Palast der Winde

kayeDatura heißt eine Pflanze, die vor allem im Süden Indiens wild wächst. Die weiße Blüte ähnelt der der Lilie; sie duftet süß und ist wunderschön. Die runden grünen Samen der Pflanze allerdings tragen den Namen »Todesäpfel«. Sie sind ungemein giftig und dienen seit Jahrhunderten als Mittel, unliebsame Zeitgenossen auszuschalten. Das tödliche Gift wird gewonnen, indem die Samen zu Pulver zerstampft und Speisen – vornehmlich Brot – beigemischt wird. Je nach verabreichter Menge stirbt der Vergiftete schnell oder langsam.

Diese Information entnehme ich dem Roman »Palast der Winde« und erfahre gleichzeitig, wie das Gift in Palastintrigen eingesetzt wurde. Der farbenprächtige Historienroman bindet nämlich stimmige Landschaftsbeschreibungen und enorm viel kulturgeschichtliches Wissen in eine spannende Handlung ein. Wer in die Welt von Bollywood eintauchen will und dabei handfeste Informationen über Land und Leute sucht, der wird mit dem tausendseitigen Historienschinken großzügig bedient.

Mittels der Ostindischen Handelskompagnie unterwarf das britische Empire den Vielvölkerstaat Indien und kolonialisierte das Land. Die Autorin arbeitet geschickt in ihrem Roman den Widerspruch heraus zwischen der britischen Generalität, die von Land und Leuten keinen Schimmer hatte, sondern es nur formal verwaltete und der Bevölkerung, ihrer Mentalität und ihren Gewohnheiten. Sie steht insofern ausgesprochen kritisch zur britischen Kolonialpolitik.

Die Hauptfigur Ashton Pelham-Martyn jedenfalls ist das Ergebnis einer Liaison eines bekannten Indienforschers und seiner indischen Geliebten, ein »Halbblut«, das in Indien bei einer Leihmutter aufwächst und erst als Jugendlicher erfährt, dass er eigentlich ein »Sahib«, also ein Weißer ist. Der Junge wächst als Bediensteter am Hof des Rana von Gulkote auf, erlernt dort Sprachen, Dialekte und Gewohnheiten. Dabei bekommt er einen tiefen Einblick in die Intrigen, die am Hof des Maharadschas an der Tagesordnung sind. Nur männliche Nachkommen spielen eine Rolle, unliebsame Thronfolger werden mit Gift, durch vermeintliche Jagdunfälle oder Fensterstürze aus dem Weg geräumt, Frauen ziehen höchstens in Ausnahmefällen hinter den Kulissen an den Strippen.

Ashton spürt zwei Seelen in seiner Brust; er erlernt zwar, in England ein Sahib zu sein, aber die ersten elf Jahre seines Lebens in Indien haben ihn zu nachhaltig geprägt und er fühlt sich dem Land verbunden, als flösse indisches Blut in seinen Adern. Ergo wird er zwischen beiden Welten hin- und hergerissen. Seine britischen Vorgesetzten anerkennen zwar seine Sprachkenntnisse und auferlegen ihm komplizierte diplomatische Missionen wie eine Eheschließung zwischen zwei Herrscherhäusern, doch letztlich sehen sie in ihm nur den aufsässigen Sturkopf, der von seiner indischen Heimat träumt. Dort erklärt sich auch der Titel des Werkes: Der »Palast der Winde« ist ein schneebedeckter Gipfel im Himalaya, in den der Junge seine Hoffnungen und Sehnsüchte projizierte.

Natürlich gibt es in dem Roman auch eine schillernde Romanze, die das Werk durchzieht: Ashton trifft seine Armbandfreundin aus Kindertagen, eine Prinzessin aus Gulkote wieder, in die er sich unsterblich verliebt. Dummerweise lautet sein Auftrag, sie zu ihrem künftigen Gatten zu bringen, einem Rani aus einem anderen Staat. Hier kommt es später zu einem der großen Themen des Buches, der hinduistischen Witwenverbrennung. So stiegen die Witwen Verstorbener zu der Leiche ihres Gatten auf den Scheiterhaufen und ließen sich unter den Augen des Publikums stolz verbrennen. Was für indische Betrachter ehrenvoll und »normal« scheint, entsetzt die Engländer, die derartige Rituale zwar offiziell verbieten, jedoch nicht verhindern.

Das letzte Drittel des Romans widmet sich dem 2. Afghanischen Krieg und spielt in Kabul. Kenntnisreich werden die Hintergründe des Krieges erklärt. Allerdings fällt die Handlung des Romans zuletzt deutlich ab, zumal die Autorin offenbar ihrer Familie, der sie ihr Werk gewidmet hat, Referenz erweisen will. Darauf lässt auch eine Widmung an das britische Kundschafterkorps schließen, die dem Roman vorangestellt ist.

Zu den großformatigen Historienromanen, die uns die Literaturgeschichte in jüngerer Zeit schenkte, zählen Umbertos Ecos »Name der Rose«, Ken Folletts »Säulen der Erde«, Noah Gordons »Medicus« und »Die Päpstin« von Donna Woolfolk Cross. Ein ausgezeichnetes Beispiel bietet aber auch Mary M. Kayes »Palast der Winde«, die die Geschichte des indischen Subkontinents im 19. Jahrhundert ausbreitet. Wer sich mit Indien befassen und dabei gut unterhalten möchte, der wird mit diesem Wälzer optimal bedient.


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