Joyland

Wer – wie der Rezensent – im Laufe der letzten drei Jahrzehnte einige Dutzend Bücher von Stephen King gelesen hat, der fragt sich bei jedem neuen Roman, den der Meister des subtilen Grauens vorlegt: Wie schafft der King of Horror es diesmal, den Leser zu binden und in den Mahlstrom seiner Erzählung hineinzuziehen?

»Joyland« ist auf der einen Seite eine subtile Geschichte aus dem Amerika der frühen siebziger Jahre, in welcher der Ich-Erzähler Devin Jones aus heute abgeklärter Sicht schildert, wie er als 21-jähriger Student über den Verlust seiner ersten großen Liebe hinwegkam und dennoch seine Unschuld verlor.

In Liebesdingen gänzlich unerfahren, hatte er sich in eine Kommilitonin verknallt, mit der er zwar heiße Liebesschwüre tauschte, doch nie so weit kam, »es« zu tun. Sie hingegen war hinter seinem Rücken längst mit anderen Typen aktiv und wühlte sich als Partygirl durch Kissen und Decken.

Hilfreich war dem jungen Mann bei der Bewältigung seines Schmerzes, das Studium auszusetzen und sich für ein Jahr als Helfer in einem Vergnügungspark zu verdingen. In diesem »Joyland« darf er als Mädchen für alles den Dreck der »Tölpel«, wie die Besucher heimlich im Mitarbeiterjargon genannt werden, wegwischen. Er muss die Attraktionen warten und bedienen: das Riesenrad, die Schießbude, die Whirly Cups, und das Horrorhaus. Seine besten Auftritte aber hat er im Fellkostüm des Parkmaskottchens Howie, eines Hundes mit großen Schlappohren und langem Schwanz, der die jüngsten Besucher mit lustigen Tänzen begeistert.

Doch da gibt es noch eine geheimnisvolle Geisterbahn, die ein Gespenst beherbergen soll. Der Geist einer ermordeten jungen Frau spukt angeblich im stockdunklen Kabinett. Deren Kehle wurde von einem unentdeckt gebliebenen Mörder während der Fahrt mit einem Rasiermesser durchgeschnitten, anschließend wurde das Opfer brutal aus dem Wagen geworfen.

Menschen mit seherischen Kräften können die unheimliche Erscheinung wahrnehmen und reagieren verstört, andere meiden die Geisterbahn und halten sie für verflucht. Devin jedoch will an keinen Spuk glauben. Er ist neugierig und versucht, die wahre Geschichte des Verbrechens zu recherchieren. Mithilfe von Freunden erfährt er, dass auch in anderen Vergnügungsparks junge Frauen auf ähnlich bestialische Weise umgekommen sind. Es agiert offenbar ein Serientäter, auf den es allerdings kaum Hinweise gibt. Der junge Mann fühlt sich diesem geheimnisvollen Kirmesmörder nahe, er möchte das Rätsel gern lösen.

An jedem Morgen, den Devin den Strand entlang zu seiner Arbeitsstätte geht, sieht er in der Ferne einen behinderten Jungen, der dort Sauerstoff tankt, mit seiner Mutter sitzen. Er freundet sich mit dem Sterbenskranken an und versucht, ihm seinen größten Traum zu verwirklichen, einen Tag in dem Vergnügungspark verbringen zu dürfen. Zwischen den beiden wächst eine Freundschaft. Das Kind, das von einem baldigen Tod weiß, ist dankbar für die Zuwendung, die ihm der Ältere schenkt. Der Junge sieht Dinge, die Devin nicht wahrnehmen kann, er scheint über mediale Fähigkeiten zu verfügen. So übermittelt er seinem neuen Freund Informationen, die dieser aber nicht zu deuten versteht. Nach einer kleinen Romanze, bei der Devin endlich seine Unschuld verliert, läuft damit alles auf den großen Showdown im Joyland hinaus, wo Spaß sich blitzschnell in Horror verwandeln kann.

Erstaunlich ist bei diesem Buch, dass Stephen King die unendlich vielen Möglichkeiten, die ein solcher Vergnügungspark der Phantasie bietet, nicht nur nicht ausspielt, sondern sie nahezu ignoriert. Er beschränkt sich vielmehr auf die Schilderung des Studenten, der durch seine Neugierde eine verhängnisvolle Kette von Ereignissen auslöst. Wer eine blanke Horrorstory erwartet, die den Leser über hunderte Seiten in Atem hält und ihn mit fieberhaften Augen Seite um Seite verschlingen lässt, wird mit diesem Werk weniger gut bedient. Geliefert wird vielmehr eine mit 352 Seiten für Stephen Kings Verhältnisse kurze, aber umso geschmeidigere Erzählung, die sowohl in der Personenführung wie der Dialogregie glänzend gebaut ist und in eine leicht überschaubare Kriminalhandlung mit übersinnlichen Momenten mündet.

Mit »Joyland« beweist der 1947 in Portland, Maine, geborene King die Bandbreite seines Könnens und erweist sich erneut als fantastischer Erzähler. Das eigentliche Thema des Buches ist indes fast philosophisch: Es ist die Konfrontation mit dem uns umgebenden Tod, der als Sensenmann jeden mitnimmt, ob er nun in Geld schwimmt, schreiend komisch oder auffallend gut bestückt ist. So muss sich auch der an Multipler Sklerose erkrankte kleine Junge in sein unvermeidliches Schicksal fügen, und das ist vielleicht sogar grausamer als das, was die Mordopfer erleiden.


Genre: Horror, Kriminalliteratur
Illustrated by Heyne München

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