Love

Mit seinem neuesten Roman setzt Stephen King seiner Frau als seiner großen Liebe ein literarisches Denkmal. Die inzwischen 50. Buchveröffentlichung des erfolgreichsten Autors unserer Tage heißt im Original »Lisey´s Story« und trägt in der deutschen Ausgabe den Titel »Love«. Wie vom Meister des literarischen Schauers zu erwarten, handelt es sich dabei um einen Psychothriller, der diesmal jedoch äußerst sensibel erzählt wird. »Es ist eine Liebesgeschichte mit Monstern. Einige davon sind Menschen«, beschreibt der rasend produktive Autor seine neueste Kopfgeburt.

Die Witwe des Erfolgsautors Scott Landon räumt den Nachlass ihres Mannes auf und erinnert sich anhand persönlicher Fundstücke ihres gemeinsamen Lebens. Lisey Landon empfindet auch nach dem Tod ihres Mannes eine derartig enge Bindung an ihn, dass sie meint, er wolle sie aus dem Jenseits bitten, noch Unbewältigtes aus seiner Biographie für ihn aufzuarbeiten, damit er in Frieden ruhen könne. Sie reist anhand von Zeitungsartikel und Memorabilien in die gemeinsame Vergangenheit, in die Zeit, wo sie sich kennen und lieben lernten, in die Zeit seines schweren Starts als Schriftsteller, seines enormen Erfolgs und seiner weltweiten Anerkennung.

Die Reise auf der Memory Lane wird für Lisey indes ein Trip zur Freak Alley. Denn neben vielen wunderschönen Erinnerungen gibt es auch bittere Szenen. Bei der Grundstückslegung einer Universitätsbibliothek wird Scott von einem Stalker angeschossen und schwer verletzt. Lisey rettet ihrem Mann in letzter Sekunde das Leben, indem sie den Verrückten mit einer silbernen Schaufel zu Boden drischt. Der Angreifer ist einer der Deep Space Cowboys, die behaupten, angebliche Geheimbotschaften der Autoren zu verstehen und glauben, deren Bücher seien in Wirklichkeit Führer zu Gott, Satan oder den Gnostikern.

Der ebenso verrückte Zellengenosse dieses Attentäters taucht nun zwei Jahre nach dem Ableben des Autors in Liseys Leben auf und beginnt, sie zu terrorisieren. Mit Hilfe ihres verstorbenen Mannes wehrt Lisey sich gegen den Dämon. Dazu folgt sie einem »Blut-Bool«, einer blutigen Schnitzeljagd, die sie von Hinweis zu Hinweis führt, und bei der immer wieder Versatzstücke der Wahrheit durch einen purpurroten Vorhang schimmern. Sie trifft Scott unter dem Boo`ya-Mond, einem Auenland der Phantasie, in das er sich bereits als Kind zurückzog, um sich vor der gewalttätigen Welt der »Bösmülligen« zu schützen, und es gelingt ihr, sich immer wieder in diese Zone des Zwielichts zu transportieren, um neue Kraft zu schöpfen.

»Love« ist ebenso ein Psychothriller wie die Biographie einer dreißigjährigen Ehe, die durch Höhen und Tiefen geht. Viele Parallelen öffnen sich zu Kings eigenem Leben, und doch ist dieser Roman weit mehr als ein Werk mit autobiographischen Reminiszenzen. Es ist eine einfühlsame Liebesgeschichte von symbiotisch verbundenen Menschen, die auch über den Tod hinaus in ihrer eigenen Sprache, ihren eigenen Ritualen und ihrer eigenen Welt leben. Es ist ein Buch über die Trauerarbeit beim Hinscheiden geliebter Menschen von einem Kenner der Untiefen und Abgründe der menschlichen Seele. Es ist ein zärtlicher Roman über die heilende Wirkung der Liebe und ihre Bedeutung als Kraftzentrum für die Beziehung.

King verarbeitet in seinen Büchern gern Geschehnisse der eigenen Lebensgeschichte: er war selbst Alkoholiker wie sein Protagonist Scott Landon in »Love«, und er ertrug einen durchgeknallten Fan, der in sein Haus eindrang. Er überlebte einen lebensgefährlichen Autounfall, den er im siebten Buch von »Der dunkle Turm« bis zum Klarnamen des Unglücksfahrers verarbeitete. Der King of Horror bereitet oft intime Details seines Lebens in seinen Romanen auf. Doch alle Spuren, die er legt, führen letztlich immer zu dem großen Pool der Mythen und Worte, aus dem der Schriftsteller trinkt: sie erweisen sich als literarische Fiktion.

In seiner Sprachgewalt wie in seiner Schöpferkraft ist Stephen King ein literarisches Phänomen. Gleichwohl wirkt es auf den Kenner des Gesamtwerks so, als schreibe King gegen die Uhr, als wolle er in einem Schreibmarathon Long Boy, dem Sensenmann, davon laufen. Das ist für den Autor, dessen Bücher sich nach eigenem Bekunden weitgehend selbst schreiben und ihm förmlich aus der Feder fließen, sicherlich eine ebenso ungewöhnliche Erfahrung wie für seine Leser.


Genre: Thriller
Illustrated by Heyne München

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert