Wir alle erinnern uns noch gut an die Qualen des kleinen Danny damals im Overlook Hotel, die in der Zerstörung des Hauses und im Tod seines besessenen Vaters ihren Höhepunkt fanden. Doch die Geschichte ist damit noch nicht zu Ende, denn die mörderischen Geister (nicht nur aus Zimmer 217) geben keine Ruhe und so findet sich Dan Torrance fast 30 Jahre später an einem Wendepunkt seines Lebens wieder. Er schwört dem Alkohol ab, der seine psychischen Kräfte (das \”Shining\”) auf ein vordergründig erträgliches Maß gedrosselt hatte und versucht, sesshaft zu werden, das ständige Flüchten vor den Dämonen der Vergangenheit endlich aufzugeben. Beides gelingt auch und so ist er im Jahr 2013 seit zwölf Jahren trocken und in einem Hospiz tätig; offiziell als Hausmeister, aber weitaus mehr geschätzt als Begleiter der Patienten, denen er mit Hilfe seiner Fähigkeiten ein friedliches Sterben schenkt. Sein Leben verläuft also in geordneten Bahnen, die allerdings bald einem Rollercoaster gleichen werden…
2001 wird unweit von Dans Domizil Abra Stone geboren, die schon früh ihre Eltern mit paranormalen psychischen Fähigkeiten verblüfft und beunruhigt. Im Laufe der Jahre lernt sie, diese weitgehend für sich zu behalten um ihre Umwelt nicht zu verängstigen. Jedoch nimmt sie bereits als Kleinkind mentalen Kontakt zu Dan auf, wenn auch nur sporadisch und ohne persönliche Beziehung. Die Jahre vergehen ruhig und normal und Abra scheint zu einem ganz normalen Teenager heranzuwachsen…
\”True Knot\” nennt sich eine Gruppe (meist ältlicher) Psycho-Vampire, die sich anstatt von Blut von den übernatürlichen Begabungen mancher Menschen ernähren, welche diese Transfusionen allerdings nicht überleben (am nahrhaftesten sind Kinder, die langsam zu Tode gefoltert werden). Die mörderische Sekte labt sich auch am allgemeinen Leid der Menschen bei Katastrophen und daran herrscht ja bekanntlich selten Mangel. Allerdings werden die Mitglieder mit zunehmender Zeit schwächer und so ist die Euphorie entsprechend groß, als sie durch Zufall auf Abras überwältigendes Shining-Potenzial aufmerksam werden. Sie wittern darin die große Chance, ihr Überleben zu sichern; Dan Torrance und sein junger Schützling stehen vor einem unausweichlichen Showdown…
Stephen King hat mit \”Doctor Sleep\” nicht einfach eine Fortsetzung seines Erfolgsromans \”Shining\” (1977) geschaffen, sondern erzählt vielmehr die Geschichte von Danny weiter, dem kleinen verlorenen Jungen aus dem Overlook Hotel. Dabei gibt es auch autobiografische Bezüge (Alkoholismus); im Vordergrund steht jedoch die Entwicklung eines Menschen, die ihn schließlich bereit macht für eine erneute Konfrontation mit den Mächten der Finsternis. Der eingeweihte Leser trifft neben alten Bekannten (Tony, Dick Halloran) auch faszinierende neue Protagonisten; allesamt (wie vom Meister gewohnt) überzeugend angelegt. Verschiedene Nebenhandlungen stören dabei nie die Stringenz des Plots.
Der Schreibstil ist wieder einmal flott und spannend und lässt stets die Empathie erkennen, die der Autor für seine Charaktere empfindet, er ist viel mehr als der \”Horror-Schriftsteller\”, als der er von vielen immer noch abgetan wird. King wird ja gern mal nachgesagt, dass er sich schwer damit tut, seine Geschichten zu einem überzeugenden Ende zu bringen, in \”Doctor Sleep\” jedoch versteht er es meisterhaft, die verschiedenen Handlungsfäden am Schluss zusammenzuführen. Man mag ihm vorwerfen, dass er erneut eines seiner Lieblingsthemen (Kind mit besonderen Fähigkeiten) aufgreift, aber wenn das immer so genial gelingt wie hier, kann und soll er ruhig damit weitermachen!