Politiker würden durch Experten und Informatiker ersetzt, die die Gesellschaft jenseits ideologischer Interessen vertreten, warnt der renommierte Philosoph und Autor Byung Chul Han in seinem neuesten Werk „Infokratie“. Weiter schreibt er, dass Politik durch datengetriebenes Systemmanagement abgelöst werde. Ich denke, das gilt wohl auch für die Corona-Krise, wenn alles auf die Prognosen der Modellrechner starrt. Oder entsetzt und panisch den Behauptungen der Virologen folgt, man bräuchte dringend einen Lockdown, 1 G etc., weil sonst bräche alles zusammen.
Jeder Bierbrauer hätte gern, dass Konsumenten eine Flasche Bier am Tag trinken, mindestens. Der Pfarrer hätte gern Beichtkinder. Der Zahnarzt fehlende Plomben, der Virologe möchte, dass jeder geimpft würde, und der Online-Gigant, dass ein Lockdown herrscht und alles wieder per Internet bestellt wird. Der Postler will jeden Tag Pakete zustellen, aber dafür angestellt sein, und nicht als Scheinselbständiger am Rand des Existenzminimums leben. Jedenfalls müsste meiner Meinung nach eine qualifizierte Mehrheit entscheiden, was tatsächlich den Bürgern in einer Pandemie an Einschränkungen zugemutet wird.
Han macht das Problem heutiger Entscheidungsfindung deutlich. Die Politiker machen sich von Daten und Algorithmen abhängig. Zudem formuliert Han ein gewichtiges Problem der postdemokratischen Zeiten: „…das Verschwinden des Anderen, die Unfähigkeit zuzuhören, ist verantwortlich für die Krise der Demokratie“, denn die zunehmende Atomisierung und Nazifizierung der Menschen mache uns taub. Sie führe ebenfalls zum Verlust der Empathie. Zum Kult des Selbst. In solch Klima wird rasch mal über abweichende Meinungen diktatorisch drübergefahren; die Wissenschaft gibt die Wahrheit vor, die Politiker setzen sie um – und das Volk hat das Nachsehen. Denn ihm hört man nicht zu, es wird als hysterisch, dumm, gar gefährlich hingestellt in seinen Ängsten, Sorgen und Lieben, deshalb müsse man es ja auch regieren, aber ohne allzu viel direkte Demokratie.
Aber zurück zu den Kernaussagen des Buchs. Der Kommunikationsrausch nehme heute süchtige, zwanghafte Formen an. Den digitalen Medien wohnten Fliehkräfte inne, die die Öffentlichkeit fragmentieren. Wir befänden uns in einem „permanenten Taumel der Aktualität“. „Der Beschleunigungszwang, der Informationen innewohnt, verdrängt zeitintensive Praktiken wie Wissen, Erfahrung und Erkenntnis.“ Ich denke, das ist der Grund, warum die Leute permanent auf ihre Tablets starren, oder etwas „nachgoogeln“, weil sie ja nichts wissen brauchen, auch nicht auf Erfahrungen oder Erkenntnisse von anderen vertrauen, sondern eh persönlich auf dem Bildschirm die Wahrheit selbst allgegenwärtig abrufen können.
„Der Diskurs setzt es voraus, die eigene Meinung von der eigenen Identität abzutrennen. Die Menschen, die diese diskursive Fähigkeit nicht besitzen, halten krampfhaft an ihrer Meinung fest, weil sonst ihre Identität bedroht ist. Aus diesem Grund ist der Versuch zum Scheitern verurteilt, sie von ihrer Überzeugung abzubringen. Sie hören nicht auf den Anderen, sie hören nicht zu. … Die Krise der Demokratie ist in erster Linie eine Krise des Zuhörens.“
Ich denke, diesem wichtigen Phänomen begegnet man oft, sobald man jenseits des Mainstreams denkt und arbeitet. Legt man etwa ein Werk wie eine ganzheitliche Ästhetik vor, in der exakt nachvollzogen wird, wie sich die moderne zur postmodernen Kunst und Literatur entwickelte und diese nun in aufgeblasener Beliebigkeit dahin gammelt, mag niemand mehr nur ansatzweise den konkreten Argumenten folgen. Ähnliches gilt leider auch für die Corona-Krise. Auch sie scheint eine Krise der Identitätsschwäche heutiger Menschen zu sein. Egal welche der Fronten man informiert, sie wollen nicht hören, dass entweder die Maßnahmen gegen die Ungeimpften bereits diktatorisches Niveau erreichen oder anderseits ein Impfpass kein Naziausweis ist.
„Der als unzerlegbar wahrgenommene ganzheitliche Horizont ist einem radikalen Fragmentarisierungsprozess unterworfen. Neben Globalisierung beschleunigen Digitalisierung und Vernetzung den Zerfall der Lebenswelt.”
Han spricht wiederholt davon, dass die Realität den Menschen zwischen den Fingern zerrinnt. Nur scheinbar werden Beziehungen gestärkt durch und über das Netz. In Wirklichkeit traut man Informationen nicht mehr, egal ob sie analog oder digital daherkommen. Gerade das Fernsehen – bzw. dessen Nachrichtensender – besitzt noch relativ hohe Vertrauenswerte, die es aber selbstverschuldet aufgrund der Zensur bezüglich der Kritik an den Coronamaßnahmen rasant verspielt, meine ich.
„Die Digitalisierung ist der Faktizität diametral entgegengesetzt. Die Digitalisierung schwächt das Fakten- und Tatsachenbewusstsein, ja das Realitätsbewusstsein selbst ab.“
Jedenfalls isolieren sich die Leute am PC oder Smartphone zumindest unbeabsichtigt, Kommunikation, gar Leben besteht eben nicht nur aus ein paar ausgetauschten Zeilen bzw. Bildern auf YouTube. Die Identitätsdiffusion einer Generation, die bereits zu Narzissten erzogen wurde, nimmt realitätsverweigernde und -zerstörende Maßstäbe an.
„Die Tribalisierung des Netzes als Reaktivierung der Lernwelt ist vor allem im rechten Lager opportun, hier werden selbst Verschwörungstheorien als Identitätsangebote aufgegriffen … Für sie stellen Informationen keine Wissens-, sondern Identitätsressourcen dar.“ Mit dieser Aussage erklärt Han eindrücklich, warum die sozialen Medien derzeit so wichtig sind, aber auch das große Gefahrenpotential, das in ihnen steckt. Vor allem, wie wenig gegen Verschwörungstheorien auszurichten ist, während gleichzeitig Isolierung, Fragmentierung und Vereinsamung gerade durch den Neoliberalismus vorangetrieben wird.
„Der gegenwärtige Tribalismus, der nicht nur in der rechten, sondern auch in der linken Identitätspolitik zu beobachten ist, spaltet und polarisiert die Gesellschaft … Die fortschreitende Tribalisierung der Gesellschaft gefährdet die Demokratie. Sie führt zu einer tribalistischen Meinungs- und Identitätsdiktatur, der jede kommunikative Rationalität fehlt.“
Es kann keine Diskussionen geben zwischen den diversen „Tribes“, da die einzelnen Mitglieder meist aufgrund ihrer schwachen psychischen Konstitution – Stichwort Narzissmus – auf vorgefassten Meinungen beharren müssen. Allerdings spielt der Staat hier eine verhängnisvolle Rolle, aufgrund der Zensur von Kritik, bzw. deren raschen Verortung ins rechte Eck – an dem sich auch hochangesehene Professoren wie Peter Filzmaier beteiligen – wird der Vertrauensverlust sowohl in Regierungen als auch deren Medien (ORF genauso wie die Deutschen Nachrichtensender) völlig untergraben. Regierungen sowie Intellektuelle und Politologen könnten sich eigentlich eine differenziertere Meinung erlauben – aber der Modus im Informationszeitalter scheint zu sein: Botschaften müssen so einfach wie möglich gehalten werden. Differenzierendes verunsichert bloß Menschen. Sie sind aber so und so verunsichert. „Wir sind heute zwar gut informiert, aber orientierungslos“, weiß Han dementsprechend. Mehr an Information schafft kaum mehr an Vertrauen. Vor allem, wenn die „Angesprochenen“ erkennen, dass es weniger um Information denn um Propaganda geht. Han zeigt deutlich, dass „Dataisten“, die auf Algorithmen und Daten setzen, übersehen, dass nicht das Zählen eine Rolle spielt, sondern das Erzählen. Wie bettet sich Geschehen in die Zahlenlage tatsächlich ein? Bzw., was heißen erhobene Zahlen überhaupt? Und: was sollen sie heißen? Ohne gesellschaftlichen Diskurs von Philosophen, Intellektuellen, Literaten etc., wird die Gesellschaft zunehmend orientierungslos. Der totalitäre Druck, der von Regierungen, deren Politwissenschaftlern und Medien auf die Bevölkerung ausgeübt wird, ersetzt eine breite Diskussion nicht. Peter Filzmaier macht einen schweren Fehler zu behaupten, dass Herbert Kickl bei den nächsten Wahlen die Stimmen der Impfkritiker und generellen Coronamaßnahmenkritiker so nebenbei mit einsacken wird. Dieser Mythos der Herrschenden führt dazu, dass eine Spaltung entsteht zwischen linken, aufgeklärten und dennoch ganzheitlich und bestimmt „liberal“ eingestellten Gruppen und der angeblich liberalen, demokratischen Regierung. Statt einen Konsens zu suchen, wird das tatsächlich gesellschaftskritische Lager also ins rechte Eck verwiesen – wo es aber weder ist noch hin will noch hin tendieren wird. Aber gegen die Unzahl an rechten Verschwörungstheorien wird nicht fachkundig in breiter Formation gerüttelt, weil im Sinne der infantilisierenden Vereinfachung gleich jede Kritik tabu ist. Auf Hans Gedankengang zurückzugreifen: die unterschiedlichen Personengruppen werden derart gegeneinander ausgespielt – wozu eigentlich gar nicht viel notwendig ist, als von Regierungsseite Kommunikation zu verweigern –, dass Kritiker entweder psychiatrisiert werden, oder als Nazis diskreditiert. Doch die von den Maßnahmen Betroffenen und Nicht-Gehörten schlagen mit der Nazikeule zurück. Die ehemals Linken, die jetzt als Rechte gelten, reden vom Impfpass als Nazipass oder von den Judenmasken, worauf sie von den Staatsintellektuellen als Antisemiten gebrandmarkt werden, während die Unsummen an rechten Verschwörungstheorien, die letztlich alle drin münden, dass die Juden schuld an der Krise seien, nicht ins Visier genommen und als Lügen aufgedeckt werden. Die Medien tragen gewaltige Mitschuld, Philosophie- und Journalistikstudenten und -studentinnen, die von unserem verschulten Studiensystem zu angepassten Bürgern erzogen wurden, erlauben sich kaum eine eigene Meinung. Die ungehörten Kritiker nennen den Standard, der eine Kooperation mit dem Impfherstellerverband einging „Stürmer“, doch eine breite Ablehnung der totalitären Maßnahmen hinter dem infantilen Gesicht gibt es noch nicht. Wie viele zigtausend MedienstudentInnen, PsychologInnen, PhilosophInnen, LiteraturstudentInnen etc. schlossen in den vergangenen zehn, zwanzig Jahren ein Studium ab? Wie wenig wirklich der Gesellschaft Dienliches, der Welt vor allem Nützliches, brachten diese hervor? Und wie sehr versagen sie jetzt doch im Anblick der Demokratiekrise, die sich durch Corona offenbart? Mit Hans Feststellung: „Der Diskurs wird durch Daten ersetzt“, ist sowohl ein Hauptgrund des Problems benannt, doch der Diskurs selbst wurde in postmoderner Manier vorher bereits nur halbherzig betrieben, gar diskreditiert hin auf eine entsinnlichte, abstrakte und emotionslose Welt.
„Produziert werden minderwertige Zeitungen, die fast nur Krimis und Sport enthalten, reißerische Billig-Romane und sentimentale Schlager.“ Nein: Han spricht nicht vom aktuellen Kulturbetrieb, dann hätte er auch die lächerlichen Hochkulturevents erwähnt, wo Klaviere auf dem Bühnenboden dumm zerschellen und damit das Verhältnis der Reichen zu Steuergeld manifestieren, sondern zitiert Georg Orwell ebenso mit: „Der Porno wird als Herrschaft Mittel eingesetzt. Wer porno- oder spielsüchtig ist begehrt ja nicht gegen die Herrschaft auf.“ Allerdings kann per Tinder rasch mal in Kroatien Geschlechtsverkehr vereinbart werden. Die digitalen Medien als Zuhältermedium sind in einer amoralisch gewordenen Kultur nichts Anstößiges. Nichtsdestotrotz scheint die Macht des Mythos, dass Konsum, Statuserwerb durch Konsum etc., eine glückliche, weil voll befriedigte Welt schafft, immer stärker zu zerbröseln. Wer schafft als prekär Beschäftigter schon tatsächlich an dieser von der Werbung propagierten Welt des ewig glückseligen Dauer-Konsums mitzunaschen? Also wird die gesellschaftliche Erzählung geändert: Von wem eigentlich? Jetzt wird behauptet, es gäbe 1oo1 unterschiedliche Geschlechter. Denn das Geschlecht sei ja ein soziales und finde im Kopf statt. Und vor lauter völliger Identitätsdiffusion verzichten die Jungen lieber auf Sex, denn in welche sexuelle Gruppe gehören sie eigentlich und dann wie? Ich hoffe, die kulturellen Auswirkungen dieser totalitären Unterdrückung der Individualität, der Triebe und der Sinnlichkeit nicht mehr persönlich erleben zu müssen. Ich schrieb es schon vielmals. Gewaltig werden die glutroten Lavaströme hervorbrechen unter den dick zementierten Asphalt-Decken des Bauchfells und der Zivilisation, diese zerberstend.
PS.: Eigentlich verfasste ich eine sehr schlechte Rezension. Mir ging es zu sehr darum, meine eigenen Meinungen, die sich ja stellenweise mit Hans decken, in die Rezension einzuarbeiten – bei einem Literaturseminar würd ich damit mit einem glatten Fünfer durchfallen. Wobei nach meinen inhaltlichen Aussagen ich ohnehin das Studium aufgeben müsste. Und Byung Chul Han sicher nicht auf den Unis rezipiert wird. Aber mir waren obige Einfügungen einfach zu dringlich in unseren heute immer spärlicher werdenden Optionen, und Han liefert als einer der wenigen authentischen Philosophen, die nicht von der postmodernen Ideendiffusion geistig hinweggerafft wurden, den idealen Mutterboden dafür.
Manfred Stangl
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Infokratie: Digitalisierung und die Krise der Demokratie (Fröhliche Wissenschaft)