Tannöd

Chapeau!

Das Romandebüt von Andrea Schenkel mit dem Titel «Tannöd» startete 2006 mit einer Auflage von 3000 Exemplaren, verkauft wurden schließlich über eine Million Bücher, – so kann ein Verlag sich irren, oder anders gesagt, so launisch ist die Lesergunst! Dieser mehrfach prämierte Dorfkrimi hat es in kurzer Zeit sogar geschafft, Daniel Kehlmanns «Die Vermessung der Welt» vom Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste zu verdrängen. Inzwischen wurde der Stoff als Hörspiel und Theaterstück verarbeitet und auch erfolgreich verfilmt. Der Roman basiert auf einem wahren Mord in Hinterkaifeck bei Schrobenhausen, wo am 1. April 1922 auf einem Einödhof sechs Menschen erschlagen wurden. Sie sei durch einen Zeitungs-Artikel darauf gestoßen, erklärte die Autorin in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, welches im Anhang des Romans abgedruckt ist. «Ich habe die Handlung auf die Nachkriegszeit verlegt und ein paar Personen dazugeschrieben und die Opfer neu erfunden«, erklärte sie zur Entstehung des Buches. «Und am Schluss finde ich einen Täter – in Wirklichkeit wurde der Fall ja nie geklärt».

Der Roman erzählt von einem tyrannischen Bauern, der mit Frau und Tochter, zwei Enkelkindern und einer Magd auf einem Einödhof lebt. Danner ist ein brutaler Eigenbrötler, der seine Familie schikaniert und dem alle Dorfbewohner aus dem Weg gehen, die Familie lebt völlig isoliert am äußersten Rand des Dorfes. Als die Nachbarn mehrere Tage lang niemanden mehr sehen von der Familie, die Enkelin nicht in der Schule erscheint und auch der Postbote niemanden antrifft, beschließen drei Männer, nachzusehen, was denn da los ist. Das Haus ist verschlossen, im offenen Heustadel finden sie schließlich die mit Heu bedeckten Leichen des Bauern und seiner Frau, ihrer Tochter und der Enkelin. Und im Haus entdecken sie schließlich noch die Leichen des zweijährigen Enkelsohns und die der erst am Vortag eingestellten, neuen Magd. Alle Sechs wurden brutal mit einer Spitzhacke erschlagen.

Andrea Schenkel führt schon früh einen Täter ein in ihre Geschichte, sie erzählt von einem Tagedieb und Vagabunden, der sich jeweils für kurze Zeit als Taglöhner verdingt, dabei den Hof gründlich erkundet und seinen Arbeitgeber ausspioniert. Sein Wissen macht er sich dann nach einiger Zeit zu nutze, um in das jeweilige Haus einzubrechen, oder er gibt alle Informationen an seine Kumpels weiter, die dann den Raubzug ausführen und die Beute mit ihm teilen. In ihrem raffiniert angelegten Plot entwickelt die Autorin ihre multi-perspektivisch erzählte Geschichte in weiten Teilen in Form von kurzen, persönlichen Berichten aus dem familiären und dörflichen Beziehungsgeflecht. Aus diesem vielstimmigen Chor entsteht nach und nach ein mosaikartiges Bild des Geschehens und seiner Vorbedingungen. So wird dann auch deutlich, dass Danner seine Tochter Barbara seit ihrem zwölften Lebensjahr sexuell missbraucht hat. Aus diesem Inzest ist später seine Enkeltochter entstanden, und Danner hat es geschafft, Barbara mit einem Flüchtling zu verheiraten, der auf das Erbe spekuliert hat. Später hat er den Schwiegersohn dann davongejagt und ihm Geld gegeben, damit er auf Nimmerwiedersehen nach Amerika auswandern könne. Als Barbara einige Jahre später wieder schwanger wurde, hat sie ein Verhältnis mit dem verwitweten Nachbarn angefangen und ihn dazu gebracht, sich als Vater ins Geburtsregister eintragen zu lassen.

Dieser Roman ist eher ein Heimatroman als ein Krimi, der Mord selbst steht erzählerisch nicht im Mittelpunkt, er wird nur kurz gestreift. In Fokus ist vielmehr das familiäre und dörfliche Beziehungsgeflecht, das jeweils aus der Innenperspektive heraus, – auch jener der Opfer, psychologisch aufschlussreich und stimmig geschildert wird. Zahlreiche religiöse Einsprengsel stehen für eine Kritik an der bigotten Frömmigkeit der einfältigen Dörfler. Das häppchenweise Erzählen sorgt – ganz ohne die genre-üblichen Muster – für Spannung und führt zielstrebig, anders als in der realen historischen Mordsache, auf ein überraschendes Ende hin. Chapeau!

Fazit:   erfreulich

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by btb München

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert