Zeit. In der Tat ist es ja so, dass nicht nur immer weniger Zeitzeugen unter uns leben, die noch authentisch von dieser Zeit erzählen können, sondern gerade auch die damaligen Lebenswirklichkeiten im Baltikum und vor allem die der dort lebenden Juden hierzulande weitgehend unerzählt sind. Valentina Freimane schließt eine Lücke und macht nicht zuletzt dadurch Adieu Atlantis so lesenswert.

Zu Beginn ihrer Erzählungen meint man, ein osteuropäisches Pendant zu den Buddenbrooks vor Augen zu haben. Lebhaft und bildgewaltig erzählt sie vom Glanz vergangener Zeiten, von einem der klassischen Bildung verpflichteten Haushalt. Später dann ändert sich das Bild, wenn sie von der sich unerwartet schnell verändernden Lebenswelt der baltischen Juden, von ihrem lange gehegten Irrtum, durch die lettische Staatsbürgerschaft geschützt zu sein und schließlich vom Untergang einer Hochkultur erzählt. Darüber hinaus aber zeigt das Buch auch – losgelöst vom historischen Kontext – die Wichtigkeit einer Erziehung, in der Kindern Selbstvertrauen und Möglichkeiten zur freien Entfaltung gegeben wird.

Ihr Buch ist wie ein direktes Gespräch mit einem Zeitzeugen. Freimane ist nicht die größte Schriftstellerin, das gibt sie selbst unumwunden zu. Manchmal strengen ihre Erinnerungen arg an, es fehlt ein wenig an Stringenz und Struktur. Andererseits ist es gerade dies, was ihre Erzählungen so authentisch und wertvoll macht. Es ist, als höre man einer alten Dame zu, die in ihrem Sessel sitzend plaudernd vom Einen zum Nächsten kommt. Es ist wahrhaftig, auch charmant, aber es ist auch streckenweise schwer zu lesen.

Ihre Erinnerungen sind geprägt von Selbstvertrauen, dazu bemüht sie sich sichtlich, ohne Bitterkeit zurückzuschauen. Auch wenn sie aus der Perspektive des Kindes erzählt, Sachlichkeit, dem Leser die Möglichkeit eigener Urteilsfindung zu geben, ist ihr wichtig. Dabei ist ihr allerdings auch jederzeit bewußt, dass sie ihr Leben sehr privilegiert begonnen hat und ihr das auch so anerzogen wurde. Bei allem durchlebten Leid hat sie diese Attitude bis heute nicht abstreifen können. Sie weiß, dass sie kein Durchschnittsleben gelebt hat und ist stolz darauf. Ab und an kommt es dem Leser so vor, dass sie diese Besonderheit einmal zu oft und zu gerne herausstellt. Aber sei es drum. Es wurde Zeit, dass auch dieser Teil des Holocaust einmal erzählt wurde. Er ist es ebenso wie alle anderen, wesentlich besser dokumentierten Teilbereiche, wert erzählt zu werden. Freimanes Memoiren sind spät erschienen, aber sicher nicht zu spät.

Man kommt während der Lektüre nicht umhin zu denken, wie traurig es ist, dass diese Welt versunken ist. Was könnte Lettland heute für ein einzigartiges Land sein, wie sehr war es damals multikulturell geprägt! Auf ihre Art nimmt Valentina Freimanes Buch eine Art Vermittlerposition ein. Zu oft werden die Erinnungen an diese Zeit von strikter antifaschistischer Erinnungskultur auf der einen und antibolschewistischer auf der anderer Seite geprägt. Adieu Atlantis ist auch ein Aufruf für Toleranz und Demokratie auf allen Seiten. In der gegenwärtigen Zeit wiederaufkeimender Verfeindung der Ideologien, namentlich in der Debatte über die Ukraine-Krise, könnten ihre Erinnerungen, so sie denn gehört werden, eine Brücke zwischen gegensätzlichen Weltanschauungen bauen. Und schon alleine deshalb sei dem Buch seine kleinen Schwächen verziehen und das Fazit gezogen: lesenswert und aller Ehren wert.

Adieu Atlantis endet 1945. Aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Valentina Freimane es als überlebende Jüdin großbürgerlicher Herkunft nicht leicht in der Sowjetunion. Dennoch machte sie eine bemerkenswerte Karriere. Als promovierte Kunstgeschichtlerin arbeitete sie an der Lettischen Akadiemie der Wissenschaften. Ihre Verbindungen und Beziehungen ermöglichten es ihr, eine ihrer großen Leidenschaften, das Kino, mit ihren Studenten zu teilen und Filme aus den Teilen der Welt zu beschaffen, die sonst in der Sowjetunion nicht gezeigt wurden. Viele verehren sie bis heute für das von ihr so geschaffene Fenster zu einer ansonsten abgeschnittenen Welt. Bis heute lebt sie sowohl in Riga als auch immer wieder in Berlin.

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Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Wallstein Göttingen

Sehnsucht FC Bayern

Echte Fußballfans wissen nicht erst seit Nick Hornby, dass man sich seinen Verein nicht aussuchen kann, weil man vielmehr von ihm ausgesucht wird. Ein Paradebeispiel dafür ist der Autor Armin Radtke, der – obschon wohnhaft in NRW – im Knabenalter vom FC Bayern auserkoren wurde, sein Schicksal fortan mit diesem Club zu verbinden, und zwar richtig, mit allen Konsequenzen.

Genau davon erzählt dieses Buch, das die Fußballjahre 1978/79 bis 2010/11 abdeckt, beginnend mit vorsichtigen ersten Annäherungen und selbstgemalten Fahnen bis zum Hardcore-Fan, der schon mal für ein Wochenende nach Hongkong jettet, um dort ein (objektiv absolut unbedeutendes) Freundschaftsspiel des FCB vor Ort zu verfolgen.

Armin Radtke nimmt den Leser mit auf eine Reise von mehr als 30 Jahren und führt ihn von verregneten Stehplätzen in abbruchreifen Kleinstadtstadien bis zu den Luxuslogen der modernen Fußballtempel, alles wegen des Vereins, mit dem er untrennbar verbunden ist. Dabei erlebt er zwangsläufig sämtliche Höhen und Tiefen (auch die gibt es beim FCB!), die die Welt des Fußballs für den parat hält, der sich ihr ergibt.

Das Buch ist schwierig zu kategorisieren; teils Autobiographie, teils Versuch der Erklärung der Faszination Fußball und noch vieles mehr. Sprachlich versiert und flott geschrieben ist es nie langweilig, denn trotz teils akribischer Statistiken fehlt nie das nötige Maß an Humor und Selbstironie; der Autor entspricht so gar nicht dem gängigen Bild des Fußballfans, das manche Medien so gerne zeichnen.

Armin Radtke arbeitet seit mehreren Jahren auch für die Vereinszeitschrift “Bayern-Magazin” und hat in meinen Augen (ich lese dieses Heft als Mitglied auch schon seit Jahrzehnten…) großen Anteil an der erfreulichen Entwicklung von einer Fan-Postille zu einem modernen Medium, das gerade der Historie breiten Raum einräumt. Als Bayern-Insider verzichtet Radtke verständlicherweise auf durchaus mögliche pikante Enthüllungen; die Liebe und Loyalität zum Verein lassen das einfach nicht zu.

Für Bayern-Fans ist dieses Buch sowieso Pflichtlektüre, aber ich kann es auch den Anhängern anderer Vereine empfehlen, die einen Blick über den Tellerrand riskieren wollen, es lohnt sich. Und denjenigen, die mit Fußball gar nichts am Hut haben, kann es helfen, dieses Phänomen zu verstehen.


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Verlag Die Werkstatt GmbH

BE

BE Katja EichingerBE. Das ist der Titel von Katja Eichingers Biographie über ihren verstorbenen Ehemann. Damit ist schon viel gesagt. BE. Wie Bernd Eichinger. BE aber auch wie “sein”. To BE or not to BE. Hamlets Königssatz war tatsächlich ein Motto, das Bernd Eichinger gerne auf sich bezog, an dem er sich aber auch ein Leben lang abarbeitete.

Gerne genommen auch Let it BE – so bekräftigt er seinen Heiratsantrag an Katja, let it be –das Lied sang er auf ihrer Hochzeit. Man mag das großkotzig finden, nach Lektüre der Biographie weiß man aber – das entspricht ihm, so war er: Obsessiv, exzessiv, kompromisslos. Ein Organisationsgenie, ein Überzeugungstäter, wie Tom Tykwer seinen Freund nennt. Ein Mann, der für und mit dem Film lebte. Für den Film sein Schutz war vor der Realität und der Banalität des Alltags. Ein Mann, dessen Leben sich so aufregend gestaltete wie ein ganz großer Film, der schließlich so starb wie er lebte.”Im Leben wie im Tod ist er seiner alten Rockn’Roll Maxime geblieben: Rehearsals are for whimps.” (Proben sind für Feiglinge)

Dies alles erfährt man also von seiner Witwe. Es gab Zweifel im Vorfeld, ob es gut gehen kann, wenn die Witwe die längst überfällige Biographie dieses schillernden Mannes schreibt. Das Fazit vorab: ja, es geht gut. Bernd Eichinger selbst hatte seine Frau noch zu Lebzeiten darum gebeten, er wusste wohl, warum. Katja Eichinger ist gelernte Filmjournalistin, auf dieses Rüstzeug greift sie nun zurück. Sie findet einen einsichtigen, aber auch kritischen Zugang zum Leben ihres Mannes. Vieles hat sie, deren Ehe nur wenige Jahre dauern durfte, nicht selbst miterlebt, vieles also hat sie klassisch recherchiert. Sie lässt verschiedene Perspektiven auf ihren Mann zu, spricht mit Weggefährten und greift auf alte Korrespondenz zurück.

Dazu kommt – ganz wichtig, aber heutzutage leider nicht selbstverständlich – :Katja Eichinger ist ein Mensch, der weiß, was das Wort Respekt bedeutet. Respekt vor dem Schaffen und Wirken anderer, Respekt aber auch vor Privatsphäre. Sie berichtet en Detail, erliegt aber nie der Gefahr des verklärenden Blicks. Sie spricht ihren Mann nicht heilig, trotzdem ist aus jeder Zeile das tiefe Verständnis lesbar, das enge Band, welches die beiden verband. Respekt wahrt sie auch stets, wenn sie über Weggefährten schreibt. Über die, die zur Eichinger Familie gehörten, aber auch über die, mit denen B.E. Kämpfe ausgefochten hat. Sie lässt auch seine früheren Beziehungen und Affären nicht aus, nebenbei erfährt man einiges über die legendären Nächte im Schumanns, der Hofhaltung im Romagna Antica, (Vorbild für das Rossini im gleichnamigen Film). Nächte, die gerne mal rauschend in Bordellen oder der Unterwelt endeten. Nie tritt sie aber dabei jemandem zu nahe, vorgeführt wird keiner in diesem Buch.

Richtig spannend sind die Entstehungsgeschichten der großen Filme. Bei der Lektüre wird einem erst klar, in welchem Ausmaß Bernd Eichinger nicht nur die deutsche Filmlandschaft geprägt hat. Spät erfuhr Eichinger ja die Würdigung, die ihm zustand. Filme wie der Baader Meinhof Komplex, das Parfum oder der Untergang fanden weltweit Beachtung. Dass Eichinger aber auch schon der Mann hinter Produktionen wie Christiane F., Last exit to Brooklyn und vielen anderen war, das ist im kollektiven Bewusstsein kaum verankert. Eichinger war einer der wenigen deutschen Filmschaffenden, die fürs Publikum produzierten und dabei im Niveau durchaus flexibel war. Zu seiner Bandbreite gehörten der Zementgarten ebenso wie Werner–beinhart. Das Feuilleton hat ihn dafür gerne verrissen, das Publikum aber hat es ihm gedankt. Insofern war eine umfassende Biographie Eichingers längst überfällig. Dass und wie Katja Eichinger dies getan hat, ist ein letzter Liebesdienst für ihren Mann. Es ist eine würdige Biographie geworden, stil – und niveauvoll, die sich wohltuend abhebt von dem, was derzeit in den Gazetten so als Biographie angepriesen wird.

Was bleibt nach der Lektüre, ist der Wunsch, sich einige der Filme noch einmal anzusehen. Mit Fuchur noch einmal durch die unendlichen Weiten Phantasiens zu reisen, Meryl Streep im Geisterhaus zu besuchen, aber auch den Weg des Mädchens Rosemarie noch einmal mitzugehen. Was bleibt ist der Dank des Publikums an Bernd Eichinger und der Dank an Katja Eichinger, die zur rechten Zeit gezeigt hat, wie eine Biographie auszusehen hat. Bernd Eichinger hätte es sicher gefallen, vielleicht hätte er gesagt: So it should BE.

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Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Hoffmann und Campe

Love is the cure

Love is the cureOha! Der als egomanischer Paradiesvogel verrufene Elton John hat ein Buch geschrieben. Da mag sich mancher die Hände reiben und Schillerndes aus der Regenbogenwelt erwarten. Klatsch und Tratsch, Glamour, Federn, Diademe, Orgien – die ganze Popstar-Palette eben. Doch weit gefehlt. Der Untertitel: Über das Leben, den Verlust und wie wir Aids besiegen können sagt es schon. “Love ist the cure ” ist weniger eine Autobiographie denn ein Sachbuch.

Es gibt zwar Einblicke in das Leben des Elton John, einige liebevolle Geschichten über einstige und heutige Weggefährten sowie ein paar schicke Fotos obendrauf – doch das Thema dieses Buches ist mit vier Buchstaben beschrieben. AIDS. Vier kleine Buchstaben, die die Menschheit bestürzten, ängstigten und in der westlichen Welt heute viel von ihrem Schrecken verloren haben. Eine Krankheit, mit der man bei entsprechender Medikation einigermaßen leben kann und die heute nur noch ein Randthema ist. In der westlichen Welt wohlgemerkt. In anderen Welten nach wie vor eine schreckliche Geißel,  die hierzulande aber kaum mehr zur Kenntnis genommen wird und für die sich in Zeiten globaler Finanzgrippen nur noch wenige engagieren.

In den 1980er Jahren sah Elton John einen Freund, einen geliebten Menschen nach dem anderen an AIDS sterben. Er beobachtete Ächtung, Stigmatisierung und unsägliches Leid. Sein eigenes Leben war zu dieser Zeit ein Chaos im Drogensumpf. Den Ausschlag, an diesem Leben etwas zu ändern und sich mithilfe philanthropischer Aktivitäten selbst aus diesem Sumpf zu ziehen, gab das inspirierende Leben und verheerende Sterben eines kleinen Jungen –Ryan White – mit dessen Familie sich Elton John angefreundet hatte. Er unterzog sich einer Entziehungskur, lernte dort viel über sich und über Methoden der Hilfe zur Selbsthilfe und setzte all dies schließlich um in die Gründung der heute weltweit erfolgreich tätigen EJAF, der Elton John Aids Foundation. So ist das Buch im Wesentlichen eine Biographie der EJAF, es berichtet über deren Arbeit, über die ungezählten Treffen mit Politikern aus verschiedenen Epochen, Regierungen und Ländern. Aber es vermittelt eben auch die Erkenntnisse, die Elton John während dieser Jahre gewonnen hat und es zeigt Mittel und Wege, wie AIDS eingedämmt und besiegt werden kann. Elton John geht dabei hart mit Politikern, Pharmaunternehmen und auch kirchlichen Institutionen ins Gericht, bleibt aber gleichwohl fair. Das Buch ist in einer recht simplen leicht verständlichen Sprache geschrieben. Gerade so, als würde der Sänger neben einem sitzen und sein Anliegen erklären. Dennoch ist deutlich zu spüren, dass Elton John weiß, wovon er redet. Logisch führt er aus, wie sehr gerade Stigmatisierung, Macht- und Gewinnstreben verhindern, dass Aids weltweit besiegt wird. Er rechnet vor, dass die tatsächlichen Kosten für eine Ausrottung der Geißel “nur ein Tropfen wären im riesigen Ozean weltweiter Regierungsausgaben” und das man das Geld nicht einmal vermissen würde.

“Egal, ob man der reichste Mensch der Welt ist oder absolut gar nichts hat, jeder hat das Recht, mit Respekt und Mitgefühl behandelt zu werden.” Dies ist die Erkenntnis, welche die Basis der Stiftungsarbeit darstellt. Elton John endet tatsächlich mit der titelgebenden Erkenntnis, Liebe ( zu den Mitmenschen ) ist das Heilmittel. Die Kernbotschaft des Buches ist somit simpel gestrickt, aber in ihrer naiven und einfachen Logik auch einleuchtend.
Fazit: Love ist the cure ist streckenweise unterhaltsam und regt zum Nachdenken an. Seinem Motiv, einen mit vielen Fakten untermauerten längst überfälligen Gedankenanstoß zu geben, dürfte Elton John mit diesem Buch voll und ganz gerecht geworden sein.

Elton John 
Love is the cure, 209 Seiten
Hoffmann und Campe 2012
ISBN 978-3-455-50274-9 


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Hoffmann und Campe

Landschaften einer fernen Mutter

Said LandschaftenIn einem sehr persönlichen Kontext gab mir eine junge deutsche Frau mit Migrationshintergrund die “Landschaften einer fernen Mutter”, einen autobiographischer Text des iranischstämmigen Autors Said.

Darin beschreibt und verarbeitet er die wenige Tage nach seiner Geburt vollzogenen Trennung von seiner Mutter. Die Scheidung der Eltern vollzog sich bereits während der Schwangerschaft und es war beschlossene Sache, dass das Kind ausschließlich bei seinem Vater leben sollte. Ein einziges Mal durfte er als Zwölfjähriger die Mutter sehen.

Jahrzehnte später: Said ist inzwischen 43 Jahre alt und lebt schon seit langem im deutschen Exil. Überraschend erhält er einen Telefonanruf: die Mutter sei auf dem Weg nach Kanada und möchte ihn, Said, treffen. Nach umständlichen Pass- und Visaverhandlungen begegnen sich die beiden Fremden in Toronto in der Wohnung des ebenfalls unbekannten Halbbruders zum ersten Mal. Drei Wochen verbringen sie gemeinsam in einer Wohnung, drei Wochen, um sich zu begrüßen, kennenzulernen und sich wieder voneinander zu verabschieden.

Die Landschaften sind viel mehr als nur eine Erzählung über die allgemeine Erfahrung des Fremdseins. Ausschließlich in Kleinbuchstaben geschrieben fällt der Text den Leser ungedämpft mit all seinem Schmerz und seinen Ressentiments an, der Leser schwankt zwischen Befremden und Betroffenheit. Das zerrissene Verhältnis zur Mutter spiegelt der Autor in der Romankonstruktion wider, sich der Stilmittel des Fragmentarischen, Lückenhaften und eingefügter, scheinbar willkürlich in der Zeit springender Passagen bedienend. Über weite Strecken schafft Said eine beeindruckende Sachlichkeit, eine unterdrückte, beherrschte Traurigkeit, doch spätestens im Epilog zeigt sich seine große Verbitterung über die zweimal verlorene Mutter, die ihn nicht mehr loslässt und auch den Leser noch länger begleitet.

Die “Landschaften einer fernen Mutter” sind ein bis zur Exhibition persönliches Buch, über weite Strecken zwar pragmatisch und aus selbstauferlegter Distanz geschrieben, im Epilog dann so undiplomatisch, so radikal von der Seele geschrieben wie nur möglich. Einmal nennt er Kafka, so dass der Vergleich mit dem “Brief an den Vater” sich geradezu aufdrängt. Der große Unterschied besteht darin, daß Said weiß, daß seine Mutter den Abschiedsbrief nie lesen wird.

Das Buch an sich ist so eigenartig wie die Erfahrung, die es beschreibt. Streckenweise gerät der Leser zwischen die Fronten, fühlt sich fast zum Schöffen ernannt. Aber wünscht Said die Zustimmung seiner Leser oder die Widerrede? Entscheiden will man hier nicht. Befremden und Betroffenheit mischen sich zu einer seltsamen Leseerfahrung.

SAID ist ein im deutschen Exil lebender iranischer Schriftsteller. Er kam 1965 als Student nach München, wo sich seine literarischen Ambitionen schnell mit einem politischen Engagenment und einem Bekenntnis zur Demokratie verbanden, welches eine Rückkehr in den Iran bis heute verhindert. Seit längerem deutscher Staatsbürger schreibt er Lyrik und Prosa in deutscher Sprache mit all ihren Nuancen. Auszeichnungen erhielt er nicht nur für sein literarisches Werk, sondern auch für sein Engagement für politisch Verfolgte, u.a. im  “Writers in Prison Committee” .

Ich muss gestehen, dass mir der Schriftsteller bisher unbekannt war. Ich war von dem Buch aber tief berührt, werde sicher noch mehr von ihm lesen und empfehle das auch gerne  – schon alleine, weil es sich die intellektuelle, gebildete Schicht der Muslime wünscht.

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Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by dtv München

Dat Schönste am Wein is dat Pilsken danach

\"datPilskendanach\"Wie das Leben manchmal so spielt, müssen zwei im Ruhrgebiet geborene und sozialisierte Journalisten erst an die Alster ziehen, um sich kennen und schätzen zu lernen. Die Spiegel-Online Autoren Frank Patalong und Konrad Lischka stellten beim Feierabend-\”Pilsken\” fest, \”dass man den Ruhrie in sich nie ganz ablegen kann.\” Die beiden entdeckten viele Gemeinsamkeiten, aber auch einen entscheidenden Unterschied. Frank Patalong (Jahrgang 1963) wuchs im von der Stahlindustrie geprägten Duisburg auf. Er erlebte die Zeit, in der es Konsens war, Ruß, Dreck und Gift im Tausch gegen Arbeitsplätze in Kauf zu nehmen und den heimischen \”Monte Schlacko\”* als größtmöglichen Abenteuerspielplatz zu akzeptieren. Konrad Lischka (Jahrgang 1979) hingegen wurde Anfang der achtziger Jahre in Essen mit dem Strukturwandel groß. Er erlebte Zechen und Stahlwerke oftmals nur noch als Kulisse für postapokalyptische Foto-Szenarien oder als einzigartige Räume für die durchlässige Subkultur des Ruhrgebiets. Seine Halden waren schon die von Menschen gemachten Landschaftsparks, die viele heute für Natur halten.

Grund genug für die beiden, zu ihrem journalistischen Rüstzeug zu greifen und gemeinsam ein ehrliches Buch über das Ruhrgebiet und ihre Bewohner zu schreiben. Ihr Blick auf die \”wunderbare Welt des Ruhrgebiets\” ist oft kritisch, immer aber auch liebevoll. Sie erzählen persönliche Geschichten aus dem (Er-)Leben ihrer Familien und damit über zwei völlig unterschiedliche Zeiten und zwei völlig unterschiedliche Ruhrgebietswahrnehmungen. Ihr Buch ist aber bei weitem nicht nur eine Anekdoten- und Geschichtensammlung. Ihre Berichte bilden den Rahmen für eine subjektive und spannende Analyse des Ruhrgebiets. Es sind erstaunliche, manchmal auch schmerzliche Erkenntnisse, die die beiden da zu Tage fördern. Viele Gedanken, von den meisten im Ruhrgebiet Lebenden erst gestreift, haben die beiden zu Ende gedacht. Mit Vielem haben sie Recht, dies muss auch ich als Ruhrgebiets-Eingeborene (nicht immer gerne) unumwunden zugeben. Ich habe mich sehr oft wieder erkannt. Sie haben Recht mit ihren liebevollen Blicken auf die mutige, oft trotzige Beharrlichkeit des \”Ruhries\”, die Herausforderungen der Zukunft anzunehmen. Es stimmt, der Ruhrgebietler kultiviert den Malocherpathos, ist aber auch stolz auf die einzigartigen Kultur- und Landschaftsräume. Ich geben Ihnen aber auch Recht mit ihrer desillusionierenden Feststellung, \”Reg Dich nicht auf, hat doch keinen Zweck\” wäre ein ausgezeichnetes Leitmotiv für eine noch zu entwerfende Ruhrpottflagge. Fatalismus hat im Ruhrgebiet Tradition und auch die ach so vorbildliche, gerühmte Multi-Kulti-Toleranz ist schlicht und ergreifend oft genug einfach nur Ignoranz und nebeneinanderher leben. Hauptsache, man fällt nicht auf, passt sich an, kappt seine eigenen Wurzeln und wird zum \”Ruhrpötter\”. Lischka/Patalong fassen es treffend zusammen:\”Der bewährte Ruhrreflex gegen alles, was uns die Schattenseiten vor Augen führen könnte:Woanders ist auch scheiße\”.

Die beiden Autoren dürfen meckern. Sie sind aus dem Ruhrgebiet, sie lieben den Pott, man liest es aus jeder, auch noch der kritischsten Zeile heraus. Und sie meckern ja nicht nur, sie zeigen uns auch ihre persönlichen Lieblingsplätze und geben jede Menge feine Tipps für alle Lebenslagen. So ist ihr Buch ein empfehlenswerter Schmelztiegel geworden, genau wie das Ruhrgebiet selbst. Es sei jedem Ruhrgebietler empfohlen, der eine kritisch liebevolle Auseinandersetzung mit seiner Heimat verträgt und darüber hinaus jedem, der immer schon mal erfahren wollte, wie es im Ruhrgebiet abseits von der in den Medien oft so gern überzeichneter Tristesse wirklich ist.

Das Ruhrgebiet ist heute vom Strukturwandel gezeichnet, \”ein Ort, wo fast alles verschwinden oder sich zumindest jederzeit verwandeln kann\”. Im Guten wie im Schlechten. Sagen wir es mit dem im Buch oft zitierten Kumpel Schibulski \”Ewich gibbet nich. Wat bleibt, iss, wie die Leute sind.\”

(Anmerkung: Der Titel zitiert einen im Ruhrgebiet allgegenwärtigen Trinkspruch, welcher dem verstorbenen Dortmunder Oberbürgermeister Samtlebe zugeschrieben wird.) 
*ortsübliche Bezeichnung für die im Ruhrgebiet allgegenwärtigen Halden

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Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Bastei Lübbe

Für ‘ne Moment

mit Oliver Kobold – Autobiographie

W.N. Für ne Moment »… und was in der Gegenwart einzelne Momente sind, ordnet sich in der Erinnerung zu einer Geschichte, die unerschütterlich behauptet: Das bist du, das ist dein Leben«

Wolfgang Niedecken (im folgenden W.N.), Frontmann, Gründungsmitglied der legendären, seit Jahrzehnten bestehenden Kölsch-Rock-Band BAP erzählt. Von diesen Momenten. Momentaufnahmen einer Kindheit zwischen Trümmern und dem Lebensmittelgeschäft der Familie unter dem heiligen Severin im Nachkriegs-Köln. Von Jahren in einem katholischen Konvikt und der Rebellion gegen Autoritäten und auch seinem Vater. Von seiner Liebe zur Kunst und Malerei, den ersten Ausstellungen und der 70erJahre Kunstszene, schon damals begleitet von späteren auch musikalischen Weggefährten. Von den ersten unbeholfenen musikalischen Gehversuchen und der bei allem Dilettantismus daraus resultierenden fast schon religiös anmutenden Befriedigung. Von den Anfängen der Kölsch-Rockern und den späteren Erfolgen mit BAP. Von Unruhe in der Seele, dem ständigen Getriebensein zwischen Start und Ziel. Von Wendepunkten und Zufällen, von Liebe und Verantwortung. Von Heinrich Böll und Wim Wenders. Von den geplatzten Konzerten in der DDR und den Auftritten in China und Nicaragua. Von Afrikareisen und den aus dem Mut der Verzweiflung von Noh Gulu entstandenen Hilfsprojekten.

W.N. erzählt all dies, so wie er spricht. So wie er eben auf der Bühne seine Geschichten und Hintergründe zu den Songs erklärt. Oft genug findet der aufmerksame Leser und geübte Bap-Hörer auch Zitate aus seinen Songs, so daß man erfreut auch diese Stücke in einen Zusammenhang bringen kann. Die SongZitate sind nicht gekennzeichnet, wozu auch. Sind ja seine, brauch er sich um Urheberrechte keine Gedanken zu machen, ganz in der Tradition der in Amerika so geliebten Eastereggs.
W.N. erzählt nur bedingt chronologisch, mehr ist es so, als wenn er vom Höcksken aufs Stöcksken kommt. Für den Leser manchmal anstrengend, aber immer voller Poesie, voller Zuneigung zu denen, die ihn begleitet haben und denen, mit denen er heute seinen Weg weitergeht. Es ist ein liebevoller Blick zurück auf ein erstaunliches Leben, welches er selbst sich eigentlich ganz anders vorgestellt hatte, brotloser befürchtet wohl auch. Der Leser, der sich ein Nachkarten über den damals vieldiskutieren Ausstieg von Klaus “Major” Heuser und anderen langjährigen Bandmitgliedern erhofft hatte, bleibt unbedient. Er spricht über diese Zeit, ebenso wie über seine erste Frau Carmen. Et ess evven so, wie et ess. Man lebt sich auseinander, entwickelt sich in verschiedene Richtungen und geht den Weg in diese alleine weiter. So einfach, so schwierig.
Ich gebe zu, als langjähriger BAP-Fan hätte ich schon ganz gerne gewusst, was aus Schmal Boecker und Effendi Büchel wurde, aber gut – ist respektiert. Auch über die musikalische Zusammenarbeit mit Anne de Wolff hätte ich gerne mehr als eine halbe Seite gelesen, doch im Großen und Ganzen war es schön, dieses Buch zu lesen. Der geneigte Fan, der auch schon seit Jahren W.N.’s Logbuch liest (und sich dadurch auch selbst zum Bloggen hat inspirieren lassen ) erfährt zwar wenig Neues, aber er begibt sich mit diesem Buch auf eine Art Zeitreise. Oft genug waren es in den vergangenen Jahrzehnten auch meine Gedanken, die ich in seinen Worten wiederfand, oft genug war ich auf den Konzerten oder Premieren, die er beschreibt, oft genug war auch ich auf den beschriebenen Demonstrationen, hörte diesselbe Musik und las dieselben Bücher, fühlte mich von der Politik und der Entwicklung dieser Jahre ebenso beeinflusst. Von daher – für den Fan sicher ein unbedingtes Muß, aber auch zu empfehlen für die, die gerne die Geschichte eines so spannenden Lebens im Nachkriegsdeutschland lesen mögen.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Hoffmann und Campe

Life

Schon das Schwarz-Weiß-Cover wirkt düster bedrohlich: Die brennende Zigarette im von tiefen Falten zerfurchten Gesicht und das rechte Auge halb verdeckt vom berühmten Totenkopf-Ring, typisch Keith Richards eben, bad boy des Rock ‘n Roll-Business und Gitarrist der besten Band der Welt. Das Buch beginnt mit einer Reise durch den erzkonservativen bigotten Bible Belt der USA, das Auto voller Drogen und natürlich werden sie von den Cops hochgenommen und natürlich kommen sie ungeschoren davon.

Von da an geht es streng chronologisch zu, die Kindheit im tristen Nachkriegs-England, frühe Rebellion gegen die Autoritäten, die Entdeckung schwarzer Blues-Musik, das zufällige Treffen mit Mick Jagger und der Rest ist dann ja Geschichte. Die allerdings wird akribisch erzählt, mit sämtlichen Höhen und Tiefen und an beiden herrscht ja wahrlich kein Mangel bei den Rolling Stones. Selbst der eingefleischte Fan erfährt hier noch etwas Neues, und damit meine ich nicht die ausführlichen Tipps zum Gitarrenspiel oder ein Kochrezept für Bratwürste mit Kartoffelbrei.

Das Buch ist absolut faszinierend und liest sich spannend wie ein Thriller (die professionelle Unterstützung durch Autor James Fox zahlt sich aus); die lakonische Sprache dabei ist typisch Keith Richards, Langeweile kommt nie auf. Und er schont dabei nichts und niemanden, weder sich selbst, noch andere und am wenigsten seine Bandkollegen (außer Charlie Watts, über den verliert er kein böses Wort, aber Charlie ist ja sowieso everybodys darling): Bill Wyman? Führte Strichlisten über Frauenbesuche, kommt ansonsten kaum vor. Mick Taylor? Ein Weichei, der nie zur Band passte. Brian Jones? Ein hemmungsloser Sadist, komplett verrückt. Ronnie Wood? Passabler Saufkumpan, jedoch unzuverlässig. Und natürlich Mick Jagger, der andere Glimmer Twin: Mit zunehmendem Erfolg immer abgehobener, allzu ökonomisch orientiert und ein gnadenloser Egoist, der spätestens mit dem Versuch seiner Solokarriere (die Platten sind selbstverständlich Mist) den Fortbestand der Stones auf’s Spiel setzte. Und ja, sein Geschlechtsteil ist eher klein.

Dennoch ist Mick Keiths Bruder, er kann nicht von ihm lassen, denn sie brauchen einander, das Ganze ist größer als die Summe der Einzelteile, eine (Hass)-Liebe seit fast 50 Jahren. Auch die Frauen kommen ausführlich zu ihrem Recht, Anita Pallenberg, Uschi Obermaier, Patti Hansen (Ehefrau seit vielen Jahren) und viele mehr. Breiten Raum nimmt natürlich auch seine Drogenkarriere ein, wie auch nicht, ist sie doch eines seiner Markenzeichen. Richards rechtfertigt sich für nichts, eben ein Teil seines Lebens, den er aber nicht verharmlost; die Schilderungen der diversen cold turkeys gehen durchaus unter die Haut und man muss sich wundern, dass der Mann immer noch lebt. Heute ist er clean seit vielen Jahren, zumindest was Heroin betrifft.

Man darf getrost davon ausgehen, dass hier nicht immer die objektive Wahrheit (gibt es die überhaupt?) erzählt wird, denn Keith nutzt legitim die Gelegenheit, sich in vergleichsweise hellem Licht darzustellen. Nur eines steht außer Frage: Seine bedingungs- und grenzenlose Liebe zur Musik, die auf jeder Seite des Buches deutlich wird, exemplarisch dafür die packende Schilderung zur Aufnahme von „Exile on Main Street“ unter chaotischen Umständen, sowie die ausführlichen Erklärungen zur Zusammenarbeit mit anderen Musikern, nicht nur im Rahmen seiner Soloprojekte.

Keith Richards ist ein Phänomen, eine lebende Legende und seine ehrlichen Erinnerungen sind natürlich ein absolutes Muss für die Stones-Gemeinde, aber auch eine veritable Fundgrube für Interessierte an der jüngeren Zeitgeschichte, nicht nur beschränkt auf die Musik; auch in Sachen Zeitgeist hoch interessant. Ach ja, existenzielle urbane Mythen werden ebenfalls aufgeklärt: Flog er zur Blutwäsche in die Schweiz? Hat er die Asche seines verstorbenen Vaters geschnupft? Sorry, aber für die Antworten müsst ihr schon selbst das Buch lesen…


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Orion Publishing Group

Mein Leben

Gitarrengott Eric Clapton hat seine Lebensgeschichte zu Papier gebracht; wer sie liest, erlebt eine grandiose Symphonie aus Alkohol- und Drogensucht und wird in einen Strudel von Liebe, Leidenschaft, Schicksalsschlägen und Enttäuschungen gezogen. Das Leben des Superstars, das der Autor vor seinem Leser ausbreitet, ist wild und abwechslungsreich. Ob es glücklich und erfüllt ist, steht indes auf einem anderen Blatt.

Der am 30. März 1945 im südenglischen Ripley geborene Eric Clapton wuchs als uneheliches Kind in bescheidenen Verhältnissen bei seinen Großeltern auf. Der Junge war schüchtern, fühlte sich zurückgesetzt und abgelehnt; er zog sich zurück und blieb für sich. Früh begann er, Platten, die ihm in die Hände fielen, auf der Gitarre nachzuspielen und sich eine eigene Technik anzueignen. Ehrgeizig lernte er von den Songs von Muddy Waters, Chuck Berry und B. B. King und entdeckte so für sich den Blues.

Besonders begeisterte den jungen Mann Freddy King, dessen Gitarrensoli ihm den Atem verschlugen. Es war wie moderner Jazz, expressiv und melodisch, eine einmalige Spieltechnik, bei der die Saiten auf eine Weise gedehnt wurden, dass Sounds entstanden, die ihm kalte Schauer den Rücken runterjagten. Bei seinen ersten Auftritten mit Casey Jones und später den »Yardbirds« spielte Clapton auf sehr dünnen Saiten, weil er die Töne darauf besser ziehen konnte. Es passierte häufig, dass bei einer der wildesten Passagen der ausgedehnten Songs mindestens eine Saite riss. Während Eric neue Saiten aufzog, verfiel das Publikum oft in ein langsames Klatschen, das dem Lead-Gitarristen den Spitznamen »Slowhand« einbrachte.

Der Londoner Marquee-Club war zu Zeiten des kometenhaften Aufstiegs der »Beatles« Sammelpunkt der R&B-Szene. Dort sah Clapton erstmals John Mayall sowie den Keyboarder Graham Bond, der gemeinsam mit Bassist Jack Bruce und Schlagzeuger Ginger Baker auftrat. Mayall lud ihn ein, bei seinen »Bluesbreakers« zu spielen. Von Stund an war Clapton Profimusiker und lernte das harte Tourleben mit bisweilen zwei Auftritten pro Tag kennen.

Den künstlerischen Durchbruch erzielte er mit dem Bluesbreakers-Album »John Mayall with Eric Clapton«. Fans begannen, über ihn zu sprechen, als wäre er eine Art Genie. Irgendwann schrieb jemand den Slogan »Clapton is God« an der Wand der U-Bahn-Station Islington, der sich danach wie Graffiti in ganz London ausbreitete.

In seiner Autobiographie beschreibt sich Clapton als Menschen, der stets seinen eigenen Zugang zur Musik und in produktiver Unzufriedenheit neue Herausforderungen suchte. So kam es zur Gründung der in Europa und den USA enorm erfolgreichen Drei-Solisten-Band »Cream« mit dem Bassisten Jack Bruce und Schlagzeuger Ginger Baker, die bereits mit ihrem ersten Hit »I feel free« als »Supergroup« in die Musikgeschichte einging.

Spannungen untereinander führten zur Gründung von »Blind Faith«. Neben Clapton und Baker spielten Ex-»Traffic« Stevie Winwood, dessen Kreativität Clapton hoch schätzte, und Ric Grech von »Family« mit. Doch auch diesmal waren die musikalischen Vorstellungen der vier Bandmitglieder auf Dauer nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Clapton spielte danach mit George Harrison und John Lennon von den »Beatles« und tourte, nachdem er nach New York gezogen war, mit Delaney & Bonnie. In den Vereinigten Staaten schaffte er es mit seinem Stück »After Midnight« erstmals in die US-Hitparaden.

Ausführlich beschreibt Clapton sein Verhältnis zu Drogen. Aufgrund seiner Angst vor Spritzen entwickelte er sich nicht zum Junkie, sondern er schnupfte Heroin. Dabei nahm er stets beste Qualitäten, die er sich aufgrund seines enormen Erfolges leisten konnte. Das ist vielleicht der Grund, warum er alle Exzesse überlebte, während andere Musiker um ihn herum zu Grunde gingen. Unter der Drogensucht, die mit extremem Alkoholismus einherging, er soff zwei Flaschen Schnaps pro Tag, litt seine Arbeit als Musiker, und auch sein Privatleben war alles andere als geordnet. Mehrere Aufenthalte in Entzugskliniken, Psychotherapie, gute Freunde und ein gelebter Gottglaube halfen ihm schließlich, clean zu werden.

Der schüchterne und sich gern in sein inneres Schneckenhaus zurückziehende Clapton hatte ein recht einseitiges Verhältnis zum anderen Geschlecht. Meist ließ es sich von Mädchen verführen, die ihm nach Konzerten oder bei anderen Events in die Hände fielen. Lediglich für Pattie, die Frau seines Freundes George Harrison, entwickelte er eine Obsession. Jahrelang umschwärmte er sie, bis sie sich endlich von dem berühmten Beatle trennte und zu ihm zog. Er widmete ihr Songs wie »Layla« und »After Midnight«, doch die Beziehung litt darunter, dass der Musiker auf seinen endlosen Tourneen immer wieder fremdging. Der Ehe, die sie schließlich schlossen, war deshalb keine lange Dauer beschieden.

Eric verliebte sich meist glücklos in andere Frauen, von denen eine ihm einen Sohn namens Connor schenkte. Dieser Junge stürzte jedoch im Alter von drei Jahren aus dem Fenster des Appartements der von Clapton getrennt lebenden Mutter im dreiundfünfzigsten Stock eines New Yorker Appartementhauses. Der Musiker war am Boden zerstört und nahe daran, wieder zur Flasche zu greifen. Schließlich ließ es sich von einem Mädchen, das ihn um ein gemeinsames Foto bei einer Veranstaltung bat, in den Bann schlagen. Sie schenkte ihm inzwischen vier Kinder, und er versucht sich seitdem als Familienvater.

Clapton schildert sein Leben in schlichten Worten. Sein von ständigen Ängsten geprägtes Verhalten wirkt auf den Leser bisweilen schwach, naiv und unreflektiert. Er ließ sich bei seinen Entscheidungen sehr leicht von Freunden, Wahrsagern oder Zufallsbekanntschaften beeinflussen und entschied sich meist spontan für den Erwerb eines Hauses, eines Schiffes, einer Insel, einer Kunstsammlung … Nur wenn es um Musik geht, wirkt er selbständig und nicht fremd gesteuert. Deshalb ist es besonders spannend zu erfahren, wie sein Leben sich in seinen Songs spiegelt, und er sich mittels Musik selbst findet.

Wer tiefer in das Wesen dieses Superstars einsteigen will, wird bei der Lektüre schnell feststellen, dass nicht jedes Genie auf einem Spezialgebiet auch ein intellektueller und charakterlicher Überflieger sein muss. Nahezu anachronistisch wirkt schließlich, wenn ein Musiker, der einen Großteil seines wilden und ausschweifenden Lebens auf Tour war und in Hotels lebte, im Fazit seiner Lebensbetrachtung gesteht, er fürchte inzwischen Hotels, weil es dort bisweilen ein wenig laut hergehe – eine seltsam anmutende Betrachtungsweise eines Mannes, der selbst lange zu den jungen Wilden gehörte.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Café Vigata. Andrea Camilleri im Gespräch

„Benvenuti a Porto Empedocle (Vigata)“, „Herzlich willkommen in Porto Empedocle (Vigata)“. Damit hat sich der Geburtsort von Andrea Camilleri dem literarischen Hauptort der Geschichten Andrea Camilleris gebeugt. Ähnliches ist bisher nur zwei anderen Orten, aus denkbar unterschiedlichen Gründen, geschehen: Zur Einführung einer neuen Generation des „Golf“ nannte sich die niedersächsische Kfz-Metropole Wolfsburg nach ihrem allgegenwärtigen Autoproduzenten und das Dorf Aracataca, der Geburtsort des kolumbianischen Literaturnobelpreisträgers Gabriel Garcia Marquez benannte sich konsequenterweise nach dem Ort, in dem der Literat sein Hauptwerk „Hundert Jahre Einsamkeit“ spielen lässt: Macondo. In Porto Empedocle wurde zwar der offizielle Name der Stadt nicht geändert.
Das Café allerdings, in dem Andrea Camilleri, der seit mehr als drei Jahrzehnten in Rom lebt, während seiner regelmäßigen Besuche sitze, wurde ihm zu Ehren in „Café Vigata“ umbenannt.
In diesem Café verbringt der berühmteste und nun schon seit Jahren auch erfolgreichste Schriftsteller Italiens ganze Tage. Wäre Camilleri nicht ein in der Wolle gefärbter Republikaner und linker Demokrat, ließe sich sicher schreiben, er hielte dort „Hof“. Er trifft im Café Vigata Freunde ebenso wie Journalisten oder Verleger zum Gespräch. Er liest dort, schreibt und lässt das Leben an sich vorbeiziehen.
Ein Buch, dass Gespräche mit ihm dokumentiert, könnte also eigentlich gar keinen anderen Titel als den Namen dieses Cafés tragen. Die Gespräche in diesem überaus lesenswerten Buch drehen sich weniger um seine politischen Ansichten und Betrachtungen seines verrückten Vaterlandes als vielmehr um sein Leben, seine Bücher und seine Beziehung zu Menschen, Orten, Häusern und Plätzen seiner sizilianischen Heimat – und um seine Liebe zum Meer. Die Küste und das Mittelmeer sind es vor allem, die ihm in Rom fehlen und derentwegen er regelmäßig zurückkehren muss.
Immer amüsant, geistreich und beileibe nicht banal ist das, was hier auf 134 Seiten nachzulesen ist. Camilleri lenkt dabei mehr die Gespräche durch seine Erzählungen, als dass er sich darauf beschränke ließe auf die Fragen des Journalisten Lorenzo Rosso zu antworten. Immerhin erfahren wir, dass der Meister seinen wichtigsten Protagonisten, Kommissario Montalbano, literarisch längst in die Wüste geschickt hat. Nur veröffentlicht ist das noch nicht. Wann aber das Ende dieser überaus beliebten Krimireihe droht, verrät Camilleri natürlich nicht.


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Bastei Lübbe Bergisch Gladbach

Thomas Bernhard

Hoell beschreibt die schwierige Kindheit Bernhards als Initialzündung für dessen literarische Arbeit. Bernhards Mutter Herta floh aus dem erzkatholischen, intoleranten Österreich, um ihr unehelich geborenes Kind zur Welt zu bringen und ging dazu nach Holland. Geburtsort Bernhards war insofern Heerlen/NL. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, gab die Mutter den Sohn weg. Thomas verlebte die frühe Kindheit bei seinem Großvater, dem Heimatschriftsteller Johannes Freumbichler (1881-1949) und gewann diesen als Vorbild. Ab 1936 nahm ihn seine Mutter, die inzwischen Emil Fabjan geheiratet hatte, wieder auf.

1948 erkältet sich Bernhard, der inzwischen eine Lehre angetreten hat, beim Abladen einer Lastwagenfuhre Kartoffeln. Ein mehrjähriger Aufenthalt in Krankenhäusern und Sanatorien ist die Folge dieser unausgeheilten Lungeneerkrankung. Diese wächst sich schließlich zu einer TBC aus und erzwingt im Verbund mit anderen Erkrankungen schlussendlich auch das Ende des Dichters, dessen Werk entsprechend von Krise und Krankheit bestimmt ist.

Durch Vermittlung Carl Zuckmayers wird Bernhard ab Januar 1952 beim »Demokratischen Volksblatt« in Salzburg als freier Mitarbeiter beschäftigt. Dort erlernt er das Handwerk des Schreibens. Er versteht sich in seinem journalistischen Schaffen als »Übertreibungskünstler«. »Wenn drei Tote waren, warn´s bei mir immer sieben, dass war eine Berichtigung am dritten Tag … aber es hat die Auflage gehoben, war sehr günstig.« Im Dezember 1954 endet seine Tätigkeit bei dem Blatt, da er sich weigert, in die Sozialistische Partei Österreichs einzutreten, der die Zeitung gehört. Aber er hat in der redaktionellen Zeit »Blut geleckt am Schreiben«.

Bald folgen erste Veröffentlichungen von Erzählungen, und auch einige Gedichtbände, die er später als »Schmarrn« bezeichnet, werden gedruckt. Bernhard hofft noch auf eine Solokarriere als Sänger, fällt jedoch wegen seiner unausgebildeten Stimme durch, er studiert neben Musik auch Schauspiel und wirkt in Theaterstücken mit. Der spätere Autor von 18 abendfüllenden Stücken, die an allen großen Bühnen Europas aufgeführt werden, erhält dadurch intime Einsichten und Kenntnisse in Dramaturgie und Regie.

Durchschlagener Erfolg ist Bernhard erstmals für seinen 1963 erschienen Roman »Frost« beschieden. Wieder ist es Zuckmayer, der ihm mit einer enthusiastischen Rezension in »Die Zeit« den Weg ebnet. In »Frost« erhält ein junger Medizinstudent von einem Assistenzarzt einen ungewöhnlichen Auftrag: Er soll von dessen Bruder, dem in einem österreichischen Gebirgsdorf lebenden Maler Strauch, ein exaktes Beobachtungsprotokoll erstellen. Die Reise führt ihn in ein verkommenes Dorf und in die abgründige Existenz des wahnsinnig gewordenen Malers. Der Roman besteht neben Wahrnehmungen des Studenten und gemeinsamen Gesprächen größtenteils aus Strauchs Monologen. Für dieses Werk erhält Bernhard den Julius-Campe-Literaturpreis. Von einem weiteren Preisgeld erwirbt er einen Vierkanthof im oberösterreichischen Ohlsdorf nahe Gmunden am Traunsee, in dem er sich als Gesamtkunstwerk inszeniert.

»Frost« ist ein Stück Anti-Heimatliteratur, in welchem der Alpentraum zum Albtraum wird: Die Provinz ist kein Idyll mehr, ihre Bewohner sind keine harmlosen Ländler, die Berge kein Postkartenmotiv; es entsteht ein Szenario aus unbarmherziger Kälte, stinkenden Jauchegruben, feisten Wirtinnen und brutalen Verbrechern. Es ist kein Wunder, dass das offizielle Österreich unfreundlich auf seinen erfolgreich schreibenden Staatsbürger reagiert und Bürgermeister über die angebliche Schädigung des Fremdenverkehrs durch die Veröffentlichung lamentieren.

Zum Eklat kommt es anlässlich der Verleihung des österreichischen Staatspreises an Bernhard, als der Autor formuliert: »Wir sind Österreicher, wir sind apathisch; wir sind das Leben als das gemeine Desinteresse am Leben«. Minister, Funktionäre und Würdenträger verlassen empört den Saal und demütigen den Autor, der nicht die übliche Schönrednerei bei einer solchen Veranstaltung pflegt. Einige Preise wird Bernhard noch annehmen, dann verweigert er selbst den Vorschlag zum Literaturnobelpreis.

Die begeisterte Kritik etikettiert Bernhard dagegen frühzeitig als »Alpen-Beckett«, und er selbst bestätigt den Einfluss von Genets »Zofen« auf sein erstes Theaterstück, »Ein Fest für Boris«, das 1967 entstand. Diese rabenschwarze Komödie schrieb er für Salzburg als »eine Art Anti-Jedermann, eine Tafel mit Leuten, ein Fest, aber Verkrüppelte«. Wegen der Vieldeutigkeit des Werkes prägte Umberto Eco den Begriff des »offenen Kunstwerks«, der fortan für Bernhards Gesamtwerk stehen sollte.

In seinem Porträt versteht es der Biograph, die Facetten der Persönlichkeit Bernhards heraus zu arbeiten. Auf der einen Seite war der Erfolgsautor innerlich unsicher und schwankend, gehemmt und oft schroff im Umgang mit seiner Umwelt. Auf der anderen Seite spielte und pokerte er um seinen eigenen Marktwert und nahm dazu ein divenartiges Gehabe an, um die Besonderheit seiner künstlerischen Persönlichkeit zu unterstreichen und bezeichnete sich selbst als »geldgierig«. Seine Verletzlichkeit mündet aufgrund der erlittenen Kränkungen in einer krassen Haltung gegen sein Heimatland. Zwei Tage vor seinem Tod verfügt er, dass seine Werke in Österreich weder aufgeführt noch dargeboten werden dürfen.

Durch die schon in der Kindheit erlittenen Verletzungen verbirgt sich Bernhard hinter Masken und richtet einen Schutzwall um sich auf. Der hoch sensible Autor hegt tiefes Misstrauen gegenüber anderen Menschen. Er geht nie eine feste Beziehung ein und hält sich in jeder Freundschaft Rückzugsmöglichkeiten offen. Lediglich mit seinem »Lebensmenschen«, der 37 Jahre älteren Hedwig Stavianicek, die seine Künstlerkarriere auch finanziell fördert, verbindet ihn eine lebenslange Freundschaft.

Als Bernhard im Alter von 58 Jahren am 12. Februar 1989 an seiner schweren Krankheit stirbt, hinterlässt er ein gewaltiges Werk. Theaterstücke wie »Kalkwerk«, »Ritter, Dene, Voss«, »Minetti«, »Alte Meister«, »Auslöschung«, »Über allen Gipfeln ist Ruh« und »Heldenplatz« stehen neben brillanten Prosawerken wie »Wittgensteins Neffe«, »Der Untergeher«, »Auslöschung«, »Beton«.


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by dtv München

Ortstermine

Er ist das genaue Gegenteil des schillernden »Richter Gnadenlos«. Seine Urteile offenbaren Feingefühl, Takt, Menschlichkeit und eine bei deutschen Juristen unerwartet große Portion Humor. Die Urteile des in Berlin aufgrund seiner amtskritischen Haltung »Das Phantom des Kriminalgerichts« genannten Strafrichters Rüdiger Warnstädt, lesen sich vergnüglich und bieten bisweilen sprachliche Bonbons. Jetzt legt Berlins originellster Richter sein drittes Buch vor.

»Recht so« und »Herr Richter, was spricht er«, die Titel seiner ersten beiden Bücher, waren schnell ausverkauft. In seinem dritten Werk, »Ortstermine« genannt, berichtet der inzwischen im Ruhestand befindliche Jurist nicht von Besichtigungen blutiger Tatorte. Warnstädt erzählt von seinen Reisen, genauer: von seinen Lesereisen, die ihn quer durch die Republik führen.

Die Lesungen des kauzigen Richters sind ebenso vergnüglich und erbaulich wie seine Texte selbst. Der Zuhörer spürt, dass der Mann gewohnt ist, vor Publikum vorzutragen und sich dabei selbst inszeniert. Er ist pointiert, spitzzüngig, antibürokratisch und dabei immer aufklärend und erzieherisch tätig. »Wann ist ein Richter subversiv«, »Wie viele Justizminister braucht die Bundesrepublik« sind typische Fragen, die der spätbürgerlich wirkende Humanist aufwirft und zum Vergnügen seiner Leser beantwortet.

Ein intelligentes Buch eines charmanten Autors!

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Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Das Neue Berlin Berlin

High Times

Mit ihrer von Olaf Kraemer aufgezeichneten Biographie macht Uschi Obermaier, das wohl bekannteste deutsche Groupie und Sex-Symbol der 68er-Generation, noch einmal von sich reden. Das 1946 geborene Nachkriegsmodell war als Kind in ihren Vater vernarrt, für sie »der tollste Mann überhaupt«. Früh stand sie auf wilde Männer und verliebte sich sogar in einen US-Massenmörder, dessen Bilder sie wegen seiner maskulinen Ausstrahlung besonders sexy fand. Jung-Uschi wollte unbedingt von ihrem Vater entjungfert werden, doch der interessierte sich nur für andere Frauen. Die Tochter fühlte sich verletzt. Weil ihr Traumprinz auf attraktivere Frauen stand und auch ihre Mitschülerinnen nicht verschmähte, beschloss das Mädchen, ein heißer Feger zu werden und arbeitete auf Schritt und Tritt daran.

Fräulein Obermaier wollte aussehen wie die französische Schauspielerin Brigitte Bardot, die durch ihren Schmollmund berühmt geworden war. Bald verkehrte die Heranwachsende in Schwabings »Big Apple« und ließ sich auf Männer ein, die »Kopien meines Vaters« waren. Musik bekam für sie eine Art mystische Bedeutung. In ihr drückte sich alles aus, was sie fühlte, aber nicht in Worte fassen konnte. So kam es zu dem für sie Nächstliegenden: dem Sex mit Musikern, denen sie als Groupie folgte. In London reagierte Uschi bevorzugt auf Schlagzeuger, weil sie deren Beinarbeit antörnte. Sie versagte sich aber auch bei Gitarre, Bass und Gesang nicht. Bald lebte sie mit der damals prominenten Band »Amon Düül« in deren Kommune bei München und trat als Sängerin auf.

Bei den »Essener Songtagen« lernte sie den Sponti Rainer Langhans kennen und zog zu ihm die legendäre »Kommune Eins« nach Berlin. Langhans wurde ihr Lover und Manager, die Fotos der barbusigen Uschi zierten bald jede Illustrierte. Mit Titelbilder von »Twen«, »Spiegel« und »Stern« erreichte sie Kultstatus unter jungen Leuten. Nacktfotos in Jeans und mit Sonnenbrand waren die ersten (von geleckten Playboy-Aufnahmen abgesehen) Sexfotos in Deutschland.

Das Glamourgirl konnte mit einem einzigen Augenaufschlag feuchte Träume erzeugen und wurde zum Sex-Symbol jener Zeit. Sie verkörperte Sinnesdinge, Drogen und Musik wie keine andere. Mit Politik hatte sie wenig im Sinn, die Kommunarden waren entsetzt über die Braut, die bei Diskussionen im Haschischrausch wegdämmerte und überhaupt nicht verstand, worum es der 68er-Bewegung ging. Dafür sah sie blendend aus und war wohl ein Knaller im Bett.

Davon durften sich bald auch einige Größen der Popmusik überzeugen, mit denen »uns Uschi« durch die Betten stob: Jimi Hendrix, Mick Jagger und Keith Richards gehörten zu denen, die immer wieder Eskapaden mit Uschi unternahmen, obwohl sie verheiratet waren. Als Gattin kam das Betthupferl allerdings nie in Frage, und das wurmte sie.

In den Armen von Reeperbahn-König Dieter Bockhorn blühte Uschi dann richtig auf: die Welt der Gesetzlosen und Outcasts faszinierte sie noch stärker als die Welt des Rock ’n’ Roll. Mit dem Kiezprinz zog sie in einem prächtig ausgestatteten Bus sechs Jahre lang durch Asien, die USA und Mexiko und erlebte ihre persönlichen »HighTimes«. Nach dem Unfalltod von Bockhorn ließ Uschi Obermaier sich in Kalifornien nieder, wo sie heute eine Werkstatt für Silberschmuck betreibt.

Die Biographie ist für diejenigen Leser interessant, die sich an die Zeit der Außerparlamentarischen Opposition (APO) anno 1968 erinnern. Dabei repräsentiert Uschi Obermaier keine politische Idee oder Bewegung. Sie spiegelt den sexuellen Aufbruch jener Zeit wider, sie beschreibt die Schwierigkeiten vieler junger Leute mit den Konventionen der Nachkriegszeit und den ungeheuren Einfluss, den Sex, Drogen und Musik auf das Leben der jungen Generation hatten. So betrachtet ist das Buch ein Dokument, das Kulturgeschichte beschreibt.


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Heyne München

Andrea Camilleri, Mein Leben

Er hat weltweit Millionen begeisterte Leserinnen und Leser. Seine Romanfigur, der sowohl kriminalistisch wie kulinarisch begabte Kommissar Salvo Montalbano, ist mittlerweile fast Kult. Dass sein Schöpfer diesem sizilianischen Quadratschädel zugleich einiges an Spitzbübigkeit mitgab, hat vielleicht zu dem in der Welt der Literatur einmaligen Ereignis geführt, dass eine Romanfigur seinen Schöpfer anruft, um ihm die Kündigung anzudrohen. Wir sprechen natürlich von Andrea Camilleri. Als dieser an eine Erzählung arbeitete, die »ein bisschen à la Hannibal Lector« sein sollte, verhält sich Montalbano, »der in dieser Geschichte ermittelt, an einem bestimmten Punkt wie folgt: Anstatt pflichtgemäß die Pistole zu zücken, macht er kehrt, fährt zu einer Telefonzelle und ruft einen alten Herrn in Rom an, der zu nächtlicher Stunde Geschichten schreibt: `Hör zu Camilleri, wenn du weiterhin ein solches Zeug schreiben willst, dann mach es, aber ich will damit nichts zu tun haben.´ Und Montalbano weigert sich, die Ermittlungen fortzusetzen.«

Camilleri erzählt diese Episode dem Journalisten Saverio Lodato, der aus einer Reihe langer und intensiver Gespräche mit dem sizilianischen Autor dessen Leben mehr dokumentiert, als dass er es schildert. Lodato hatte 2001 den Auftrag für die kommunistische Tageszeitung »L´Unita« ein Interview mit Camilleri über dessen Auffassungen zur sizilianischen Mafia zu führen. Nach dem Interview entwickelte sich ein umfangreicher Dialog zwischen den beiden. In mehreren Gesprächen erzählte der zur Zeit wohl erfolgreichste und bekannteste italienische Autor Lodato Episoden aus seinem Leben. Und glücklicherweise erkennt Lodato die besondere Qualität des Erzählens. Er beschließt, aus diesem Material keinen eigenen Text zu erstellen, sondern diese Gespräche zu dokumentieren. »(…) Camilleris ungetrübten Erzählduktus zu bewahren, und (habe) mich darauf beschränkt, ein sehr weit reichendes Themenmaterial auf einige simple Leitfäden für die Marschrichtung einzustellen. Ich wollte, daß der Leser auf gewisse Weise die `Stimme´ Andrea Camilleris genauso hört, wie ich sie vernommen habe«, schreibt er in seinem Vorwort. Ein größeres Geschenk hätte er seinen Lesern nicht machen können. Camilleri ist — seine Fans wissen es — ein ausgezeichneter Erzähler. Beim Lesen dieses Buches schleicht sich Neid ein. Gerne würde man ihn nicht nur lesen, sondern ihm auch zuhören dürfen.

»Andrea Camilleri, Mein Leben« ist eine Sammlung von Geschichten, die vom Beginn des Faschismus in Italien bis zur Hybris der Berlusconi-Jahre reichen. Es ist kein im eigentlichen Sinne politisches Buch. Die erste Hälfte handelt vor allem von Camilleris Kindheit und Jugendzeit. Hier schildert er aus dem Leben seines Vaters, er berichtet von der Faszination des Meeres. Beides entfaltet bis heute eine große Wirkung auf Camilleri. Geruch und Geschmack der Kindheit werden lesend lebendig und machen nicht nur im übertragenen Sinne Appetit auf die folgenden Kapitel seines Lebens.

Camilleri erzählt natürlich auch von seiner Arbeit. Wir erfahren, dass die Piazza von Porto Empedocle, seinem Heimatort, die Geburtsstadt der fiktiven Romanstadt Vigata ist. Wir hören tatsächlich, lesend, vielen Geschichten zu. Keine ist zu klein, um sie auszulassen, nicht eine ist unwichtig im Zusammenhang des langen Lebens, das Camilleri schon hat leben dürfen. Andrea Camilleri wurde 1925 geboren. Mehr als sein halbes Leben lang hat er in der italienischen Filmindustrie gearbeitet, war Regisseur, Drehbuchautor. Schriftsteller ist er erst im Herbst seines Lebens geworden. Die Gespräche in Lodatos Buch zeigen, wie gut die Reife des Lebens seiner Literatur getan hat.


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Piper Malik Kabel München