Die souveräne Leserin

Zufällig besucht die Queen einen Bücherbus, der vor ihrer Palastküche parkt und lernt dort Norman Seakins kennen, einen lesehungrigen Küchenjungen. Angetan von seiner Begeisterung für Literatur befreit sie ihn vom Tellerwaschen und ernennt ihn zu ihrem persönlichen Amanuensis. Als literarischer Assistent bekommt der karottenköpfige Junge einen Stuhl nahe dem Büro der Queen und verbringt seine Zeit zwischen der Erledigung kleiner Aufträge mit Lesen.

Angeregt durch die Zufallsbekanntschaft liest die Queen immer mehr und verliert schnell ihr Interesse an höfischen Pflichten. Das stößt auf den Widerstand ihres Hofstaates, der meint, Lesen zähle nicht zu den Kernkompetenzen einer Monarchin und sei lediglich Zeitvertreib. Die Königin liest fortan, weil sie sich zu ergründen verpflichtet sieht, »wie die Menschen sind«. Im Umgang mit Büchern fühlt sie sich als Gleiche unter Gleichen, denn Bücher buckeln nicht und verhalten sich republikanisch gegenüber ihren Lesern.

Ihre Leselust wird zum Lesefrust ihrer Umgebung, die ungern mit Gewohnheiten bricht. Künftig fragt sie nämlich jeden, dem sie Audienz gewährt, was er denn gerade lese und will sich außerdem mit Staatsgästen über Literatur unterhalten. Ihre Begeisterung für ihr neues Hobby wird zur Besessenheit, und ihren offiziellen Verpflichtungen kommt die Monarchin nur noch mit sichtbarem Unwillen nach: »Grundsteine werden weniger schwungvoll gelegt; die wenigen Schiffe, die noch zu taufen waren, sandte sie mit kaum mehr Zeremoniell auf hohe See hinaus, als man ein Spielzeugboot auf den Teich setzt, denn immer wartete ein Buch auf sie.«

Schon bringen ihr Besucher Bücher statt Blumen mit, im schlimmsten Falle sogar selbst verfasste. Und die Queen liest weiter, sie hat den Eindruck, etwas versäumt zu haben, weil sie erst im Alter das Lesevergnügen entdeckte. Bald will sie die Verfasser der vielen interessanten Bücher persönlich kennen lernen und lädt sie in ihren Palast. Doch dabei stellt sie fest, dass Schriftsteller ebenso sehr Phantasiefiguren ihrer Leser sind wie ihre Romanhelden und belässt es darauf beim Lesen. Schließlich überlegt sie, statt der üblichen Weihnachtsansprache im Fernsehen an ihre Untertanen, ein Gedicht von Thomas Harding vorzulesen.

Um sie wieder auf den »richtigen« Weg zu bringen, wird Norman von den Hofschranzen an eine Universität versetzt, wo er ein Literaturstudium beginnt. Seine ehemalige Arbeitsgeberin vermisst ihn zwar, erfährt aber nichts von der plötzlichen Wende in seinem Leben. In Ermangelung ihres literarischen Gesprächspartners beginnt sie, ihre Gedanken zu Papier zu bringen und Notizbücher zu füllen. Nun denkt sie ernsthaft darüber nach, selbst zu schreiben … doch ob das einer Monarchin geziemt?

Alan Bennett schildert in seiner Novelle, wie Lesen Menschen beeinflussen und verändern kann. Er beweist diese These ironischerweise am – natürlich fiktiven – Beispiel der Queen, von der außer repräsentativem Winken kaum Neigungen bekannt sind. Mit seiner Erzählung, die in einer unerwartet konsequenten Wendung mündet, macht er die Monarchin menschlich und liebenswert. So leistet er neben der Aufgabe, schreibend für das Lesen zu werben, gleichzeitig seinen Beitrag als britischer Untertan, seine Königin liebenswert zu machen, indem sie sich vom Souverän zur souveränen Leserin entwickelt.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Klaus Wagenbach Berlin

Ein wenig sterben

Flammer liegt nach einem Selbstmordversuch im Krankenhaus und kann sich an nichts mehr erinnern. Sein Gehirn ist mangels Sauerstoffzufuhr irreparabel geschädigt. Georg, ein Jugendfreund, wird von Flammers Vater alarmiert. Schritt für Schritt taucht er darauf in die Welt seines Kumpels ein, um dessen Handeln zu verstehen. Dabei prallen zwei gegensätzliche Lebensentwürfe aufeinander.

Georg ist als selbständiger Versicherungsmakler erfolgreich. Mühsam hat er sich sein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg erkämpft und möchte niemandem Rechenschaft ablegen. Er pflegt einen gehobenen Lebensstil und nimmt gern mal eine Nase Koks. Studienabbrecher Flammer hingegen hielt sich derweil mit miesen Jobs über Wasser. »Alles ist eine große Gleichgültigkeit«, lautete sein Credo. »Aus dieser Kälte gibt es kein Entkommen«.

Der Freund besucht den Platz im Wald, wo Flammer versucht hatte, sich aufzuknüpfen. Er inspiziert Flammers muffige Wohnhöhle und fragt sich, warum er nicht einfach vom Balkon gesprungen sei oder sich in den eigenen vier Wänden seiner Zelle aufgehängt habe.

Georg spürt die Spuren seines Jugendfreundes auf und reflektiert dabei sein eigenes Leben, das von Flucht vor Einsamkeit und daraus resultierender Arbeitswut geprägt war. Er lebte stets so, als bestünde die einzig erträgliche Methode mit dem Leben fertig zu werden, es permanent abzuwehren und sich so gut wie möglich gegen alle Risiken abzusichern. Georg spürt aber auch, dass das Leben, das Flammer geführt hat, stets ein Teil von ihm selbst war, und zwar jener Teil, den er bewusst verdrängte. Stück für Stück beginnt er sich zu häuten und streift die Vergangenheit ab.

Stefan Kalbers entwickelt mit seiner Erzählung ums mehr oder weniger freiwillige Sterben einen spannenden Dialog zwischen einem, der sich nicht mehr erinnern kann und einem, der alles verdrängt hat und sich langsam wieder besinnt. Dabei versteht er es, den Leser in die Gedankenwelt seines Protagonisten zu führen und die dunklen Seiten der eigenen Existenz zu belichten. Nun ist der Text alles andere als eine trocken-philosophische Abhandlung. Im Gegenteil. Kalbers schafft es, dem Stoff eine unerwartet spannende Wendung zu geben, die schrittweise den Grund für Flammers Unglück erhellt.


Genre: Romane
Illustrated by Ubooks Diedorf

Der Bücherprinz

Geboren 1952 im beschaulichen Katholen-Ort Oelde in Westfalen fällt der frühe Freigeist schon in der Schule auf, da er heimlich unter der Bank Gedichte verfasst. So ist es wenig verwunderlich, dass er sich bald gegen die seit Jahrhunderten institutionalisierten Autoritäten auflehnt, zumal die Zeit dafür wie geschaffen ist: Rockmusik und lange Haare treten als Sendboten der Befreiung auch in der Provinz ihren Siegeszug an (der Autor trifft neben anderen Göttern der Szene Cream und Jimi Hendrix bei Konzerten) und sorgen für eine Revolution in den Köpfen der Jugendlichen, die immer noch unter dem Einfluss von Hitler und Adenauer leiden.

Nach einem dunkelschwarzen Kapitel hält Frieling nichts mehr in der wenig heimeligen Heimat und er flieht hinaus in die Welt. London, Jugoslawien und die Türkei sind nur einige der Stationen, bevor er sich 1969 in Westberlin niederlässt, natürlich standesgemäß in einer Kommune mit jeder Menge Sex and Drugs and Rock `n’ Roll. Es sind die Tage der Rebellion, des Kampfes gegen Vietnam-Krieg, Springer-Presse und faschistoide Herrschaftsstrukturen, und Frieling ist mittendrin. Der leidenschaftliche Leser und Schreiber erlernt das Handwerk der Fotografie und ist somit prädestiniert für eine Karriere als rasender Reporter.

Auftragsjobs jagen ihn nicht nur um die Welt, er sieht sich auch gründlich in der nahen und doch so fernen DDR um, ein Novum in der Zeit des kalten Krieges. Erfolgreiche Projekte glücken ihm zuhauf, zunehmend auch als Verfasser eigener Schriften. Nach dem Ratgeber „Autor sucht Verleger“ (eine Hilfestellung für unbekannte Nachwuchsschreiber) gründet er folgerichtig den Frieling-Verlag unter dem Motto „Verlag sucht Autoren“. Mit dieser erneuten Innovation, Interessenten gegen Bezahlung den Traum vom eigenen Buch zu ermöglichen, erweckt er weltweite Nachfrage; in 20 Jahren werden 3.000 Werke publiziert. 2003 verkauft er den Verlag und ist doch meilenweit vom Ruhestand entfernt…

„Der Bücherprinz“ ist ein einzigartiges Werk, in dem nicht nur ein entscheidender Abschnitt deutscher Nachkriegsgeschichte anschaulich dokumentiert ist, sondern auch ein wahrlich bewegtes Leben spannend wie ein Thriller erzählt wird. Dabei verklärt der Autor im Gegensatz zu anderen 68ern, die über diese wegweisende Epoche berichten, nie melancholisch; er ist sich nicht zu schade, Fehler und vermeintliche Irrwege einzugestehen. Ehrlich beleuchtet werden auch berufliche und private Schattenseiten, wobei letztere ironisch in kritischer Distanz geschildert, anstatt überhitzt aufgeregt in den Vordergrund gedrängt zu werden.

Frielings lebenslange Liebe zum geschriebenen Wort ist auf jeder Seite mit Händen zu greifen und auch mit interessanten Fotos wird der begeisterte Leser reichlich versorgt. Dazu gibt es viele kleinere Anekdoten mit berühmten Persönlichkeiten aus Presse, Funk und Fernsehen sowie pointierte Blicke hinter die Eitelkeiten des medialen Kulturbetriebs und deshalb ist diese Autobiographie für mich das Buch des Jahres.

Bei so viel Lob sei jedoch auch ein leiser Tadel erlaubt: Da der potenzielle Stoff derart umfangreich ist, hätte das Werk gut und gerne den doppelten Umfang erreichen können, ohne den Leser auch nur eine Sekunde zu langweilen. Lieber Prinz, ich fürchte, du musst wohl bald noch ´ne Schippe drauflegen …


Genre: Biographien, Briefe, Memoiren
Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

Am Beispiel des Hummers

Hummer wollte ich immer schon einmal essen, aber es ist nie dazu gekommen. Mal schien er mir unerschwinglich teuer, mal hielt ich es für dekadent und deshalb ablehnenswert. Dann wieder wusste ich nicht, wie die Scheren fachgerecht geknackt werden müssen, um ohne öffentliche Blamage an das eiweißreiche Fleisch zu kommen. Jetzt habe ich David Foster Wallaces kurze Reportage über das Maine Lobster Festival gelesen und dadurch miterlebt, wie 25.000 Pfund fangfrischer Hummer in die Mägen von mehr als 100.000 Besuchern wandern. Ja, und irgendwie ist mir dadurch der Appetit auf die mit Furcht erregenden Zangen bewaffneten Krebstiere gründlich vergangen.

Dabei kommt der Text, ursprünglich für ein Gourmet-Journal geschrieben, wie ein Appetithäppchen daher: Wallace, Großmeister der Reportage, besucht das traditionelle Hummerfestival und beschreibt, was dort geboten wird. Tonnenweise Hummer wird direkt vom Kutter in den größten Hummerkessel der Welt geworfen und in kochendem Wasser gesotten, um dann im großen Fest- und Fresszelt von entfesselten Schlemmern verzehrt zu werden. Kochwettbewerb, Rummelplatz, Schönheitswettbewerb und Souvenirparaden bilden das Rahmenprogramm, mit dem der US-Bundesstaat Maine als weltgrößter Hummerlandeplatz punktet.

Der Leser erfährt, dass Hummer noch im 19. Jahrhundert als Dreckfraß galt, der zur Gefangenensättigung genutzt wurde. Denn der Hummer als alles vertilgender Müllschlucker des Meeres genoss den Status der Ratte, und derartiges Zeug war für den verurteilten Abschaum der Gesellschaft gerade gut genug. Inzwischen hat sich das grundlegend gewandelt, das aromatische weiße Fleisch der Krebstiere gilt als Delikatesse, das in seinen Rang als Luxusgut allenfalls dem Kaviar den Vorrang lassen muss. Das hat vielleicht auch mit der Zubereitungsart zu tun, denn zu Vorväters Zeiten wurden die Tiere komplett zermahlen und an die Sträflinge verfüttert. Hier setzt das Lobster Festival an, mit dem der US-Bundesstaat Maine Werbung für ein Produkt macht, das ihm die Natur quasi direkt auf den Tisch spült. Denn an keinem anderen Ort der Erde tummeln sich derartig viele Hummer.

Und genau über dieses Festival schreibt Wallace, ohne die Massenfütterung zu loben. Im Gegenteil: er schafft es, den Leser sanft an sein Thema heran zu führen, er begleitet ihn durch die schmatzenden Massen des Mega-Events, und er prüft – durch und durch Journalist – auch die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft in Bezug auf Nerven und Schmerz der Hummer. Nach der Lektüre des zu einem schmalen Büchlein aufgeblasenen Textes bleibt dem Leser der Hummer dann aber im wahrsten Sinne des Wortes im Halse stecken.

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Mehr über den Autor:
David Foster Wallace: Freitod mit 46


Genre: Reportagen
Illustrated by Arche Zürich

Bitterstoffe

Der schüchterne Hobbydichter Felix liebt die selbstbewusste, zwei Jahre ältere Julia. Doch Julia bevorzugt Georg. Georg ist der Freund von Felix und war mit der langen, dünnen Annemarie zusammen. Julia wiederum ist mit der von Lithium aufgedunsenen Susanne befreundet. Dann gibt es noch Daniel, Franz, Sonja, Jesse und Anja, deren Verhältnis derjenige kennt, der sich durch den Beziehungsgeflechtsroman »Bitterstoffe« gebissen hat.

Die Protagonisten treffen jedenfalls nach fünfzehnjähriger Abstinenz bei der Beerdigung von Annemarie zusammen und der Ich-Erzähler Felix erinnert sich an das erste Mädchen, mit der er geschlafen hat, an Julia. Auch Julia erinnert sich an den schalen Geschmack der ersten Liebe und schläft, ebenso freudlos wie in der Jugendzeit, erneut mit Felix und dann – etwas intensiver – mit Georg. Die Jugendfreunde trennen sich nach der Beerdigung wieder und gehen ihrer Wege. Felix treibt es jedoch bald darauf von Berlin nach Hamburg, und er besucht Julia. Doch die ist bereits wieder mit Georg beschäftigt, Felix kommt ungünstig und kehrt wieder heim. Seiner Affenliebe zu Julia tut dies keinen Abbruch.

Florian Voß erzählt die Geschichte seiner ersten Beziehungskiste mit verquaster Distanziertheit. Nach 27 Seiten wechselt er jäh die Perspektive und benennt einen Felix, der als sein Alter Ego neben Julia erwachen darf. Es braucht allerdings Zeit, bis sich der Leser sicher sein darf, dass dieser Felix auch der Ich-Erzähler ist. Diesen Wechsel der Erzählperspektive wiederholt er, um auch aus Julias Sicht das Verhältnis zu dem schüchternen jungen Mann zu schildern. Weiter aufgepeppt wird die an sich unscheinbare Geschichte einer sich wieder begegnenden Jugendliebe, indem der Autor häufig Zeitsprünge vornimmt und den Leser zum Zurückblättern zwingt. Klingelt auf Seite 58 das Telefon, wurde das entsprechende Gespräch bereits zehn Seiten zuvor geführt. Schleppt Julia Felix auf Seite 74 zum Erinnerungsfick ins das nächste Gebüsch, hat der Leser bereits Seiten zuvor den jungen Mann begleitet, der sich abschleppen lässt.

Diese an sich reizvolle Methode, beide Parteien zu Wort kommen zu lassen, wirkt in der leidenschaftslosen Erzählung angestrengt und artifiziell. Eingebettet ist sie zudem in eine Hommage an den Großvater des Autors, an dessen Einäscherung der Leser gleich im Einstieg des Werkes teilnehmen darf, die aber mit dem Handlungsstrang selbst wenig zu tun hat. Dem Roman-Debut des Herbstes aus dem Rotbuch-Verlag hätte ein klein wenig mehr Farbigkeit, ein wenig Empathie, und ein Hauch jenes Knisterns, der Beziehungen bisweilen eigen sein soll, gut getan.


Genre: Romane
Illustrated by Rotbuch

Weiberabend

Joanne Fedler
Weiberabend
Knaur Verlag, München 2008, ISBN 978-3-426-66311-0

Acht Frauen, zwischen 37 und 43 Jahre alt, treffen sich zu einem ihrer seltenen und kostbaren Weiberabende.
Dieser eine Weiberabend steht für all das, was diese Frauen bewegt: ihr Dasein an sich, ihre Mutterschaft, ihre Kinder, ihre Partner, ihre Spiritualität, ihre Weiblichkeit; aber auch ihre Schwächen, ihre Verzweiflungen, ihre scheinbaren Niederlagen… All dies wird umrahmt von lukullischen Gaumenfreuden, zungenlösenden Getränken und anderen Sinnesfreuden…
Die Leserin oder auch der Leser wird schnell in das Geschehen hineingezogen, vor allem wenn ihr bzw. ihm diese Themen nicht ganz fremd sind.
Beim Lesen merkt man schnell, dass es sich hier auch um typisch amerikanische Lebensweisen handelt. Aber so weit ist diese Lebensart gar nicht von der europäischen entfernt… Nicht erst seit heute werden Frauen in Europa das erste Mal Mütter mit Ende zwanzig/ Anfang
dreißig oder sogar erst vierzig. Und das Hinzuziehen eines Psychotherapeuten für privates Krisenmanagement wird auch immer mehr kultiviert.
Natürlich bleibt es bei der Anwesenheit von soviel weiblichen Hormonen auch nicht aus, dass kleine und große Konflikte ausbrechen, die die Freundschaft der acht Frauen teilweise auf eine recht harte Probe stellen…
Ob man von diesen Frauen noch etwas lernen kann?

Auf jeden Fall macht dieses Buch Mut, trotz aller klugen und gut gemeinten Ratschläge von der ach so kompetenten Außenwelt, sein Leben als Frau und Mutter selbstbewusst und einzigartig zu leben.
Und dieses Leben sollte die Anwesenheit männlicher Hormone nicht ausschließen… Deshalb ist „Weiberabend“ nicht nur für weibliche Leserinnen empfehlenswert, sondern auch für männliche Leser.

Bettina Gromm, 10.08.2009


Genre: Romane
Illustrated by Knaur München

Brendels Fantasie

Zwar steht der entscheidende Brief aus England noch aus, doch die Vorbereitungen für die Fantasie sind in vollem Gange. Der Unternehmer Höller hat den idealen Ort für die Aufführung von Franz Schuberts „Wandererfantasien“ gefunden: Das kleine Örtchen Castelnuovo in der Toskana bietet die besten Rahmenbedingungen für das anspruchsvolle Werk des eigenwilligen Komponisten. Es kommt nur selten zur Aufführung und soll nun von dem herausragenden Pianisten Alfred Brendel interpretiert werden. Höller ist todkrank, doch die ihm verbleibende Zeit nutzt er mit Konsequenz. Die Straße lässt er frisch asphaltieren, sein Anzug hängt maßgeschneidert bereit, die künftigen Saaldiener aus dem Altenheim werden sorgsamst geschult, und der Neubau des Gemeindesaales ist nur noch eine Frage der Zeit. Nichts bleibt dem Zufall überlassen. Auch an die Überführung des sensiblen Bösendorfer Konzertflügels aus Wien ist gedacht. Die Finanzierung ist kein Problem, denn Höller verkauft seine Firma gerade an die Russen. Zwar sind alle aus der Familie dagegen – seine Frau, eine Wiener Staranwältin, sein Sohn, ein geldgieriger Karrieremensch, und seine Tochter, eine weltfremde Möchtegernkünstlerin -, doch Höller verfolgt sein Ziel unbeirrt: Alfred Brendel wird aus England nach Castelnuovo kommen und die Fantasie spielen!
Der Druck in Brendels Kopf nimmt zu, die Aussicht auf das grandiose Konzert aber beflügelt den Todkranken. Alles andere wird unwichtig angesichts der Fantasie. Schmerzen und Schwäche, Vorurteile und Vorschriften, falsche Anschuldigungen und andere Hindernisse gilt es zu überwinden, rasch und effizient. Medikamente, Überzeugungskraft und Geld machen fast alles möglich. Rückschläge fordern den Musikbesessenen erst recht heraus. Nichts wird der Fantasie mehr im Wege stehen. Der Brief aus England muss jeden Moment eintreffen …
Günther Freitag erzählt die Geschichte eines Idealisten, der im Angesicht des Todes allen Konventionen trotzt, um seinen Traum zu verwirklichen. Der lakonische Schreibstil macht die bedingungslose Entschlossenheit und glühende Begeisterung Höllers besonders anschaulich. Die Schilderung der örtlichen Gegebenheiten, die Vorstellung der verblüfften Einheimischen bilden den originellen Rahmen einer großen Leidenschaft zur Musik. Faszinierend und mitreißend beleuchtet Freitag Menschenelend und Alltagsglück. Das Gleichnis vom Tod als Luxusgut untermalt dieses fantastisch zuversichtliche Endzeitszenario.


Genre: Romane
Illustrated by Bertelsmann München

Brendels Fantasie

Zwar steht der entscheidende Brief aus England noch aus, doch die Vorbereitungen für die Fantasie sind in vollem Gange. Der Unternehmer Höller hat den idealen Ort für die Aufführung von Franz Schuberts „Wandererfantasien“ gefunden: Das kleine Örtchen Castelnuovo in der Toskana bietet die besten Rahmenbedingungen für das anspruchsvolle Werk des eigenwilligen Komponisten. Es kommt nur selten zur Aufführung und soll nun von dem herausragenden Pianisten Alfred Brendel interpretiert werden. Höller ist todkrank, doch die ihm verbleibende Zeit nutzt er mit Konsequenz. Die Straße lässt er frisch asphaltieren, sein Anzug hängt maßgeschneidert bereit, die künftigen Saaldiener aus dem Altenheim werden sorgsamst geschult, und der Neubau des Gemeindesaales ist nur noch eine Frage der Zeit. Nichts bleibt dem Zufall überlassen. Auch an die Überführung des sensiblen Bösendorfer Konzertflügels aus Wien ist gedacht. Die Finanzierung ist kein Problem, denn Höller verkauft seine Firma gerade an die Russen. Zwar sind alle aus der Familie dagegen – seine Frau, eine Wiener Staranwältin, sein Sohn, ein geldgieriger Karrieremensch, und seine Tochter, eine weltfremde Möchtegernkünstlerin -, doch Höller verfolgt sein Ziel unbeirrt: Alfred Brendel wird aus England nach Castelnuovo kommen und die Fantasie spielen!
Der Druck in Brendels Kopf nimmt zu, die Aussicht auf das grandiose Konzert aber beflügelt den Todkranken. Alles andere wird unwichtig angesichts der Fantasie. Schmerzen und Schwäche, Vorurteile und Vorschriften, falsche Anschuldigungen und andere Hindernisse gilt es zu überwinden, rasch und effizient. Medikamente, Überzeugungskraft und Geld machen fast alles möglich. Rückschläge fordern den Musikbesessenen erst recht heraus. Nichts wird der Fantasie mehr im Wege stehen. Der Brief aus England muss jeden Moment eintreffen …
Günther Freitag erzählt die Geschichte eines Idealisten, der im Angesicht des Todes allen Konventionen trotzt, um seinen Traum zu verwirklichen. Der lakonische Schreibstil macht die bedingungslose Entschlossenheit und glühende Begeisterung Höllers besonders anschaulich. Die Schilderung der örtlichen Gegebenheiten, die Vorstellung der verblüfften Einheimischen bilden den originellen Rahmen einer großen Leidenschaft zur Musik. Faszinierend und mitreißend beleuchtet Freitag Menschenelend und Alltagsglück. Das Gleichnis vom Tod als Luxusgut untermalt dieses fantastisch zuversichtliche Endzeitszenario.


Genre: Romane
Illustrated by Bertelsmann München

Die Hunde bellen

Truman Capote verzichtete bewusst auf die üblichen Reporterutensilien wie Tonband oder Diktiergerät, er nutzte nicht einmal Stift und Papier bei seinen Interviews. Der Autor setzte lediglich sein Hirn als Speichermedium ein, weil er der Überzeugung war, nur so eine natürliche Beziehung zwischen den Interviewpartnern (dem nervösen Kolibri und dem Vogelfänger, wie er es nannte) herstellen zu können. Die Ergebnisse dieser Arbeitsmethode lässt sich jetzt in geballter Form in seinen gesammelten Reportagen und Porträts nachlesen, und ich gestehe neidlos: Capotes Texte sind gnadenlos gut.

Eingeleitet wird der voluminöse Band nicht-fiktionaler Texte von Capotes umfangreichem Konversationsporträt des exzentrischen Schauspielers Marlon Brando, den er in einem Hotel in Kyoto während der Dreharbeiten zum Liebesmelodram »Sayonara« besuchte. Er schildert den Charakterdarsteller als »Fürst in seinem Reich« und nutzt Brando zugleich als Versuchskaninchen, um eine neue Art des journalistischen Schreibens auszuloten.

Capotes Ansatz lautete, eine Reportage ebenso anspruchsvoll zu schreiben wie jede andere Art Prosa, sei es Essay, Kurzgeschichte oder Roman. Im Erscheinungsjahr 1956 war das ein Wagnis, und Capote schildert den Ausgangspunkt seiner Überlegungen: »Was ist die niederste Stufe des Journalismus? Anders gefragt, welcher Dreck lässt sich am schwersten zu Geld machen? Antwort, ganz klar: Interviews mit Hollywood-Stars, dieses unerträgliche Promi-Gelaber … So etwas zur Kunst zu erheben, wäre eine echte Aufgabe.«

Capote gelang mehr als das: seine journalistischen Texte lesen sich wie Literatur und wurden zu einer eigenen Kunstform. Seine Reportagen und Porträts sind Kampfansagen an eine zunehmend unverständliche Sprache der so genannten Hochliteratur, die sich auf rein formale Spielereien und auf die Vernachlässigung der Alltagsstoffe kapriziert. »Schlicht sollen sie sein, meine Sätze, und klar wie ein Gebirgsbach«, lautete sein sprachliches Credo, während er bei seinem Stil besonderen Wert legte auf die Gestaltung »statischer« Textteile, mit denen er seinen jeweiligen Gesprächspartner und die Stimmung des Interviews herausarbeitete.

Eine gewalttätig knisternde Spannung liegt auf seinem Gespräch mit Robert Beausoleil, einem Dauergast im Hochsicherheitstrakt von San Quentin in Kalifornien. Der Leser spürt unmittelbar den mörderischen Atem der wohl schillerndsten Gestalt aus der Charles-Manson-Sekte, der sich im Gefängnis zum Anführer der faschistischen »Arischen Bruderschaft« erhob.

Ganz anders und nahezu beschwingt schilderte Capote das Tagewerk der Mary Sanchez. Er begleitet die Putzfrau auf ihren Einsatzorten in New York und erfährt dabei enorm viel über sie wie über die Bewohner der Appartements, die sie putzt. Sanchez erträgt ihre Arbeit als Putzteufel, indem sie immer wieder zu einer kleinen Blechschachtel greift, in der sich eine Ansammlung von Jointkippen befindet. Irgendwann gelingt es ihr, Capote zum Mitrauchen zu animieren und darauf bekommt die Story einen wundervoll leichten, geradezu bekifften Touch.

In »Versteckte Gärten« wiederum beschäftigt sich Capote in einer Art Selbstgespräch mit seiner Heimatstadt New Orleans. Dazu setzt er sich an einem prachtvollen Frühlingstag in einen uralt gewachsenen Park und reflektiert, was er dort sieht und erlebt. In einem der Gespräche, die der Wind an sein Ohr trägt, streitet sich ein Zuhälter mit einer Frau, die für ihn anschafft, und es wäre kein Text von Capote, wenn die Dame nicht am Schluss der Geschichte wie zufällig vorbei kommt und ihn anspricht.

Wer sich für journalistische Sprache und Stil interessiert, der wird von Capote vorzüglich bedient. Der am 30. September 1924 in New Orleans geborene Autor steht für den »New Journalism«, zu dessen Wegbereitern auch Tom Wolfe, Hunter S. Thompson und Norman Mailer zählen. Sein 1958 veröffentlichtes »Frühstück bei Tiffany« erlangte auch dank der Verfilmung mit Audrey Hepburn große Berühmtheit. Capote begründete 1965 mit seinem Welterfolg »Kaltblütig«, der exakten Aufarbeitung eines blutigen Mordes an einer Farmerfamilie, sogar eine neues Genre: den Tatsachenroman. Truman Capote starb am 25. August 1984 in Los Angeles.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Reportagen
Illustrated by Kein & Aber Zürich

Holzfällen

Cover Bernhard HolzfällenThomas Bernhards Roman »Holzfällen« war kaum erschienen, das wurde das Buch in Österreich am 29. August 1984 gerichtlich beschlagnahmt und verboten. Der in dem Text angeblich dargestellte Komponist Lampersberg und seine Frau, die Sängerin Maja Lampersberg, meinten sich in dem Werk wieder zu erkennen und hatte die Klage ausgelöst. Erst im Februar 1985 konnte eine außergerichtliche Einigung erzielt werden, die Klage wurde zurückgezogen und der »Schlüsselroman« wieder freigegeben. Weiterlesen


Genre: Romane
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Wer stiehlt schon Unterschenkel?

Prokop erzählt im Prolog seines Werkes, wie er in der Skybar eines Chicagoer Wolkenkratzers Bekanntschaft mit einem eitlen, arroganten und versnobten Zwerg namens Timothy Truckle schließt. Die äußerst trinkfeste Attraktion der Bar gilt als der beste Detektiv der Vereinigten Staaten. Mittels glänzender Kombinationsgabe, gut informierter Freunde und einem mächtigen Elektronengehirn namens Napoleon löst »Tiny« Truckle schwierigste Kriminalfälle.

Der Autor schildert darauf einige dieser Fälle, die dem Leser höchst seltsam anmuten. Warum werden zur Transplantation vorbereitete Unterschenkel gestohlen und wieder zurückgegeben? Wieso verschwinden auf mysteriöse Weise Eisberge, die zur Trinkwasserversorgung der USA aus dem Eismeer herangeschleppt werden? Wer hat zwei Mitglieder des aus den einflussreichsten Pharmabossen bestehenden »Clubs der Unsterblichen« ermordet?

In der Auflösung der Fälle wird deutlich, dass Truckle in einer Welt ermittelt, die einer totalen Überwachung durch Staatsorgane unterliegt, denen kein Schritt und kein Gedanke der Bürger entgeht. Es ist eine Gesellschaft, in der übermächtige Konzerne alles und jeden beherrschen und dem Einzelnen keinerlei Freiraum geschenkt wird. Es herrscht Mangel an Trinkwasser und Grundnahrungsmitteln, die Städte sind von einer undurchdringlichen Smogschicht bedeckt, und zum Betrachten eines Sonnenuntergangs müssen die Bewohner in Skybars gehen, die viele tausend Stockwerke hoch über den Wolken liegen.

Truckle, der Held der Erzählungen, arbeitet offiziell für die Mächtigen und hilft zugleich einer Untergrundbewegung, von der in Andeutungen die Rede ist. Dabei schützt ihn ein Mausoleum, das er den staatlichen Gewalten aufgrund seiner kriminalistischen Erfolge abgetrotzt hat, und in dem er ohne fremde Ohren und »Elektronenaugen« sprechen und arbeiten kann. In diesem abhörsicheren Raum nimmt er Kontakt mit dem »Großen Bruder« auf, der ihm Zugang zu den Rechnersystemen des Staatsapparates verschafft. Dieser steht jedoch, anders als in Orwells Roman »1984«, der Prokop Pate gestanden hat, auf der Seite der Systemkritiker und symbolisiert nicht die Macht des Bösen.

»Wer stiehlt schon Unterschenkel« rangiert aufgrund seiner in der Zukunft spielenden Handlung als Science-Fiction-Literatur. Fortgesetzt wurden die Erzählungen um den zwergenhaften Meisterdetektiv in »Der Samenbankraub«. Es handelt sich dabei um eine Dystopie oder Anti-Utopie. Damit werden Geschichten bezeichnet, die in einer fiktiven Gesellschaft spielen, die sich zum Negativen entwickelt hat. Die Erzählungen waren in der DDR vor allem unter kritischen Geistern bekannt, und auch als Sciene-Fiction-Autor genoss Prokop im östlichen Deutschland einen guten Ruf. Außerdem hat der Autor eine ganze Generation DDR-Kinder und Jugendliche fasziniert und mit geprägt. Sein Kinderbuch »Detektiv Pinky« gilt als Klassiker der DDR-Kinderbuchliteratur und wird heute noch gern erinnert. 2001 wurde es sogar verfilmt.

Prokops Erzählungen um Timothy Truckle können als Kritik an den übermächtigen USA verstanden werden. Möglich ist aber auch die Deutung als eulenspiegelhaftes Schmunzeln über die Verhältnisse im eigenen Land, denn auch die DDR trug ausgeprägte Züge eines Überwachungsstaates. Gerade die Form der Zukunftsliteratur bot sich an, auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen hinzuweisen und diese kritisch zu beleuchten. 1977 erstmals veröffentlicht wirkt manches auf den heutigen Leser im Zuge der Entwicklung der letzten 40 Jahre allerdings technisch überholt. Ungeachtet dessen ist die Lektüre vergnüglich. Im Westen blieb Gert Prokop, der anno 1994 im Alter von 61 Jahren freiwillig aus dem Leben schied, weithin unbekannt.


Genre: Science-fiction
Illustrated by Das Neue Berlin Berlin

Wie man berühmte Menschen trifft

Den ersten »berühmten Menschen«, den ich in grauer Vorzeit als angehender Journalist interviewen sollte, war ein Filmstar. Ich kannte ihn nicht. Ich hatte seinen Namen nie zuvor gehört, obwohl er doch so unerhört berühmt sein sollte, dass ich eigens nach Berlin zu einem Filmset geschickt wurde, um ihm ein paar Antworten abzuluchsen. Das Internet war in jener undenkbar lang zurück liegenden Zeit noch nicht erfunden, sonst hätte ich den Namen flink gegoogelt und wäre schlauer gewesen. Ich hätte mir auch ein Foto meines Interviewpartners anschauen können, und so wäre mir die erste Peinlichkeit erspart geblieben. Denn ausgerechnet den ersten Typen, der auf dem Set gelangweilt herumstand, fragte ich nach jener Berühmtheit, und ich möchte nicht wissen, was er von mir gedacht hat, als er sich als jener ach so gefragte Promi zu erkennen gab.

Immerhin hatte ich damit meinen ersten Promi im Interview, und ich kam auch leidlich zurecht, weil der Superstar hilfsbereit war und mein Unwissenheit mit mitleidigem Augenaufschlag hinnahm. Gay Talese, der Monate lang Frank Sinatra verfolgte, aber nicht vorgelassen wurde, hatte es da weitaus schwerer. Dafür hat er uns einer der besten Profilreportagen aller Zeiten hinterlassen. Sein Meisterwerk »Frank Sinatra ist erkältet« porträtiert den interviewunwilligen Superstar, ohne mit ihm auch nur ein Wort gewechselt zu haben, aus der Sicht des ihn begleitenden Tross.

Der Schweizer Kolumnist Mark van Huisseling kultivierte seinerseits die persönliche Art des Umgehens mit Berühmtheiten, über die er schreiben sollte. Er durchbrach das klassische Interview, indem er seine Gesprächspartner fragte, worüber sie selbst gern reden wollten. Dabei verstand er die oft bizarren Rahmenbedingungen, unter denen die Interviews stattfanden, als Lösung für seine Arbeit. Statt sich auf die konventionellen Frage-Antwort-Spielchen einzulassen, die zudem meist noch von Zerberussen der jeweiligen PR-Abteilungen überwacht und zensiert werden, erzählt er, was sich am Rande ereignet. Er stellt niemanden bloß, das überlässt er den Befragten selbst. Die floskelhafte Leere, die Pseudo-Promis, Stars und Sternchen umgibt, enthüllt sich damit von ganz allein.

Im Ergebnis schuf er Porträtminiaturen, die den Interviewten bisweilen in einem nicht unbedingt vorteilhaften Licht erscheinen lassen. Auf die Frage, welches Buch sie zuletzt gelesen habe, antwortet Verona Pooth, es seien einige von Homo Faber gewesen … Die dünne Oberfläche, auf der sich derartige Interviews bewegen, lassen damit durchaus tiefe Einblicke zu. Sein Spaziergang durch den Zoo der Alphatiere führt vom Avantgardekünstler Blixa Bargeld (»Wo sind wir heut losgefahren? Ach, Paris!« )über den professionell dauergutgelaunten Roberto Blanco (»Ich bin kein Spaßmacher, ich bin kein Clown. Ich bin Entertainer, ich will unterhalten«) und Pierre »Winnetou« Brice (»Die Helden von heute sind schwule Apachen, rosa gekleidet«) zu Dolly »Ballonbusen« Buster (»Wie lauten die Titel der letzten drei Filme, die Sie produzierten?« – »Ich kann mich nicht erinnern«).

Viereinhalb Stunden muss der Reporter auf Mariah Carey warten, die sich einen Fingernagel abgebrochen hat und ihm dann ihre nackten, langen Beine entgegen streckt (»Ich möchte weniger planen – Planen ist für die Armen«). Rocksänger Joe Cocker überrascht ihn mit dem Geständnis, von Hitler fasziniert zu sein (»Dieses Nazi-Ding war irgendwie umwerfend, von der Ideologie mal abgesehen«). Sarah Connor, die Pop-Prinzessin aus Delmenhorst, wird von einem albanischen Elitesoldaten gemanagt, und will nur über Oberbekleidung statt über Unterwäsche, für die sie wirbt, sprechen. Rolf Eden, Berlins ältester Playboy, bestreitet, Viagra zu nehmen (»Feministinnen – Wenn ich mit denen fertig bin, sind sie bloß noch feminin«).

Mark van Huisseling vertextet seine Interviews und reichert sie mit markigen Zitaten aus der Boulevardpresse an, die sein Gegenüber charakterisieren und spiegeln. Dabei zeichnet er sich durch einen extensiven Gebrauch von Zitaten in Klammern aus, es sind wohl dutzende pro Artikel. Seine Texte lesen sich unterhaltsam und beschwingt, er weicht positiv vom Klischee des Society-Reporters ab. Aber die Texte erschienen ursprünglich ja auch in der liberalen Schweizer »Weltwoche« und nicht in der Klatschpresse. Van Huisselings Interviews sind um ein Vielfaches besser als das Zeug, das ich in meinen Anfangsjahren zusammen dichtete. Gay Talese kann er hingegen nicht das Wasser reichen.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Kolumnen
Illustrated by Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins Berlin

Empörung

Marcus Messner, College Schüler aus Newark bei New York. Jude. Metzgersohn. Marcus Messner flieht 1951 vor der von ihm als Alptraum empfundenen Fürsorge seines Vaters durch einen Schulwechsel. Aus dem liberalen, urbanen und prosperierenden Newark an der US-Ostküste zieht er nach Ohio, in das konservative College von Winesburg. Hier will er sich auf das Lernen konzentrieren, will sich nicht ablenken lassen. Marcus Messner will in Ruhe gelassen werden. Juden sind in Winesburg eine Randgruppe. Kirchenbesuch verbindlich – in einer christlichen Kirche. Gemeinschaftssinn ist Pflicht. Keine Chance für Marcus Messner in Ruhe gelassen zu werden.
Was folgt, ist die Geschichte der Auflehnung gegen eine subtile, sich nie offen artikulierende Unterdrückung. Umso subtiler der Druck auf Marcus wird, umso unnachgiebiger wird er, umso fundamentaler wird sein Widerstand. In ihm wächst die Empörung.

Schon das dem Roman vorausgeschickte Motto, ein Zitat von E. E. Cummings aus “i sing of Olaf glad and big” : “Olaf (auf dem was einst Knie waren) wiederholt schier unablässig: nicht jeden Mist fress ich” macht stutzig.
Die Überschrift des ersten Kapitels “Unter Morphium” steht quasi wie ein Damoklesschwert über den ersten 190 Seiten der insgesamt 200 Seiten (die Auflösung wird erst im zweiten Kapitel geliefert), die der Roman umfasst. Dessen erste Sätze beschreiben den historischen und politischen Kontext der Geschichte: “Ungefähr zweieinhalb Monate nachdem die gutausgebildeten, von den Sowjets und den chinesischen Kommunisten mit Waffen ausgerüsteten Divisionen Nordkoreas am 25. Juni 1950 über den 38. Breitengrad vorgedrungen waren und mit dem Einmarsch in Südkorea das große Leid des Koreakriegs begonnen hatte, kam ich aufs Robert Treat, ein kleines College in Newark, benannt nach dem Mann, der die Stadt im siebzehnten Jahrhundert gegründet hatte.”
Die Jungen seines Jahrgangs, so erzählt uns Marcus Messner, wollen ihren Abschluss machen um dann als Offiziersanwärter bei den Marines anheuern zu können, um sich in Korea den Kommunisten in den Arm zu werfen. Zugleich hoffen alle, dass der Krieg vor ihrem Abschluss zu Ende sein möge. Ohne Abschluss von der Schule abzugehen ist gleichbedeutend mit sofortiger Rekrutierung als einfacher Soldat, als Kanonenfutter für die erste Reihe. Die Angst, die mit diesem Wissen einhergeht ist für die Jungen sehr konkret und hat Gesichter und trägt Namen. Die großen Brüder, die älteren Cousins waren erst fünf Jahre zuvor von den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs, aus Europa, aus Japan, aus Indochina zurückgekehrt. Oder eben nicht.

Das zweite Kapitel des Romans umfasst fünfeinhalb Seiten. Marcus hat seinen Widerstand in Winesburg nicht eingestellt. Seine Empörung ist gewachsen und in der Konsequenz bedeutet dies für Marcus: “Verschwinden Sie! Gehen Sie! Sie haben Marschbefehl! Packen Sie ihre rebellische Überheblichkeit und scheren Sie sich noch heute Abend aus Winesburg fort!” Kein happy ending rettet diese Geschichte.


Genre: Romane
Illustrated by Hanser

Kültür alakart

Das Kennenlernen kulinarischer Kultur befördert das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen. Diese Behauptung trifft zu und ist grundverkehrt. Sei trifft zu, weil man sich normalerweise am Tisch, während des Essens, nicht den Kopf einschlägt. Sie trifft für alle Menschen zu, die neugierig auf andere Menschen und deren Kultur sind. Sie trifft auch für Diejenigen unter uns zu, die mit „Fremden“ fremdeln, die man aber bei einem leckeren Essen aus ihrem Misstrauen herausholen kann.
Grundverkehrt ist die Annahme, man könne Rassisten durch das Servieren von Köstlichkeiten fremder Kulturen bekehren.
Da wir alle darauf angewiesen sind, dass die Gutwilligen, die Neugierigen und die Sinnlichen sich von Unbelehrbaren nicht frustrieren lassen, sind solche Projekte wie das Buch „kültür alakart“ aus dem Verlag „Tre Torri“ hochwillkommen und sehr zu begrüßen.

„Kültür alakart“, im Untertitel: „Das türkisch-deutsche Kulturkochbuch!“ ist sowohl ein Lese-, wie ein Kochbuch. 24 türkische, bzw. türkischstämmige Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Wirtschaft werden jeweils mit einem Interview portraitiert. Diesen Portrait folgen Rezepte aus der türkischen Küche, die durch die Vorgestellten ausgewählt wurden. Handelt es sich bei den Promis um Angehörige der schreibenden Zunft, wird mit einer Leseprobe zudem Appetit auf deren literarisches Oeuvre gemacht.
Extra-Kapitel zu den Themen „Essen und Trinken“, „Teekultur“ sowie „Kaffeesatzlesen“ ergänzen die kulinarischen Informationen.

„Kültür alakart“ ist ein Gemeinschaftsprojekt des Studiengangs Kommunikationsdesign der Fachhochschule Wiesbaden, des Fachbereichs Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg Universität Mainz und des Tre Torri-Verlags.
Das Buch ist nicht nur schön gestaltet, sondern in jeder Hinsicht informativ und appetitanregend. Es nimmt die kulinarische Kultur ebenso Ernst, wie die Vita der Befragten und ist deshalb nicht nur politisch korrekt, sondern auch ein sehr interessantes Kochbuch der türkischen Küchen.


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Tre Torri Wiesbaden

Über Venedig, Musik, Menschen und Bücher

Wer mit einem literarischen Serienhelden so erfolgreich ist, wie Donna Leon mit ihrem „Commissario Brunetti“ (oder ist vielleicht die wirkliche Serienheldin doch Venedig?) wird vom Publikum gerne auf die Rolle als „Autorin der Brunetti-Romane“ reduziert. Man darf aber wohl davon ausgehen, dass der seit nunmehr fast dreißig Jahren in Venedig lebenden US-Amerikanischen Schriftstellerin das Verfassen der Kriminalromane mit ihrem sympathischen Kommissar Guido Brunetti nicht als „Reduktion“ auf Etwas vorkommt.
Dass Donna Leon auch die kleine literarische Form beherrscht, dass sie kurze Geschichten erzählen, Glossen verfassen und auch journalistische Beiträge verfassen kann, dies ist in dem Sammelband „Über Venedig, Musik, Menschen und Bücher“ nachzulesen.
Das Buch, schon 2005 im Diogenes Verlag erschienen, versammelt in sechs Kapiteln kurze Texte, die die Autorin zwischen 1997 und dem Jahr 2005 veröffentlicht hat. In diesen, zumeist sehr kurzen Texten, beschreibt Donna Leon ihre Wahlheimat Venedig, („Weil es keine Autos gibt, hat Venedig die Freiheit, zumindest für seine Bewohner das zu sein, was es an Zahlen gemessen ist: eine Provinzstadt mit kaum 70.000 Seelen, wo eine der wichtigsten Quellen der Unterhaltung der Klatsch ist und wo es folglich keine Geheimnisse gibt.“ Seite 12), offenbart ihr Fremdeln mit elektronischer Kommunikation („E-Mail-Monster“, Seite 297), schwärmt für den klassischen Gesang („La Serve fedele – Cecilia Bartoli“, Seite 85) oder verrät etwas über ihre eigentliche Heimat im Kapitel „Über Amerika“.
Die Texte sind heiter, amüsant, kritisch und ernst. Vor allem sind sie gut geschrieben, von einer Schriftstellerin, die ihr Handwerk versteht und die wir hier „jenseits von Brunetti“ erleben können.


Genre: Kolumnen
Illustrated by Diogenes Zürich