Schaurige Orte an der Nordsee. Unheimliche Geschichten

An Land gespülte Mumien aus Ägypten, von Piraten vergrabene Goldschätze, Warften, die dem Untergang geweiht sind – die Nordsee, nicht ohne Grund einst als Mordsee gefürchtet, hat über die Jahrhunderte unzählige Schrecken hervorgebracht. Grund genug für Herausgeber Lutz Kreutzer, in seiner Sammlung „Schaurige Orte – Die Nordsee“ den unheimlichen Facetten dieser Landschaft literarisch nachzuspüren.

Zwölf Geschichten von zwölf Autorinnen und Autoren führen an reale Orte entlang der Küste – von der Römerzeit bis in die Gegenwart. Dabei dienten tatsächliche Ereignisse und überlieferte Legenden als Inspiration für diese schaurig-fiktionalen Erkundungen zwischen Düne, Deich und Dämmerung.

Einige der Erzählungen entfalten eine dichte, unheimliche Atmosphäre – getragen von geheimnisvollen Klängen, düsteren Bildern und Orten, die das Vertraute ins Unheimliche kippen lassen. Besonders eindrucksvoll gelingt dies Kathrin Timm in ihrer Geschichte „Annemarie – alte tot“, die das Schicksal eines 1931 auf der Seehundbank vor Memmert gestrandeten Motorseglers nachzeichnet. Nur wenige überlebten den tobenden Blanken Hans – und der Leser bleibt mit einem Schauder zurück.

Auch Herausgeber Lutz Kreutzer selbst greift tief in den historischen Bodensatz der Region. Seine Geschichte führt in das Watt, das zweimal täglich vom Meer überflutet wird – und in dem schon die antiken Chauken künstliche Erdhügel, sogenannte Warften, errichteten, um den Gezeiten zu trotzen. Der Mythos will es, dass sie dabei nicht nur Holz und Stein, sondern auch die Leiber ihrer Feinde verbauten. Eine düstere Vorstellung – und vielleicht eine literarisch zugespitzte Anregung zum Verschwindenlassen unliebsamer Zeitgenossen?

Susanne Ziegert wiederum verlegt ihr Geschehen in die unterirdischen Schutzräume Helgolands. Dort überlebten einst Insulaner das Ende der NS-Zeit – und heute verirren sich Neonazis an jenen Ort, der einst für den „Führer“ vorbereitet wurde. Ziegert konfrontiert deren geschichtsvergessene Neugier mit den klaren, antifaschistischen Stimmen der Überlebenden – eine mutige, politisch pointierte Erzählung, die auch im Unheimlichen Haltung zeigt.

Was macht eine schaurige Geschichte aus? Nicht der plumpe Schrecken, nicht das schockierende Detail – sondern das Spiel mit Angst, Andeutung und Abgründigkeit. Das leise Frösteln, nicht der laute Schrei. Diese Kunst beherrschen nur wenige – trotz der reichen deutschsprachigen Tradition der Schauerliteratur, die von der Schwarzen Romantik bis in die Gegenwart reicht und stilistisch andere Wege geht als die angelsächsische Gothic Novel oder der französische fantastique.

Die Auswahl für die Reihe „Schaurige Orte“ ist daher nicht ohne Risiko – Kreutzer stützt sich überwiegend auf Krimiautorinnen und -autoren, deren Stärke eher im Plot als im subtilen Unheimlichen liegt. Und doch gelingt in einigen Beiträgen das kleine Wunder: Das Unheimliche bleibt nicht an der Oberfläche haften, sondern sickert tief ins Erleben – als psychologische Ahnung, die sich nicht abschütteln lässt. Und genau darin liegt ihr Reiz.

 


Genre: Anthologie, Gruselgeschichten, Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Gmeiner

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