Die ersten Alzheimer-Symptome können durchaus noch alltäglich sein, vorübergehender Verlust von Gedächtnis und Orientierung, aufkeimende Schrulligkeiten. Es dauert seine Zeit, bis die sichere Diagnose vorliegt und man endlich aufhört, mit der Person zu schimpfen und eigentlich die Krankheit zu meinen. Über das was dann kommt hat der österreichische Schriftsteller Arno Geiger ein sehr persönliches Buch geschrieben. Es erzählt über die Alzheimer-Erkrankung seines Vaters, darüber, wie einem geliebten Menschen, für den er immer noch viel an kindlichem Aufblick übrig hat, das geistige Navigationssystem abhanden kommt. Das Buch beginnt mit Szenen aus dem ganz alltäglichen und doch nie wieder alltäglich werdenden Umgang der beiden miteinander. Es sind Momentaufnahmen einer wegziehenden Vernunft. „Früher hatte ich auch Katzen“ entfährt es dem Vater beim Anblick einer Katze „nicht gerade für mich alleine, aber als Teilhaber“. „ Es geschehen keine Wunder aber Zeichen. Ohne Probleme ist das Leben auch nicht leichter“, lautet die Antwort auf die Frage seines Sohnes, wie es ihm geht. Solche und andere, immerhin im mittleren Stadium getane Äußerungen geraten zu Kartengrüßen aus einer ganz neuen Welt. Es ist eine Welt in der die Grundgesetze der Sachlichkeit und Zielstrebigkeit nicht mehr gelten, in der es dem Vater aber dennoch gelingt, sich über längere Zeit mit bewundernswerter Leichtigkeit zu behaupten.
Den Momentaufnahmen folgt die Chronologie. Es ist eine Abfolge von ersten, frühen Irritationen und Verstörtheiten, des Diagnoseschocks, des sich Arrangierens und schließlich des Annehmens einer Krankheit samt eines neuen Menschen. Man erfährt viel über den Vater, über das Trauma der Kriegsgefangenschaft. Er beschließt, sein ganzes restliches Leben in seinem Heimatort zu bleiben, nicht einmal Urlaubsreisen unternimmt er, um solch ein Heimweh nicht noch einmal erleben zu müssen. Tragikomischerweise kann ihn das nicht vor dem Heimweh bewahren, das ihn heimsucht, als er im fortgeschrittenen Stadium seiner Krankheit schlicht und einfach nicht mehr versteht, dass er doch im von ihm selbst erbauten Haus zu Hause ist. Man erfährt viel über die Lust seines Sohnes auf Wiederannäherung. Dazu
trägt mitunter eben auch jener skurrile Charme einer ganz eigenen Privatlogik des Vaters bei, auf die sich der Autor mit einer gewissen Neugier auch einlässt. Es ist überhaupt das Verdienst Geigers, den Krankheitsverlauf nicht als ein stetig voranschreitendes geistiges Ausbluten, sondern als ein Wechsel von lichten und dunklen, von tragikomischen und tragischen Momenten darzustellen. So mutet der Vater nicht selten wie ein leckgeschlagenes U-Boot an, dem vor dem endgültigen Absacken immer wieder unerwartete Auftauchmanöver gelingen. „Was soll ich mit dem Brot auf dem Teller?“ „Das musst du nur abbeißen“. „Wenn ich nur wüsste, wie das geht. Ich bin doch ein armer Schlucker. Es ist bei mir nichts wichtiges mehr vorhanden. Ich kann es nicht beweisen, aber das Gefühl habe ich.“ Solche und viele andere Passagen schärfen den Blick dafür, dass die Würde eines Menschen auch aus scheinbar noch so vernunftsgetrübter Ferne immer noch ergreifend herüberwinken kann.
Man merkt dem Autor den Romancier an, das Buch ist sprachlich geformt. Es ist eine intime Gefühlswelt, voller Eigendramatik, sensibler Dialoge und anreichernder Bilder. Die Melancholie wird zunehmend persönlicher, rührt sie doch von der schmerzhaften Erkenntnis der Unumkehrbarkeit her. Man mag dem Buch vorwerfen, kein Ratgeber zu sein. Dennoch, ein Gespür dafür zu entwickeln, wann Wahrheit und Korrektheit aufgegeben werden müssen, weil sie keine argumentative Schwerkraft mehr haben, wann man mit unklaren Fragen weiter als mit klaren Antworten kommt, hat durchaus was Alltagstaugliches. Zum Schluss erweist sich die Heftigkeit der Umnachtungen doch als stärker als die Kräfte der Angehörigen und der Betreuer. Der Vater kommt ins Heim.